20 | Kurz vor Tharb | ANDERSWOLF

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Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

20 | Kurz vor Tharb

Yelda
November 17, 2010
Tharb war die erste Stadt, die ich je sehen sollte, und auch wenn ich später noch andere, größere Städte sehen sollte, war ich nie wieder so überwältigt von einer menschlichen Siedlung wie von Tharb.

Wir hatten einen weiteren Tag auf dem Fluss verbracht. Baneh erzählte Bamar viel über ihre Eltern und die Zeit, die vergangen war seit Bamars Sturz, Antejar steuerte das Boot, und ich dachte über das nach, was Antejar mir erzählt hatte. Ich hatte Fragen gehabt und Fragen beantworten müssen. Antejar glaubte mir, dass ich vieles nicht wusste, dass ich vieles, was die Menschen als selbstverständlich hinnehmen, nicht verstand. Vor allem aber versuchte Antejar mehr als alle anderen Lehrer, die ich bisher gehabt hatte, Remde, Mandu und Terno, dies nicht nur zu respektieren, sondern auch auf Basis meiner Unkenntnis zu argumentieren.
„Krieg“, hatte er mir erklärt, „ist wie ein Streit. Du hast Dich mit Terno gestritten, sagst Du, als weißt Du, was das bedeutet. Krieg allerdings ist größer als jeder Streit, den Du je mit Terno haben könntest. In einem Krieg sterben Menschen.“ Er machte eine Pause, suchte nach Worten. „Und die Menschen, die sterben, sind selten jene, die der eigentliche Streit betrifft. Ein Krieg ist ein Streit, der statt mit Worten mit Toten geführt wird.“
„Das klingt furchtbar.“
„Es ist schlimmer als es klingt. Alle Worte, die man benutzen kann, um zu beschreiben, dass Menschen, die man kannte, mit denen man getrunken, gelacht und geliebt hat, vor den eigenen Augen von Fremden ermordet werden, können nicht das Grauen der Wirklichkeit umfassen, die hinter den Worten stecken.“ Er verstummte.
„Du hast bereits Kriege erlebt.“
„Einen. Und auch dieser ist einer zuviel.“
„Worum ging es in diesem Krieg?“
„Um Land, um Reichtum, um Neid, ich weiß es nicht genau. Meine Heimat wurde überfallen von Kriegern eines anderen Landes, vielleicht gab es auch Provokationen von unserer Seite. Oft kann man nach einem Krieg nicht mehr sagen, wer wann den Grundstein gelegt hat. Und man kann auch nie wirklich sicher sein, wer den Krieg gewonnen hat, denn am Ende haben alle Seiten verloren.“
„Zu welcher Seite gehörte Tharb im Krieg? Zu Deiner?“
„Tharb liegt weit fort von meiner Heimat. Der Krieg ist nie bis hierher gekommen und wird es hoffentlich auch nie. Man kann allerdings nie wissen.“ Mit einem Blick auf Bamar fügte er hinzu: „Es sind schon unwahrscheinlichere Dinge geschehen.“

Tharb, erklärte mir Antejar, sei eine mittelgroße Stadt, die auf einem Hügel in einer Flussschleife liege. Auf drei Seiten war es von Wasser umgeben, auf der vierten Seite von einer großen Mauer. Die Zugänge in die Stadt bildeten neben einem großen und zwei kleinen Toren auf der Landseite drei Brücken über den Fluss sowie je ein Hafen im Norden und im Süden. Auf der anderen Flussseite lagen viele kleine Dörfer und Bauernhöfe, die den Menschen in der Stadt Nahrung lieferten und dafür Waren bekamen, die sie selbst nicht herstellen konnten oder wollten. Das erschien mir sinnvoll, wenngleich ich mir nicht genau vorstellen konnte, was die Stadt bieten konnte.
War ich naiv.

Als wir Tharb erreichten, war ich zunächst überwältigt von der Menge an unbewachsenem Stein, die sich vor uns erhob. Da die einzigen Bauwerke von Menschenhand, die ich bisher gesehen hatte, die Holzhäuser von Remdes Dorf waren, erschienen mir die hohen Häuser und Türme, die wie graue Zähne in den Himmel bissen zunächst befremdlich, wie ein enorm großer, versteinerter Igel, der sich vor so langer Zeit zum Schlafen niedergelegt hatte, um nie wieder aufzuwachen, dass mittlerweile ein Fluss seine Beine überspült hatte.
Ich konnte mit lange nicht vorstellen, dass Menschen all dies erbaut haben sollten, nur mit der Kraft ihrer Hände. Ich nahm an, dass die Türme so gewachsen und dann ausgehöhlt worden waren, was an sich schon eine enorme Leistung dargestellt hätte. Dass tatsächlich aber die Menschen selbst so viel Gestein, Holz und Lehm aufeinander getürmt hatten, dass diese prachtvollen Gebäude entstanden waren, erschien mir mehr als unwahrscheinlich.
Später, sehr viel später, habe ich natürlich andere Städte gesehen, die reicher und protziger waren als die einfachen Steintürme von Tharb. Und auch wenn ich goldbemalte Wände im Sonnenuntergang habe leuchten sehen und juwelenverzierte Königspaläste, hat mich von allen Orten menschlicher Machart doch immer noch Tharb am meisten beeindruckt und geprägt.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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