7 | Mandus Insel | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

7 | Mandus Insel

Yelda
November 5, 2010

Mandu schien nicht glücklich. „Was wollt Ihr hier?“
„Wir brauchen Hilfe, geehrte Mandu.“ Remde hielt sich am Floß fest, offensichtlich hatte er keinen Grund unter den Füßen. Er war sichtlich erschöpft davon, mich über das Wasser zu ziehen.
„Ich suche meine Familie.“
„Wieso sollte ich Euch helfen?“
„Remde sagte, nur Du könntest wissen, wo meine Familie ist.“
„Sie hat den Verstand verloren und sich selbst, geehrte Mandu.“
„Und darum verschafft Ihr Euch mit Gewalt Zutritt zu meiner Insel?“
Remdes zeigte, kurz bevor er unterging, Verblüffung. Nach einem Moment durchstieß sein Kopf wieder die Wasserfläche. „Gewalt?“ Wasser floss von seinem Gesicht. „Sie kann nicht schwimmen, daher nahmen wir das Floß …“
„Es ist nicht das Floß, Remde, und sie weiß es. Du weißt nicht, wen Du bei Dir hast. Dass sie es auch nicht weiß, macht es nicht besser.“
„Bukon meinte, sie sei eine Tochter der Götter.“
Mandus Gesicht erhellte sich. „Eine Hohe?“
„Das sagte er, ja. Und die anderen schienen seiner Meinung zu sein.“
„Dieser Narr. Er ist so besessen, mehr zu sehen als den See, den Wald und den Himmel, der beides umfängt, dass er in jeder Fremden ein Zeichen der Götter sieht.“
„Also ist sie keine Hohe?“
„Wandelten die Götter oder ihre Kinder jemals unter uns, sie kämen nicht zu Bukon. Die Götter brauchen nicht die, die glauben wollen. Es sind die Zweifler, die den Göttern mehr als alles andere nutzen.“
„Also bin ich keine Hohe, weil ich Bukon gesehen habe? Remde, was hast Du getan?“
„Du bist keine Hohe, mein Kind, aber sei darüber nicht traurig und zürne auch Remde nicht. Ich weiß nicht, ob es recht von Remde war, Dich zu mir zu bringen, doch nun seid Ihr hier. Ich kann Euch nicht zurückschicken.“ Sie sah erst Remde an, dann mich, dann blickte sie über den See zurück auf das Dorf und vielleicht darüber hinaus, denn Mandus Blick schien nicht zu sehen, was dort am Ufer war. „Ich werde Euch nicht fortschicken. Ihr seid hier sicher.“ Sie sah zu Remde. „Du hast Leid über Dich gebracht, weißt es noch nicht und kannst auch nichts mehr dagegen tun. Du bist ein Blatt im Wind.“ Dann sah sie zu mir: „Und Du, mein Kind, bist der Sturm.“

Sie bedeutete Remde, auf den Stamm des Baumes zu klettern, auf dem sie bisher gestanden hatte, und auch mir auf den Baum zu helfen. „Lasst das Floß treiben. Es ist niemandem mehr von Nutzen.“ Remde, der es eben an einem Ast befestigen wollte, blickte verwundert auf. „Werden wir die Insel denn nicht mehr verlassen?“ Doch Mandu antwortete nicht, sondern ging voran. Remde ließ das Floß treiben und folgte ihr. Ich sah noch einmal zurück zum Dorf am Ufer, das vom langsam wieder einsetzenden Nebel meinem Blick entzogen wurde. Dann drehte ich mich um und folgte Remde und Mandu.

Mandus Insel schien keinen irdenen Grund zu besitzen. Statt dessen gingen wir auf Bäumen und zwischen Bäumen auf einem Boden entlang, der aussah wie auf der Erde liegende Baumstämme, die erst spät wieder zum Himmel strebten. Zwischen den Stämmen auf dem Boden wuchsen Moose und Farne, aber auch buntblühende Büsche und Blumen mit Rispen gelber Blüten und Trauben von Rot. Hinter Remde gehend sah ich, dass Mandu etwa so groß sein musste wie ich, wie die Zweibeine im Dorf hatte sie ihren Körper verhüllt, ihre Kleidung, die nur aus einem langen Hemd ohne Arme bestand, war schwarz wie die mondlose Nacht. Oder, fiel mir plötzlich ein, wie der entlebte Ort. Mandus Insel aber, sagte ich mir, war so voller Leben, dass sie unmöglich etwas mit dieser Art von Schwärze zu tun haben konnte.
Sie führte uns durch ihren Wald zu einer Lichtung, auf die, wie ich später erkennen sollte, alle Baumstämme der Insel zustrebten, um dann in einem einzelnen riesigen Stamm zu münden. Es schien, als bestünde Mandus Insel nur aus diesem einen Baum, dessen Äste glänzend grüne Blätter trugen und Blüten von einer so lebendigen roten Farbe, wie ich es noch nicht gesehen hatte. Was andererseits nicht viel heißen musste.
Mandu bedeutete uns, auf dem Boden Platz zu nehmen. Sie setzte sich kurz danach zu uns, nachdem sie vier große braunrote Früchte geholt hatte. Erst als sie vor sich, Remde und mich je eine der Früchte hingestellt hatte, erkannte ich, dass die Früchte nicht vollständig waren. Sie waren leer, nur noch die Schale. Aus der vierten Frucht, die ebenfalls ausgehöhlt, aber mit einer roten Flüssigkeit wieder gefüllt worden war, füllte sie die drei leeren Schalen, dann setzte sie ihre an die Lippen und goss sich etwas davon in den Mund.
Remde tat es ihr nach, doch ich zögerte. Wozu sollte das gut sein? Ich hielt meine Schale in der Hand und sah den wogenden Bewegungen der Flüssigkeit zu, bis mir bewusst wurde, dass Remde und Mandu mich ansahen.
„Trink“, sagte Remde. „Hast Du keinen Durst? Mandu will uns nichts Böses.“
„Durst?“ fragte ich, und Remde sah mich mit diesem Blick an, den er immer hatte, wenn ich etwas nicht verstand, das ihm vertraut war.
Auch Mandu musterte mich, doch ihr Blick deutete keine Verwirrung an oder Unverständnis. Ihr Ausdruck erinnerte mich viel mehr an unsere erste Begegnung, als sie uns abweisen wollte, an Zorn, wie ich später verstand, Zorn und Bosheit, beides Gefühle, die ich erst später kennenlernen und noch viel später verstehen sollte.
„Hast Du denn noch nie etwas getrunken?“ Remdes Frage lenkte mich von Mandus Gesicht ab.
„Ich weiß nicht.“
„Menschen trinken, um unseren Durst zu stillen, so wie wir essen gegen unseren Hunger. Weißt Du das auch nicht?“
„Ich kenne keinen Durst und keinen Hunger. Sind das gute Dinge?“
„Ich glaube schon, ja. Sie erinnern uns daran, dass wir aus dieser Welt sind, und dass wir essen und trinken, und das verbindet uns mit der Erde und den Tieren und den Pflanzen und damit der Welt.“
„Aber sie sind doch immer da, die Welt ist immer da.“
„So wie der Hunger und der Durst, wenn wir nicht essen und trinken. Und wenn Hunger und Durst zu stark werden, werden wir schwach und sterben, weil nichts anderes von uns übrig ist als Hunger und Durst.“
„Ich verstehe das nicht.“
„Du musst auch schon gegessen und getrunken haben. Wovon solltest Du sonst leben?“
„Ich lebe, weil die Kraft des Lebens mich erfüllt. Ich spüre sie zu jeder Zeit, ich muss mich nicht verbinden mit der Kraft des Lebens, denn durch sie lebe ich.“
Mandu sagte: „Du solltest trinken, mein Kind. Du hast Dich selbst verloren, vergiss das nicht. Nicht unbedingt ist das, was Du über Dich zu wissen glaubst, auch richtig. Du hast gewiss schon früher getrunken und gegessen und weißt es nur nicht mehr.“
Ich sah Remde an, der nickte. Dann sagte ich: „Wie geht also dieses Trinken?“
„Du setzt die Schale an Deine Lippen, lässt die Flüssigkeit Deinen Mund füllen und schluckst sie. Vertraue Deinem Körper. Er wird wissen, was zu tun ist.“
Noch zögerte ich, bis Remde hinzufügte: „Ich habe auch getrunken und es hat mir nicht geschadet, das hast Du gesehen.“
Ich setzte die Schale an meine Lippen, öffnete den Mund und ließ die Flüssigkeit in meinen Mund fließen. Kälte überzog das Innere meines Mundes, Taubheit erfasste meine Zunge, aber auch andere Gefühle, die ich nicht einordnen konnte, die mich an den Geruch von Blüten und den des Holzes im Wald erinnerten. Und als ich mich noch fragte, wie dieses Schlucken passieren sollte, geschah es schon. Mein Körper wusste, was zu tun sei, und ich spürte, wie die Flüssigkeit aus meinem Mund in meinen Körper wanderte, tiefer durch meinen Hals in meinen Bauch. Und ich war so überrascht, als mir die Schale den Fingern entglitt, als meinen ganzen Körper Taubheit erfasste, als ich das Bewusstsein verlor, dass ich fast nicht mehr hörte, dass Mandu sagte: „Ich musste es tun.“

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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