Über Ernährungswissenschaften | ANDERSWOLF

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Über Ernährungswissenschaften

Usus operi
Mai 5, 2015

Wer mich noch nicht kennt, sondern gerade erst kennenlernt, erfährt rasch, dass ich von dem Fach, das ich studiert habe, wenig halte. Warum ist das so?

Einerseits kann ich mich so rechtfertigen, warum ich kaum etwas mit dem Wissen anfange, das ich im Studium erworben habe. Mich schützt Abrede vor Anwendung. Andererseits bin ich da nicht alleine. Kaum jemand aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis, der nicht ein berufsspezifisches Studium wie Lehramt, Jura oder Medizin abgeschlossen hat, arbeitet in einem fachlich assoziierbaren Bereich. Natürlich ist das Lernen, nicht das Gelernte das Wichtigste am Studium. Tatsächlich wird uns aber fast täglich das Trockenbrot des Fachkräftemangels vorgekaut. Vielleicht könnte eine umfassende Ausbildungsberatung vor Studienbeginn da Abhilfe schaffen.

Tatsächlich sind Ernährungswissenschaftler gleichzeitig über- und unterqualifiziert. Als Spezialisten sind sie Lebensmittelwissenschaftlern, Chemikern, Verfahrenstechnikern, Agrarwissenschaftlern, Soziologen, Betriebswirtschaftlern, ja selbst Umweltmanagern unterlegen. Als Generalisten wiederum können sie sich gegen ausgewiesene Management-Absolventen nicht durchsetzen. Vielleicht wollen sie das auch nicht, denn wer studiert schon Ernährungswissenschaften, um im mittleren oder höheren Management einer Schraubenfirma zu arbeiten?

Gleichzeitig steigen die Neu-Immatrikulationen für Ökotrophologie. Nicht zuletzt wegen der Lebensmittelindustrie. Nicht, weil der Bedarf an Ernährungswissenschaftlern bei Nestlé oder Kraft Mondelez so hoch wäre, im Gegenteil ist das die Domäne der Lebensmittelchemiker, Prozesstechniker und Ingenieure. Sondern weil mittlerweile wirklich ein Studium notwendig ist, um zu verstehen, was auf der Verpackung eines hochgradig verarbeiteten Lebensmittels steht. Alternativ könnte man auch einfach auf den gesunden Menschenverstand hören und nicht alles blindlings in den Mund nehmen, was einem angeboten wird.

Spätestens hier kommt der Einwand mit den dicken Eltern und den noch dickeren Kindern. „Ernährungsberatung ist doch so notwendig! Schon in den Schulen müsste…“ Klar, es wäre schön, wenn alle wüssten, wie man sich ernährt, ohne sich oder der Umwelt zu schaden. Das Problem in die Schulen zu verlagern, ist aber zu kurz gegriffen. Die Ernährungsaufklärung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und sie verlangt das Engagement aller Beteiligten. Was nützt es, wenn das Kind schulseitig mit der Theorie von der gesunden Ernährung konfrontiert wird, zuhause aber mit Fertigpizza? Eltern haben nämlich keine Zeit für mehr, alle müssen vollzeitarbeiten, damit sie sich die Pizza überhaupt leisten können (und die XBox und die zwei Autos und die Urlaube und die neuen Jeans und die Handys für alle Familienmitglieder und das Futter für den Hund und die Spielsachen und das Bier und die Zigaretten). Wer also soll die Verantwortung für die ausgewogene Ernährung der Familie übernehmen? Der Hund etwa?

Ist das dicke Kind erst in den Brunnen gefallen, soll es die Ernährungsberatung richten. Hier und gerade in Reha-Maßnahmen lernt man viele Menschen kennen, die Beratung brauchen, aber nicht zuhören und schon gar nichts ändern wollen. Die wenigen Motivierten dagegen brauchen keine Beratung, weil sie bereits genug wissen. Wozu braucht es hier also den Ernährungswissenschaftler? Gar nicht, denn eine Diätassistenz hätte da von vorneherein mehr erreicht. Das ist nämlich die eigentliche Anlaufstelle für Ernährungsberatung, noch dazu, weil sie von Krankenkassen lieber, weil niedriger bezahlt wird.

Vor allem wird der Einfluss von Ernährung auf die Gesundheit weit überschätzt. Es gibt keine seriöse Langzeitstudie, die eine greifbare Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen Ernährung und Gesundheitszustand herstellen konnte. Das liegt nicht daran, dass es nicht versucht wurde, sondern am komplexen Untersuchungsgegenstand selbst. Wie soll man die individuelle und inkonstante Lebensmittelzufuhr, die individuelle und inkonstante Nährstoffausbeute, die individuelle und inkonstante körperliche Zusammensetzung und das individuelle und inkonstante Maß an Bewegung (und andere Faktoren wie Tagesform, Stressresistenz, Gesundheitszustand etc.) in eine einzige, seriös verallgemeinernde Form gießen? Und dabei ist noch nicht berücksichtigt, dass etwa die Hälfte aller Ernährungsprotokolle absichtlich gefälscht oder nur nachlässig geführt oder schlicht wertlos sind, weil die Angabe „Zwei Teller Kartoffelsuppe“ ziemlich viel Interpretationsspielraum lässt. Der einzige Sinn von Ernährungsprotokollen ist, dass sich der Protokollant seiner Ernährung überhaupt mal bewusst wird. Das aber Wissenschaft zu nennen, wäre weit verfehlt.

Ernährungswissenschaftler dagegen haben den Glauben an den Einfluss von Nahrungscholesterin auf die Entwicklung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen gepredigt. Jahrzehnte später stellt sich raus: die Zufuhr von Cholesterin über die Nahrung bestimmt lediglich das Maß der Cholesterin-Eigensynthese des Körpers. Größeren Einfluss als die Ernährung auf das Risiko zur Erkrankung an Herz-Kreislauf-Krankheiten hat die allgemeine Lebensführung. Von allen Herzinfakt-Patienten, die mir in meiner Zeit als Ernährungsberater begegnet sind, haben nur zwei niemals geraucht. Kaum mehr haben jemals aktiv versucht, ihren Stress-Level durch Entspannungstechniken zu senken. Der einzige halbwegs sportliche Herzinfarktler hatte eine genetisch bedingte Herzschwäche. Ansonsten hatte ich ausgewiesene Fleischfresser genauso wie spätbekehrte Vegetarier vor mir, in der Regel aber hauptsächlich in ihren Ernährungsentscheidungen verunsicherte Menschen.

Die größte Erkenntnis der Ernährungswissenschaften in den letzten zehn Jahren war, dass sie sich hier geirrt haben. Nach und nach sind weitere „Wahrheiten“ dem aktuellen Wissensstand angepasst worden: erst kürzlich wurden die DGE-Empfehlungen zur Energiezufuhr als zu hoch erkannt, letztes Jahr kam man zur Erkenntnis, dass die gepredigten fünf Portionen Obst und Gemüse am Tag nicht nur kaum erreicht werden, sondern auch kaum etwas erreichen. Seit geraumer Zeit ist bekannt, dass der Einfluss von Kochsalz auf den Blutdruck so individuell ausfällt, dass er nahezu irrelevant ist. Und die Erkenntnis, dass Diabetiker-Lebensmittel das Leben von Diabetikern nicht vereinfachen, sondern gefährden, hat immerhin zu einem Verbot dieser Diätprodukte geführt. Seit Jahren wird Ernährungswissenschaftlern der BMI als objektives Entscheidungskriterium über die Notwendigkeit einer Interventionsberatung nahegelegt, obwohl er weder etwas über den Gesundheitszustand einer Person aussagt, noch überhaupt zur Beurteilung von Individuen geeignet ist. Der BMI, der vielen als handliche Rechtfertigung für Diskriminierung gilt, ist eigentlich ein statistisches Werkzeug, das größere Bevölkerungsgruppen vergleichbar machen soll. Dass Versicherungskonzerne den BMI benutzt haben, um die Höhe von Risikoaufschlägen bei Übergewichtigen zu klassifizieren, kann man dann auch gerade noch unter den Tisch fallen lassen.

Da liegt übigens schon die Tatsache, dass der Kalorienverbrauch und nicht etwa die Kalorienzufuhr den größeren Einfluss auf unseren Gesundheitszustand hat. Wer abnehmen will, muss sich bewegen. Natürlich kann man sich auch einfach runterhungern, dass das aber nicht besonders schlau ist, sollte sich mittlerweile rumgesprochen haben. Bewegung hält Gelenke geschmeidig, verhindert die Verkürzung von Sehnen, beugt Haltungsschäden und Schmerzen vor, regt die Ausschüttung von Glückshormonen an, verbessert die Nährstoff- und Sauerstoffversorgung aller Zellen und kurbelt ganz allgemein den Stoffwechsel an, um nur ein paar Effekte von Bewegung aufzuzählen. Eine Fixierung auf richtige oder falsche Lebensmittel allein kann das nicht. Für diese Erkenntnis und die daraus folgenden Konsequenzen braucht es aber auch keinen Ernährungs-, sondern einen Sportwissenschaftler.

Trotz allem bereue ich es nicht vollends, Ernährungswissenschaften studiert zu haben. Immerhin weiß ich dadurch, was ich von Ernährungsempfehlungen, von Diäten oder von den Segnungen der Lebensmittelindustrie zu halten habe. Andererseits ist dieses Wissen etwas überdimensioniert für die Beantwortung der Frage: „Soll ich die Chipstüte wirklich auf einmal leer essen?“
Ich habe den Vorteil zu wissen, was ich meinem Körper damit antue, wenn ich mir gesättigte Fettsäuren, Unmengen von Salz und Aromen sowie Kartoffelbestandteile fragwürdiger Herkunft reinpfeife. Aber sonst kann ich mit meinem Wissen niemanden retten. Keine Form von Ernährung kann uns vor dem Tod schützen, und viele Menschen sehen diese ihre Sterblichkeit als Entschuldigung dafür, ihre Ernährung eben nicht zu hinterfragen, um sich nicht den Tag zu vermiesen. Was soll man als Ernährungswissenschaftler da antworten?

Vielleicht, dass Essen auch immer eine psychologische Komponente und einen sozialen Anteil hat. Dass Essen, gerade gutes Essen, eine kulturelle Errungenschaft ist, und Genuss ein Grundbedürfnis des Menschen, dass aber die Dosis das Gift macht. Dass man im Grunde alles essen kann, wenn man sich gut fühlt dabei. Dass man sich vor allem aber nicht schlecht fühlen soll, wenn man mal eine Tüte Chips auf einmal leert oder eine ganze Tafel Schokolade verputzt. Nur wenn man einen Kontrollverlust feststellt, sollte man sich fragen, was man da offensichtlich kompensiert. Aber sich hier auf die Ernährung zu konzentrieren, hilft nicht weiter. Denn ein schlechtes Gewissen verursacht nur noch mehr Stress, den ja irgendwie auch keiner will.

Insofern rate ich jedem, der es hören will, und jedem, der es nicht hören will: Entspannen, nachdenken, weiterleben. Und sich lieber eine eigene Meinung bilden, als auf Experten hören. Auch nicht auf Experten wie mich.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
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