Der Fall Franz Kalo | ANDERSWOLF

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Der Fall Franz Kalo

Textualitäten
Oktober 12, 2021

„Vielen Dank für Ihren Bericht, Herr Kalo. Fragen?“ Ewa Pandora ließ ihren Blick über die Runde schweifen. „Das scheint nicht der Fall zu sein. Nächster Punkt: die Neuorganisation der Ablage. Sie kennen die Probleme, die wir damit haben. Herr Kalo, ist noch was?“

Franz Kalo hatte sich noch nicht wieder gesetzt. Der Gedanke, der ihm eben noch auf der Zunge gelegen hatte, klebte ihm nun am Gaumen. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder, sagte schließlich: „Oblate.“

Ewa Pandora sah Franz Kalo an, den Kopf leicht geneigt, die Augen ein wenig zusammengezogen. Franz Kalo versuchte, ihren Blick zu erwidern, musste aber ein Lid schließen, um zu verhindern, dass ihm der rechte Apfel aus der Höhle glitt; und weil das den ganzen Raum in eine Schieflage brachte, senkte er auch das linke Lid. Doch statt beruhigender Dunkelheit füllte nur wieder die auslaufende Sonne sein Bewusstsein.

„Frau Geirönul, könnten Sie Herrn Kalo bitte helfen? Vielleicht möchte er sich hinlegen.“

Franz Kalo, der eben fast noch in den Teppich versickert wäre, spürte eine Hand an seinem Ellbogen und eine Hand auf seiner Schulter und eine Hand in seiner eigenen. Es dauerte einen Moment, bis er erkannte, dass auch die dritte Hand seine eigene war.

„Komm, Franz“, sagte eine leise Stimme an seiner Seite, „ich bringe dich raus.“

Mit geschlossenen Augen ließ Franz Kalo sich führen, konzentrierte sich darauf, keinen seiner Füße zu verlieren, während er gleichzeitig versuchte, nicht der allverschlingenden Gravitation in seinem Kopf zu erliegen. Hinter der ohrenbetäubenden Stille des Vakuums meinte er das leise Flüstern der Anwesenden zu hören und dann Ewa Pandora, die die Aufmerksamkeit wieder auf drängendere Themen lenkte: „In den Dossiers, die Sie vor sich liegen haben, finden Sie die Vorschläge von Professor Schrödingers Institut. Wie Sie sehen werden, könnten wir mit seinen Negentropie-Maßnahmen unsere Workflows deutlich …“

Während Hilda Geirönul Franz Kalo vorsichtig über den Flur leitete, verdrängte das leise Schlurfen über Kurzflor Ewa Pandoras Stimme.

„Hier nach rechts, Franz, noch ein paar Schritte, dann … ja, hier, setz dich, ich helfe dir, dich hinzulegen.“

„Danke.“ Franz Kalo spürte dem Wort nach, drückte die Zunge gegen den Gaumen, um die bitteren Reste des Ks herunterschlucken zu können und leckte sich dann die E-Spuren von den Lippen.

„Was ist denn los mit dir, Franz?“ Franz Kalo wusste nicht, wie laut Hilda Geirönul gesprochen hatte, ob sie überhaupt gesprochen hatte, ob er zu allem anderen Übel nun auch noch Gedanken spüren konnte: Ihre Worte hatten seinen ganzen Körper beben lassen, eine Vibration, die bis in seinen kleinen Zeh nachhallte. Hoffentlich fiel er nicht doch noch auseinander. Er musste sich zusammenreißen.

„Der Spiegel. “

„Aber eben in der Besprechung hast du doch …“

„Pandora.“

„Willst du sagen, sie hat dich gezwungen, deinen Bericht zu fälschen?“

„Nahegelegt. Sagte, ich könnte nichts beweisen. Recht hat sie.“

„Was denn beweisen?“

Franz Kalo atmete langsam ein und langsam wieder aus, um sich zu fassen. Im Spiegel hatte ihm das zwar nicht geholfen, aber da war er immerhin auf ein Schwarzes Loch zugefallen. Jetzt lag er nur auf einem Sofa und die größte Gefahr für ihn bestand darin, durch die Polster zu rutschen. Vorsichtig öffnete er erst ein Auge, dann das zweite. Über sich sah er Hilda Geirönuls Kopf, ihre Augen geweitet, und fast meinte Franz Kalo, darin kleine Supernoven blitzen zu sehen.

„Der Spiegel ist ein Portal.“

„Das wussten wir doch schon.“

„Aber nicht, wohin es führt. Ein Schwarzes Loch.“

„Der Spiegel ist ein Schwarzes Loch?“

„Nicht der Spiegel, dahinter. Ich konnte die Entfernung nicht abschätzen, ich bin zu schnell hineingefallen.“

Er verschwieg, was vorher geschehen war. Wie schildert man auch die Begegnung mit sich selbst am Ereignishorizont, das Gefühl sich – beziehungsweise einem zeit- und räumlich leicht verschobenen Selbst – in den Rücken zu fallen oder eigentlich: Rücken an Bauch, Zwerchfell an Zwerchfell, Fuß an Fuß und Hand an Hand und Kopf an Kopf miteinander zu verschmelzen, eins mit sich selbst zu werden ohne vorher gewusst zu haben, wie uneins man mit sich sein konnte. Und dann erst die Gedanken! Sprunghaft waren sie schon immer gewesen, hatten asymmetrisch in seinem Kopf gestanden, anomalisch selbst für einen wie ihn; doch in der autophagischen Synthese seines cerebralen Cortex und aller darin entstandenen Gedanken – dem Aufeinanderprallen nur subtil sich unterscheidender Echokammern, einem Urknall der Verkenntnis gewissermaßen – war Franz Kalo erst bewusst geworden, wie wenig Selbst-Bewusstsein er bislang besessen hatte.

„Aber im Versuchsprotokoll steht, du hättest den Spiegel nicht einmal berührt.“

„Ja. Das steht da.“

„Wie soll das zusammengehen? Nicht, dass ich dich loswerden wollte, aber wenn du wirklich in ein Schwarzes Loch geraten wärst, könntest du mir doch jetzt nicht die Bürocouch vollheulen.“

„Ich sag ja, keine Beweise. Was auch immer mich zurückgebracht hat, hat auch die Zeit zurückgedreht. Ich bin durch das Glas getreten und zurückgekehrt, um mich daran zu hindern, durch das Glas zu treten. Wenn ich aber nicht durch das Glas trete, kann ich doch nicht wissen, dass ich nicht durch das Glas treten sollte.“ Er seufzte. „Ich bin eine Realitätsvariable geworden, ein Paradoxon. Mir ist etwas geschehen, das mir nicht geschehen ist. Aber ich erinnere mich, Hilda, ich kann es immer noch fühlen, wie der Jet mich zerfetzt und Atom für Atom ins Multiversum schießt.“

„Tut es weh?“

„Manchmal. Manchmal fühlt es sich auch nur an, als würden Teile von mir verglasen oder stückweise abbrechen. Und manchmal habe ich einfach nur Angst, gar nicht da zu sein.“

Hilda Geirönul nahm Franz Kalos Hand in ihre.

„Du bist da. Hier, meine ich.“ Sie lächelte ihn an. „Ich sehe dich. Ich spüre dich. Ich glaube dir.“

„Was kann ich nur tun?“

„Nichts.“ Das Gesicht von Ewa Pandora schob sich neben Hilda Geirönul in sein Blickfeld. „Wir legen den Fall zu den Akten.“

[Fortsetzung von Nichts. Alles.]

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
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