Atmen Sie - natürlich! | ANDERSWOLF

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Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Atmen Sie - natürlich!

Von der Front
März 18, 2024

Übrigens lebe ich noch, bin nicht tot, war nur beschäftigt. 

Neuerdings mache ich, weil kaputter Rücken seit 2015, Kraftsport. Vor allem, wie die App sagt, für eine starke Mitte. Nie habe ich mich schwächer gefühlt als jetzt, da ich Übungen für eine starke Mitte mache. Alles schmerzt, alles zieht, alles irgendwie doof. Immerhin fühlt sich der Rücken manchmal besser. Manchmal nicht. Eigentlich also wie alles. 

Klar machen die Übungen einen Unterschied: sie zeigen mir auf eine ganz neue Weise, was alles ich noch nicht kann. Atmen zum Beispiel. Da mache ich seit fast sieben Jahren Yoga und die dazugehörigen Atemübungen, aber Luft bekomme ich trotzdem keine. Oder zumindest nicht richtig. Die App sagt einatmen - ausatmen: ein in die Entspannung, aus in die Anspannung. Ich komme da nicht mit. Entweder bin ich zu schnell oder zu langsam, mal gegenläufig, mal ersticke ich fast, während ich mich an die Anzahl der Wiederholungen zu erinnern versuche. Und dann sagt die App, als hätte sie meiner Krampfatmung gelauscht: Atmen sie natürlich. 

Sagt es allerdings nicht, wie normale Menschen es sagten, ist ja doch eine computergenerierte Stimme, die keine Ahnung hat, wie ordentliche Intonation zu klingen hat. Sagt also: "Diese Übung ist großartig für ihre Bauch. Und Rückenmuskeln." Oder: "30 Sekunden Kind-Erstellung." Oder: "24 Push-uuuups". Oder eben: "Atmen Sie - natürlich!" Wie als Antwort auf die Frage, was sinnvoller sei: atmen oder nicht atmen. Als wäre es komplett absurd, nicht zu atmen. Und stimmt ja auch irgendwie, Atmen ist ja ganz sinnvoll. Gleichzeitig fällt mir auf, wie wenig ich tatsächlich atmen kann, automatisch, instinktgetrieben. Natürlich. 

Andererseits auch nicht neu: ich traue mir und meinen Instinkten ja eh nicht, ich muss schon arg abgelenkt sein, dass ich tatsächlich mal impulsiv handele. Entschiede ich mich mal nicht erst nach einer einstündigen oder einwöchigen Reflexionszeit (je nach Schweregrad aller potentiellen Konsequenzen), sondern quasi reflexhaft, ich wüsste gar nicht mehr wohin mit meiner vielen neu gefundenen Freizeit. 

So verbringe ich viel prokrastinatorische Zeit damit abzuwägen, welchen Einfluss eine Entscheidung nicht nur auf mein Leben haben könnte, sondern auch auf das des Mannes, der Eltern, der Freunde, der Nachbarn. Vielleicht - je nach Entscheidung - auch auf das Leben aller Menschen. Klar: ethischer Konsum und ein Verzicht auf Produkte, die unter menschenunwürdigen oder umweltschädigen Umständen hergestellt worden sind, sind schon irgendwie geil, aber wenn ich drei Tage mit Abwägungen verbringe, ob es nicht vielleicht viel sinnvoller wäre, meine zerfetzten Leibchen ein weiteres Jahrzehnt zu tragen, als ein Grünknopf-Shirt im Internet zu bestellen, dann ist irgendwas nicht in Ordnung. Und zwar mit mir. 

Klar, auch mit einer Menschheit, die einfach hinnimmt, unter welchen Umständen Kleidung hergestellt wird (und wer noch nie davon gehört hat, wie schmutzig, umweltzerstörend und menschenverachtend das Modegeschäft ist, darf sich gerne bei mir melden). Und während meine individuellen Kaufentscheidungen jetzt auch nicht dazu führen werden, dass vermehrt nachhaltigere Fasern wie Hanf, Lein oder Ramie angebaut oder die gesundheitsschädlichen und ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft beendet werden, habe ich doch das Bedürfnis, keinen Mist zu kaufen, weil: irgendwie bin ich ja dann doch ein Ökofanatiker. 

Und ja: Wäre für uns alle besser, wenn unsere Entscheidungen altruistischer, empathiebasierter, nachhaltiger oder zumindest weniger selbstzerstörerischer wären, aber ganz ehrlich: darum geht's mir doch gerade gar nicht. 

Mir geht es darum, dass ich mich mit meiner Entscheidungsunfähigkeit, vielleicht auch Entscheidungsunwilligkeit manchmal so sehr blockiere, dass ich am Ende gar keine Entscheidung treffe; und das ist - Überraschung - nicht gut. Mir geht es darum, dass ich mich mit meinen Gedanken so sehr beschäftige, dass ich halb ersticke, obwohl ich mich doch einfach nur darauf konzentrieren sollte, bei den Spiderman-Push-Ups (oder wie die Stimme sagt: Spiedermann-Push-Uhps) den Körper in einer geraden Linie und das angewinkelte Bein parallel zum Boden zu halten. 

Aber immerhin mache ich den Kram, lausche der Stimme, wie sie komplett emotionsbefreit sagt, ich solle doch einfach noch mal 16 Diamant-Pushups machen, als läge ich nicht schon seit drei Übungen schmerzverkrampft auf dem Boden. Meine Protestrufe ignoriert sie, sie interessieren sie nicht, es ist ihr so sehr egal, man könnte glauben, sie wäre ein Roboter. Die haben's nämlich leicht zu sagen, man solle einfach nur natürlich atmen. 

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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