Kirren. Erstes Siremon-Fragment | ANDERSWOLF

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Kirren. Erstes Siremon-Fragment

Siremon
Oktober 28, 2011

Als ich Kirren das erste Mal traf, rannte er durch meinen Traum, verfolgt von unsichtbaren Häschern, gejagt an den Rand einer Klippe, wo er hätte aufgeben können. Doch der Junge sprang und fiel.
Ich erwachte nicht etwa; der Rest des Traums ist zwar dunkel und fern, doch ich erwachte nicht. Ich spürte das Brennen der Luft in seiner Lunge, die Furcht eines Tieres, den Schweiß, der auf seinen Körper bedeckte wie Tau. Über allem anderen aber lag – auch später, als ich mich im Wachen an das Dunkel des Traums erinnerte – die plötzliche Gewissheit angesichts der Klippe. Als hätte er darauf gewartet, keine Wahl mehr zu haben, nicht mehr entscheiden zu müssen, als habe er endlich begriffen, dass es nur den einen Weg gebe: nicht mehr fliehen, sondern sich dem Abgrund stellen, und sei er bodenlos.

Als ich dann doch erwachte, lag mir sein Name auf den Lippen, ein Name, so seltsam weil kein Name: Kirren. Ein Wort, das zu kennen ich glaubte und nicht zu kennen ich wusste: jemanden verrückt machen, heiße es, dachte ich, jemanden kirre zu machen. Tatsächlich aber ist das Kirren eine Waidner-Tätigkeit, es beschreibt das Anfüttern wilder Tiere zur Hege oder Jagd.
Als ich in jener Nacht vor über acht Jahren erwachte, lag mir sein Name auf den Lippen und ich ahnte nicht, dass Kirren mich all das kosten würde, was ich für selbstverständlich, für gegeben, vor allem aber für meinen Weg im Leben hielt.

Ich hatte ein Studium begonnen, das mit meinem eigentlichen Ziel, Schriftsteller zu sein, nichts zu tun hatte. Ich war in eine Stadt gezogen, von der ich vorher nie gehört hatte und die ich erst lieben lernte, als ich sie Jahre später wieder verließ. Ich hatte eine Beziehung zu einem Mann begonnen, der gleichzeitig älter und jünger als ich war.
Dann geschah dreierlei: Ich kaufte mir einen Schreibratgeber, versagte in meinen Vordiplomsprüfungen und träumte von einem Jungen, der an den Rand eines Abgrundes gejagt wird, in den er sich bar aller Ängste fallen lässt. So sehr ich heute versucht bin, diesen Traum als eine Botschaft meines Unterbewusstseins zu interpretieren, wollte ich damals nichts anderes als zu erfahren, wer der Junge sei, wer ihn jagte und warum er sicher war, den Sturz in den Abgrund zu überleben. Ich wollte herausfinden, wer Kirren war und folgte ihm in den Kampf gegen seine Götter.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
mit Erkenntnisgewinn.
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