9 | Wieder im Wald | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

9 | Wieder im Wald

Yelda
November 7, 2010

„Du bist wach.“ Mandu lächelte. „Gut.“
Ich versuchte mich zu bewegen, doch der Schmerz ließ das nicht zu. Ich hatte kaum Kontrolle über meinen Körper. Ich konnte Mandu noch nicht einmal anschreien, ihr eine Erklärung abzufordern, was sie mir angetan hatte.
„Es tut weh, ich weiß. Kämpf nicht dagegen an, er wird nicht verschwinden, aber Du wirst Dich daran gewöhnen.“
„Remde?“ Das eine Wort war so anstrengend, dass ich es nur flüstern konnte.
„Er ist fort.“
Fort? Remde hatte mich mit Mandu alleine gelassen? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er freiwillig gegangen war. Er fühlte sich verantwortlich für mich, das wusste ich, das hatte ich gespürt, bevor mein Geist meinem Körper entflohen war. Mandu musste ihm etwas angetan haben.
„Er ist zurück zum Festland geschwommen.“ Mandu ließ meine Hand los und stand auf. „Dein Geist ist jetzt sicher. Schlaf, wenn Du kannst. Es wird den Schmerz erträglicher machen.“
Wahrscheinlich hatte sie recht, dass der körperliche Schmerz erträglicher werden würde. Meine Wut auf Mandu und das Entsetzen über Remdes Abwesenheit hatten den Schmerz ein Stück weit verdrängt. Ich wusste, durch meine Wut würde ich den Schmerz besiegen können, durch meine Gefühle konnte ich stärker werden. Und dann würde ich Mandu zur Rechenschaft ziehen.
Mit diesem Gedanken schlief ich ein.

Diesmal wusste ich nicht, ob es Traum war oder Wirklichkeit, die ich im Traum sah. Wie vorher fühlte sich das, was ich erlebte, wie die Wirklichkeit an, doch es konnte nicht sein, es durfte nicht sein.
Wieder schwebte mein Geist über dem See, wieder blickte ich weit in die Ferne über den Wald. Doch diesmal färbte ein dunkler Schatten den noch tagblauen Himmel, der ferne Horizont war in der aufkommenden Schwärze nicht mehr auszumachen. Es war nicht die Nacht, die sich dort näherte, zu früh und zu schnell brach sie über den Wald ein, und weit vor der tatsächlichen Abenddämmerung würde sie den See erreichen und die Zweibeine, die dort lebten.
Und ich wusste, dass dieses Dunkel aus dem See in der Lichtung im Wald die gleiche entlebte Ebene machen würde, in der ich vor so scheinbar langer Zeit erwacht war. Ich hatte Angst; nicht so sehr um mich, denn ich hatte - obwohl ich Mandu immer noch und wahrscheinlich zu Recht misstraute - nicht das Gefühl, dass sie mich darüber belog, dass ich hier sicher sei. Ich hatte Angst um die Zweibeine und vor allem um Remde, der, sollte Mandu wahr gesprochen haben, sich bei den Seinen befand, und den das Dunkel verschlingen würde. Ich musste ihn, ich musste alle warnen, die dort am Ufer des Sees lebten, vor allem aber musste ich Mandu davon überzeugen, auch dem Dorf ihren Schutz zu geben.
Kaum hatte ich diesen Gedanken gedacht, näherte ich mich auch schon dem Dorf, dessen Wohnhöhlen rasch größer wurden. Ich wusste noch nicht, wie ich Remde würde warnen wollen, wenn ich ihn gefunden hatte, denn ich nahm an, dass er mich wie bei meinem Nicht-Traum nicht würde wahrnehmen können. Doch darüber würde ich mir Gedanken machen, wenn ich bei ihm war. Wo würde er sein?
Ich konzentrierte mich auf Remde, auf sein Gesicht, seinen Körper, aber viel mehr noch auf das, was ich nicht mit den Augen, sonden mit meinen Gedanken gesehen hatte. Seine Verblüffung, seine Wut, seine Sorge, sein Unverständnis, seine Geduld und seine ihn selbst überraschende Ungeduld. Vor allem aber auf seine Angst um mich, denn diese leuchtete am hellsten von all seinen Gefühlen, und diese Angst würde mich zu ihm führen, das wusste ich, denn auch ich empfand Sorge und Angst um ihn, und ich wusste, diese Ängste würden einander lindern können.
Mein Geist ging zwischen den Wohnhöhlen hindurch, rief trotz der Unwahrscheinlichkeit, dass er es hören würde, nach ihm. Ich blickte in die größte der Höhlen hinein, und sah Erdboden, den unzählbare Schritte gefestigt hatten, und darauf Felle von Tieren, an den Wänden unnatürlich gerade Äste mit daran befestigten Steinen, ich sah irdene Schalen und Steine und Federn, seltsam geformtes weißes Holz, und zwischen all dem Zweibeine, groß und klein, manche mit langen, manche mit kurzen Haaren. Nur drei von ihnen sprachen miteinander, doch ich verstand sie nicht, obwohl die Sprache, in der sie sich unterhielten, keine andere sein konnte, als die, in der ich selbst schon mit ihnen gesprochen hatte.
Da ich Remde nicht unter den Zweibeinen in der Höhle sah, ging ich weiter, obwohl ich gerne länger geblieben wäre, um herauszufinden, was all die Gegenstände zu bedeuten hatten. Vor allem das weiße Holz, das mich an etwas bestimmtes erinnerte, warf Fragen auf, deren Beantwortung, wie so vieles andere, würde warten müssen.
Ich ging weiter, rief sporadisch nach Remde und wusste doch, dass ich ihn hier im Dorf nicht finden würde. Meine Angst um ihn sagte mir, dass ich ihn der Dunkelheit am nächsten finden würde, und so verließ ich das Dorf und ging die ansteigende Ebene hoch, auf den Waldrand zu.

Nun, da ich aus dem Hellen unter den Schatten der Bäume treten sollte, immer im Wissen, dass hinter diesem Dunkel eine viel größere, gefährlichere Schwärze lauerte, war mein Zögern größer als damals, als ich mit Remde das erste Mal freiwillig den Wald verlassen hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich nichts anderes gekannt als die Stimmen des Waldes, doch jetzt wusste ich auch, dass die Weite des Himmels keine Gefahr bot, sondern die größte Gefahr von den Lebewesen ausging, die sich unter der Weite versammelten. Ich fürchtete, dass im Wald, wo sich Wesen unerkannt bewegten, die Gefahr viel größer sein würde als auf der freien Ebene.
Denn trotz meines Wissens, dass nur mein Geist durch den Wald ging und mein Körper sicher auf Mandus Insel lag, war ich mir nicht sicher, ob ich nicht doch verletzt werden konnte. Wer wusste, was in diesem Wald lebte, und auf welche Art und Weise es mich oder andere verletzen konnte.

Als ich unter den Bäumen hindurch ging, spürte ich kaum den Boden unter meinen Füßen und nicht den Wind, der die Blätter bewegte. Und wenn ich meine Gedanken ausstreckte, um nach der Kraft des Lebens zu greifen, nahm ich nichts wahr außer mir selbst. Je weiter ich voranging, umso dunkler wurde es, nicht nur, weil die dichter und höher stehenden Bäume das Tageslicht immer weiter aussperrten, sondern auch, weil grauer Nebel aus dem Boden aufstieg, der das wenige Licht in sich aufzunehmen schien. Ich brauchte kein Licht, um meinen Weg zu finden, und doch wich mit der abnehmenden Helligkeit auch meine Selbstsicherheit und die Gewissheit, dass ich Remde finden würde. Dass ich ihn würde warnen und retten können.
Ich ging schneller, immer schneller in die Richtung, in der ich den Schatten erwartete. Immer wieder streckte ich meine Gedanken aus, auf der Suche nach irgendeinem Zeichen von Leben, und hätte angenommen, dass ich nichts spürte, weil ich von meinem Körper getrennt war, hätte ich nicht am Ende doch etwas gespürt. Direkt vor mir musste eine gewaltige Kraft sein, die sich mit der Unaufhaltsamkeit der Nacht voranschob, die alles überstrahlte, was dort hätte sein können. Während ich den Wald mit meinen Gedanken als bleiche Version seiner selbst wahrnahm, legte sich diese Kraft wie ein schwarzer Film über alles, und wie Wasser, das Sand und Staub mit sich nimmt, zerrann alle Form unter der Wirkung des Schattens. Denn ihn hatte ich gefunden, den Schatten, der sich lautlos über den Wald legte und ihn unter sich begrub. Und dann, kurz vor der gähnenden Leere, die den Schatten begleitete, ein flackerndes Strahlen, das nur einem gehören konnte: Remde, der nur wenige Schritte vor der dunklen Wand stand und sie doch nicht sah, denn er war ruhig und blickte in meine Richtung. Ich weiß, dass er mich sehen konnte, denn er winkte mir zu und rief etwas, das ich nicht verstand, denn ich war noch zu weit fort, um ihn zu hören.
„Remde! Komm her!“ Ich schrie, versuchte, die Distanz kraft meiner Stimme zu überbrücken. „Hinter Dir! Lauf!“
Doch Remde hörte mich nicht, er stand da und winkte mir zu, während der Nebel schon seine Füße verbarg und die Bäume direkt hinter ihm schon schwarz anliefen.
Ich versuchte, noch schneller zu laufen, ohne zu wissen, was ich tun würde, wenn ich ihn erreicht hätte, wie ich ihn würde mit mir nehmen können, wie ich ihn retten würde. Ich schrie seinen Namen, als die Bäume hinter ihm verschwunden waren, ich schrie seinen Namen, als der Nebel zu seinen Füßen schwarz wurde, und ich schrie seinen Namen, als er hinter sich sah, nur einen Moment, bevor sein ganzer Körper von Schwärze umhüllt wurde. Ich schrie seinen Namen noch, als er längst verschwunden war und die Wand aus Nichts auch mich verschlang.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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