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Ich kenne Clara Zetkin nicht

Von der Front
März 8, 2011

Als Clara Zetkin im Moskauer Exil starb, lag ihre Heimat in noch glühender Asche. Das Weimarer Deutschland hatte sich abgeschafft, hatte einem Brandstifter die Tore zur entzündlichen Identität eines Volkes geöffnet. Als Clara Zetkin starb, schwelte in Deutschland ein Feuer, dessen Brandgeruch auch fast ein Jahrhundert später noch nicht aus den Kleidern zu bekommen ist. Wäre Clara Zetkin jünger gewesen und nicht schon 76 Jahre alt und nach Selbstaussage invalide, sie hätte zum Widerstand gegen die Nationalsozialisten nicht nur aufgerufen, sondern hätte mit allen Mitteln gegen die neuen Machthaber gekämpft.

Clara Zetkin kannte wahrscheinlich kein Zögern, erst ihr zunehmend erstarrender Körper nahm ihr wahrscheinlich die Kraft, die sie wahrscheinlich all die Jahre und Jahrzehnte ihres sozialen und politischen Wirkens vorangetrieben hat. Wahrscheinlich.
Ich kenne Clara Zetkin nicht. Ich kenne keines ihrer politischen Zeugnisse. Wikipedia, das allwissende Auge, zeigt mir Ausschnitte aus der Geschichte, geschrieben von den Hinterbliebenen, von den Siegern und Verlierern, von all jenen, die sich aus dem einen oder anderen Grund für die Frau interessieren, der wir den Weltfrauentag verdanken, der heute offiziell hundertsten und tatsächlich neunzigsten Geburtstag feiert.

Am 19. März 1911 wurde auf Vorschlag von Clara Zetkin der erste Internationale Frauentag durchgeführt als Aktion für das Frauenwahlrecht, von dem sich vor allem die Sozialdemokraten eine Erweiterung ihrer Wählerschaft versprachen (sagt Wikipedia). Und auch wenn es noch sieben Jahre dauern sollte, bis Frauen tatsächlich wählen durften, war der erste Weltfrauentag ein phänomenaler Erfolg – für die SPD zumindest, die 1911 über 20.000 neue weibliche Mitglieder verzeichnen konnte und fortan den Weltfrauentag als wichtiges Oppositionsmittel jährlich durchführte, bis der 1914 deklamierte Burgfrieden der Opposition die Legitimierung für Opposition nahm.
Der Weltfrauentag wurde dennoch und in Illegalität durchgeführt, erweitert um die Forderung nach Frieden (und zwar nicht nur, um die SPD wieder offiziell in die Opposition zu bringen). 1917 schließlich spaltete sich die USPD von der SPD ab, nahm den Weltfrauentag gleich mit und gestalteten im Mai 1917 eine (wahrscheinlich aus rein sozialistischen und nicht aus Frauengründen) sogenannte „Rote Woche“.
Außerdem 1917, und diesmal am julianischen 23. Februar und am gregorianischen 8. März, lehnten sich die russischen Arbeiter-, Soldaten- und Bauernfrauen im Namen des hungrigen Proletariats gegen die satte Aristokratie auf und lösten so die Februarrevolution aus, die letztlich den Sturz der Zarenfamilie zur Folge hatte. Entweder eine bulgarische Delegation oder Lenin installierten daraufhin 1921 im Gedenken an diesen denkwürdigen Tag einen Gedenktag am 8. März.

In dem Jahr, als Clara Zetkin starb, wurde der Weltfrauentag, in dessen großen und kleinen Forderungen sich alle politischen Kämpfe Zetkins kristallisierten, von den Nationalsozialisten aufgrund seiner sozialistischen Herkunft verboten und durch den Muttertag ersetzt. Der Weltfrauentag wurde trotzdem begangen, weiterhin am 8. März, ungleich subtiler allerdings und als Zeichen politischen Widerstands gegen das Regime. Diese Deutung behielt der Weltfrauentag in der russischen Besatzungszone und der DDR auch später bei, wurde aber wie Clara Zetkin selbst für Propaganda-Zwecke der SED missbraucht.
In der BRD widmete sich der Weltfrauentag zwar dem Kampf gegen die Wiederbewaffnung, versank aber zunehmend in Bedeutungslosigkeit, da auch die keimende Frauenbewegung nicht recht wusste, was anzufangen sei mit diesem Tag, an dem in den Zwischenkriegsjahren zwar noch auch in den 1960ern wichtige Themen wie Arbeitszeitverkürzungen ohne Lohnabschläge, Senkung der Lebensmittelpreise, regelmäßige Schulspeisung und legaler Schwangerschaftsabbruch gefordert worden waren, der aber angesichts der Instrumentalisierung im Bruderstaat DDR als sozialistische und letztlich wahrscheinlich menschenverachtende Propaganda irgendwie geschmacklos erschien.

44 Jahre nach Clara Zetkins Tod wurde der Weltfrauentag von der UN als Aktionstag offiziell benannt, seit der Wiedervereinigung wird der Weltfrauentag in Deutschland mit dem zurückhaltendem Enthusiasmus begangen, der den brandversehrten Deutschen so zu eigen ist. Und vielleicht ist das auch richtig so, vielleicht wird der Weltfrauentag in seiner Bedeutung, in seinem Potential überschätzt. Es gibt sogar Frauen, die wie Alice Schwarzer die Abschaffung des Frauentags fordern, der durch die Betonung der Notwendigkeit der Gleichberechtigung der Frau genau das verhindert. Oder um es mit Viviane Redings Worten zu sagen: „Das Ziel ist die Gleichberechtigung, damit wir solche Tage nicht mehr brauchen.“

Clara Zetkin wäre wahrscheinlich der gleichen Meinung. Die Clara Zetkin, die ich kenne, würde sich wahrscheinlich nicht mit einem vermeintlichen Feiertag begnügen, der nicht die Gleichberechtigung der Frau feiert, sondern daran erinnert, dass sie es nicht ist, so wie die eingetragene Partnerschaft als Nebenkonstrukt der Ehe nicht die Gleichberechtigung hetero- und homosexueller Beziehungen darstellt, sondern sie vielmehr institutionell und damit offiziell voneinander abgrenzt. Die Clara Zetkin, die ich kenne, würde sich nicht abspeisen lassen mit dem Status Quo, vor allem nicht mit einem Status, der ganz und gar nicht Quo ist. Die Clara Zetkin, die ich kenne, würde kämpfen für Frauen und Männer, für Homosexuelle und Heterosexuelle, für Schwarze und Weiße, für Kinder und Erwachsene. Die Clara Zetkin, die ich kenne, würde kämpfen bis zum Ende ihrer Kraft. Wir können alle so viel lernen von ihr.

Andererseits kenne ich Clara Zetkin nicht.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
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