Noch nicht aufgeben | 36340 | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Noch nicht aufgeben | 36340

Yelda
November 28, 2010
13660. Eine schwierige, eine schlimme Zahl, vor allem, wenn man die 2 auf der anderen Seite der Liste sieht. 13660 und 2.

Ich kann nicht glauben, wie schnell die Zeit verging. Wie schnell 30 Tage vorbei sind. Wie schnell auch die letzten beiden Tage vorbei sein werden. 13660 Worte in 2 Tagen. Unmöglich für mich, denn es hieße 6830 Worte pro Tag. Mein Leistungsmaximum waren 4762 Worte an Tag 24, die mir mehr abverlangt haben, als die ganzen Wochen davor. An 6 Tagen habe ich nichts geschrieben. Keine Zeile, kein Wort. Nicht einmal eine Entschuldigung habe ich dafür.

Natürlich könnte ich sagen, die Arbeit habe mich abgelenkt, aber gerade in den Wochen, in denen ich viel gearbeitet habe, habe ich auch viel geschrieben. Es ist nicht die Arbeit, es ist die gähnende Leere meines Alltags, die Verlockung der Serien, die gesehen werden müssen, die Ablenkung der Musik und des Schlafens, die Notwendigkeit, Tee zu kochen und Stollen zu backen. All die Dinge, die ich immer mache, machen wollte, machen musste, aber nie so unbedingt wirklich wahrhaben wollte. Vor allem aber ist es ein Fehlen von Disziplin, von Selbstvertrauen und Selbstwert, ein Mangel an Erfolgreich-Sein-Wollen. Ein Mangel, in der Tat.

Ich tue mir selbst leid. Und dadurch natürlich auch Leid. Bemerkt man als unreflektierter Geist vielleicht nicht, dass da tatsächlich ein Unterschied besteht, merkt man auch nicht, will man nicht wissen, ist auch egal, hilft ja niemandem was, ist ja nur Kleinkram, dessen Erwähnung andere nervt. Wie der Untergang des eigenen Intellekts, der sich seit Jahren nun schon um nichts anderes bewegte als um die eigene Unfähigkeit zur Selbstverwirklichung. Mein Thema schon immer und in jeder Facette: Selbst-Werden. Veränderung durch Blickwinkelwandel und Wahrhabenwollen. Niemals habe ich das stärker erlebt, diesen Niedergang und diesen Wandel – nicht zum Besseren – im Gespräch mit Freunden, deren Leben so viel geradliniger verläuft.

Sie machen sich keine Gedanken darum, dass ihr Intellekt verblassen könnte. Sie stehen aber auch nicht den ganzen Tag an der Käsetheke und müssen sich das attraktive Ausrichten der Käsestücke in der Selbstbedienungstheke als kreativen Akt schönreden.

Eben erkannt, wie sehr ich meine Zeit, wie sehr ich mich selbst da vergeude. Ich reibe mich auf zwischen Kunden und unfähiger Geschäftsführung, reibe mich auf zwischen gegeneinander intrigierenden Supermarktmitarbeitern, reibe mich auf in der Überbrückung des klaffenden Spalts zwischen Brotberuf und Traumberuf. Und mehr denn je ahne ich, dass ich das Schreiben aufgeben sollte. Mehr denn je. Auch so eine Floskel, die sich in meine Sätze eingeschlichen hat wie das ständig selbtmitleidige Pathos meines Zensors, der immer wieder darauf herumreitet, dass ich damals, als ich es mir noch leisten konnte zu schreiben, es nicht getan habe, und dass ich jetzt, wo ich mein Potential vergeude, indem ich gestressten LOHAS überteuerte Molkereiprodukte als Teil ihres Bio-Lifestyles andrehe, nicht immer noch glauben sollte, dass Schreiben so einfach wäre wie den Stift in die Hand zu nehmen.

Mehr noch aber ärgert mich die letzte Zahl, auf die ich jeden Abend blicke, wenn ich mein Tagessoll in meine verschiedenen Listen eintrage. Heute sind es 500000. Eine halbe Million Worte in 28 Tagen. Ich frage mich immer, wie das gehen soll. Wie man bei einer solchen Quantität tatsächlich Qualität erreicht. Ob das dann noch ein Ziel sein kann. Ob man eine solche Zahl an Worten wirklich noch einmal lesen will. Ob es der Wahrheit entspricht.
Teils ist es natürlich auch Neid, der da spricht. Joyce angeblich habe pro Tag nur einen Satz geschafft, manchmal nur ein Wort. Natürlich eine falsche Anekdote, eine literarische Legende, die mich aber mehr beruhigt als mich die 500000 Worte motivieren.

13660 und 2, ein so ungleiches Paar, dessen volle Tragweite ich erst übermorgen Abend völlig ermessen kann, wenn ich mit dem geringsten Anspruch, den ich je an meine Sätze hatte, so viel Text wie möglich produziere. Schon jetzt sträuben sich alleine bei der Vorstellung daran alle meine Haare, denn das ist das einzige, was schon immer zwischen mir und jedem Erfolg stand: die Unfähigkeit zu akzeptieren, dass ich nicht immer das beste aufs erste Mal geben kann.

Goethe angeblich habe nie einen seiner Texte überarbeitet. Woher man das weiß, ist mir nicht bekannt, genauso wenig der Wahrheitsgehalt. Wichtig aber ist die Legende, die meine Großmutter mir erzählte. Dass Goetheblut in unserer Familie sei, dass in jeder Generation unserer Familie mindestens ein überkreativer Angehöriger gewesen sei, der nicht nur hervorragend schreiben, sondern auch in anderen kreativen Bereichen großartig gewesen sei. Sie selbst war ein Beispiel dafür, dichtete sie doch und malte anrührende Bilder. Die Legende trug mich durch meine Pubertät und ließ mich meine Andersartigkeit ertragen. Ließ mich verstehen, warum ich so seltsame Dinge dachte und sprach, warum es mir immer eine Notwendigkeit war, zu schreiben, meine Gedanken auszubreiten und zu sezieren, bis ich sie so sehr verdichtet hatte, dass ein Reim, ein Vers, eine Strophe geboren war. Und es bot mir die Aussicht auf ein Leben wie Goethe es hatte. Bis zum Ende der Pubertät, als ich erkannte, dass meine Andersartigkeit sich auf auf anderen Lebensbereichen bezog. Und je mehr ich mich selbst akzeptierte, umso weniger wünschte ich mir, anders zu sein, und mehr das zu sein, was die anderen waren: gleich und ohne Ambition. Unliterarisch.

Die letzten 28 Tage haben viel in mir bewegt, haben viel in meinen Gedanken bewirkt und haben mir vor allem gezeigt, dass ich stolz sein kann, wenn ich schreibe. Nicht alles, was ich schrieb, hatte Hand und Fuß, aber es war vor allem auch nicht alles Mist. Ich muss anerkennen, dass ich eine Geschichte aus dem Boden gestampft habe, deren Ende absehbar, aber noch nicht geschrieben ist, deren Figuren nicht ganz so platt wie ich befürchtet habe, die dummerweise aber auch überwiegend aus Dialog und Rückblicken besteht. Vor allem aber haben sie mir noch einmal vor Augen geführt, dass mir das Schreiben wichtig ist, dass es mir aber offensichtlich nicht so wichtig ist, dass ich ihm alles opfern würde. Welchen Schluss ich daraus ziehe, ist noch offen.
Vor zwei Wochen habe ich mir selbst auferlegt, das Schreiben aufzugeben, alle literarischen Ambitionen zu begraben, wenn ich nicht die 50000 in 30 schaffen würde. Jetzt, da ich in 28, oder eigentlich ja nur 22 Tagen mehr an einer Geschichte geschrieben habe als jemals zuvor, will ich diesen Pakt nicht mehr einhalten müssen. Ich befürchte aber, dass es außerhalb meiner Entscheidung liegt. Wie sehr ich an den kommenden zwei Tagen bereit bin, meine Geschichte zu beenden und 13660 Worte zu schreiben, wird, ob ich will oder nicht, entscheidend sein für mein literarisches Leben, vor allem aber für mein Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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