Noctambul | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Noctambul

Usus operi
November 11, 2004

Man stirbt. Jeden Tag und jede Sekunde und alle paar Stunden ein bisschen mehr. Was gestern noch am Leben war, ist morgen fort und vergessen, wie die Großmutter, die mit jedem Tag zwar nicht stirbt, aber vergisst. So entfernt sie sich selbst jeden Tag, jede Sekunde und alle paar Stunden ein bisschen weiter von der Welt, die sie nicht loslassen, nicht gehen lassen mag.

Man kann sie noch erkennen, die einst geliebte und gekannte Frau, die wohl zu ihrer Zeit eine der schöneren jungen Frauen gewesen sein muss, man kann den Großvater, der schon vor so langer Zeit so unwürdig sterben musste, verstehen, warum er sich in sie verliebt haben mag. Warum er ihretwegen nicht die Stadt, nicht den Beruf, nicht sein Leben wechselte. Warum er sich für sie entschlossen haben mag statt für andere.

Man sieht es nicht mehr gut, man muss die Frau kennen, die hinter diesen offen schlafenden Augen vielleicht noch vorhanden ist. Dann kann man vielleicht einiges mehr sehen als die flinken, aber verwirrten Augen, mehr grau als einst blau, die sich wild in alle Richtungen streckenden Haare, unzähmbar und weiß. Vielleicht sieht man dann mehr als die alten Hände mit den Adern, die sich dick wie Taue unter der überraschend weichen Haut bewegen, während sie abwesend mit einer Serviette, einem Knopf, einem Stift, einem anderen Finger spielt. Vielleicht sieht man die Liebe, die sie einst empfunden haben mag.

Und fragt sich: Liebt sie noch?

Und fragt sich nicht: Lebt sie noch?

Und man selbst ist so weit fort von dieser Frau, die vor wenigen Wochen an Krebs erkrankte. In ihrem Alter wollten Ärzte ihr noch eine Therapie verpassen, eine Therapie, die sie schneller getötet hätte als die Krankheit, die an ihr nur langsam nagt. Eine Therapie, die auch den Vater ihres Sohnes getötet hat, der sich dagegen gewehrt hat zu sterben bis zum letzten Augenblick.

Die Nacht bricht herein über die Welt, die Sterne schimmern hinab auf die Schlafenden. Sie alle haben vergessen, wer sie sind, sie alle träumen davon, wer sie sein könnten. Die Nacht gibt ihnen die Freiheit dazu. Einzig die alte Frau, die nicht mehr schlafen kann seit nun fünf Jahren, seit ihr Mann und ihr Leben starb, liegt alleine wachend in ihrem Bett, verwirrt nach den fünf Jahren Trauer, kann kaum mehr sprechen und blinzelt den Sternen entgegen, die so fern sind, so fern.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
mit Erkenntnisgewinn.
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