1 | Hüterin, Regentrinker, Sämling und Späher | ANDERSWOLF

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Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

1 | Hüterin, Regentrinker, Sämling und Späher

Yelda
November 1, 2010

Ich weiß nicht, woher ich komme. Die Zeit hat mich irgendwann geweckt, das Rauschen der Blätter im Wind, die Nasen der Tiere, die an mir schnupperten. Wie ein vom Wasser ausgewaschenes Schneckenhaus lag ich zu Füßen der Bäume und rührte mich nicht, denn ich war leer, eine ungefüllte Hülle, ein verlorener Gedanke.
Meine erste Zeit war verwirrend, denn gleichzeitig musste ich mir selbst und der Welt um mich herum Namen geben. Heute, da so viel Zeit seit jenen Tagen vergangen ist, erinnere ich mich nicht daran, Angst gehabt oder mich allein gefühlt zu haben, ich spürte keine Verwirrung, denn all dies, was ich heute spüre, kannte ich damals noch nicht. Selbst die Bedeutung des Wortes allein kannte ich nicht, war ich doch eben erst erwacht und teilte nicht die Welt ein in Dinge, die mir zugehörig waren und die außerhalb meines Körpers und Geistes.

Der Weite über mir gab ich einen Namen und dem Boden unter meinem Körper, dem Wind, der über meinen Körper strich. Ich benannte meinen Körper, als ich erkannt hatte, dass ich nicht der Grund war, auf dem ich lag und nicht die Luft und der Himmel, die mich bedeckten. Ich spürte die Bewegungen allen Lebens um mich herum und konnte nicht glauben, dass all dies ein Teil meines Selbst sein sollte, also gab ich den Bäumen Namen und den Tieren und auch dem Laub und den Blumen. Erst später begriff ich, dass den Blumen die Namen egal waren, dass das Laub kein mitteilendes Leben mehr in sich trug, doch die Bäume, deren wahre Namen ich später kennenlernen sollte, schätzten meine Bemühungen sehr und nährten mich im Gegenzug. Sie gaben mir, auch wenn ich nicht wusste, dass es ein Gegenteil davon geben konnte, Geborgenheit und Sicherheit. Ihre fernen Arme streckten sie über mich, wenn der Regen die Welt um mich ertränkte, und wenn die Sonne die Erde verbrannte, spendeten sie mir Schatten. Die Bäume waren das, was ich heute als erste Familie bezeichnen würde, gäbe es für ein Wesen wie mich so etwas wie eine Familie. Heute noch spüre ich ihre Gedanken, das mütterliche Summen der frühlingsgrünen Hüterin, das feierliche Brummen des erdbraunen Regentrinkers, das quirlige Gelächter des mondbleichen Sämlings, der wehmütige Gesang des himmelhohen Spähers. Noch lange, bevor ich Lebewesen kennenlernen sollte, die mir ähnlicher waren als meine erste Familie, waren sie alle Gesellschaft, die ich brauchte.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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