31 | Nochmals über Tharb | ANDERSWOLF

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Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

31 | Nochmals über Tharb

Yelda
November 30, 2010
Was Antejar mir über Tharb erzählt hatte und was ich später selbst aus den Aufzeichnungen im Buchturm der Stillen Götter erfuhr, waren alles nur Hinweise auf das, was Tharb und der Fels, auf dem die Stadt lag, tatsächlich darstellten. In meinen Jahren ohne Zahl in der Stadt der Drei Türme, wie sie von jenen, die ihre lebensbedrohliche Reise durch das versehrte Land nach Tharb überlebt hatten, genannt wurde, entdeckte ich mehr, viel mehr über den Ort, der so viele hundert Jahre meine Heimat werden sollte.

Als die Menschen die Stadt verließen, blieb ich zurück. Ich musste in Erfahrung bringen, was ich im Kampf gegen Remde gespürt hatte, was ich vielleicht auch geweckt hatte. Im Brunnen unter dem Turm erfuhr ich viel, denn das Wasser, in dem ich mir oft den Staub der sterbenden Straßen vom Körper wusch, entsprang nicht etwa einer vom Fluss gespeisten Grundwasserquelle, sondern arbeitete sich aus viel tieferem Grund empor, einem so tiefen Grund, dass er schon fast die Grenzen unserer Wirklichkeit berührte.
Und auch das erfuhr ich erst später: dass es neben unserer Wirklichkeit und der jenseitigen Welt noch viele andere Welten und Realitäten gibt, die alle ihre eigenen Regeln und Verbindungen zueinander finden. Ich habe niemals einen Weg in eine andere Welt als die jenseitige gefunden, habe allerdings nie wirklich danach gesucht. Auf meinen zahllosen Wanderungen durch die Verwüstung des Wilden Zaubers, den ich entfesselt hatte, spürte ich oft die Nähe einer anderen Welt, die Möglichkeit einer Passage, allein, es wäre mir unmöglich gewesen, denn meine Kraft hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon lange erschöpft. Ich hätte Kontakt zum Strom haben müssen, doch das blieb mir auf ewig verwehrt, nachdem ich Ternos Rat befolgt und alle Spielregeln geändert hatte.
Und auch nie strebte ein Wesen der anderen Welten in die Unsere, als wisse es, dass der Wilde Zauber es verzehren könnte, wie er alles verzehrte, was ihm zu nah kam. Ich dachte oft an Sobekan und daran, dass er die Stadt nicht mehr wiedererkennen würde, nicht mehr wissen würde, wie die Ruinen, die die kaum noch erkennbaren Straßen säumten, vor seiner Gefangenschaft und seinem Tod ausgesehen hatten. Ich verbrachte viel Zeit bei dem Baum, unter dem wir Sobekan begraben hatten, und dieser Baum, der niemals dem Schatten anheim fiel, der nach und nach alle Pflanzen und Tiere in und um Tharb versehrte, war mir oft Trost und Schutz. Er erinnerte mich an die Tage meines frühesten Bewusstseins, als ich unschuldig und rein wie der frisch gefallene Schnee unter den Bäumen, die ich Familie nannte, erwacht war.

Der Innere Kreis von Tharb war wie der Fels im Moor, wie die kahle Anhöhe, wie die rot leuchtende Grotte ein Sicherer Ort, einer von jenen, von denen Terno wusste, dass sie die Ströme der Kraft ablenkten und all jene, die sich bei ihnen aufhielten, vor jenen, die aus der Kraft heraus nach ihnen suchen würden, verbarg. Doch Tharb war mehr als einer der gewöhnlichen Sicheren Orte, denn der Felsen der Stadt war gleichzeitig ein Schild und ein Brennglas. Erst später, als ich meinen ersten richtigen Sturm miterlebte, entdeckte ich, was die Menschen unter dem Auge eines Orkans verstanden. Tharb war das Zentrum einer riesigen Machtumwälzung und es war die uralte Mauer, die aus den Gebeinen der Erde selbst stammte, die bewirkte, dass der Innere Kreis unversehrt blieb. Vielleicht aber war er auch überhaupt erst für den Orkus verantwortlich, in dem die Kraft um die Stadt wirbelte.

Später habe ich auch oft versucht, meine Kraft, die ich im Kampf mit den Drei geopfert hatte, wieder zu gewinnen oder wenigstens Kraft aus dem Felsen selbst zu ziehen, doch nie mehr konnte ich gestalten. Meine Wahrnehmung konnte ich ausdehnen, ich konnte gezielt nach den Fäden der Kraft greifen und ihre Spur verfolgen, doch die Manipulation der Wirklichkeit, eine wirkliche Ausdehnung des Einflussbereichs außerhalb meiner körperlichen Kräfte waren mir unmöglich. Andererseits, und das war für mich selbst viel überraschender, konnte auch mir selbst nichts mehr etwas anhaben. Ich stand wie schon zu Beginn meiner Bewusstwerdung außerhalb aller Regeln. So gesehen hatte ich nur eine kurze Zeit, in der ich tatsächlich den Spielregeln der Wirklichkeit unterstellt war, nämlich von jenem ersten Schluck aus Mandus Quelle bis zu jenem Kampf mit den Dreien, der ihre Existenz grundlegend veränderte und mich gleichzeitig befreite und unterjochte. Diese Wochen waren die einzige Zeit in meiner Existenz, da ich wirklich nach den Regeln der Welt und nach der Definition der Menschen gelebt habe. Vorher und nachher war ich unangreifbar, unantastbar, unverwundbar. Und es war erst in jenem Kampf gegen Remde, der seine Seele für geborgene Macht eingetauscht hatte, da mir klar wurde, wie machtvoll ich wirklich war, da ich noch eins in mir war, dass ich noch heil und gesund war. Remde war in sich gebrochen, zerbrochen, in ihm wütete ein eigener Wilder Zauber, der wie in der Ebene von Tharb alles verschlang, was noch geblieben war von dem Mann, der mich einst im Wald gefunden und dann in sein Dorf gebracht hatte.
Ich erkannte das bereits während des Kampfes mit Remde, und es war dieses Mitleid, mit dem ich Remde am Schluss überwand. Es war meine Liebe zu ihm, die ich damals noch nicht verstand und nicht erkannte, und selbst wenn ich sie damals erkannt hätte, es wäre zu spät gewesen. Remde hatte in dem Moment sein Leben verwirkt, als er in den Dienst der Drei getreten war. Er erkannte das aber nicht. Er wollte es vielleicht auch nicht sehen. Er konnte es nicht sehen wollen.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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