Bewerbe | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Acht Kisten

Bewerbe
November 20, 2022

"Schätze, deine Tante war Sammlerin", sagt Heiner, als er aus dem Keller wieder auf die Terrasse tritt.
"Das liegt in der Familie", sage ich.
Heiner staubt mit seiner linken Hand die Weinflasche in seiner Rechten ab. "Sammlerin, aber keine Kennerin."
"Auch das liegt in der Familie."
Er hält mir die Flasche hin.
"Huxelrebe, Brenneiser Soden", lese ich vor. "Und?"
Er dreht mir das Rückenetikett zu.
"Tafelwein lieblich, Jahrgang Neunundachtzig. Vielleicht hast du sie unterschätzt."
"Unterschätzt?" Heiner lacht. "Das ist dreißig Jahre alter Wein zweifelhafter Qualität."
"Heiner, Neunzehnneunundachtzig! Denk nur: Wendewein!"
"Ralf, denk nur: Plörre! Acht Kisten Plörre!"
Wir schweigen ein paar Augenblicke. Genießen den Ausblick von der Terrasse. Tante Linas Häuschen steht in der höchstgelegenen Straße eines dämmernden Dorfes am parabolischen Scheitelpunkt eines Taleinschnitts. Unsere Blicke reichen weit über die karge Geometrie flurbereinigter Landwirtschaft in der Ebene. Die späte Nachmittagssonne, selbst schon recht angekupfert, vergoldet das herbstliche Messing der waldigen Hänge.
Eine Amsel singt.
"Wo ist sie jetzt?" fragt Heiner.
"Zu neunzig Prozent auf dem Friedhof in Engelthal. Zu zehn Prozent da drüben." Ich deute zum Apfelbaum, in dessen Zweigen die Amsel sitzt. "Frag nicht."
Heiner zuckt mit den Achseln.
"Ihr werdet also nicht verkaufen?"
"Und zulassen, dass irgendwelche Stadtschnösel für ihren Infinitypool meine Tante selig wegbaggern?"
"Nein", sagt Heiner.
"Nein", sage ich.
Die Amsel singt.
"Was machen wir jetzt mit der Plörre?"
"Mit dem wundervollen Wendewein? Na, was wohl?" Heiner zieht sein Taschenmesser aus der Hosentasche, klappt einhändig die Spindel aus, bohrt sie durch die Kapsel in den Korken, dreht dabei seelengegenläufig die Flasche, ein beherzter Zug, ein leises Ploppen - in nicht mal zehn Sekunden hat Heiner den Brenneiser Soden geöffnet.
"Auf deine Tante", sagt er und trinkt aus der Flasche. Er schüttelt sich, verzieht das Gesicht, sagt: "Acht Kisten. Wahrlich keine Kennerin."
Ich nehme Heiner die Flasche ab, proste der Amsel zu und sage, bevor auch ich einen Schluck nehme: "Auf Lina und ihre Schätze."

Die Katze

Bewerbe
November 20, 2022

Hier ist Lina
schwarzer Samt auf vier Pfoten
Wonneball mit weißbuntem Ohr
Neugier mit rausanfter Zunge
Schnurrigster aller Schätze

Hier Lina
fand ich dich auf den Stufen
wo sonst Sonne dich wärmte
kalt im Schatten und starr

Lina
ist nicht mehr
hier

Götter, Tiere

Bewerbe
April 29, 2021

Als ihnen nur noch wenig Luft bleibt, beginnt Moussa eine Geschichte.
„Der Große König, der über die vier Weltgegenden herrschte, besaß alles, was Menschen sich wünschen konnten, und war doch unglücklich. Also betete er zu den Göttern – “
İlkin unterbricht ihn: „Es gibt keine Götter, es gibt nur – “
„Lass ihn.“ Zahers Stimme übertönt kaum das Glucksen des Wassers. „Wer auch immer unsere Leichen finden wird, sei es Tier, sei es Mensch; es wird sie nicht kümmern, ob wir an einen oder viele Götter geglaubt haben.“
„Gott kümmert es.“
„Es ist nur eine Geschichte, İlkin.“
Moussa wendet sich zum Horizont. „Es ist nicht einfach nur eine Geschichte. Harun hat sie mir erzählt. Er sagte, es sei unsere, aber ich habe ihn zu spät verstanden. Harun war – er ist … Harun ist mein – “
„Wir haben Augen. Wir haben Ohren. Wir wissen, wer Harun war. Du weinst im Schlaf.“
„İlkin, lass ihn. Moussa, erzähl weiter.“
Moussa atmet tief ein und langsam wieder aus, bevor er weiterspricht. „Der Große König war halb Gott, halb Mensch, darum erschufen die Götter“ – İlkin schnaubt, sagt aber nichts weiter – „einen Wilden Mann, halb Mensch, halb Tier. Gegen ihn sollte der König kämpfen und so seine Unruhe vergessen. Sie rangen Tag und Nacht, doch keiner der beiden konnte sich den anderen unterwerfen. Schließlich schlossen sie Frieden und wurden Freunde. Gefährten, halb Gott, halb Tier, aber gemeinsam – " Er stockt kurz, dann fügt er tonlos hinzu: „Ein Schiff.“
„Wie sollen zwei Menschen – “, poltert İlkin los.
„Ein Schiff“, sagt Zaher und deutet dahin, wo Moussas Blick sich verliert.
„Ein Schiff“, ruft İlkin. „Wir sind gerettet!“ Er lacht.
Moussa lacht nicht.
Zaher schweigt, denkt an die letzten Toten, die sie gestern erst dem Wasser übergeben haben. Hätten sie nur einen Tag länger durchgehalten.
„Wir sind gerettet“, ruft İlkin und winkt dem Schiff. „Gott ist groß!“

Die Soldaten auf dem Schiff mustern die Männer, die sie aus dem Meer geholt haben, wie Fischer den Beifang. Moussa und Zaher werden an gleichgültigen Blicken vorbei ins Heck gebracht, während İlkin einer Frau vorgeführt wird, die angeblich ihre Sprache versteht. Zaher stellt sich neben Moussa an die Reling. Das Schlauchboot treibt knapp unter der Wasseroberfläche davon.
„Deine Götter hatten Mitleid mit uns“, sagt Zaher.
„Götter kennen kein Mitleid.“
„Wie ging es weiter?“
Moussa schweigt lange.
„Sie haben den König geprüft.“
İlkin kommt zu ihnen.
„Du bist dran“, sagt er zu Moussa.
„Wie war es?“ fragt Zaher.
İlkin zuckt mit den Schultern und sagt: „Es liegt in Gottes Hand.“
Zaher weiß, was Moussa der Frau sagen wird. Dass er anpacken kann, dass er nützlich ist. Dass er in seiner Heimat schwer gearbeitet, Öl gefördert hat. Sie wird es seinem Körper ansehen, trotz der viel zu vielen Tage auf See ist Moussa noch stark, stärker als İlkin und viel stärker als Zaher ohnehin. Moussas Kraft hat ihn im Boot vor İlkin geschützt, doch hier und jetzt wird sie ihm nichts nützen.
„Die Zeit für Öl ist vorbei“, wird die Frau sagen. „Du kommst zu spät. Wir brauchen dich nicht.“

Zaher spricht gutes Englisch, im Lager eine wertvolle Währung. Er darf zwischen den Hilfsorganisationen und den Lagermenschen übersetzen.
„Meri hier braucht Medikamente“, sagt er zu der Frau in der wolkenweißen Uniform. „Ihr Kind ist krank.“ Dass es Meris drittes Kind ist, dass die beiden anderen schon gestorben sind, sagt er nicht. Die weiße Frau müsste blind sein, um Meris Schmerz nicht zu sehen.
Husên, der seinen Sohn sucht, sagt er, die Aufseher würden die Augen offenhalten, obwohl er weiß, dass sie es nicht tun werden. Der Junge wird entweder von allein wieder auftauchen oder verschwunden bleiben. Die Aufseher kümmert es nicht, wenn ein Lagerkind verloren geht.
„Diese Frau ist vergewaltigt worden.“ Sie hat es ihm nicht gesagt, sie weint mehr als sie spricht, aber Zaher kann die Zeichen lesen. „Sie weiß nicht, wer es war, aber sie hat Angst, es könnte wieder geschehen.“ Der Mann in Weiß geht fort, vielleicht holt er eine Ärztin, vielleicht einen Soldaten, vielleicht kommt er nicht wieder. Zaher schaut die Frau an, sie weint und weint und weint.
„Fatin braucht Decken für sich und seinen Bruder.“ Zaher überlegt, ob er der Helferin verraten soll, dass Fatin diese Woche schon dreimal nach Decken gefragt und sie dreimal bekommen hat. Zaher überlegt, ob er Fatin fragen soll, was er mit den vielen Decken macht.
Die Menschen, die im Lager leben, kommen zu Zaher, und Zaher spricht für sie mit den Menschen, die das Lager kontrollieren. Er übersetzt ihre Bitten, ihr Flehen, ihre Schwüre, ihre Drohungen in einfache, klare Worte. Zaher glättet die Wogen, er weiß um die verheerenden Folgen eines Sturms. Niemand kommt zu Zaher, um mit Zaher zu sprechen.

Die Sonne geht unter. Zaher findet Moussa am steinigen Strand.
„Wieso bist du nicht im Zelt?“
„İlkin.“
Zaher fragt nicht nach. Er hat Moussa welken sehen, er weiß, dass auch İlkin Moussas Verfall nicht entgangen ist. Moussa, der am ersten Tag auf See noch wirkte, als könnte er allein das Schlauchboot samt seinen 30 Passagieren über das Meer rudern, könnte jetzt nicht einmal mehr das Steuer halten. Wenn İlkin seine neuen Freunde einlädt, wehrt Moussa sich noch nicht einmal mehr. Zaher hat versucht, Moussa zu schützen, doch so schwach Moussa sein mag, Zaher ist immer noch nicht stärker als er.
„Lass ihn“, hat Moussa darum zu Zaher gesagt, „du bist ein guter Mensch. Er verdient es nicht, dich zu verletzen. Geh und hilf denen, denen geholfen werden kann.“
Jetzt sitzen sie gemeinsam auf einem Felsen und starren auf die kupferfarbenen Wellen.
„Was ist aus dem Großen König geworden? Willst du mir das Ende der Geschichte erzählen? Ich höre zu.“
Erst stürzten die Götter den König ins Glück, dann forderten sie ihn heraus, sein Unglück zu versuchen. Vielleicht erschien er ihnen rückblickend unwürdig, vielleicht nicht dankbar genug. Vielleicht unterzogen sie ihn aus Bosheit, vielleicht aus Langeweile einer Prüfung.
„Den Wilden Mann befiel eine Krankheit. Er, der stets zugleich schlau wie ein Mensch und stark wie ein Tier gewesen war, war nun weder das eine noch das andere. Mal schlug er um sich wie eine zornige Bestie, mal konnte er kaum das Bett verlassen wie ein alter Mann. Der König befragte die Ärzte, die Priester, die weisen Frauen, doch niemand wollte seinem Gefährten helfen.“
„Vielleicht konnten sie es nicht.“
„Vielleicht. Der König verfluchte sie alle und machte sich selbst auf, ein Heilmittel zu finden. In allen vier Weltgegenden suchte er, doch erst im Reich der Götter fand er ein Kraut, das den Wilden Mann unsterblich hätte machen können.“
„Hat der König den Wilden Mann gerettet?“ Zaher fragt, obwohl er die Antwort kennt. Moussa weint noch immer im Schlaf.
„Er war inzwischen gestorben.“
Zaher, der den ganzen Tag den Schmerz fremder Menschen in Worte gefasst hat, findet in sich keinen Trost für den Mann, der am ehesten das ist, was er einen Freund nennen würde. Die Toten fallen ihm ein, die sie den Wellen überlassen haben; er erinnert sich an die Stille danach.
„Ich hätte Harun nicht verlassen dürfen.“
Zaher stellt sich vor, Moussas Hand in seine zu nehmen; Moussa über den Rücken zu streichen; Moussa in seine Arme zu schließen. Später wird Zaher denken: Alles wäre mehr gewesen als nichts.
Moussa steht auf und sagt: „Ich gehe zurück.“
Zaher sitzt noch lange in der Finsternis und lauscht den Stimmen von Wind, Wasser und Stein.

Als einige Abende später das Feuer kommt, ist Zaher noch im Containerdorf der Hilfsorganisationen. Er hat lange übersetzt an diesem Tag, hat die Worte der Menschen durch sich hindurchwehen lassen wie Wind, der durch ein leeres Zimmer geht. Er lässt jetzt nichts mehr aus, er hört nicht mehr zu, er ist nur Ohr und Zunge; seine Augen sind jetzt oft geschlossen, als müsse er sich konzentrieren, dabei will er nur die Menschen nicht mehr sehen.
Die Container stehen im Luv, der Wind treibt den Brand von ihnen fort über die Hügel. Zaher lehnt sich mit dem Rücken an den Zaun, der den Wildwuchs des Lagers von den ordentlichen Baumreihen eines Olivenhains trennt. Schatten flackern über sein Gesicht. Er riecht nicht den Rauch, er hört nur die Schreie und dann auch die nicht mehr.

Zaher irrt durch den Wald gerußter Metallstäbe. Er wird nicht mehr gebraucht, die Hilfsorganisationen wurden abgezogen, die Soldaten, die das neue Lager bewachen, haben kein Interesse an Dolmetschern. Auf der Suche nach dem Zelt, in dem er mit İlkin und Moussa gelebt hat, verliert er wieder und wieder er die Orientierung.
Plötzlich steht da İlkin.
„Hast Du Moussa gesehen?“ fragt Zaher, doch İlkin lacht nur und geht durch die Asche davon.

Nichts. Alles.

Bewerbe
Oktober 18, 2020

Auf der Innenseite des Spiegels starrte Franz Kalo reglos in die Finsternis. In seiner Laufbahn als Anomalist des Amts zur Holistischen Erforschung Unbekannter Länder und Erden hatte er ja schon viele Verstecke, Gefängnisse und Müllhalden hinter Spiegeln gefunden, aber noch nie …
Ein Schwarzes Loch?
Das HEULE-Team hatte bei den Tests keine Surrealitäten entdeckt. Allerdings verwendete die Analyse nur magische und unmagische Objekte belebter und unbelebter Art. Womöglich reagierte der Spiegel nur auf bewusste Subjekte. Um wenigstens irgendwas zu tun, prüfte er den Schutzschleier – natürlich intakt, sonst wäre Franz längst tot – und den Ariadnefaden, seine Verbindung zum Labor.
„Franz? Ich empfange dich nur dunkel. Siehst du was?“
„Ein Schwarzes Loch.“
„Bist du dir sicher?“
„Rotierendes Zeug um einen Haufen Nichts. Ich bin kein Experte, aber das entspricht meiner Vorstellung von einem Schwarzem Loch.“
„Könnte es eine Illusion sein?“
„Wollte ich eben checken.“
„Gut. Ich geb’s der Chefin weiter.“
Franz schloss die Augen, öffnete seinen Geist und griff mit seinem Bewusstsein aus. Viel Leere, dazwischen Materie, darunter das vertikale Ziehen eines wirbelnden Abgrunds. Überwältigende Grundstrahlung, die künstlich nicht zu erzeugen war. Außer man kompilierte die Energie des Schwarzen Lochs selbst in die zu erzeugende Illusion, was allerdings nur mit umgestülptem Gehirn funktionierte.
Mit einem Komprimierungsgedanken schuf Franz einen kleinen Nimbusköder, den der unterschwellige Sog sofort mit sich riss. Franz spürte dem Köder nach auf seinem weiten Bogen um das Gravitationszentrum herum und in einer rasant enger werdenden Spirale weiter hinab, bis …
„Wer? Ach, verdammt!“
Überrascht ließ Franz den Köder los.
„Sandra?“
„Ja? Die Chefin sagt, wir holen dich raus, wenn es keine Illusion ist.“
„Keine Illusion, aber da ist einer drin.“
„Mist.“
„Großer Mist. Ich werde ihn retten müssen.“
„Nix musst du!“
„Irgendwer muss aber doch.“
„Franz, das ist Selbstmord.“
„Wenn ich ihn nicht rette, ist es Mord. Womit kann ich wohl besser leben?“
„Warte, die Chefin …“
„Keine Zeit, der ist zu weit drin. Außerdem könnt Ihr mich mit dem Faden jederzeit zurückholen.“
„Franz, du bleibst, wo du bist. Das ist ein Befehl.“
Doch Franz hatte schon einen Schritt voran gemacht. Kaum hatte er den stabilisierenden Portalnimbus des Spiegels verlassen, wurde er mitgerissen. Die Gravitation zog stärker an ihm als gedacht, die Sorge, einen suizidalen Fehler begangen zu haben, verblasste aber angesichts des Panoramas, das sich vor ihm entfaltete: ein halbes Universum vollgestopft mit irisierenden Gasnebeln, zwinkernden Sternenhaufen und schimmernden Galaxien. Franz hatte natürlich schon oft von der Erde und auch von Planeten mit geringerer Lichtverschmutzung aus in den Himmel geblickt, aber selbst restlichtverstärkende Magie oder Astralprojektion hatten nie die gleiche Ehrfurcht in ihm entfachen können. Franz würde womöglich von einem Abgrund aus Lichtlosigkeit zermahlt werden, vorher allerdings hatte er das leuchtende Antlitz des Unendlichen geschaut.
Eine ferne Stimme schrie in seinen Geist: „Franz, du … Ariadnefaden hat gleich maximale … noch weiter … wir dich!“
Ein Ruck, den Franz seltsam zeitverzögert vom Knöchel bis in den Atlas in allen Gelenken spürte, und ein Ende des Sturzes.
„Franz rede mit mir du warst plötzlich weg der Faden ist komplett gespannt was ist passiert?!“
„Ich bin näher ran.“
„Wir holen dich raus. Sofort. Keinen Unfug mehr.“
„Aber der Typ stirbt!“
„Nix, der Ereignishorizont bremst ihn aus, wir können ihn mit ein bisschen Zeitmagie jederzeit einholen.“
„Oh.“
„Fühlst du dich jetzt so dumm, wie du dich fühlen solltest?“
„Ja.“
„Gut. Jetzt halt still, wir … oh. Was …“
Einen Augenblick, bevor die telepathische Berührung abbrach, spürte Franz die Splitterwellen des implodierenden Spiegels. Ein Unruck, eine Welle aus Sturzgefühl und ein Vorbeiwischen roten Leuchtens, das sich in die Länge und wieder zusammenzog, schlenkerte, schlaufte und sich schließlich an Franzens Wade, Oberschenkel und Hüfte aufwickelte. Der Ariadnefaden war gerissen, der Spiegel zerstört, Franz Kalo verloren.
Einige Sekunden lang fiel Franz ohne Gedanken dem Nichts entgegen.
Dann einige weitere Sekunden.
Hier ein zerborstener Planet, dessen Bruchstücke ebenfalls auf das Loch in der Realität zusteuerten.
Und weiter fiel Franz, ohne dass ein Gedanke zu ihm aufzuschließen vermocht hätte.
Hier eine Sonne, deren Plasma wie Dotter aus einem pochierten und angegabelten Ei auslief.
Franz fiel, fiel, fiel.
Verloren.
Fallend.
Fort.
Wäre er gefragt worden, hätte Franz behauptet: Die Panik hielt nur kurz.
Niemand da, der hätte fragen können.
Franz fiel.
Der Blick ins All ermüdete.
Das Starren auf den zerwürgten Sternenmüll wurde lästig.
Franz, fallend, schloss die Augen, fiel weiter.
Öffnete die Augen wieder, sah einen Mann fallen.
Oh.
Er selbst mochte verloren sein, doch es gab einen Menschen zu retten, und wer wäre besser dafür geeignet gewesen als Franz Kalo, Top-Anomalist und mehrfach ausgezeichneter HEULEr.
Mit arkanem Schub warf Franz sich voran, erhöhte seine Sturzfallfluggeschwindigkeit und überholte dabei Asteroiden, Kometen und mindestens zwei Dutzend Satelliten verschiedener Komplexität. Kurz streifte er auch den Gedanken, wer wohl zu welchem Zweck den Spiegel erschaffen haben könnte. Wozu diente ein Direktzugang zu einem Schwarzen Loch außer zur Entsorgung größerer Mengen Atommülls?
Durch absolute Stille und Kälte raste Franz auf langer Bogenbahn. Den Anderen hatte er aus den Augen verloren, also weitete er wieder seine Wahrnehmung und fühlte ihre Bugwelle vor ihm gegen das Aufwirbeln des Schwarzen Lochs branden. Ihm antwortete ein lebendiges Dunkel, eine Energie, seiner eigenen ähnlich und doch nicht gleich, archaisch, unüberwindlich, unbeherrschbar und doch ohne Bewusstsein, Willen oder Absicht. Was immer er da berührt hatte, fasste ihn an, zog rücksichtslos an seiner Essenz und ließ genauso schnell, wie es ihn durchstoben hatte, wieder von ihm ab. Im Zurückweichen zog die Entität Franz‘ Geist mit sich, so dass er für einen Moment den anderen magisch umhüllten Fremdkörper im Gewirbel erkennen konnte: näher am Ereignishorizont, der ihn töten oder nur für immer aufhalten würde.
Franz gab sich einen Schubs gegen die Trägheit der herumströmenden Masse und steuerte, als er freie Sicht hatte, quer zum Wirbel direkt ins Zentrum und auf den Anderen zu.
Voran, voran und schneller voran. Bald war Franz nur noch einige Sturzminuten von dem Fremden entfernt, der eben den Kopf zur Seite drehte. Auch Franz sah hinauf in den Himmel über dem Schwarzen Loch und war erneut ergriffen: So viele Sterne, und er, Franz Kalo, dagegen so klein.
Immerhin nicht allein. Bald könnte er Ehrfurcht und Sterbensangst mit jemandem teilen, und vielleicht könnten sie gemeinsam einen Ausweg aus diesem Desaster finden. Vielleicht wusste der Fremde mehr, verfügte über Antworten, verstand, was das überhaupt alles sollte.
Franz konnte ihn nun besser erkennen, seine Rückseite zumindest, fiel er doch mit dem Gesicht voran, den Blick wieder gerichtet auf die Unausweichlichkeit des Ereignishorizonts. Tatsächlich handelte es sich um einen Mann, ähnlich seiner eigenen Statur, mit einem Anzug, der wie Franzens maßgeschneidert wirkte, in einem ebenfalls abendgrauen Stoff mit morgensterniger Durchwirkung. Rettete er hier etwa einen Kollegen? Hatte die Chefin ihn deswegen …
Etwas berührte ihn. Ein kleines Ding komprimierter Magie.
„Wer?“ telepathierte er instinktiv, bevor er den Nimbusköder erkannte. „Ach, verdammt!“
Nein, so dumm konnte er nicht sein.
Ein Spiegel, verdammt noch mal.
Ein verdammter Spiegel!
Wie hatte er so dumm sein können?
Der Mann vor ihm in dem HEULEr-Anzug mit einer Spur von Rot, die sich wie eine gezwirnte Narbe vom rechten Knöchel über das Knie hinauf zur Hüfte zog, dieser Mann …
Franz Kalo verfolgte sich selbst.
„Fühlst du dich jetzt noch dümmer, als du dich fühlen solltest?“ telepathierte er nach vorne und erschrak, als er denselben Gedanken von hinter sich empfing. Seine eigene Stimme echote ihm über das schweigende Weltall hinweg zu. Natürlich befand er sich nicht nur vor, sondern auch hinter sich, als wäre er zwischen zwei Spiegel getreten, die einander und auch alles zwischen ihnen ungezählt und unzählbar wiederholten.
Dem Impuls, sich selbst an der Schulter zu berühren, folgte eine schwindelnde Synchronizität, die ihn an Berichte Zeitreisender erinnerte, die eine Begegnung mit sich selbst im Glücksfall mit einer mehrwöchigen Migräne bezahlt hatten. Berichte über glücklose Zeitreisende wurden in der Regel von anderen verfasst, und deren Ausführungen ließen Franz das Schlimmste fürchten für die Zweidimensionalität des Ereignishorizonts, die ihn in sich selbst pressen würde. Um der Aussicht auf seinen Hinterkopf und den anstehenden Schmerz zu entgehen, wandte er den Blick ab.
Natürlich.
Natürlich stand er auch neben sich. Und auch über und unter sich, auf allen Seiten und in alle Richtungen rund um das Allverschlingende, in gruseliger Gleichzeitigkeit den Kopf mal in die eine, mal die andere Richtung drehend, auf allen Gesichtern den gleichen Ausdruck von Entsetzen und Resignation.
Franz schloss die Augen und hielt die Luft an, um nicht länger seinen Atem im Nacken zu spüren.
Ihm fiel nichts ein.
Nicht zu atmen war auch keine Lösung.
Was hatte er der Anziehungskraft des Abgrundes entgegenzusetzen?
Zu atmen allein würde auch nicht ausreichen.
Gab es keinen Ausweg?
Gab es einen Ausweg?
Vielleicht nur kleine Atemzüge?
Musste er kapitulieren?
Wenn er so weitermachte, würde er hyperventilieren.
War das die gleiche Panik, die ihn schon vorher befallen hatte?
War das ein Echo der Panik, die ihn vorher befallen hatte?
Was hatte er da getan?
Oh.
Ja.
Nichts.
Es gab nichts zu tun.
Franz Kalo würde sterben.
Er holte tief Luft und atmete langsam wieder aus.
Als Franz die Augen wieder öffnete, war er allein vor dem Schwarzen Loch, dessen Mahlstrom weniger sicht- als spürbar ein Lichtstrom fassungsloser Kraft entsprang, ein weltenzerfetzendes Monstrum purer Schönheit, durchwoben von Funken und Strahlen, umwabert von Halos und Aureolen. Die flammende Säule war bislang unerkennbar gewesen, überstrahlt von den Sternennebeln und Sonnenklumpen, doch jetzt, am Ende des Seins gab es nur Finsternis und darin einen wirbelnden Strahl aus eiskaltem Feuer. Was immer den Ereignishorizont überschritten hatte in den letzten Milliarden Jahren, war zermahlen worden und wurde als reine Energie wieder hinausgespien ins Universum. Irgendwann, irgendwo würde das Rasen enden, der Strom sich auffächern und neue Sonnen und Planeten gebären. Das war nicht Nichts, das war Alles.
Nun, was blieb?
Teleportation sicher nicht. Die Distanz zum nächsten Planeten überschritt garantiert seine Reserven. Außerdem hatte ihn seine letzte Transmaterialisation zu einer viertägigen Existenz als Essenzwolke verdammt. Impulsschübe fort vom Ereignishorizont wurden gierig aus ihm herausgezogen, mit einem Zupfen, Ziehen, Saugen, einer aufdringlichen Berührung wie jener, als er nach sich selbst ausgegriffen hatte.
„Per aspera ad astra”, sagte seine Chefin gerne.
Kassandras Version davon war: „Wenn’s nicht vorangeht, geh voran.“
Was hatte Franz schon zu verlieren?
Nichts.
Alles.
Er gab sich einen Schubs. Und einen zweiten, dritten, er kämpfte an gegen die Unruhelosigkeit, Trägheit, Unbeweglichkeit. Ein gedämpftes Beben nur, ein geschwächtes Echo, das in ihn hinein verhallte. Vielleicht umgekehrt, nach innen, sich nicht nichtend. Wieder eine Barriere, zugleich auch etwas wie ein Summen von außerhalb. Das große Leuchten antwortete ihm, reagierte auf seinen Wunsch nach Freiheit. Vielleicht barg es doch eine Art Bewusstsein, ein Mehr, vielleicht lag unter der reinen Kraft der Schöpfung ein Wille.
Erneut konzentrierte Franz seine Magie und spürte das Tasten eines Fühlers aus Sehnsucht. Franz streckte sich nach diesem Unwesen und verband sich mit dem sanften Schnurren, das sich sofort in das orgiastische Jubeln eines milchstraßengroßen Drachens exponenzierte.
Franz begriff einen Augenblick zu spät.
Franz Kalo war nicht mehr.
Als er sich mit dem träge ausgreifenden Plasma verbunden hatte, war sein Schutzschleier zerborsten. Alle Gase seinen Lungenbläschen entzogen, das Restlicht seinen Pupillen entflohen, alle Bindungen seiner Molekülstruktur aufgelöst. Haare, Haut, Fett, Sehnen, Muskeln, Organe, Knochen, alles, was Franz Kalo ausgemacht hatte: im Bruchteil eines Augenblicks zerstoben. Im Sonnenkernfeuer des Stroms zerbrannte sein Selbst, das wie flüssiges Gas splitterig durch die Aggregationszustände seines Nichtvorhandenseins hindurchsublimierte, nirgends mehr war und überall, zerstrichen auf der Leinwand eines gleichgültigen Universums, kollabiert in der einen, extrapoliert in der anderen unzeitlichen Sekunde.
Zurück blieb nur ein aschegrauer Anzug mit einer Spur mattroter Fadigkeit.
Mehr nicht war Kalo Franz.
„Franz?“
Franz blinzelte sich zurück ins Licht.
„Franz, alles startklar. Sobald du bereit bist, kann's losgehen.“
Franz Kalo starrte reglos in die Finsternis auf der Innenseite des Spiegels.

[Fortsetzung: Der Fall Franz Kalo]

Kokon

Bewerbe
Januar 1, 2019

dem Horizont entgegen stürzt die Sonne
verblüht ist der Blauregen
ein Riss durchzieht dein Haus
Flieg, Bläuling,
oder stirb.

Mittags schon verkürzen sich die Tage des noch hohen Sommers, und du schläfst hoch oben in deinem Kokon. Raupe bist du nicht mehr, diese Haut ist abgestreift, doch Schmetterling bist du auch noch nicht. Träumst du vom Fliegen unter klarem Himmel? Ich muss dich enttäuschen: Wolken beschatten die Pergola.
Könnten wir Menschen unsere Haut doch auch einfach ablegen. Alle sieben Jahre, heißt es, erneuerten sich alle Zellen des Körpers, alle sieben Jahre stünden wir da als neuer Mensch. Narben aber bleiben, ein Korsett, das wir nicht aufschnüren können.
Als hätte ich nichts Besseres zu tun, liege ich auf der heißen Terracotta, starre durch das Blättermeer hinauf in den Azur. Du, Bläuling, wirst bald wohl schlüpfen. Nektar des Blauregens soll deine Nahrung sein, seine Knospen künden zweite Blüte. Tagsüber wirst du Spielball der Winde sein, nachts schlafen zwischen den Ästen, und am Ende des Sommers bist du tot.
Dann, spätestens, werde ich mich in die steinerne Hülle zurückziehen, in der ich geboren wurde.

ich singe das Lied der Wilden Jagd
Vater stanzt seine Tränen mir ein
bitter die Frucht dieses eisigen Leibes
Nichts trifft härter
als der Verlust einer Hoffnung.

Vater hat dieses Haus gebaut. Die Robinie in der Mitte des Gartens hat Vater gepflanzt. Den Sohn aber glaubte Vater nicht von seinem Samen. In Raunächten sandte später eine Frau, die ich nicht kennengelernt, aber gemordet hatte, ihren Geist über Vater aus, hieß mich mit seiner Stimme Wechselbalg, Bastard, Dämonenbrut. Das crescendo der Raketen hätte mich aus der Welt treiben müssen und nicht hinein in einen menschlichen Leib. Wie ein Parasit hätte das kindgewordene Übel sie ausgezehrt und nach dem Schlupf nur eine wächserne Hülle zurückgelassen. Mit meinem ersten Schrei sei ihr Lebenslicht erloschen.
Woraus, Bläuling, besteht dein Kokon? Schmetterlingsspucke und Raupenhaut? Das Netz um mein Herz ist gewoben aus Tränen und Blut, Brüchen und Schlägen und Schmerz. Manchmal zieht es sich auch heute noch zusammen, raubt mir Atem und Sinne, und lange dauert es dann, bis ich wieder stehen kann. Als hätte ich nichts Besseres zu tun.

ich habe Eisblumen geschnitten
in Scherben liegen alle Vasen
Sonne unter dem Horizont
Der abgebrochene Zweig
treibt wieder aus.

Die ersten Jahre meines Lebens gingen über mich hinweg wie eines dieser Gewitter, die kurz vor dem Frühjahr noch einmal den Winter über das Land legen. Ich finde keine Erinnerung daran. Dann ein Foto von meiner Einschulung: ganz rechts in der hintersten Reihe ein dürres Kind, schwarzhaarig, hohläugig, in abgetragener Kleidung, das einzige ohne Schultüte.
Regst du dich im Kokon, schaukelt deine Hülle in der windlosen Welt. Willst du am Ende doch heute noch schlüpfen? Wirst wie die Seele eines Toten dich deinem Sarkophag entwinden? Lass dir Zeit, ich werde, als hätte ich nichts Besseres zu tun, hier auf dich warten.
Ab der zweiten Klasse neben mir, rotwangig, blauäugig, flachsblond: Mat. Von Jahr zu Jahr wechseln wir die Position im Bild, doch immer wieder: Mat an meiner Seite. In der fünften Klasse legen wir einander die Arme um die Schultern, wie wir es von den Halbstarken aus dem Fernsehen kennen. In der sechsten Klasse wachse ich Mat davon, in der siebten hat er mich wieder eingeholt. In der achten Klasse trennt uns ein Mädchen. Alle drei sehen wir unglücklich aus.

es waren zwei Königskinder
eine Fackel entzündet Hekatē
Irrfeuer über dem Moor
Du bist das Licht,
ich bin dein Schatten.

Noch bevor ich ihn kannte, habe ich Mat verletzt. Wir wurden dennoch Freunde, vielleicht gerade deswegen. Mat besaß liebende Eltern und Großeltern, Spielzeug, Freiheiten und, nachdem ich einer Nichtigkeit wegen sein Blut vergossen hatte, mich. Wir wuchsen zusammen auf und wie nahstehende Bäume ineinander. Und dann, als späte Strafe für die Affekte eines Siebenjährigen, war ich wieder allein.
Öffnete ich, als hätte ich nichts Besseres zu tun, deinen Kokon vor der Zeit, was geschähe? Allein die Vorstellung lässt dich unruhig werden, ich sehe das. Keine Angst, Bläuling, ich werde dir nichts tun. Vielleicht aber verstehst du, was mir geschah, als ich aus Mats Leben fiel.
Vorsichtig ausgedrückt: Ich verlor die Balance. Wechsel vom Gymnasium auf die Realschule mitten im Schuljahr. Abschluss mit inakzeptablen Noten. Beginn einer Schreinerlehre dank Vaters Beziehungen. Alkohol und andere Drogen, Streit mit dem Chef und dem Vater, Schulden und schlechte Gesellschaft. Schließlich eine kuriose Erkenntnis: Vater mochte sich weigern, mir Geld zu geben, andere Männer in seinem Alter bezahlten mich gern.

Kind eines Kaltschmieds
der Gefallenen Kamerad
höllisch Gefrorener
All diese Orden haben mir
Haut und Seele zerfetzt.

Mit 21 trotz allem Zeitsoldat, Vater stolz: „Habe ich doch einen Sohn gezeugt!“ Kosovo, Mazedonien, Dschibuti, Kongo, Kuwait, Sudan und immer wieder Afghanistan, vor jedem Einsatz ein Hieb auf die Schulter: „Guter Mann!“ Was Vater nicht hat zerschlagen können, hielt er für unzerstörbar.
Der Krieg, Bläuling, der war nix. Nirgendwo. Da magst du noch so kaputt sein vorher, die Mahlsteine der Gewalt kriegen dich noch kleiner. Die Nacht kriecht auch tags in deine Gedanken, klebt rote Farbe an alles, was du anlangst. Wenn du den ersten Kameraden sterben siehst, kotzt du. Beim zweiten zitterst du nur noch. Den dritten hast du vergessen, kaum dass ihm eine Sprengfalle den Oberkörper aufgebrochen hat.
Aufbruch auch bei dir, Bläuling? Aufwerfen, Ausstülpen, Ausziehen, Wiedergeburt in Zeitlupe, schrecklich langsam, unerträglich spannend. Ich könnte aufstehen, hineingehen, ein Glas mit Eiswürfeln und Wasser füllen, einen Spritzer Zitronensaft dazu. Selbst die Neige könnte ich schon geleert und mich wieder in die verblassende Mittagshitze gelegt haben, du wärst immer noch gefangen. Als hätte ich nichts Besseres zu tun, bleibe ich aber, blinzle nicht, starre dir zu. Deine Anstrengung ist genug für uns beide.

Augenweide im Blauregen
himmelfarbener Tagtraumtaumler
zu Kostbarkeit erschliffener Saphir
Kein Gefängnis kann dich halten
und keine Hand.

Nun sitzt du da, Bläuling, pumpst Blut in Leib und Flügeladern. Erschöpft bist Du, stilles Entknittern nur, gemächliches Auffalten. Hielte ich mein Ohr an deinen Leib, was hörte ich? Ein Knistern wie von Flammen in sternkalter Wüste? Das dunkle Dröhnen explodierender Bomben am Stadtrand? Oder ein zufriedenes Summen, weil du deine harmlose Zukunft ahnst: Augenblicksblinken von Glück im Vorüberwehn.
Ich kehrte heim in Vaters Haus. Beendete die Schreinerlehre. Baute die Pergola. Vater war dagegen, wagte aber nicht die Konfrontation mit dem Fremden, das mich in meinen Blutjahren durchwuchert hatte. Gemeinsam setzten wir den Blauregen. Während die Pflanzen wuchsen, zerwelkte der Vater. Drei Jahre pflegte ich seinen Körper aus Spinnweb und Asche, als hätte ich nichts Besseres zu tun, dann legte ich ihn ins Grab neben die mir unbekannte Frau. Mir kondolierten Weggefährten des Vaters und am Ende ein Mann meines Alters, blauäugig, flachshaarig, blass, nervös. Ich wusste selbst nicht, was sagen. So schwiegen wir eine Weile vor dem Loch in der Erde. Als Mat seine Hand in meine legte, weinte ich das erste Mal seit Jahren.

gesellig wachsen die Maiglöckchen
wir verlassen die Umlaufbahn
das Herz eine heilende Wunde
Die Götter kannten einen,
Ikarus nannten sie ihn.

Man kann nicht 20 Jahre ungeschehen machen. Wie also findet man zurück? Tastend. Mat war vor allem: fad. Ungebrochener Lebenslauf, Jurist einer Mittelstandsbank, kein Privatleben. Der strahlende Halbgott entpuppte sich als Gipsfigur mit Rauschgoldbesatz. Mat war aber auch: neugierig. Wie ein Forscher kartografierte er meine Abgründe. Er unterschätzte den Preis einer Finsternis, meine Schattengeschichten erregten ihn. Mat war: hungrig. Gemeinsam feierten und tanzten wir, flogen mit Gleitschirmen, ritten durch Island, wanderten im Atlas, umsegelten Feuerland. Schließlich zog Mat zu mir, erst in ein eigenes Zimmer, bald in mein Bett. Mat war vieles, aber nicht: prüde.
Die Sonne hat die Wolken überwunden, und im Gegenlicht habe ich dich aus den Augen verloren. Als hätte ich nichts Besseres zu tun, suche ich dich. Das Gefängnis deiner Jugend hängt sturznah am Ast, doch du? Sitzt du noch im Blauregen, trocknest deine Flügel, freust dich auf den Jungfernflug? Wohin bist du gewandert? Da, eine blauschillernde Bewegung, aufwärts kletterst du, dem Locken des Lichtes folgend.

Sonne unter dem Horizont
verblassen die Sterne
du bist das Licht
Ich bin der Schatten,
den in die Welt du wirfst.

Die Triebe des Blauregens blockieren Wasserrohre, zerbrechen Dachziegel, verbiegen Gerüste. Hegt man ihn nicht, vernichtet der Blauregen, was ihn hält.
Nun ist Mat nicht mehr. Alle Abenteuer dieser Welt konnten seine Lebensgier nicht befrieden und – so sehr mich das schmerzt – auch ich nicht. Habe ich dieses Verlangen in ihn hingeschlagen damals, als wir Kinder waren? Oder wurzelte seine Adrenalinsucht tiefer? Feigling hieß er mich für meine Angst vor dem Absturz, Narr nannte ich ihn, diese Angst nicht zu kennen. Er lief ins Dunkel, zog nicht einmal die Tür hinter sich ins Schloss. Keine drei Stunden später erstickte er in einem schmierigen Club an seinem Erbrochenen.
Bläuling, ich neide dir die selbstvergessene Schwerelosigkeit. Den Tod, dem du entgegenflatterst, ahnst du nicht, nur die Freiheit einer sich dir öffnenden Welt. Flieg, Bläuling, fürchte nicht das Leben.
Wir werden gezeugt und geboren, wir wachsen auf und heran, wir lernen sprechen, wir krabbeln und gehen, wir springen und rennen und tanzen, wir fallen hin und stehen wieder auf, bis wir, als hätten wir nichts Besseres zu tun, für immer liegen bleiben und verstummen.

ich stürze aus dem Zenit
Bläuling reitet den Wind
Risse durchziehen mein Haus
In der Dämmerung
brechen die Knospen auf.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
mit Erkenntnisgewinn.
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