14 | Nach Norden | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

14 | Nach Norden

Yelda
November 11, 2010

Am nächsten Tag erst brachen wir auf. Den ganzen vorigen Nachmittag über hatte Terno mir beizubringen versucht, meine Kraft zu kontrollieren. Ternos Worte erinnerten mich sehr an Mandus, denn auch Terno forderte mich immer wieder auf, meine Sinne auf scheinbare Unwichtigkeiten zu lenken, auf Details, auf Schattierungen des Felsens. Dabei geschah etwas seltsames, das ich auch bei Mandus Lauschen verspürt, aber nicht hatte erklären können: mein Geist verlor sich in dem, was ich betrachtete. Ich konzentrierte meine Wahrnehmung so sehr auf Dinge außerhalb von mir, dass ich meinen Körper nicht mehr wahrnahm, sondern mich fühlte wie der Felsen, wie der Spalt, der ihn durchzog, wie die Pflanzen, die darin wuchsen. Und ich spürte, dass ich kurz davor war, etwas wichtiges darüber hinaus oder vielmehr dahinter zu spüren.
Ich berichtete Terno von meinen Empfindungen und er sagte: „Du machst gute Fortschritte. Dein Ziel ist es, unter die Oberfläche der Wirklichkeit zu gelangen, hinter die Strukturen, die die Kraft bildet zu sehen.“
„Was ist dort?“
„Der Ursprung aller Kräfte, die die Welt durchziehen. Wenn Du Deine Kraft einsetzt, berührst Du diesen Ort. Von ihm stammt die Energie, die Du einsetzt, um die Welt zu verändern.“
„Und warum will ich dorthin gelangen, wenn ich doch meine Kraft nicht einsetzen will?“
„Im Moment ist Dein Wesen nicht an jenem Ort verankert, darum zerreißt jedes Einsetzen Deiner Kraft die Wirklichkeit. Und darum können Andere, die Deine Kraft kennen und ihre Spur lesen können, Dir folgen.“
„Wie verankere ich mich dort?“
„Eines nach dem anderen. Zunächst musst Du in der Lage sein, überhaupt an jenen Ort hinreichen zu können.“
„Bist Du dort verankert?“
„Mehr noch: ich entstamme jenem Ort. Mein Wesen ist Teil der Kraft, eigenständig und doch dauerhaft mit ihr verbunden.“
„Und woher entstamme ich, dass ich weder Teil dieser Welt bin noch Teil dieser anderen?“
„Das gehört zu den Dingen, die ich Dir nicht sagen kann. Du wirst es selbst erfahren, wenn die Zeit soweit ist.“
Ich war mir nicht sicher, ob Terno es nicht sagen konnte oder nicht sagen wollte, doch ich verstand, dass er sich nicht weiter dazu äußern würde. Und so versenkte ich meinen Geist in die Aspekte der Wirklichkeit um mich und suchte nach der Struktur hinter allem Lebenden, bis mein Geist müde wurde und der Abend dämmerte. Die Müdigkeit, die meinen Körper in den Schlaf zwang, war das einzige Zugeständnis an seine Sterblichkeit. Ich hatte den ganzen Tag weder gegessen noch getrunken. Terno hatte mir erklärt, dass mein Körper sich von meiner Kraft nährte, und daher nicht auf Speise oder Trank angewiesen war.
Was das hieß, erfuhr ich am nächsten Morgen.
„Wir werden auf unserer weiteren Reise Nahrung für Deinen Körper finden müssen.“
„Warum? Ich verspüre nicht das, was die Menschen Hunger nennen.“
„Solange Du Dich von Deiner Kraft nährst, verbindest Du Dich unbewusst mit ihrem Ursprung. Wir müssen diese Verbindung kappen und Dich mehr mit dieser Welt verbinden, als Du es bisher bist.“
Ich nickte. „Remde hat mir die Verbindung zwischen Nahrung und Menschsein erklärt.“
„Dieser Remde war ein weiser Mann.“
„Als Mandu mich aus ihrer Quelle trinken ließ, litt ich später Schmerzen. Werden diese Schmerzen stärker werden, wenn ich wieder esse und trinke, nachdem ich es jetzt so lange nicht getan habe?“
„Ich glaube nicht. Diese Schmerzen zeigten nur die Sterblichkeit Deines Körpers. Wenn Du diesen Schmerz einmal erfahren hast, wird er so nicht wieder auftreten.“
„Gut. Ich fürchte den Schmerz nicht, wenn er mich rettet, doch wenn ich ihn nicht fürchten muss, ist es mir umso lieber.“
„Dann fürchte ihn nicht, denn die Furcht vor etwas ist meistens weniger erträglich als das, wovor man sich fürchtet.

Mit der aufgehenden Sonne zu unserer Rechten brachen wir auf. Terno erklärte, wir würden nach Norden wandern und erzählte dann viel über die Angewohnheit der Menschen, allem Namen zu geben.
„Das verstehe ich gut“, sagte ich. „Auch ich habe das getan, als ich das erste Mal erwachte, um mich abzugrenzen von allem um mich herum.“
„Wir Wesen der Kraft tun das nicht. Wir übernehmen die Bezeichnungen der Menschen für die Dinge in der Welt, da wir wissen, dass alles um uns herum in seinem Wesen mit dem Ursprung der Kraft und damit mit uns verbunden ist. Eigene Namen für etwas zu haben, das ein Teil von uns ist, erscheint uns daher unnötig.“
„Mir hat es geholfen, mich in der Welt zu verorten, als ich erkannte, dass ich nicht war wie die Wesen um mich herum. Dass ich nicht war wie …“ Ich verstummte. Blieb stehen. Wie hatte ich das vergessen können? Wie hatte ich nicht sehen können, was ich getan hatte, obwohl Terno es mir doch vor Augen geführt hatte?
Terno blieb ebenfalls stehen und sah mich an. „Yelda? Was ist? Hast Du Dich an etwas erinnert?“
„… meine Familie.“
„Deine Familie?“
„Ich habe sie vernichtet.“ Meine Stimme hörte sich hohl an, und auch Ternos Worte kamen wie aus weiter Ferne: „Was meinst Du? Die Hummel?“
„Meine Familie. Hüterin, Regentrinker, Sämling und Späher. Sie waren die Bäume, unter denen ich erwacht bin. Sie haben mich beschützt, und ich habe sie vernichtet.“ Meine Worte verbrannten meinen Geist, fraßen klaffende Löcher in meine Hände, brachen meinen Körper auf und gaben mein Wesen schutzlos dem Sturm der Erkenntnis preis, von dem ich wollte, dass er mich vernichtete, mich ausriß wie die Stürme aus Hüterins Geschichten die Bäume entwurzelt hatten. Und dann hatte ich plötzlich wieder einen Körper, ein Gesicht, das Tränen überflossen, und ich spürte Ternos Arme um mich, die mich an seinen Körper zogen, als ich mich selbst nicht mehr aufrecht halten konnte. Ich fühlte die Einsamkeit wieder, die mich erfasst hatte, als ich an jenem entlebten Ort aufgewacht war, doch diesmal spürte ich auch die schmerzhafte Wissen, dass ich an jenem Ort nicht etwa fern meiner Familie erwacht war, sondern dort, wo ich ihre Essenz aus dieser Welt getilgt hatte. Und in diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass mein früheres ich niemals jenen Ort verlassen hätte, sondern dass ich dort geblieben wäre, einsam vielleicht, aber ohne das Wissen, dass ich mich selbst in diese Einsamkeit gestürzt hatte.
„Yelda, nicht.“ Ternos Stimme war sanft, aber eindringlich. „Gib Dir keine Schuld an dem, was geschehen ist. Du konntest nicht wissen, was geschehen würde. Du hast keine Schuld.“
Doch ich konnte, wollte Terno nicht glauben. Ich hatte so lange gedacht, dass ich meine Heimat wiederfinden würde, dass ich zurückkehren könnte unter die schützenden Arme meiner Bäume, ich hatte so sehr darauf gehofft, dass der Verlust dieser Hoffnung noch viel tiefer schnitt als das Erwachen in der Einsamkeit. Ich hatte keinen Ort mehr, an den ich würde zurückgehen können. Warum sollte ich also überhaupt noch irgendwohin gehen?
„Ich habe Schuld“, sagte ich, und die Worte kamen kaum gegen meine Tränen, meine Hoffnungslosigkeit und die Leere an, die meine Stimme lähmten.
„Schuld“, sagte Terno, und seine Stimme klang so warm dabei, dass weniger seine Worte als der Klang seiner Stimme den Strom meiner Tränen verlangsamte, „haben diejenigen, die gegen das handeln, was sie für richtig halten. Du aber fühlst den berechtigten Schmerz eines Verlustes, den Du nicht für Dich verantworten darfst. Niemand, nicht einmal die, die Dich beobachtet haben, hatten erwartet, was geschehen ist.“
Ich weinte immer noch, doch langsam konnte ich wieder atmen, wich diese schneidende Enge aus meinem Körper, die ich für immer mit Trauer und meiner Heimat verbinden würde.
„Wir müssen nach vorne sehen, Yelda, ich werde Dich lehren, Deine Kraft zu beherrschen, damit so etwas nie wieder geschehen kann. Ich werde Dir beibringen, wie Du Deine Kraft dazu einsetzen kannst, die Welt mit deinem Wesen zu bereichern ohne Angst vor den Folgen haben zu müssen.“
Obwohl ich immer noch weinte, wollte ich ihm glauben, dass er recht haben könnte. Ich wollte glauben, dass Terno, dessen Arme mich hielten, als ich in einer Konfrontation mit mir selbst verloren hatte, recht behalten würde. Ich spürte die Stärke seiner Umarmung und wollte, dass diese Nähe nie wieder enden würde. Ich wusste, dass ich ihm würde glauben müssen, um bei ihm bleiben zu können.
Ich glaubte ihm.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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