Komfortunkonform | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Komfortunkonform

Von der Front
Oktober 13, 2023

Mal was Neues ausprobiert: ein Casting für die Teilnahme an einer Inszenierung. Ungewohnt, wenn man üblicherweise bei Stückwerdung mitgedacht wird. Andererseits ist das ja auch ein erwünschter Nebeneffekt des Umzugs: das Verlassen der Komfortzone, das Dazulernen, das Wachstum. Ein neuer Mensch werden. Oder zumindest weniger bequem. 

Neulich habe ich einen Text mit dem Titel "Froschsuppe" angefangen, der einerseits beschreiben sollte, wie überraschend widerstandslos das Patriarchat im alten Damals hingenommen wurde, und andererseits, wie ich mich irgendwann im letzten Jahrzehnt aufgegeben habe; aber schon bei der grundsätzlichen Frage nach Froschsuppe hat es den Text zerlegt.

Stellt sich nämlich raus (ja, jemand - nicht ich - hat das in Versuchen nachgewiesen): Selbst Frösche sind nicht so bequem, einfach stillzuhalten, wenn man das Wasser zu sehr erhitzt. Nur wir Menschen lassen uns so sehr einlullen, dass wir aus einer für uns schädlichen Situation nicht rechtzeitig fliehen. Wir warten bis zur allerletzten Sekunde. Oder länger.

Vielleicht, weil wir uns anmaßen, intelligenter als Frösche zu sein und uns darum eine größere Problemlösekompetenz zusprechen. Vielleicht auch, weil wir uns für märtyrerhaft leidensfähiger als Frösche halten. Wir sind keine Weicheier und erst recht keine Warmduscher, wir bleiben auf unserem verlorenen Posten, bis die Polkappen schmelzen.

Ist ja bald soweit. 

Jedenfalls: Casting. Wie Vorstellungsgespräch, nur bewegter und mit Rumschreien. Auch ungewohnt; ist ja so gar nicht meins, das Rumschreien. Meine Rollen waren ja eher immer kontemplativ, vergeistigt, über den Dingen stehend, manchmal sogar schwebend. Und dabei hyperintellektuell vom Rand aus kommentierend. Quasi mich selbst spielend. 

Beim Casting stand ich da als unbeschriebenes Blatt. Die Menschen, die ich beeindrucken wollte, hatten mich noch nicht spielen sehen. Oder vielleicht doch, weil ich ja selten nicht spiele. Ich will ja, dass Menschen mich mögen, darum neige ich dazu, jemand zu sein, der ich nicht bin. Wie wird das wirken auf Menschen, die mich kennenlernen wollen?

Stellt sich raus, sie wollen mich vor allem fordern. Meine Szene, die ich erbost und unverkopft interpretiert habe (also sehr nicht-wie-ich), soll ich nochmal spielen und nochmal, introviertierter, extrovertierter. Ich ahne rückblickend, dass es darum ging, meine Reichweite auszuloten, und ich spüre währenddessen, wie unangenehm, ja unbequem mir das ist. 

Sie wollen mich in Rage sehen, als wäre ich tödlich beleidigt worden; statt aber auf mein lahmes Kindheitstrauma zurückzugreifen, gerate ich in die Panik des Schultheaters von vor über 25 Jahren, als ich vor lauter Kontrollaufgabe auf der Bühne beinahe jemanden körperlich verletzt hätte, wenn ich mich nicht in letzter Sekunde wieder gefangen hätte. 

"Du hältst dich zurück", bekomme ich als Feedback, obwohl ich mich so sehr provozieren und laut werden lassen habe, wie ich es aus meiner mühsam antrainierten Egalität gegenüber allem Echauffierenden heraus zulassen kann. "Du hältst dich zurück". Und ich antworte, wie es nun mal der Wahrheit entspricht: "Natürlich."

Klar halte ich mich zurück, denke ich spontan, irgendwer muss es ja tun.

Seltsamer Gedanke, denke ich später ausführlicher. Wieso muss gerade ich zurückgehalten werden? Die Welt ist voll mit Leuten, die sich nicht zurückhalten, die ihren Schmerz, ihren Hass, ihren Missmut, ihre Menschenfeindlichkeit, ihre generelle Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation in die Welt hinauskotzen.

Gerade eben wurde die AfD in zwei weiteren Bundesländern in den Status der größten Oppositionspartei gewählt. Eine Partei, die offen rechtsradikal ist, gegen Minderheiten aus dem gesamten verfügbaren Spektrum hetzt, die zu Gewalt gegenüber Menschen mit anderer Meinung aufruft; und ausgerechnet ich muss mich zurückhalten? 

Ebenso gerade eben hat die Hamas Israel überfallen; und bei aller möglichen Kritik an den Entwicklungen in der Palästina-Frage ist Terror die falscheste aller Antworten. Befeuert von religiösem Fanatismus und aus Angst vor Machtverlust nimmt die Hamas den Tod Tausender Menschen auf beiden Seiten in Kauf; und ausgerechnet ich muss mich zurückhalten?

Natürlich ist das sehr bauchnabelig im Vergleich zu dem Abgrund, auf den die Welt gerade sehenden Auges hinzu torkelt; aber mehr als mich selbst kann ich kaum beeinflussen - und selbst das ist schwierig. Vielleicht ist aber auch dieses Gefühl - dass ich selbst so unwichtig bin, dass es überflüssig ist, mich selbsttherapeutisch zu beschreiben - Ausdruck meiner Zurückhaltung. 

Offensichtlich jedenfalls hat eine kleine Bemerkung (fast wie nebenbei gesagt) in mir einen Nerv getroffen, der sich seither gar nicht mehr beruhigen will, weil es ja so scheußlich nah an der Wahrheit ist, dass man glauben könnte, die Person am anderen Ende der Botschaft kennte einen tatsächlich und sei nicht einfach nur eine erst eine Stunde alte Bekanntschaft. 

Andererseits interpretiere ich da vielleicht viel zu viel hinein, weil das Gehirn nun mal Muster im Chaos der Welt erkennen will, um alles zu sortieren und kategorisieren und damit irgendwie zu verarbeiten. Das Gehirn will auch nur seine Ruhe haben, wie ein ganz normaler Frosch. 

Andererseits andererseits halte ich mich ja tatsächlich zurück, nicht erst im Casting, nicht erst im letzten Jahr, nicht erst im letzten Jahrzehnt oder überhaupt in diesem Jahrtausend. Ich halte mich zurück, weil es mir (auf den ersten Blick) nicht geschadet hat. Und weil Zurückhaltung auch gesamtgesellschaftlich gewollt oder zumindest akzeptiert ist.  

Die letzten siebzehn, fast achtzehn Jahre beispielsweise habe ich in einer Kleinstadt gelebt, die ihre eigene Exzellenz predigt, in Progressivität allerdings eher unterperformt. Genau so lange hat die unionsgeführte Deutschlandverwaltung einen kaum abbaubaren Aufholbedarf geschaffen und uns gleichzeitig eingebläut, wie spitze alles ist. 

Mich beschleicht der Verdacht, dass nicht nur ich gelernt habe, Mittelmäßigkeit akzeptabel zu finden. Ist ja auch praktisch: wer sein Potential nicht ausschöpft, wer sich absichtlich kleiner macht, hat immer die perfekte Ausrede, wenn Dinge nicht funktionieren. Und wer aus Versehen zu ehrgeizig arbeitet, wird schon mal gebremst, damit die Kollegys nicht faul wirken.

Ich bin natürlich versucht, das Patriarchat als Schuldigen für diese Einstellung auszumachen, weil das Patriarchat (so wird es mir zumindest unterstellt) mein Lieblingsgegner in allen Fragen ist. Und es käme dem Patriarchat auch zupass, wenn alle ihre aktionistischen Regungen eher einhegen statt dauernd nach Revolution zu schreien. 

Stellt sich raus: das Patriarchat ist nicht an allem schuld; wenngleich es durchaus von der Bequemlichkeit der Eingelullten profitiert: Zuviel Enthusiasmus beim Hineinschleichen ins 21. Jahrhundert könnte zu unkontrollierbarem Pragmatismus führen, gar zu Improvisation oder Innovation. Und dann aus Versehen zu modernisierenden, machtkostenden Reformen. 

Wahrscheinlich sind wir auch ohne Patriarchat gerne bequem. Warum sich anstrengen, wenn das meiste auch so geht? Wozu über sich selbst hinauswachsen, wenn die Klamotten auch von allein zu eng werden? Warum nicht alles dem Zeitablauf überlassen? Manches hat sich in einem Monat oder drei Jahren oder nach der Sintflut eh von selbst erledigt.

Weil es natürlich um mehr geht. Darum, sich nicht aufzugeben.

Ich begnüge mich damit, einem Bild zu entsprechen, das ich mir als Kompromiss zwischen Authentizität und Anstoßlosigkeit etabliert habe. Ich finde die Realisierung meines Selbstbildes so mühsam, dass mich dabei ertappe, es lästig zu finden, für mich selbst zu kämpfen. Mühsam aber nicht nur wegen der potentiellen Meinung anderer, sondern meinetwegen.

Dass ich mich bei den Schriftstellern aussortiert habe, gehört da ebenso dazu wie der Nagellack, den ich für die Premiere des Antipatriarchatsstücks aufgetragen und direkt nach der Feier wieder entfernt habe. Dass ich lieber meine uralte Strickjacke zum xten Mal flicke, als mir endlich den flamboyanten Kram zu kaufen oder zu nähen, den ich eigentlich tragen will. 

Ich habe keine Lust auf eine mögliche Diskussion darüber, wer ich bin und wie ich mich ausdrücke, zumal ich die drohende Ablehnung mehr als zur Genüge kenne; diese Lustlosigkeit aber äußert sich nicht in einer Fuck-you-Haltung, sondern in einem andauernden Fuck-me. Statt den anderen mich selbst zuzumuten, halte ich mich einfach zurück.

Natürlich verrate ich damit mein Lebensziel, so echt, so authentisch und so unbequem wie möglich oder nötig zu sein. Aber es ging ja auch immer so; und ein bisschen war ich ja auch echt, authentisch und unbequem. Zumindest in der sozialen Blase, in der ich mich so sehr sicher gefühlt habe. Da habe ich nie daran gezweifelt, dass mir das reichen könnte. 

Nie wirklich gezweifelt. 

Natürlich war ich mir unterschwellig ständig dessen bewusst, dass ich unter meinen Möglichkeiten performe; nicht nur auf der Bühne, nicht nur in beruflichen Aspekten. Ausbildungen, die ich mir schlechtgemacht oder rational ausgeredet habe. Jobs, für die ich mich nicht tauglich genug fühlen wollte. Ich lag weichgekocht in lauwarmem Wasser.

Den Gedanken daran, dass ich zu mehr befähigt sein könnte, dass vielleicht sogar jemand an meinen Fähigkeiten interessiert sein könnte, habe ich ganz hervorragend wegprokrastiniert. Zur Not hilft da immer das Höllenloch Internet; gäbe es Wettbewerbe im Doomscrolling ... - nein, auch dafür hätte ich zu wenig Ehrgeiz für einen Spitzenplatz. 

Vor Jahren hatte ich eine Craniosakralmassage, und der Behandler meinte, er spüre eine große Spannung; ob es eine Blockade in meinem Leben gäbe. Natürlich hätte ich ihm damals sagen können, dass ich das selbst bin; bin aber vor lauter untätiger Liegerei einfach eingeschlafen. Beim Aufwachen war ich so verspannt wie lange nicht mehr davor oder danach. 

Die letzten Jahre hingegen habe ich mich zu sehr entspannt; das sehe ich nun aus der relativen Entfernung der halbneuen Heimat. Ich habe mich gehen lassen, habe mich aufgegeben, weil es mir um nichts mehr ging. Weil es mir schon lange nicht mehr um mich ging, sondern einfach nur darum, möglichst wenig Diskomfort zu verspüren.

Jetzt spüre ich nur noch meine Zurück/Fehlhaltung, aus der ich mich nicht rausprokrastinieren kann; auch, weil ich weiß, dass ich mich so sehr verloren habe, dass ich komplett gegen mein aktuelles Selbst gehen muss. Und da geht es natürlich um mehr als das Casting für eine Nebenrolle in einem mir unbekannten Stück eines Amateurtheaterensembles.

Da geht es um mein ganzes restliches Leben, das ich nicht einfach nur als Kaulquappe verbringen will, sondern vielleicht dann doch eher als überraschend selbsterhaltsorientierter Frosch. Vor allem, da ich mich ja hier in einem neuen Teich befinde, wo ich machen und tun und sein kann, was ich will und wie ich will.

Zumal ja auch ganz anders andererseits die Welt sich eh auf mehr Zumutung zubewegt. Hamas-Terror, Ukraine-Krieg, fragmentierte USA, ein fucking Viertel der Deutschen, das sich ganz empathiebefreit vorstellen kann, AfD zu wählen, weil es ihm offensichtlich scheißegal ist, welche realen Konsequenzen das für alle hat. Ach ja, und Klimawandel natürlich. 

Und ich halte mich selbst für die Zumutung, vor der alle anderen geschützt werden müssen.

Pfft. 

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
mit Erkenntnisgewinn.
Impressum

Und nein,
ich will Eure Cookies nicht.
Datenschutzerklärung

Anderswann