Der Zweite von fünf | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Der Zweite von fünf

Yelda
November 30, 2010

Es war Zeit für den zweiten Zauber. Ich machte mich auf den Weg in den Inneren Kreis. Ich wusste, dass weder Remde noch die Drei noch irgendjemand sonst sich einfach innerhalb der Mauern materialisieren konnte. Ich hatte die Kraftfäden eindeutig gesehen, ich wusste, dass sie keine magische Bewegung zuließen. Ich würde die Drei sehen, wenn sie sich näherten, und außerhalb musste ich die Begrenzung der Mauern nutzen. Im Zentrum des Mauerrings stand der Tempel der Stillen Götter und natürlich der Buchturm, den ich an diesem Tag das erste Mal betrat.
Ich spürte, dass ich dort finden würde, was ich brauchte, auch wenn ich nicht wusste, was es war. Erst später war mir klar, dass es die Quelle war, die den Teich speiste, doch zunächst war nur wichtig, dass ich wusste, wo ich meinen Zauber weben musste.

Als ich in den Schatten des Portals trat, erkannte ich Menschen, die im Inneren umherschlichen. Es war dunkel im Tempel, doch ich konnte gut erkennen, dass es sich nicht um Diener von Göttern handelte, denn jene hätten sich nicht verstohlen umgesehen, bevor sie Edelsteine aus Fassungen schlugen oder Wandbehänge herunterrissen. Ich wusste zwar nichts vom Dienst an den Göttern, aber selbst mir war klar, dass das, wovon ich gerade Zeuge wurde, nicht die übliche Praxis war.
„He!“ rief ich und erkannte an den Reaktionen der Menschen rasch, dass sie nicht damit gerechnet hatten, bei dem beobachtet zu werden, was sie gerade taten. „Verschwindet von hier. Ihr habt nichts hier verloren, es sei denn Ihr plant, Eure Leben hier zu verlieren.“
„Was willst Du?“
„Warnen will ich Euch, dass Ihr, wenn Ihr nicht verschwindet wie alle andere Menschen der Stadt – und zwar jetzt gleich und ohne Euer Diebesgut –  ihr von der Vernichtung dieser Stadt ebenso anheimfallen werdet wie alles, was sich innerhalb der Mauern befindet.“

„Uns die Beute streitig machen, das willst Du!“ sagte einer der Gruppe, ein langer, aber nicht großer Mann, dessen graue Haare ihm strähnig bis auf den Rücken fielen. „Wir machen, was wir wollen, und wenn alle weglaufen, ist das für uns noch kein Grund, das ebenso zu tun.“
„Ich habe Euch gewarnt. Ich werde Euch aber nicht bestrafen. Es ist Eure letzte Gelegenheit, die Stadt zu verlassen, bevor Euch der Schatten, der sich über die Stadt legen wird, hinausdrängt.“
Aber der Mann lachte nur, und seine Kumpane stimmten in sein Lachen ein.
„Die Hübsche will sich uns vielleicht aufdrängen?“ fragte ein anderer der Männer und grinste mich an. „Bist ein hübsches Ding, kannst uns wärmen in der Dunkelheit!“
„Wag es nicht, mich anzufassen. Der letzte, der das versucht hat, hat es nicht überlebt.“ Ich ging an ihm vorbei und etwas in meinen Worten oder meiner Ausstrahlung ließ ihn in der Bewegung innehalten.
Ich ließ die Gruppe der Männer hinter mir und ging unter gesichtslosen Statuen weiter dahin, wo ich den Zugang zum Buchturm vermutete.

Die Stufen waren alt und ausgetreten, und es hätte mich nicht gewundert, wenn auch sie älter gewesen wären als der Rest der Stadt. Wie ich später erkannte, war der Turm tatsächlich aus dem gleichen Stein wie die Innere Mauer und auch er schien direkt aus dem Erdboden herauszuwachsen. Das gleiche traf auf den Turm des Todes und den der Inneren Wache zu. Sie waren alle drei uralt und von unzähligen Generationen der Menschen umgestaltet und umgenutzt worden.
An jenem Tag aber fiel mir nur auf, wie ausgewetzt die Stufen waren und wie sich die Stufen in ihrer Höhe von der anderer Stufen, selbst im Tempel der Stillen Götter, unterschied.
Die kreisförmig angeordneten Stufen schraubten sich aus der Tiefe hinauf auf eine Aussichtsplattform, die alle anderen Orte in der Stadt überragte, da auch der Felsen am Fuß des Turms schon höher war als die anderen Stellen im Inneren Kreis. Von der Aussichtsplattform konnte ich die anderen Türme der Inneren Stadt sehen und sogar bis auf die andere Seite der Brücken, die Tharb mit der Ebene auf der anderen Seite des Flusses verband. Dort bewegten sich viele Menschen und auch viele Boote waren flussabwärts unterwegs. Das beruhigte mich, denn das hieß, dass viele meine Nachricht nicht nur verstanden, sondern auch gleich entsprechend gehandelt hatten. Es stimmte mich zudem zuversichtlich, dass meine Wahrnehmung der Kraftfäden mich nicht getäuscht hatte. Ich brauchte sie nämlich für meinen zweiten Zauber noch dringender als für den ersten.

Ich erinnerte mich an die Übung, die mich Sobekan gelehrt hatte: ich verließ meinen Körper und stellte mir vor, wie mein Wesen sich mit allen Fäden der Kraft verbände. Nach und nach wuchsen einzelne Fäden in die Höhe und da, wo sie mich fast berührten, griffen sie nach mir, banden sich an mich und aneinander, knüpften durch mich hindurch ein Netz, dessen Fixpunkt ich wurde. Ich war erstaunt, wie einfach das ging, auch wenn es nur wenige Fäden waren, die sich mit mir verbanden, doch waren sie schon genug, um eine Kettenreaktion innerhalb der Verbindung der Fäden untereinander zu bewirken. Wie sich die Fäden in mir verbunden hatten, strebten sie auch außerhalb meines Wesens aufeinander zu und verwoben kreuz und quer durch und über der Inneren Stadt miteinander, bildeten nach und nach immer mehr immer dichter werdende Netze aus hell schimmernden Fasern, die sich ausbreiteten und sich einander zuwandten und schließlich, wo sie aneinander grenzten, sich miteinander verflochten. Mit den Zentren der Netze verband ich mich selbst, so dass ich schließlich in einem schimmernden Kokon aus Fasern wie eine Spinne in ihrem Netz saß.
Ich war erstaunt, wie einfach es ging. Es war fast, als hätten die Ströme der Kraft nur darauf gewartet, verbunden zu werden, denn ich hatte nur einen kurzen Anreiz geben müssen und fast von selbst, und ohne dass ich noch viel hätte nachhelfen müssen, hatte sich der Himmel über mir geschlossen. Ich hatte ein Werk geschaffen, das ich nicht aufrecht erhalten musste, denn es speiste sich selbst aus der Quelle der Kraft. Es war fast, als hätte ich die Arbeit eines anderen weitergeführt, als hätte es genau so schon immer sein müssen. Oder, dieser Gedanke kam mir erst sehr spät, als hätte es hier schon immer so etwas gegeben, bis ein wie auch immer geartetes Ereignis diese natürliche Ordnung zerstört hätte, und sich der Schirm nicht wieder eigenständig hätte regenerieren können.
Und als ich mit meiner Wahrnehmung an dem Netz entlangstrich, fühlte es sich nicht anders an als es die Mauer getan hatte. Wäre es sichtbar gewesen, das Netz hätte sich mit der Mauer zu einer hell schimmernden Kuppel vereinigt, dessen hellstrahlende Säulen die drei ältesten Türme der Inneren Stadt waren, denn auch von den anderen beiden Türmen stiegen helle Strahlen bis zu der Kuppel auf.
Ich hatte den Boden bereitet. Die Kuppel würde verhindern, dass die Jenseitigen einfach in der Inneren Stadt erscheinen und wieder verschwinden konnten. Die Innere Stadt war der Ort, an dem ich sie besiegen wollte und musste und konnte, und egal, was sie mir entgegenwerfen würden: die Innere Stadt von Tharb würde auf immer ihr Gefängnis werden.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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