35 | Der Erste von fünf | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

35 | Der Erste von fünf

Yelda
November 30, 2010

Tatsächlich hatte mein Plan darin bestanden, Remde als Boten zu benutzen. Ich war froh, dass er diese Rolle so bereitwillig annahm, ohne zu wissen, dass er am Ende auch von mir als Werkzeug benutzt wurde. Aber er hatte mir ja selbst geraten, ihm nicht zu trauen.
Zunächst hatte ich befürchtet, er könnte mich angreifen wollen, um mir meine Kraft zu rauben und dadurch von Saphir, Rubin und Korund unabhängig werden zu können. Ich war mir aber sicher, dass er mir nicht geglaubt hatte, dass ich mich selbst in der Lage sah, über die Drei zu triumphieren. Mir konnte das gleich sein, das Wichtigste war geschehen, denn entweder als meinen Verbündeten oder als meinen Gegner hatte ich Remde in die jenseitige Welt schicken wollen. Ich glaubte nicht, dass er bei einem Angriff der Drei auf mich teilnehmen würde, im Gegenteil würde er das gleiche tun wie Mandu und all seine Magie nutzen, um sich zu verstecken, denn das war Mandus Spezialität gewesen und ich bezweifelte, dass Remde dies nicht ausnützen würde, wenn es ihm genug Zeit schenkte, vielleicht die Kraft anderer Jenseitiger aufzunehmen.

Zunächst aber würde er die Drei von sich ablenken und auf mich hetzen. Ich war mir nicht sicher, wie viel Zeit ich haben würde, darum wob ich den ersten meiner letzten fünf Zauber. Ich konzentrierte mich auf die Ströme von Kraft und Leben, und dieses Mal war es das erste Mal, dass ich sie in ihrer vollen Stärke in und um Tharb sah. Vorher hatte meine unvollständige Verbindung mit der Quelle meine Wahrnehmung gestört, jetzt aber, da ich erkannte, wie tief meine eigene Kraft reichte, und wo sie an die Grenzen der Wirklichkeit und darüber hinaus reichte, erkannte ich, dass der Felsen unter der Stadt, unter der Erde und allem Boden so unglaublich tief reichte, dass ich sein Ende nicht erfassen konnte. Als ich den Wurzeln der Kraft nachfühlte, erkannte ich viele hundert Kraftfäden, die wie der Fels selbst aus dem Boden kamen und sich in einem weiten Kreis um den Inneren Kreis von Tharb verflochten, an der selben Stelle, an der der Mauerkranz die Stadtteile voneinander trennte. Und ich spürte, dass es dort sein musste, dass ich dort sein musste, wenn ich den Dreien begegnete. Gleichzeitig aber wusste ich, dass ich die Kraft nutzen könnte, dass ich sie auch nutzen musste, wenn ich Erfolg haben wollte.
Und ich nutzte sie für alle meine fünf Zauber. Ich verband mich mit den Fäden und spürte auch, wie sie auf mich reagierten. Wie Blumen und Blüten sich nach der Sonne ausrichten, die über ihnen ihre Bahn zieht, so streckten auch all jene, die mit den Fäden in Berührung standen, ihr Bewusstsein nach mir aus, und sie konnten hören, was ich ihnen auftrug: „Verlasst die Stadt, denn ein Unheil zieht auf, eine Schlacht zwischen Hell und Dunkel, und es wird kein Überleben geben in diesem Kampf für jene, die menschlich sind. Verlasst die Stadt und nehmt alle mit, die Ihr liebt und um deren Wohl Ihr Euch sorgt. Verlasst die Stadt und flieht am Fluss entlang zu seiner Mündung. Verlasst die Stadt, denn die Stadt geht unter.“ Mit an diese Botschaft knüpfte ich die überzeugende Erkenntnis, dass die Zeichen eindeutig waren, dass mein Erwachen im Todesturm ein Zeichen gewesen war und der Kampf gegen Remde ein weiteres.  Ich wusste nicht, ob tatsächlich alle dieser Botschaft folgen würden, doch ich wusste, dass genügend Menschen in der Nähe gewesen waren, als ich gegen Remde gekämpft hatte. Sie würden ebenfalls die Nachricht weitergeben, dass ein Kampf stattgefunden hatte. Ich wusste nicht, wie viel Zeit ich haben würde, ich wusste auch nicht, was ich tun konnte, um möglichst wenig Menschen zu verletzen, doch andererseits wusste ich auch, dass ich keine andere Wahl hatte. Ich musste die Drei und neben ihnen auch alle anderen Jenseitigen ihrer Stärke entheben, ich musste verhindern, dass sie, selbst wenn sie mich besiegten, die Herrschaft über die Menschen übernehmen würden. Ich wusste, sie würden es können, wenn sie erst einmal Remdes Vorschläge für mich erkennen würden.

Ich blickte mich um. Der Platz, an dem ich stand, war übersät von den Spuren des Kampfes zwischen mir uns Remde. Ich suchte nach einer Spur von Baneh, dessen Körper in Flammen und Rauch aufgegangen war, doch ich fand nichts. Für einen Moment überwältigt vor Trauer stand ich nur da und ließ die Tränen, die ich seit seinem Tod zurückgehalten hatte, endlich über mein Gesicht rollen. Ich erinnerte mich an Antejars Worte: dass im Krieg Menschen starben, die mit dem eigentlichen Kriegsgrund, mit den Zielen derjenigen, die den Kampf begonnen haben, eigentlich nichts zu tun haben, außer dass sie zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort waren. Baneh war eindeutig ein solches Opfer, denn er hatte mich nur verteidigen wollen in einer Situation, die mit ihm überhaupt nichts zu tun hatte.
Ich dachte an Bamar, der seinen Bruder, kaum dass er aus seiner Geistesstarre erwacht war, schon verloren hatte. Ich hoffte, dass er irgendwann die Kraft finden würde, mir und seinem Bruder dessen Tod zu vergeben. Bis dahin aber blieb mir nichts anderes als hoffen.
Und dann spürte ich eine Bewegung in den Kraftfäden des Felsens. Stimmen und Worte, Gedanken und Rufe nahm ich war, und als ich genauer hinhörte, ein vielstimmiges Gewirr, dessen Grundgedanke nur ein einziger war: Wir haben verstanden. Wir werden die Stadt verlassen.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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