Drachentod | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Drachentod

Textualitäten
Dezember 22, 2022

Kaum hatte Ulvar den Drachen erblickt, stürmte er auch schon los. Seine Rüstung, ein über Jahrhunderte weitergegebenes Erbe des Königshauses, spiegelte das Grün der Lichtung, das Braun der Bäume, die Flammen in den Kronen und den Qualm in der Luft. In der Rechten führte Ulvar Weißdorn, die Palladiumklinge seiner Vorväter, ein Langschwert, das normal gebaute Männer vielleicht gerade so mit zwei Händen führen könnten, und in der Linken den Spiegelschild, den der Legende nach niemand geringerer als Nothor Basiliskentöter gefertigt und getragen hatte, als er mit dem Sieg über den letzten Schlangenkönig den Grundstein für sein Königtum legte.

Ulvar rannte zwischen den Klauen seines Gegners hindurch, wich einem Schwanzschlag aus, einem zweiten und dritten und sprang dann - ohne dabei langsamer zu werden - auf Schwarzfeuers Rücken. Pfirsichblüte hatte Ulvar geraten, nach der verletzlichen Stelle direkt am Schädelansatz des Drachen zu suchen: ein gezielter Stich, und der Kampf wäre im Nu vorbei.

Und tatsächlich schien Ulvar an seinem Ziel angekommen: zwischen den wild schlagenden Flügeln des Drachens sein Gleichgewicht haltend lupfte er das Schwert kurz an, griff um, drehte Weißdorn mit dem Heft gen Himmel und hieb die Spitze zwischen die Schuppen.

Über Schwarzfeuers Gebrüll meinte Pfirsichblüte ein leises Ploing zu hören, als sich die Klinge leicht bog und dann aus Ulvars Griff seitlich ins Gebüsch sprang; er merkte sich die Stelle, um später dort zu suchen, wandte sich dann aber rasch wieder dem Kampf zu. Ulvar hatte den Schild fallen gelassen, um sich mit der Linken auf dem Rücken des bockenden Drachen festzuhalten. In der Rechten hielt Ulvar jetzt ein weiteres Schwert, kürzer als Weißdorn und für den Hünen sicherlich das Äquivalent eines Apfelmessers, für normalgroße Menschen aber immer noch eine Waffe beachtlicher Größe. Das musste Blauzahn sein, die Zweitklinge des Königshauses, älter noch als Weißdorn, übernommen von den exilierten Nachkommen der vorigen Dynastie. Pfirsichblüte hatte einmal gewusst, in welcher Generation die beiden Häuser sich vereinigt hatten, für jetzt schob er den Gedanken aber beiseite. Wenn das Schwert wirklich Blauzahn war, musste der Knauf versehen worden sein mit einem Saphir in der Größe von Pfirsichblütes Hand. Unfassbar, mit welchem Arsenal Prinz Ulvar gekommen war, um Schwarzfeuer, den letzten Drachen der südlichen Ebene zu besiegen und damit den Königsfrieden auch über die Verfluchten Lande hinaus auszudehnen.

Ulvar hieb Blauzahn nun mit beiden Händen auf Schwarzfeuers Rücken, doch die Schuppen wollten nicht brechen. Der Drache wand und bog sich, brüllte und schrie, schlug mit den Flügeln, spie Feuer in die Luft und schien seinerseits nicht in der Lage, den Recken abzuschütteln. Und dann ging ein Ruck durch Schwarzfeuers Leib, eine Welle beginnend vom Schwanz über den unteren Rücken bis zum Nacken. Die Flügel erschlafften und schlugen zu Boden, den Kopf reckte Schwarzfeuer ein letztes Mal in den Himmel, die Augen rollten zurück, eine Wolke aus Dampf entstieg noch seinen Nüstern, dann fiel auch der Schädel auf die Erde: ein Schlag, den auch Pfirsichblüte in seiner sicheren Entfernung noch spürte. Und Ulvar richtete sich langsam auf, fast ungläubig, doch noch den Drachen besiegt zu haben, an dem schon so viele Helden vor ihm gescheitert waren. In einer - wie Pfirsichblüte fand - lächerlichen Geste stand Ulvar auf, streckte seinen ganzen Körper, die Linke seitlich an die Hüfte gesetzt, die Rechte mit Blauzahn in die Luft gereckt und stieß einen Jubelschrei aus.

Dann rollte sich Schwarzfeuer auf den Rücken und begrub Ulvar unter sich.

"Du hast es schon wieder getan." Schwarzfeuer klang entschieden maulig, aber Pfirsichblüte beschloss, diesen Tonfall nicht mit einer schuldhaften Reaktion zu belohnen. Statt dessen sagte er: "Was soll ich getan haben?"

"Du hast schon wieder behauptet, ich hätte eine Schwachstelle am Rücken."

"Vielleicht ist er selbst drauf gekommen." Pfirsichblüte wandte sich wieder dem Gebüsch zu. Irgendwo hier im Unterholz musste Weißdorn gelandet sein, aber es war schon recht dunkel. Pfirsichblüte überlegte, ob er Schwarzfeuer um ein wenig Licht bitten sollte, aber in dieser Stimmung würde er sicherlich den halben Wald abfackeln.

"Pfft."

Pfirsichblüte machte ein Gesicht, von dem er glaubte, es würde ehrliche Betroffenheit ausstrahlen und drehte sich um. "Was heißt denn da Pfft? Ulvar kommt … kam aus einer Familie berühmter Drachentöter, da war bestimmt ein Drache mit schwachem Nacken dabei."

"Schwacher Nacken? Was soll das denn sein? Osteoporose für Saurier?" Schwarzfeuer schnaubte rauchlos. "Jedenfalls habe ich dir gesagt, dass ich das hasse, und dass du das bitte lassen sollst."

"Aber …"

"Nichts aber, Pfirsichblüte." Der Drache schwenkte seinen Kopf ins Unterholz, so dass seine riesigen goldfarbenen Augen Pfirsichblüte direkt anleuchteten. "Erstens laufen die Kämpfe dann immer gleich ab, und das beginnt mich zu langweilen, und zweitens haben meine Schuppen beim letzten Mal noch nach zwei Wochen gejuckt. Such dir wenigstens eine andere" - Schwarzfeuer hob kurz die Vorderklauen und malte mit Zeige- und Mittelkralle Striche in die Luft - "'verwundbare Stelle' aus."

"Wieso jucken die Schuppen? Ich dachte, sie sind unkaputtbar."

"Lass dir mal mit einem Schwert auf den Rücken schlagen und bekomme kein schwaches Schlagtrauma davon. Es sind auch nicht so sehr die Schuppen als die Muskulatur darunter. Und du weißt ganz genau, dass ich mich am Rücken so schlecht selbst kratzen kann."

Pfirsichblüte wandte sich wieder dem Boden zu. Im Umdrehen sagte er: "Wenn du mal endlich deine Mobilitätsübungen machen würdest, die ich dir schon vor Jahren empfohlen habe, wärst du vielleicht etwas flexibler."

"Pfirsichblüte!" Schwarzfeuers Empörung ließ das Licht aus seinen Augen noch heller strahlen.

"Ich mein ja nur. Und jetzt: schau mal bitte auf diesen Strauch, ich glaube da ist … Ha! Gefunden!" Zufrieden hob Pfirsichblüte den Zweihänder aus Palladium aus dem Dreck.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
mit Erkenntnisgewinn.

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