16 | Am Fluss | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

16 | Am Fluss

Yelda
November 12, 2010

"Das Ende der Welt? Wie kann denn die Welt enden?"
"Um das zu verstehen, muss ich weit ausholen. Aber wir werden noch eine Weile laufen, vielleicht kann ich es erklären."
Bevor wir wieder aufbrachen, trank ich noch einmal ausgiebig aus dem Fluss, dann gingen wir los.
"Das, was wir als diese Welt sehen, das worauf wir gehen, diese Wirklichkeit, ist eine Oberfläche der Kraft. Unter dieser Oberfläche und mit ihr verbunden, fließen die endlosen Ströme des Lebens und sie alle haben einen gemeinsamen Ursprung."
"Das ist der Ursprung der Kraft, aus dem auch Du entstammst?"
"Aus dem alles entstammt. Alles, was Du um Dich siehst, jedes Leben, und sei es noch so klein, hat eine Verbindung direkt zur Quelle. Nicht alle Wesen sind sich dieser Verbindung bewusst, und nicht alle Wesen können selbst aus der Quelle schöpfen."
"Können die Menschen es?"
"Manche Menschen sind sich der Verbindung zur Quelle bewusst, aber nur sehr wenige von ihnen ahnen, dass es möglich ist, die Verbindung zu verstärken. Es fordert den Menschen viel Konzentration und Disziplin ab, sich der Quelle so zu nähern."
"So wie es mich Kraft kostet, mich von ihr zu entfernen."
"Auf eine andere Art und Weise, ja."
"Ich habe mit der Kraft des Ursprungs die Hummel geheilt und meinen Wald zerstört. Ist es das, was die Menschen erreichen wollen, wenn sie die Quelle suchen?"
"Eine gute und berechtigte Frage. Ich kenne keinen dieser Menschen, aber ich glaube, die meisten suchen nach Macht, nach Stärke. Sie fühlen sich anderen unterlegen und fühlen sich darin gekränkt. Und darum wenden sie sich verstärkt dem zu, was sie von jenen anderen unterscheidet." Er dachte kurz nach und sagte dann: "Im Grunde ist das bei allen Wesen so: jedes von ihnen stärkt die Fähigkeiten, die es von anderen unterscheidet. Meine Art ist da nicht anders. Obwohl wir doch alle den gleichen Ursprung haben, versuchen wir doch alles, um uns durch Stärkung unserer speziellen Fähigkeiten voneinander abzugrenzen."
"Was unterscheidet Dich von den anderen?"
"Außer dass ich Dich vor der Vernichtung rette, die die Drei über Dich bringen wollen?"
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, aber Terno hatte nichts erwartet, denn er sprach sofort weiter: "Ich erkenne Unterschiede und ich kann diese Unterschiede zu Grenzen aufbauen und diese Grenzen nutzen, um mich und andere abschirmen. Darum bin ich bei Dir und nicht die Drei. Sie können uns nicht sehen, so lange wir zusammen sind, da sie mich nicht fassen können, obwohl wir den gleichen Ursprung haben."
"Wie machst Du das?" fragte ich, obwohl ich wusste, dass er es mir nicht sagen würde. Aber etwas anderes, das er gesagt hatte, war mir in den Sinn gekommen, und darüber wollte ich erst nachdenken, bevor ich ihn damit konfrontierte.
"Ich werde es Dir zeigen, aber wir sollten zurück zu dem, was ich eigentlich erklären wollte: den Ursprung der Wirklichkeit in der Quelle der Kraft."
"Und dem Ende der Welt."
"Bevor wir dazu kommen, müssen wir uns ihren Beginn betrachten. Viele Menschen glauben, die Welt wurde von Göttern, übermächtigen Wesen geformt, in deren Kämpfen die Welt um sie herum ihre Form bekam, die sie sehen. Tatsächlich aber formte sich die Welt selbst aus den Strömen der Kraft und des Lebens."
"Aber hat ein Stein Leben oder Kraft?"
"Sag Du es mir." Er bückte sich, löste einen Stein aus der Erde und legte ihn mir in die Hände. Der Stein war auf der einen Seite abgerundet und glatt, auf der anderen Seite rauh, gebrochen und voller Erde. "Sag mir, ob Du etwas in ihm fühlst."
Er sah, dass ich zögerte, und sagte: "Keine Angst, es kann nichts geschehen."
Ich schloss meine Augen und konzentrierte mich auf den Stein in meiner Hand. Ich fühlte sein Gewicht, seine Kälte, die langsam in meine Finger eindrang, die feuchte Erde, die an ihm klebte, die glatte und scharfkantige Oberfläche. Ich fühlte aber nichts im Stein, konnte nicht erkennen, ob etwas darin war. Lag es an mir? War ich schon so sehr von der Kraft entfernt, dass ich sie nicht in einem Stein fühlte? Nein, es musste an dem Stein liegen, in ihm war kein Leben.
"Such nicht so sehr im Stein selbst. Betrachte ihn als das, was er ist, als Teil der Welt", sagte Terno leise. Und ich begriff: Der Stein selbst war so wenig lebendig wie die Luft um uns oder das Wasser im Fluss. Doch wenn ich Ternos Rat befolgte, dann konnte ich einen Berg sehen, größer als alles, was ich je gesehen hatte, durch den ein Riss wuchs, dessen Oberfläche aufbrach und kippte, und aus dem Bruch floss eine träge, glühende Masse, die Bruchstücke des Berges unter sich begrub. Dann ein noch gewaltigeres Aufbrechen und der Berg verschwand in Staub, Rauch und Asche. Scharfkantige Felsen schleuderte er von sich wie ein nasser Fuchs das Wasser aus seinem Fell schüttelt. Und dann kam Regen, Wasser, das allen Staub vom Land mit sich nahm und auch die großen wie kleinen Brocken aus Stein. Und ich sah, wie das Wasser zu Tal stürzte, alles mit sich zog, was in seinem Weg lag, Steine gegeneinander und gegen die Welt rieb, wie es sich machtvoll in die Ebene fraß und auch dort Stein zu sand und Staub mahlte und davontrug. Und dann endete der Strom des Wasssers und das Flussbett trocknete aus. Der Matsch, der Staub gewesen war, wurde fest und hart wie Stein. Doch auch jetzt waren schon wieder die ersten Risse zu sehen, und mir war klar, was Terno mir hatte zeigen wollen, und sagte: "Der Stein selbst mag nicht lebendig scheinen, aber er ist Teil von Werden, Wachsen und Vergehen. Er hat kein Leben, ist aber Teil davon und trägt daher zwar keine eigene Spur des Lebens in sich, hinterlässt aber eine Spur im Strom des Lebens."
Als ich meine Augen wieder öffnete, sah ich Überraschung in Ternos Gesicht und fiel aus der Freude über meine Erkenntnis: "Habe ich etwas falsches gesagt?"
"Ganz im Gegenteil." Er lachte. "Ich bin nur überrascht, mit welcher Sicherheit Du die Worte der Menschen beherrscht, die Du erst vor einem halben Mondlauf kennengelernt hast."
"Ich lerne schnell", sagte ich und lächelte.
"Ja", sagte Terno. "Du lernst schnell." Und obwohl er sein Mund immer noch lächelte, sah ich doch, dass seine Augen einen Zug annahmen, den ich bei ihm noch nicht gesehen hatte. Kennengelernt hatte ich ihn allerdings bei Remde, und es war Sorge gewesen, Sorge und Angst.

"Die Welt formte sich also selbst aus den Strömen der Kraft und des Lebens", sagte ich, als wir weitergingen.
"Und sie formt und verändert sich auch weiterhin, auch wenn man lange die Welt beobachten muss, um das zu erkennen. Gebirge wachsen und Täler vergehen, Flüsse ändern ihren Lauf und Wälder überwuchern Sümpfe. Nichts bleibt stehen, nichts sieht sich ewig gleich."
"Betrifft das auch den Strom des Lebens selbst?"
Terno antwortete erst nicht, dann sagte er: "Natürlich verändert auch er sich, denn er ist die treibende Kraft hinter allem. Wäre der Lebensstrom nicht, nichts veränderte sich. Tod, nein, Stillstand wäre die Folge."
"Aber kann er denn nicht enden?"
"Nein."
"Aber jede Quelle kann versiegen, warum nicht auch diese?"
"Weil diese Quelle kein Wasser führt. Warum fragst Du das, wenn wir beide wissen, dass Du die Antwort kennst?" Als wollte er weiteren Fragen asuweichen, ging er schneller, aber ich wusste jetzt, was mich irritiert hatte, und wollte jetzt nicht aufgeben.
"Weil ich nicht verstehe, warum es so ist. Wenn sich alles ändert, dann kann man sich doch nichts sicher sein. Auch nicht, ob die eigene Existenz ewig ist."
"Meinst Du etwas bestimmtes?" Doch Ternos Frage klang nach einer Antwort.
"Ich denke an Deine Art. Ihr entstammt der Kraft und seid in ihr verankert. Woher aber wisst Ihr, dass Ihr nicht wie ein Fluss austrocknen könnt? Woher wisst Ihr, dass Ihr nicht wie die Blätter eines Baumes im Herbst fallen werdet?"
"Wir wissen es." Seine Stimme hatte jede Wärme verloren, doch ich beachtete das nicht. Ich spürte, dass ich einer Wahrheit näher kam, die er nicht aussprechen wollte.
"Woher? Was gibt Dir die Gewissheit? Woher willst Du wissen, dass Du, der sich so gut abgrenzen kann, nicht ebensogut von der Kraft abgegrenzt werden kannst? Dass sie Dich von sich wirft wie der Berg die absplitternden Felsen?" Ich atmete schwer. Wir waren mittlerweile so schnell, dass wir fast rannten, und ich wusste, dass ich dann keine Fragen mehr stellen könnte.
"Ich weiß es. Und Du weißt, dass ich mehr dazu nicht sagen kann."
"Dass Du es nicht willst", rief ich und blieb stehen. Ich wollte und konnte nicht mehr rennen.
Terno blieb einige Schritte von mir entfernt stehen.
"Glaub nicht, dass ich nicht wüsste, dass Du mir nur sagst, was ich Deiner Meinung nach wissen soll. Wir beide wissen, wie schnell ich lerne. Ich habe mich von Mandu anlügen lassen, erinnere Dich. Und ich weiß, dass sie eine von Euch ist oder war."
"Sie ist es nicht!"
"Doch sie ist es. Die Drei Deiner Art haben es gesagt, und aus welchem Grund hätten sie nicht die Wahrheit sagen sollen? Ich hätte eine der Ihren beinahe vernichtet, sagten sie. Wer, wenn nicht Mandu könnte das gewesen sein?"
"Und das ist Dein Beweis? Etwas, was die Drei in einem Traum gesagt haben?"
"Es war kein Traum! Es war wirklich!"
"Es ist kein Beweis!"
"Nein, dass wir hier stehen und Du mich anschreist, weil ich eine Wahrheit ausspreche, die Du nicht sehen willst, ist der Beweis! Du hast Angst vor mir, Angst, dass ich etwas herausfinden könnte, eine Angst, die mit mir und den Strömen von Kraft und Leben zu tun hat. Du hast Angst davor, dass ich herausfinde, warum ich existiere, warum ich beobachtet wurde, und Du hast Angst, dass ich herausfinde, warum Du mich beobachtet hast!"
Terno sagte nichts, sondern starrte mich nur an. Und von einem Moment zum nächsten war er verschwunden und ich blieb alleine am Fluss.

Ich wartete bis zum Abend und ich wartete bis zum nächsten Morgen. Ich hatte Angst davor, einzuschlafen, fürchtete, er könnte wiederkommen, ohne dass ich es erfuhr. Doch als die Sonne am nächsten Morgen aufging war er nicht gekommen, und ich wusste, dass ich nicht länger warten musste.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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