Winterlied | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Winterlied

Von der Front
November 9, 2004

Noch nicht mal über Nacht, sondern mitten in die Dämmerung herein bricht das weiß in die Welt, und statt Farben füllen Kälte und Nässe und Atemnebel die Straßen zwischen den ausblutenden Häusern der Stadt. Es will wieder wintern in den Wäldern, das Leben in den Feldern verstummt, einzig in den Leben der Menschen will keine Ruhe einkehren. Im Gegenteil wird man jetzt noch eiliger, noch eifriger, noch ungehemmter im Verlieren seiner Zeit, bis in ein paar Wochen Erschöpfung statt Stille die Freude der Menschen erstickt.

Daheim verlieren sich die Eltern in über sie hereinbrechenden Schneemassen, plötzlich ohne Licht und Strom, nur der Kachelofen spendet Wärme und Geborgenheit, die Eltern selbst sind verstört, der Fernseher ist nicht da, ist fortgegangen wie die Kinder, fort wie die Nachbarn, fort in die Dunkelheit, die alles nun umarmt.

Der Schnee fällt weiter, die Nacht schreitet voran, allein hinter den Fenstern des Hauses sitzen zwei Menschen, nicht wissend, was miteinander anzufangen. Im Schein von Kerzen isst man zu Abend, leise schweigend sitzt man Seite an Seite am warmen Ofen, der Atem des Anderen das einzige Geräusch im schummrigen Raum. Vielleicht sagt man ein paar Worte, doch sie können nicht ersetzen, was fehlt, sind nicht verbindend in der Einsamkeit, verzweisamen nicht, sondern machen nur betroffen. Im flackernden Licht der Kerze sieht man sich nach Jahren des gemeinsamen Lebens wieder und erschrocken hofft man auf die Rückkehr der Welt.

Später, der Strom und das Licht, die Heizung und der Fernseher sind zurück, wird die Mutter nur sagen, es sei seltsam gewesen, alles sei so still gewesen. Nur eine Kerze und das Radio, gottseidank hatte man Batterien. man habe sich hingelegt, früher als sonst, was habe man auch sonst tun sollen. Der Vater? Nein, der sei nicht hier, der besuche eine Fortbildung, ob ich das nicht gewusst habe.

Noch später in der Nacht, vor dem Fenster fällt weiter das Weiß in dicken, nassen flocken vom Himmel, sitze ich auf Geräusche lauernd, sie zu sammeln, damit ich schätze habe, die ich herausholen und an denen ich lauschen kann, wenn mich das Dunkel verschlingt.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
mit Erkenntnisgewinn.
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