25 | Rubin, Spahir und Korund | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

25 | Rubin, Spahir und Korund

Yelda
November 24, 2010
Später, viel später würden die Ruinen von Tharb einen sicheren Hafen für all jene verlorenen und verirrten Menschen in jenem Teil der Welt darstellen. Die Brücken und Häfen waren da schon verbrannt und zerstört, die Gebäude außerhalb der ältesten Stadtmauer kaum mehr als verwitterte Stümpfe eines sturmversehrten Waldes. Allein drei Türme im Inneren des Mauerrings blieben über all die Zeit nahezu unversehrt: der Wachturm der Inneren Garde an der östlichen Mauer, von dem aus ich später oft die wandelhafte Landschaft auf der anderen Flussseite beobachtete; der Buchturm der Stillen Götter, in dessen Tiefen ich nicht nur viel über Glaube und Angst der Menschen erfuhr, sondern auch einen Teich zum Schwimmen und Trinken fand; den Turm des Todestrakts, in dem mein Körper beinahe gestorben wäre, weil ich meinen Kampf für einen Moment aufgegeben hatte und mich von dem trügerischen Versprechen auf Freiheit durch Aufgeben hatte verführen lassen.

In der Leere außerhalb meines Körpers erinnerte ich mich an Sobekans Beschreibung meines Selbst: dass ich nicht sichtbar, nicht spürbar, nicht auffindbar sei, wenn ich es nicht wollte. Und tatsächlich konnte ich mich nicht mehr spüren, allein die Erinnerung an die Schmerzen, die ich durchlitten hatte, um in eben jenen Körper zu gelangen, und dass Wissen, dass es diese Schmerzen durchaus wert waren, sich wieder dorthin zu kämpfen, gaben mir die Sicherheit, dass ich eine Aufgabe hatte, zu der zurückzukehren es galt, auch wenn ich nicht wusste, wie mir das gelingen sollte. Wie sollte man etwas finden, das nicht existent schien?
Und dann fiel mir noch etwas anderes ein, das Sobekan gesagt hatte: man würde mich nur finden, wenn ich gefunden werden wollte, ich müsste jene, die mich finden wollten, rufen. Irritierend fand ich das, denn ich wusste nicht mehr, ob das schon vorher so gewesen war. Hatten mich die Drei, hatte mich Terno finden können, weil ich sie gerufen hatte? Oder hatte erst der Aufenthalt auf Mandus Insel oder das Versenken im Fluss und der Welt mich unauffindbar gemacht? Wenn ich mich nicht verändert hatte, dann musste ich vorher schon das Bedürfnis gehabt haben, sie zu sehen, zu hören oder einfach nur zu treffen. Und noch mehr: ich musste offenbar gewollt haben, dass man mich findet.
Ob ich getan hätte, was ich tat, wenn ich die Folgen nicht nur erahnt, sondern auch gefürchtet hätte?

Ich rief. Ich rief mich, ich rief Terno, ich rief die Drei. Ich rief, so laut ich konnte, dachte mir eine laute Stimme, dachte mir, meine Rufe wiederhallen zu hören, dachte daran, wie meine Rufe in meiner Zelle erschallen würden. Ich rief alle, die mich hören konnten: „Findet mich, ich will gefunden werden, ich gebe das Versteckspiel auf!“ Und dann hatte ich plötzlich Augen und ich öffnete sie und sah: Farben, Schatten, Töne. Ich sah die Schatten von Bäumen und Seen, die Laute von Vögeln und Fischen, die Bewegung von Baumkatzen und Käfern, die Erinnerung an alles, was war und wurde. Und ich sah mich selbst, Splitter meines Selbst und das Echo meines Schreis. Und dann sah ich sie: Rubin, Saphir und Korund, rot, blau und gelb auf mich zustürzen. Ich erwartete einen Aufprall, einen Schlag, einen Schmerz, doch statt dessen hörte ich nur ihre Stimmen und spürte ihre Kraft, die mich zu begraben drohte.
„Sie ist da!“
„Sie ist unser!“
„Sie ist verloren!“
„Ich habe keine Angst mehr! Ich werde nicht mehr fliehen! Ich werde gegen Euch kämpfen!“ rief ich und hoffte gleichzeitig, ich müsste nicht kämpfen.
„Lüge!“
„Trug!“
„Wahn!“
Das Dunkel um uns fiel zurück wie die Nacht in der Dämmerung versinkt, und aus der Tiefe tauchten die Gesichter aus, die ich in meiner Vision bereits gesehen hatte: die hartblickende Frau in Rot, die gelbe Frau mit dem zusammengekniffenen Mund, der Blaue mit dem spöttischen Grinsen. Und erst aus der Nähe fiel mir etwas auf, das ich durch meine Vision von ihnen nicht erwartet hatte: sie sahen sich nicht nur verblüffend ähnlich, sie hatten alle drei das gleiche Gesicht wie Terno.
„Was werden wir mit ihr machen?“
„Was werden wir von ihr übriglassen?“
„Wir werden sie zerstören. Wir sind im Krieg. Wir haben keine Wahl.“
„Es gibt immer eine Wahl!“
„Dann wähle Dein Ende. Du hast keine Zukunft.“
„Die Welt will Dich nicht.“
„Die Welt braucht Dich nicht.“
„Dein Kampf ist vorbei.“
Und dann spürte ich den ersten Schlag. Ich hatte ihn teils befürchtet, teils erhofft, auf jeden Fall aber erwartet. Hätte ich mich nicht konzentriert, hätte mich der Angriff wie ein Sturm gefällt. Doch so konnte ich mich ihm entgegenstemmen, die Wucht ableiten und ausweichen, auch wenn mir nicht bewusst war, wie ich in einer Welt ohne Zeit und Raum und Richtung einen Angriff so abwehren konnte.
Dem ersten folgte ein zweiter, ein dritter Schlag. Ich sah sie kommen und konnte ausweichen, doch meine Konzentration ließ nach. Selbst einzeln könnten sie mich leicht besiegen können, da ich die Ausweichmanöver nicht ewig durchführen könnten. Zudem war ich schwach. Mein Körper hatte seit langem nichts mehr gegessen oder getrunken, ich wusste, selbst wenn ich den Angriff der Drei überleben würde, müsste ich doch bald wieder an den Strömen der Kraft bedienen.
„Sie will kämpfen!“
„Sie will siegen!“
„Sie wird verlieren!“
Und dann erkannte ich, dass ich mich nicht mehr zurückhalten musste. Ich befand mich nicht mehr in der Wirklichkeit, ich musste keine Rücksicht mehr nehmen, ich musste nicht befürchten, gefunden zu werden. Ich gab meine Angst auf, ich sperrte mich nicht mehr gegen den Wunsch, kraft- und machtvoll zu sein. Ich öffnete meinen Geist für die Ströme um mich, ich lud sie ein, mich zu überfluten, und spürte ein leichtes Kribbeln, ein zunehmendes Brennen und dann ein wildes Jagen der Kraft durch meine Gedanken. Ich spürte, dass diese Kraft der meiner Angreifer entsprach, dass sie sich der gleichen Macht bedienten, und dass sie mich, wenn ich mich der Kraft hingab, mich nicht verletzen konnten.
Der nächste Schlag traf mich, doch er schwächte mich nicht, wieder und wieder griffen die Drei an, doch ich fürchtete sie nicht mehr.
„Ich werde nicht verlieren!“ rief ich.
„Du wirst, und Du wirst darum betteln, aufgeben zu dürfen.“
„Du wirst darum betteln, verlöschen zu dürfen.“
„Du bist schwach, Du bist weich, Du bist nichts.“
„Nein! Ich bin Yelda, ich bin stark und lebendig. Und Ihr seid nichts als Träume einer schrecklichen Wirklichkeit.“
„Sie spottet!“
„Sie spielt!“
„Sie hat keine Ahnung.“
„Sie soll es wissen!“
„Sie muss es erfahren!“
„Was muss ich wissen?“
Doch die drei antworteten nicht, sie umkreisten mich, ihre Gesichter verwischten zu farbigen Schemen. Ich versuchte, ihren Bewegungen zu folgen, doch waren sie zu schnell. Ihre Attacken hatten ausgesetzt, doch wagte ich nicht zu glauben, sie hätten für immer aufgehört. „Was muss ich wissen!“
Ich zuckte zusammen, als mich ein Hieb traf, den ich weder erwartet hatte noch abwehren konnte. Es fühlte sich anders an als die vorigen Schläge, mehr als würde der Schlag von mir selbst ausgehen statt auf mich zu stoßen. Sie hatten mich verletzt, das spürte ich, und die Wut darüber brach sich in einem Gegenschlag Bahn: ich konzentrierte mich auf den Kraftstrom, der durch mich hindurchfloss und stellte mir vor, wie ich ihn nahm, ausholte und nach den Schemen schlug. Tatsächlich spürte ich Widerstand und hörte den Schmerzenslaut des Blauen, doch ich ahnte, dass es mehr die Überraschung als der Schmerz war, der ihn hervorgelockt hatte.
„Was muss ich wissen?!“
Und dann standen die Gesichter der Drei wieder still, und mit einer Stimme sagten sie: „Du bist der Traum und wir sind die Träumer. Du bist unsere Erfindung, unser Mittel, Du bist nichts als Gestalt unseres Willens. Du kannst uns nicht besiegen, denn wir wissen mehr über Dich als Du selbst.“
„Ich glaube Euch nicht!“
„Wir haben Dich geschaffen für einen Zweck wie die Menschen einen Hammer bauen, um Häuser zu bauen. Du bist ein Werkzeug und Du bist fehlerhaft!“
„Das ist nicht wahr! Ich bin kein Werkzeug, ich …“
„Du bist Yelda, Du bist die Schattenbringerin, Du bist die Vorhut der Dunkelheit. Dein Reich ist das Vergessen, Dein Wesen ist Untergang, Dein Schicksal ist es, nicht gegen das Unvermeidliche zu kämpfen.“
„Ich bin Yelda, die Hüterin, die Heilerin, die unsichtbare Masche im Netz. Ich gehöre nicht zu Euch!“
„Sie leugnet, was sie weiß!“
„Nein! Hört auf!“ Erneut griff ich nach dem Strom und hieb nach den Dreien, doch sie lachten nur. „Sie kann uns nicht treffen, wenn wir es nicht wollen.“
„Hört auf!“
„Wir hören auf, wenn Du uns zuhörst. Du musst wissen, warum Du vernichtet wirst.“
„Ich höre Euch zu, bevor ich Euch vernichte.“
„Du wurdest geschaffen, um die Distanz zwischen den Strömen und der Wirklichkeit zu erhalten.“
„Du wurdest geschaffen, um die Kraft nicht in die Welt fließen zu lassen.“
„Du wurdest geschaffen als einziges Tor. Du wurdest geschaffen mit einem Fehler. Du bist das Tor, das nichts und alles verbindet. Und darum wirst Du zerstört.“
Ich verstand nicht. „Habt Ihr mich geschaffen?“
„Wir haben Dich erschaffen, Du bist ein Teil von uns. Greifst Du uns an, verletzt Du Dich selbst. Du bist nichts ohne uns.“
„Aber was kann ich tun, was Ihr nicht könntet?“
„Du wurdest geschaffen aus Teilen beider Welten, Du solltest sicherstellen, dass die Ordnung erhalten bleibt.“
„Doch du bist geschaffen mit Fehlern, die die Ordnung beider Welten zerstören kann.“
„Aber das heißt doch nicht, dass ich die Welt zerstören werde!“
„Wirst Du nicht vernichtet, wirst Du Deine Kraft nutzen, und das wird die Welten zerstören. Es gibt nur einen Weg: Du musst vernichtet werden vor der Welt.“
„Ich lerne, ich habe schon lange nichts mehr vernichtet.“
„Sie hat gelernt.“
„Sie hat gelogen.“
„Sie hat schon immer versagt.“
„Für Fehler gibt es keine Verwendung. Es gibt keine Alternative.“
„Selbst wenn es Euch gelänge, mich zu vernichten: vernichtet Ihr Euch nicht dabei selbst?“
„Dich zu vernichten, gibt uns zurück, was wir bei Deiner Erschaffung gaben. Wir verlieren nicht.“
„Ihr werdet verlieren. Ich werde nicht aufgeben, ich werde mich wehren!“
„Wehr Dich, es wird nichts nützen.“
Und dann setzten die Schläge wieder ein, überzogen meinen Geist mit einem Feuer, einem Brand, der alles zu ersticken drohte, was an Erinnerung und Gefühlen in ihm war. Remdes Gesicht zog an mir vorbei, sein Hemd, seine Hand, seine Narben. Mandu, Terno, Bamar und Baneh, die Brüder, Sobekan, mein letzter Lehrer. Ich nahm alle Kraft, die ich bündeln konnte, und kämpfte gegen den Strudel an, der sich in meinem Geist auftun wollte, ich hielt an der Kraft fest, die mich mit allem verband. Und doch spürte ich mich schwinden. Ich rang nach mehr Kraft, zog an mich, was ich konnte, doch verlor gleichzeitig alle Konzentration und vergaß Dinge, vergaß, was ich gelernt hatte, was ich gemocht hatte an der Welt, an der Wirklichkeit. Ich spürte, wie mein Geist in Nebel überging, in Rauch und Schatten und wie die Kraft, die ich an mich gezogen hatte, einfach durch mich hindurchfloß und meine Peiniger stärkte. Ich versuchte nachzudenken und konnte doch nichts anderes spüren als Angst, mich hier zu verlieren, zu zersplittern zwischen Rubin, Saphir und Korund.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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