Namibia: Zurück und voran | ANDERSWOLF

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Namibia: Zurück und voran

Von der Front
Mai 10, 2011

Die kleinen und großen Unterschiede. Das Früher und Später, das Was-wäre-wenn. An jedem Tag, in jeder Sekunde, in allen Entscheidungen, vor jedem Schritt stehen wir auf der Schwelle zur Veränderung. Und gehen immer voran. Und blicken stets zurück.

Vier Wochen waren vergangen seit dem viertstärksten Erdbeben in der Geschichte der aufzeichnenden Menschheit, als ich in die älteste Wüste der Welt aufbrach. Die Namib, der leere Ort, bietet wenig Leben Raum. Nichts gedeiht dort, war meine Gewissheit, hatte ich es doch selbst schon gesehen, das Fehlen von Leben, die Nicht-Existenz von Veränderung. Dort aber blühten Blumen, überzogen Büsche die Dünen und zwischen roten Sandbergen funkelte blau ein weiter See. Ich erkannte und erkannte doch nicht den Ort, den ich unverändert dachte, ich war erschrocken und erstaunt, gefangen von der Schönheit dieses unerwarteten Paradieses, ehrfurchtsvoll angesichts des Wunders vor mir.

Namibia erlebt derzeit die längste und üppigste Regenzeit seit einem Jahrhundert. Es ist schwer, jemandem, der nie die Trockenheit des fast verdursteten Landes gespürt hat, zu erklären, wie sehr der Anblick von hochaufgeschossenen saftigen Gräsern an die Grenzen der eigenen Erinnerung rührt: der stetige Versuch, in den ausgewaschenen, nassen Fahrwegen die staubigen, steinigen Straßen wiederzuerkennen, der immerwährende Fehlschlag, in den blühenden Wiesen und Sträuchern das dürre, im lauen Wind raschelnde fahlgelbe Gras zu sehen, all die vermeintlichen Momente des Begreifens lehren nur eines: dass nichts von Dauer, nichts ewig, nichts festgeschrieben steht. Der Regen hat alle vermeintliche Wirklichkeit aus der Welt gewaschen und ein neues, grünes Land hinterlassen.

Den dortigen Menschen, die vom und auf dem Land leben, ist dieser Regen, den sie zunächst begrüßten wie einen lange vermissten Freund, ein schlimmerer Feind geworden als die Dürre zuvor. Während zuvor jeder geregnete Millimeter mit Freude und Stolz an die Nachbarn weitergegeben worden war, begleitet jetzt jede Regenmeldung ein Unterton von Furcht vor dem, was die Wolken noch bringen möchten: schon wieder drei, noch einmal fünf, wieder und wieder zehn Millimeter in fünf, in drei, in zwei Stunden. Mehr als in Deutschland in einem Jahr habe es in Teilen des Landes in den letzten vier Monaten geregnet, sagen manche, um dann zu warnen: Höre es nicht bald auf mit dem Regen, werde er allen Segen, den er mit sich brachte, wieder mit sich nehmen. Das Gras sei zu schnell gewachsen, es sei nichts wert, sagt eine Farmerin. Das Gras habe keine Kraft und bald werde es auf den Feldern stehend verrotten, wenn der Regen nicht ende. Und dann sei der Regen, der zunächst als Segen gesehen wurde, noch gefährlicher als alle Trockenzeiten zuvor, denn die Trockenzeiten hätten nie Hoffnung geschenkt, um sie danach wieder zu zerstören. Der Regen aber zerstöre den Mut der Farmer und aller anderen Menschen, die vom und auf dem Land leben.

Die Namibier blicken viel zurück auf die Zeit vor dem Regen und gehen doch voran. Sie wissen, das Land wartet nicht auf sie, die Erde wird die fallenden Fluten weiterhin trinken und die Riviere sich weiter auswaschen. Die Tiere des Landes werden sich mästen und so für die schwereren Jahre wappnen, sie werden hinnehmen, was ihnen geschieht, und sich anpassen. Die Menschen dagegen, sie werden hadern, werden zurückblickend vorangehen und immer wieder sehen, wie wenig sie sind angesichts einer Wüste, die nicht der alten Leblosigkeit nachtrauert, sondern nach 80 Millionen Jahren wieder blüht.

Vier Wochen nach meinem Besuch in der Namib bin ich scheinbar zurück in meinem alten Leben, das dann doch so anders ist. Die Relationen haben sich verschoben in allen Belangen. Nicht alles, was wichtig schien, ist es noch. Die großen Träume sind nicht kleiner geworden, aber ferner, die Ängste, die Befürchtungen haben ihren Schatten verloren, die Hoffnungen ihren Glanz. Mit Ehrfurcht denke ich noch immer an die Wüste, die nicht zögert angesichts des Überflusses, sondern dem Regen ihre schönsten Blüten schenkt, und ich befühle mein eigenes Zaudern wie einen Fremdkörper in mir, der mich zurückhält, der Angst heißt und ein Widerstand ist gegen die wilde Natur, die sich in allem über uns dünnhäutige Menschen erhebt, die noch nicht mal in Teilen begriffen haben, dass es nicht um unser Weiterleben als Spezies geht in dieser Welt. Und erst langsam begreife ich selbst, dass wir nur Teil sind eines Tanzes, der Jahrmillionen vor uns getanzt wurde und der Jahrmillionen nach uns immer noch die gleiche Melodie der Evolution haben wird. Es reicht ein Wimpernschlag, ein Regen, eine Zuckung des in seinen Träumen von Gravitation versunkenen Erdkerns, um alles zu verändern, was wir für sicher hielten. Und während wir immer noch gefangen sind in der Schwerelosigkeit des Augenblicks und selbst träumen von unseren geplanten Leben, dreht die Welt sich, verrückt um zwei Dutzend Zentimeter, um eine neue Achse.

Die großen und die kleinen Unterschiede. Das Vorher und das Nachher, das Veränderte und das Gleiche, das ewige Was-wäre-wenn. Wie soll man die Unterschiede noch erkennen, wenn das, was Erinnerung ist, niemals die Realität widerspiegelt, sondern nur unsere Wahrnehmung des Vergangenen? Wie soll man zurück und voran sehen, ohne vom eigenen Blick getroffen zu werden? Wie soll man zurückfinden, wenn man fort war, in ein Leben, das nicht mehr da ist, das schon nicht mehr da war, als man es hinter sich ließ und in ein fernes fremdes und vertrautes Land aufbrach?

Man kann es nicht. Man kann nicht mehr zurück und unverändert sein. Man kann immer nur voran.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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