Der Keim allen Übels | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Der Keim allen Übels

Trophisches
Juni 8, 2011

Viele betrachten ja den aktuellen Lebensmittelskandal als willkommene Entschuldigung dafür, jetzt endlich keinen Salat mehr zu essen. Wurde auch Zeit, wo die bisherigen Skandale – BSE, Antibiotika-, Gammel- und Klebefleisch, Analogkäse und Dioxineier – den Verzehr von Gemüse als einzig sichere Ernährung erscheinen ließen. Und dann auch noch diese unerträglichen Bücher wie Anständig essen und Tiere essen, die einem das Schnitzel auf dem Teller und überhaupt jedes tierische Produkt schlecht reden. Endlich hat man ein handfestes Argument gegen diese Veganokratur.

Andere wie Hartmut Wewetzer vom Tagesspiegel freuen sich dagegen darüber, dass endlich der Biokratur die vermeintliche Unschuld genommen wurde:

Es ist makabere Ironie, dass ausgerechnet die böse Chemie in Form von Antibiotika und anderen Arzneimitteln und die Gentechnik in Gestalt biotechnisch hergestellter Medikamente nun die Menschen rettet, die möglicherweise „Bio“ in Gefahr gebracht hat – falls sich die Indizien bestätigen.
[…]
Bio-Lebensmittel sind nicht nachweislich gesünder als herkömmlich erzeugte und manchmal sogar gefährlicher. Ein Grund ist der Verzicht auf Kunstdünger. Zur Düngung eingesetzte Gülle, Mist und Kompost können Krankheitserreger enthalten. Auch der Hang zu rohen, naturnahen und unbehandelten Lebensmitteln hat seine Tücken. Eine häufige Quelle von Ehec-Ausbrüchen ist nicht erhitzte Rohmilch. Und immer wieder fallen Bioprodukte durch Keimverunreinigungen auf, wie aus einer Auswertung der Stiftung Warentest aus dem Jahr 2007 hervorgeht.

Recht hat er. Wurde Zeit, dass auch die verblendetsten Umweltschützer und Grünwähler mal sehen, dass unsere Ernährungsprobleme nicht im sterilen Labor beginnen, sondern auf dem unhygienischen Feld.

Aber mal im Ernst: was ist denn eigentlich passiert?

Irgendwie gelangen Darmkeime in die Nahrungskette. Nicht auf die Probiotika-Weise, wo man sich Myriaden von lebenden Darmbakterien freiwillig in den Mund schüttet. Sondern auf einem unsichtbaren, intransparenten Weg.
Die Folgen: erstens natürlich die Infektion, der Durchfall, schlimmstenfalls Organversagen und Tod. Zweitens aber, und das ist viel dramatischer, eine vollständige Verunsicherung eines übergroßen Teils der Bevölkerung. Selbst im Biomarkt und bei den direktvermarktenden Bauern auf dem Markt brechen Gemüseumsätze ein aufgrund einer irrationalen Angst vor Killergurken, Todestomaten und Suizidsalat. Vollkommen unreflektiert machen Verbraucher neuerdings einen großen Bogen um alles, was auch nur ansatzweise roh aussieht, Dosenobst und Konservengemüse verkaufen sich dagegen plötzlich überraschend gut.

Als Dienstleister im Lebensmitteleinzelhandel hat man momentan nur noch eine Aufgabe: Unbedenklichkeitsbezeugungen für die eigenen Produkte geben. Die Gurken, ja, die kommen aus der Region, ja, die esse auch ich, den Salat, ja, den sollte man schon waschen, wahrscheinlich ist noch Sand drin, das knirscht sonst. Die Tomaten, naja, spanische halt, mit denen gibt es kein anderes Problem als früher, aber ja, die kann man schon essen, wenn man muss. Schmecken halt immer noch nach nix. Auf meine doch wohl sicherlich vorhandene Angst vor EHEC angesprochen sage ich gerne: Ich habe mir zwar nicht anlässlich, aber zeitgleich der ersten Erkrankungsfälle das erste Mal in meinem Leben Rohmilch gekauft, das Lebensmittel, das wie kein anderes sonst vor 2011 als Quelle für EHEC-Infektionen galt. Und ja, sie hat gut geschmeckt. Sollten Sie auch mal probieren, wenn Ihre Paranoia nachlässt.

Denn das ist ja die eigentliche Krankheit, die derzeit ihren größten Ausbruch in der dokumentierten Geschichte der Industriegesellschaft feiert: das Misstrauen der Menschen in ihre Lebensmittel. Wir, die vermeintlich mündigen Verbraucher, sind so schnell und leicht so umfassend verunsichert, weil wir die Verbindung zu unserer Nahrung verloren haben: Wir glauben, die Milch kommt aus der Flasche, das Fleisch aus dem Supermarkt. Dass Joghurtbecher nicht auf Bäumen wachsen und Bananen noch nicht mal in unseren Breiten, haben wir in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt wunderbar ausblenden können. Wir wissen nicht, wie es sich anfühlt, ein Schwein zu schlachten, eine Kuh zu melken. Wir wissen teilweise nicht, wie man die giftigen von den ungiftigen Beeren unterscheidet, wenn sie nicht im Supermarkt ausliegen, es gibt Menschen in Deutschland, die nicht wissen, wie es ist, einen noch nicht ganz reifen Apfel zu pflücken und seine Zähne ins noch saure Fruchtfleisch zu graben, den Saft das Kinn herunterlaufen zu spüren, und es gibt Menschen, die noch nicht einmal wissen, dass es Quitten gibt. Arm sind sie dran, vor allem jetzt, wo sie von dem Skandal nur behalten werden, dass alles Rohe töten kann.

Wie bekommen wir die Kirche zurück ins Dorf?

Die erste und wichtigste Aufgabe von Politik und Behörden ist es natürlich, den Erreger und seine Quelle aufzuspüren und auszuschalten. Daneben wird es aber für die Zukunft wichtiger sein, dem Verbraucher, der Gesellschaft wieder das Vertrauen zu geben, dass die von uns verzehrten Lebensmittel sicher, sauber und gesunderhaltend sind. Dazu gehört nicht, die Lebensmittelproduktion noch mehr abzuschirmen und gänzlich in die Labore und Fabriken zu verlagern, sondern im Gegenteil Transparenz durch Öffnung auf Produzenten- wie auf Konsumentenseite. Die im 20. Jahrhundert forcierte Entfremdung zwischen Lebensmittel und Konsument muss umgekehrt werden: denn nur was wir nicht kennen, ängstigt uns; stellen wir uns unserer Angst vor der Natur, können wir sie vielleicht nicht beherrschen, aber doch verstehen (beide, die Angst wie die Natur).

Die erste und wichtigste Aufgabe des Verbrauchers ist es daher, Unwissenheit und Angst zu überwinden und damit seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu entkommen. Der aufgeklärte Verbraucher weiß, dass die Qualität eines Lebensmittels wichtiger als sein Preis ist. Der aufgeklärte Verbraucher weiß, dass international arbeitende Lebensmittelkonzerne gewinn- und nicht kundenorientiert arbeiten. Der aufgeklärte Verbraucher weiß, dass die Entscheidung für „regional und saisonal“ wichtiger ist als die zwischen bio und nicht-bio. Der aufgeklärte Verbraucher aber weiß vor allem, dass die Verantwortung für seine Gesundheit nicht in den Händen irgendwelcher Konzerne, Politiker, Behörden oder Landwirte liegt, sondern in seinen eigenen und dass es seine Aufgabe ist, für sich selbst die beste Wahl zu treffen. Und nicht einfach nur die einfachste.

PS. Und die Sprossen? Sind vielleicht, vielleicht auch nicht die Quelle der Infektionen. Das wird sich wahrscheinlich nie mit Sicherheit und abschließend sagen lassen können.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
mit Erkenntnisgewinn.
Impressum

Und nein,
ich will Eure Cookies nicht.
Datenschutzerklärung

Anderswann