Auf der anderen Seite des Ganges | ANDERSWOLF

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Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Auf der anderen Seite des Ganges

Von der Front
August 15, 2018

Es war der 3. Juli, zu Beginn dieses großen und langen Sommers, als man noch dachte, die sonnigen Tage würden rasch wieder Regen und Kälte weichen. Noch schwitzte man heimlich, Flüssigkeit drang literweise aus allen Poren, sollte aber nur die eigene Haut berühren. Noch versuchte man, die thermale Überforderung vor Anderen zu verbergen, niemand sollte sich ekelbedingt abwenden müssen. Erst später, als der Sommer kein Ende und die Hitze alltäglich neue Höhen finden würde, wurden alle Hemmungen fortgeschwemmt.
An jenem 3. Juli schwitzte ich in Hanau wartend auf den Zug, der mich nach Hause bringen sollte. In Frankfurt hätte ich in einer klimatisierten Bahnhofsbuchhandlung warten können. Da eine Baustelle aber die Strecke nach Norden blockierte, wurden alle Züge über Hanau umgeleitet und schufen ein Nadelöhr, das sämtliche Ankünfte und Umstiege, Ab- und Durchfahrten verzögerte. So stand ich nicht nur die 13 angekündigten Minuten auf einem schattenlosen Bahnsteig, sondern dreimal so lang, während die Sonne die Gleise summen, die Sitzmulden aus Gitterdraht glühen und vor allem alle Reisenden unaufhörlich schwitzen ließ.

Im Zug, der schließlich hielt, saßen auf allen Plätzen Pendler, die in Frankfurt arbeiteten, nicht aber dort lebten: vor allem Menschen in den farblosen Uniformen der Wichtigen, aber auch jene bunt gekleideten Dienstleister, die den Bankern und IT-lerinnen in Vormittags- und Mittagspausen Getränke verkauften und Essen bereiteten. Ihre gesellschaftliche Position mochte sie trennen, in der Hitze des Zuges aber litten sie gleich unter dem Schweiß, der auf allen Stirnen stand, der Hemden und Blusen auf Oberkörper klebte und Achseln dunkel färbte. Gleich ihrer Herkunft schwitzten sie, denn die Klimaanlage des Zuges hatte versagt. Gleich ihrer Ziele schwitzten sie und machten sich klein und eng auf ihren Sitzen, um nicht den eigenen mit dem Schweiß des Nachbarn zu vermischen.
Das würde nicht glücken. Den ohnehin gut gefüllten Zug bestiegen in Hanau Dutzende Reisende, teils führten sie noch Koffer und Fahrräder mit sich. Mein Gepäck bestand aus einer schweren Tasche, die ich, kaum dass ich mich in die letzte Lücke im Eingangsbereich des Wagens gequetscht hatte, zwischen meine Füße auf den Boden stellte. Wieder aufblickend erkannte ich, neben wem ich stand: Rechterhand ein Bilderbuch-Punker mit rot-orange gefärbtem Irokesenschnitt und Sicherheitsnadeln in den Ohren, schwarzem Netzhemd über rotkarierter Hose, die in schwarzen Stiefeln steckte. Links von mir eine Nonne in schwarzem Habit mit weißem Schleier.
Vielleicht, dachte ich, hat mir die Sonne einen Stich verpasst. Weder mit dem einen noch mit dem anderen Menschen kann ich etwas anfangen, wie wahrscheinlich ist es da, dass ich zwischen ihnen stehe? Vielleicht, vermutete ich, habe ich sie nicht nur beim Einsteigen nicht gesehen, sondern sehe sie auch jetzt nicht. Vielleicht sind sie eine Gaukelei meines überhitzten Gehirns. Was aber mochte dann die Wahrheit sein? Zwischen Menschen stand ich doch, mit jedem Ruckeln und Schaukeln des Zuges stießen meine Ellbogen gegen groben Stoff einerseits und bloße Arme andererseits. So verband ich ungewollt zwei Menschen, die so unterschiedlich waren und doch nur zwei von vielen, die schwitzten wie ich. Ob wir, grübelte ich, wohl in einer anderen Situation vielleicht ins Gespräch gekommen wären? Ob wir wohl unsere verschiedene Sicht auf die Welt hätten diskutieren wollen, gar Gemeinsamkeiten gefunden hätten jenseits unserer Fähigkeit zur Transpiration und diesseits unserer Vorstellung von Transzendenz?

Der Zug hielt, wie ich fand, unvermittelt, doch als die Türen sich öffneten, erkannte ich die Realität eines Bahnsteigs. Frische Luft zog über meine Haut, und instinktiv trat ich einen Schritt hinaus. Erst als zu meinen Seiten Menschen mich passierten, wurde mir bewusst, was ich getan hatte: viel zu früh aus vollem Zug gestiegen, noch dazu die Tasche drin vergessen! Die Hitze, der Mangel an Sauerstoff, die Müdigkeit vom langen Warten in der Sonne. Vielleicht doch ein Sonnenstich.
Die Tasche stand, wie ich sie verlassen hatte. Beim Wiedereinstieg zog ich mir den Gurt wieder über den Kopf, das Gewicht belastend und beruhigend an Schulter und Hüfte. Im Zug war nun mehr Platz, auch die Nonne und der Punker hatten den Zug verlassen. Ob ich sie mir doch nur eingebildet hatte? Sitzplätze waren noch nicht freigegeben worden, rechts und links standen Menschen, blickten aus Fenstern, starrten in Handys. Sie sprachen nicht, noch nicht einmal über das Wetter, zu dem doch alle eine Meinung haben mussten. Die Menschen schwitzten nur in den Gängen und wünschten sich wohl wie ich, endlich daheim zu sein.
Und dann entdeckte ich einen jungen Mann, der nicht etwa im Gang stand, sondern im Fußraum eines Vierersitzes. Egoistisch, dachte ich, aber auch schlau, wie er sich an der Reling der Gepäckablage festhält, die schweißdurchtränkte Achsel seines Hemdes den übrigen Passagieren zugewandt, gleichzeitig die Ohren mit Kopfhörern verschlossen. Niemand würde auf den Gedanken kommen, sich setzen zu wollen, so deutlich war doch, dass dieser Raum nicht zu teilen war. Ein junger Banker musste das sein angesichts der schwarzweißen Kluft und der von aller Verantwortung schwer hängenden Schultern.  

Wieder hielt der Zug, wieder öffneten sich Türen, wieder strömten Menschen hinaus. Gänge und Plätze leerten sich. Auch der junge Mann war verschwunden, sein Vierersitz verlassen. Dorthin aber setzte ich mich nicht, sondern auf die andere Seite des Ganges, wo eine junge Frau abwechselnd aus dem Fenster und in ihr Smartphone blickte. Die Leere war verdächtig. Vielleicht waren die Plätze vollgesogen mit Schweiß, vielleicht verflucht, vielleicht nur ungewöhnlich unbequem.
Die junge Dame starrte mich an, die Augen verkniffen, die Brauen zusammengezogen, die Lippen aufeinandergepresst. Ich sollte nicht so nahe bei ihr sitzen, vermutete ich, schwer, ihr das übelzunehmen. Mir lief Schweiß über Arme und Gesicht, sie hingegen schien trocken, ihre Haut ohne jeden Glanz. Doch so sehr mir meine Schwitzigkeit unangenehm war, so wenig konnte ich dagegen tun. Als sie mein aufmunterndes Lächeln mit noch mehr Eisigkeit konterte, schlug ich meine Beine wenigstens so übereinander, dass sie möglichst wenig Raum einnahmen.
Diese Haltung öffnete meinen Blick in den Gang, in dem soeben der junge Banker wiedererschien. Er war doch nicht ausgestiegen, hatte sich nur in die Toiletteneinheit zurückgezogen. Seine Rückkehr wird das Geheimnis des Vierersitzes klären, dachte ich, sein Anblick jedoch gab mir nur mehr Rätsel auf: Ein Banker war er offensichtlich nicht, denn seine fadenscheinige Hose zierten handtellergroße Löcher, das knitterige Hemd steckte nur teilweise in einem Bund, der keinen Gürtel hielt. Noch immer trug er die Kopfhörer, und beim Schlurfen durch den Gang klebte sein Blick auf dem Display seines Smartphones. Ohne Zögern setzte er sich auf einen der freien Sitze.
Für einen Moment überlegte ich, ihn anzusprechen, wollte mich aber nicht aufdrängen. Den Wunsch, in seinen Kopf blicken zu können, verwarf ich: Hitze und Schweiß waren eklig genug. Immerhin schien auch die junge Dame einzusehen, warum ich mich zu ihr gesetzt hatte, ihr Blick, mit dem sie abwechselnd mich und den jungen Mann betrachtete, hatte seine Kälte verloren. Fast einträchtig beobachteten wir den jungen Mann, der lesend mit seiner Linken auf seinem Handy herumdrückte. Mit dem Mittelfinger der Rechten kratzte er sich an der Nase, mit dem Ringfinger am Ohr, zupfte mit Zeigefinger und Daumen an den Bartstoppeln, steckte den kleinen Finger in den Mund. Zunächst biss er nur auf das vorderste Glied, wie man das manchmal macht, denkt man nach. Dann schob er den Finger bis zum zweiten, bis zum dritten Glied in den Raum zwischen Zähnen und Wangen, fuhr sich deutlich sichtbar über das Zahnfleisch erst der rechten, dann der linken Gesichtshälfte. Dem kleinen Finger folgte der Ringfinger, der über die Innenseite der Zähne strich. Was tut er da? Ich starrte, blinzelte nicht, atmete kaum. Schweiß und Hitze waren vergessen, nur die wandernden Finger zählten, die Lippen und Zähne, Zunge und Gaumen erforschten. Der Mittelfinger schob sich über die ganze Länge und Breite der Zunge, der Zeigefinger tastete den Gaumen ab.
Hand und Mund schienen wie abgetrennt vom restlichen Körper zu sein. Hätte der junge Mann nicht einen, zwei, nein, vier Finger gleichzeitig in seinen weit aufgesperrten Rachen gesteckt, den Daumen unter dem Kinn verhakt, er wäre ein zwar nachlässig gekleideter, aber doch unauffälliger Mensch gewesen.

Ich blinzelte. Wandte den Blick ab. Dieser intime Moment eines Menschen, der sich selbst berührt, war obszön, nicht für den Anblick durch Andere gemacht, obschon dieser Exhibitionismus sich den Voyeuren ja doch aufzwang. Zugleich zweifelte ich, je länger ich in den Gang, auf den Boden, meine Füße, meine Hände blickte, umso mehr an der Erinnerung an die absonderliche Kosung. Hatte die Exploration wirklich stattgefunden oder war sie – wie Nonne und Punker – nur eine Irritation meines erhitzten Geistes, der den Selbstekel vor dem eigenen schwitzenden Leib in das Missverhalten eines anderen Menschen übertrug? Wenn ja: welche Gedanken und Sehnsüchte hatte ich unterdrückt, dass sie sich nun so Bahn brachen? Sehnte ich mich nach der Fähigkeit absoluten Glaubens an etwas Höheres und gleichzeitig nach der maximalen Freiheit eines die Gesellschaft herausfordernden Individuums? Verstand ich mich als Mittler zwischen jenen Außenstehenden und jenen in der Mitte der Gesellschaft, wo ich mich doch in keiner dieser Welten wirklich verwurzelt sah? Wie ich es drehte und wendete: Der junge Mann passte so wenig in diese Erklärung wie eine Faust in einen Mund.
Um nicht wieder starren zu müssen, zwang ich meinen Blick nach rechts, Richtung Fenster. Da saß die junge Frau, Augen und Mund geöffnet, auch sie schien zu sehen, was ich gesehen hatte, auch sie zweifelte vielleicht an ihrer Wahrnehmung, denn nun suchte ihr Blick bei mir die Bestätigung, dass auch ich gesehen hatte, was sie sah. In unserem Entsetzen waren wir unerwartete Verbündete geworden, Zeugen einer Anomalie, die wir uns alleine nicht erklären konnten. Hatte sie mich vor Minuten noch abgelehnt und fortgewünscht, gaben ihr meine Anwesenheit und mein Nicken die Sicherheit, dass sie nicht fehlsah.
Ein Kichern stieg in ihr auf, ein Glucksen, das, je länger es dauerte, immer weniger Komplizenschaft und immer mehr Irrnis lautmalte. Meine Bestätigung war nicht beruhigend genug gewesen, und ein Blick zurück zu dem jungen Mann zeigte, dass meine Annahme, eine Faust passe nicht in einen Mund, naiv gewesen war. Als wolle er auch noch die Beschaffenheit seiner Speiseröhre untersuchen, hatte der junge Mann seine Hand bis über das Daumengrundgelenk in seinen Mund gezwängt, während er, als läse er ein Handbuch für orale Penetration, seinen Blick nicht vom Bildschirm seines Smartphones genommen hatte.
Das Lachen der jungen Frau war einem gutturalen Jammern gewichen. Sie würgte, als wolle sie sich übergeben. Sie schluckte hörbar, doch das Schlucken schien nur zu verschlimmern, was sie zu vermindern gehofft hatte. Ihr Atem beschleunigte, verflachte, ihre Pupillen verengten sich, auf ihre Stirn traten nun doch noch Schweißperlen. Und dann zog sie sich ihre Handtasche heran, steckte ihre Hände hinein und zog ein Fläschchen hervor, aus dem sie eine stark nach Eukalyptus riechende Flüssigkeit in ihre Handfläche goss, in ihren Händen verrieb, die Unterarme hinauf bis zu den Ellenbeugen. Dann schloss sie die Augen, lehnte sich zurück, atmete tief ein und langsam wieder aus.

Der Zug hielt überraschend an meiner Station. Rasch griff ich nach meiner Tasche, eilte zur Tür und trat aus dem überhitzten Zug in erfreuliche Kühle. In der letzten halben Stunde war die Temperatur gefallen. Mein T-Shirt, das im Zug nicht getrocknet war, hing mir klamm am Oberkörper. Bis ich zuhause ankäme, würde mich diese Kühle bestimmt wieder freuen.
Auf dem Heimweg dachte ich nach über Menschen, die so gleich und doch so anders waren, dass Gegensätze nebeneinanderstehen und sich doch nicht wahrnehmen mochten wegen all der kleinen Sphären aus Musik, Glauben oder Technologie. Sphären, die einander so wenig berührten wie Menschen an einem schweißtreibenden Tag. Gleichzeitig konnten diese Menschen sich so fern sein, als seien sie wie durch einen breiten Fluss getrennt, und sich doch so intim berühren, dass der Eine sich die Finger in den Hals stecken kann und der Andere davon würgen muss.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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