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Gesellschaftsversagen: Paris

Von der Front
November 14, 2015

Gestern Abend ein weiteres Symptom des Gesellschaftsversagens: ein Blutbad in Paris, verursacht durch bewaffnete Kriminelle. Man nennt sie Terroristen, der selbsternannte Islamische Staat reklamiert die Taten für sich als Rache für das französische Engagement in Syrien, François Hollande überhöht die Taten zum Kriegsakt. Die internationalen Medien befinden sich wieder im reflexhaften Rausch der Eventberichterstattung.

Mein Mitgefühl gilt jetzt den Angehörigen der Opfer, aller Opfer. All jene, die in der Nacht von gestern auf heute Angehörige und Freunde verloren haben. Und ja, es gilt auch den Angehörigen der Täter. Auch sie sind Opfer des Gesellschaftsversagens, einer seit dem Ende des Kalten Krieges in den 1990ern beobachtbaren Nebenwirkung der Globalisierung. Aber auch die Kriminellen, die überzeugt davon sind, man könne mit Gewalt eine neue, bessere Gesellschaft auf den blutgetränkte Ruinen einer alten errichten, auch sie sind nichts anderes als Opfer.

Was sie nicht sind, sind Terroristen. Sie sind Kriminelle, sie sind Mörder, sie haben ein kaum zu verzeihendes Unrecht verübt. Aber sie sind keine Terroristen, solange die angegriffene Gesellschaft ihnen nicht diesen Gefallen tut. Sobald die freiheitliche Gesellschaft sich von ihnen einschüchtern lässt und die Kriminellen Terroristen nennt, schenkt sie ihnen einen Sieg. In ihnen nicht auch Verlierer des globalen Gesellschaftsversagens zu sehen, heißt eine Chance auf ein Ende dieses asymmetrischen Dritten Weltkrieges zu vergeben.

Die sozialen Medien verbreiten in Deutschland derzeit neben der Solidarität für Paris vor allem zwei Botschaften. Die eine, die beängstigende ist der Ruf der Reaktionären nach Waffen, Vergeltung, Abschottung. Man müsse genau wegen solcher Vorkommnisse die Grenzen schließen, die Fliehenden aller Länder wieder zurückschicken, bevor man sich noch weiter ausliefere. Die andere, beruhigendere Botschaft ist eine reflektierte: es seien genau diese Taten, vor denen die Menschen, die jetzt zu uns kommen, geflohen sind. Die singulären Vorfälle von Paris sind Alltag in Damaskus, Bagdad, Asmara.

Jetzt Grenzen zu schließen, Überwachung und Bewaffnung auszubauen, Misstrauen und Abschottung zwischen den Menschen zu fördern, hieße nicht nur, die Kriminellen siegen zu lassen, sondern vor allem das Gesellschaftsversagen zu beschleunigen. Und damit vor allem: die Zahl der Opfer dieses Gesellschaftsversagens zu erhöhen. Dabei müsste die Reaktion vor allem aus weniger Abgeschlossenheit, weniger Parallelität, weniger Voneinander-Abrücken bestehen. Im verstärkten Miteinander und Füreinander, in Solidarität, Gemeinschaft, Mitmenschlichkeit stecken Lösungsansätze, die zu Frieden führen.

Europa droht in diesen Tagen zu zerfallen. Die Herausforderungen der Wirtschaftskrise, die täglich zu Tausenden in der EU strandenden Menschen, die Abspaltungsbestrebungen einzelner Länder (Ungarn, Großbritannien) und Landesteile (Schottland, Katalonien), das Erstarken extremistischer Parteien. Das Schengen-Abkommen wird ausgesetzt. Die Paris-Singularität verstärkt diese Bedrohung. Ihr nachzugeben, löst das Problem ebenso gut, wie Waffenlieferungen in autokratische Länder die Demokratie befördern.

Wir müssen erkennen, dass wir, um uns und unser Europa, unseren Frieden und ja, auch unseren Wohlstand zu retten, Opfer bringen, vor allem aber ein klares, ernstgemeintes Bekenntnis ablegen müssen zu den europäischen Werten von Freiheit, Demokratie und Gleichheit. Wir dürfen nicht zulassen, dass das Fortschreiten einer seelenlosen Globalisierung den Schutz der Menschenrechte aufweicht. Wir müssen vielmehr die Globalisierung so gestalten, dass sie den Schutz der Menschenrechte garantiert. Und zwar für alle. Nur so kann das zunehmende Gesellschaftsversagen verhindert werden: durch den gemeinsamen Willen zum Aufbau einer solidarischen Gesellschaft.

Anders

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