Usus operi | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Hallo, ich bin das Opfer

Usus operi
Juli 26, 2022

Ich wurde also verletzt. Kleine und große Aggressionen, mittlere und katastrophale Entmutigungen. Selten körperliche Gewalt, eher verbale und psychologische Attacken. Eigentlich dermaßen verjährt, dass ich längst drüber weg sein sollte. Und doch wirft die doofe Vergangenheit immer noch lange Schatten in meine Gegenwart. 

Willkommen im Land des Selbstmitleids

"Selbstmitleid", sagt Wikipedia, "bezeichnet das menschliche Verhalten, seelischen Schmerz über ein scheinbar oder tatsächlich zu Unrecht erlittenes Übel zu empfinden." Es geht schlimmer weiter: Andere sollten bedauern, dass ich ein Opfer von Gewalt geworden bin. Sie sollten mich bedauern. Weil es aber niemanden kümmert, habe ich - schwupps - einen neuen Grund, mich selbst zu bemitleiden. Ein Teufelskreis mit Potential zur Chronifizierung als Posttraumatische Verbitterungsstörung. 

Nun ist das vielleicht erklärbar, aber nicht hilfreich. Denn zum Selbstmitleid gehört der Groll gegenüber der teilnahmslosen Welt. Selbstmitleid chronifiziert mich als Opfer, beunfähigt mich, mein Schicksal zu kontrollieren. 

Armes Menschlein

Leider heilt Selbstmitleid nicht. Es amputiert.
Natürlich ist es verlockend, Verantwortung abzugeben und zu sagen: "Immer wenn ich kreativ wurde, habe ich eins auf den Deckel bekommen, es soll wohl nicht sein." Als ob zu meinem Los die zielgerichtete Unterdrückung meines Charakters durch die Welt gehörte, eine große Verschwörung zur Verzwergung von Anders Wolf. 

Das soll die Existenz von Traumata nicht relativieren. Verletzungen durch Andere passieren, immer und überall. Schön wäre es in einer Welt ohne Aggressionen zu leben. Allerdings müssten wir unseren Planeten dazu relativ stark entvölkern (böse Zungen behaupten, wir arbeiteten bereits daran), schließlich bedeuten Menschen Konkurrenz. Alle kämpfen ums Überleben, manchmal mehr, manchmal weniger deutlich. Und in der Hitze (oder manchmal auch nur lauen Wärme) des Gefechts entfährt auch den wohlmeinendsten Gemütern mal eine unbedachte Bemerkung. 

(Rat)Schläge

Zuletzt schrieb ich von Mitschülys, von Eltern, von K. aus dem Studium. Ich sei gemobbt, nicht gefördert, sogar entmutigt worden. Das ist nicht toll, aber kein Grund aufzugeben. 
Vor allem nicht wegen gut gemeinter Ratschläge, die ja einen Kern von Sorge in sich tragen. Ich solle mich nicht von meinem Traum begraben lassen, hatte K. mir geraten. Ich solle mich nicht in die Armut treiben lassen, so die Eltern. Gut gemeint beides, und doch ohne Kenntnis meiner Fähigkeiten ohne Basis. 

Seltsamerweise ist mir das Mobbing weniger präsent. Vielleicht weil die tiefer empfundenen Kränkungen später geschahen, in einer Zeit und Umgebung, in der ich mich sicher fühlte. Vielleicht weil das Mobbing unpersönlicher war, weil von mehreren Menschen, vor allem solchen, die ich ohnehin nie als Freunde bezeichnet hätte.

Diese Diskrepanz ist unverständlich, hat mich das Mobbing doch gerade während meiner Persönlichkeitsbildung in den Kindes- und Jugendjahren verformt. Studien zeigen, dass gemobbte Kinder lebenslang Narben tragen, egal wie viele Schichten scheinbarer Selbstsicherheit darüber liegen. Ist das Selbstwertgefühl erst mal unterminiert, ist das Grundvertrauen, in dem der Charakter wurzeln sollte, nachhaltig erodiert.  

Aufgeben vs. Aufgabe

"Wir können nicht kontrollieren, was uns geschieht, nur unsere Reaktion darauf." Klassiker der Selbsthilfe, dennoch nicht unwahr. Oder: "Wenn die Welt dir Zitronen gibt, mach Limonade draus."

Narben, so heißt es, sind nicht Zeichen für Schwäche, sondern fürs Überleben. Narben stehen für Verletzungen, die uns getroffen, verändert, aber nicht bezwungen haben. Verstecken wir eine Narbe, negieren wir den damit verbundenen Schmerz, negieren wir auch uns selbst, denn auch wenn wir das nicht wollen, sind unsere Narben doch unauslöschlich mit uns verbunden.

Was also tun, wenn nicht aufgeben? Weitergehen, weiterleben, weitermachen. Ich wurde verletzt, weil ich anders war. Aber eben auch noch immer anders bin. Nie nicht anders sein werde. Soll ich mich deswegen immer noch kleinmachen, anpassen, verstellen? Mir wurde davon abgeraten, meinen Träumen zu folgen, nur weil sich andere darin keinen Erfolg für mich vorstellen konnten? Warum habe ich angenommen (und scheine immer noch anzunehmen), sie hätten recht? 
Es ist leicht aufzugeben, bevor man etwas versucht hat, es ist sogar verlockend, nicht die Energie aufzubringen, wenn alles, was man als Belohnung sieht, Scheitern heißt. Wer nicht mit dem Gedanken ans Ziel losläuft - Achtung Sportmetapher -, sollte nicht für einen Marathon antreten. 

Tatsächlich sollten Entmutigungen uns nicht zum Aufgeben bringen, wir sollten sie als Aufgabe verstehen. Als Aufgabe, in uns selbst zu investieren, stärker zu werden, besser, schneller, resilienter. Überzeuge deine Kritiker vom Gegenteil. Oder besser noch: beschäftige dich mit deiner Arbeit, nicht mit denen, die sie ohnehin nicht verstehen. 

Er|folg|en|los

Erfolg entsteht nicht über Nacht, er ist das Ergebnis nicht immer harter, aber doch ausdauernder Arbeit. Vor allem belohnt Erfolg den Glauben an sich selbst, auch und gerade in Zeiten, in denen das nicht leicht ist. Lichter, die im Dunkeln entzündet werden, leuchten am hellsten. Klingt nach noch mehr Selbsthilfe-Bullshit. Ist trotzdem wahr, vor allem aus der Perspektive eines Menschen, dessen größter Erfolg die Selbstsabotage ist. 

Im Grunde weiß ich, was ich kann. Natürlich weiß ich um meine Schwächen, viel besser aber kenne ich mein Potential. Ich kenne es, weil ich es in den letzten Jahren und eigentlich Jahrzehnten sehr erfolgreich unterdrückt habe. Und weil ich, wenn ich mich aus Versehen mal nicht zurückgehalten habe, alles geschafft habe, was ich mir in den Kopf gesetzt habe. Ich muss nur wollen, denn wo ein Wille, da auch Limonade. 

Sei wie FritzFranz

Ich wurde also verletzt und durch diese Verletzungen geformt, ebenso wie durch meine Versuche, mich selbst zu zähmen. All das hat mich hierher geführt, und ich kann bedauern, wie viel Zeit mich die Umwege gekostet haben. Wie viel ich schon hätte schreiben und veröffentlichen können. Aber ganz ehrlich: Hätte ich es wirklich gekonnt, ich hätte es getan. 

Manchmal ist die Zeit nicht reif, manchmal ist der Mensch nicht reif. Ich weiß immer noch nicht, wie mein kleineres Romanprojekt zu Ende gehen soll. Ich weiß, dass mein unentschiedener FritzFranz-Protagonist auf halber Strecke eine Erleuchtung hat und dass danach erst mal alles auseinanderfällt, bevor sich die Puzzleteile wieder ordentlich zusammenfügen. Eigentlich: bevor er selbst die Bruchstücke seines Lebens wieder zusammensetzen kann.

Und das ist auch meine Aufgabe: mich nicht mehr davon abzulenken, meine Unordnung zu sortieren. Mich nicht mehr davon abzuhalten, mein Potential zu entfalten. Oder konkreter: endlich das Wagnis einzugehen, das Buch zu schreiben. Und vielleicht erst auf dem Weg Richtung Ende zu entdecken, wie FritzFranz und ich die größte Hürde aller Zeiten überspringen: den eigenen Schatten.

Das große Warten

Usus operi
Juli 20, 2022

Angeblich verbringen wir zwei Jahre unseres Lebens mit Warten. Das habe ich im Internet gelesen, es muss also stimmen. 

Andererseits: Was ist Warten? Was heißt Warten? Wenn ich an der Supermarktkasse in der Schlange stehe und noch nicht mal meine Sachen aufs Band gelegt habe, sondern nur langsam näher ranrutsche, bis endlich auch ich an der Reihe mit Auflegen, Wiedereinpacken und Bezahlen bin: warte ich dann auch, wenn ich gleichzeitig darüber nachdenke, ob ich alles in meinem Korb gelegt habe, was auf meinem Einkaufszettel stand? Denke ich dann beim Warten, warte ich beim Denken? Oder warte ich gar nicht, sondern denke nur?

Menschen im Stau warten (und hinterfragen gleichzeitig ihre Lebensentscheidungen). Menschen auf der Rolltreppe warten (und schauen derweil den Hintern des Vordermenschen an). Menschen im Eiscafé warten auf ihren Eiskaffee (und überlegen, ob sie bei der Hitze nicht besser im Keller sitzen sollten). Menschen in der Warteschleife warten (und summen Für Elise mit). Menschen am Gepäckband warten (und überlegen, ob es sich noch lohnt, nochmal zur Toilette zu gehen). Menschen im Wartezimmer warten (und blättern vielleicht in einer Zeitschrift, in der sie sich nur zu lesen trauen, weil der neutrale Umschlag des Lesezirkels das reißerische Titelblatt von Frau am Abgrund verdeckt). Menschen, die auf einer Organspendeliste stehen, warten (und hoffen, dass alle anderen Menschen eine so positive Einstellung zur Organspende haben, dass sie Organspendeausweise mit sich führen, weil es immer noch keine gesetzliche Regelung zur Widerspruchslösung und ergo einen Spenderorganmangel gibt). 

Wenn aber Warten bedeutet, dass ich in der Wartezeit nichts anderes machen darf als Warten, warten all diese Menschen dann wirklich? Gerade die Organspendemenschen: die machen ja bestimmt auch was anderes zwischendurch. Warten geht ja gar nicht den ganzen Tag. Ich muss ja was essen, trinken, Blumen gießen, Bücher lesen, E-Mails schreiben, Radio hören, mich mit Menschen aus der Nachbarschaft unterhalten (oder sie aktiv ignorieren). Irgendwas, denke ich mir, ist ja immer zu tun. 

Und wenn nichts ist, dann suche ich mir eben was. Dann beschäftige ich mich, damit ich nicht einfach nur rumsitze. Vielleicht schaue ich ein Video (oder fünfzehn Videos) auf YouTube an, vielleicht höre ich einen Podcast, vielleicht telefoniere ich oder räume den Hauswirtschaftsraum um. Vielleicht memoriere ich meinen restlichen Text oder wiederhole die bisher einstudierten Szenen. Vielleicht gehe ich spazieren oder zum Abkühlen in den Keller, vielleicht hefte ich die Sachen aus meiner Ablage ab oder bringe Altpapier in den Altpapiercontainer. Vielleicht kaufe ich Lebensmittel ein, vielleicht backe ich eine Limettentarte, vielleicht nähe ich mir eine Hose. Vielleicht trenne ich die missglückte Hose wieder auf, um aus dem Verschnitt etwas anderes zu nähen. Vielleicht stutze ich endlich den Ficus. Vielleicht wechsle ich nach nur drei Monaten Displayschwärze den Akku meines Funkweckers. Vielleicht baue ich doch noch die Balkonbank. Vielleicht bringe ich mir Akkordeonspielen bei oder studiere Running up that Hill auf dem Keyboard ein. 
Vielleicht, vielleicht, vielleicht. 

Was ich aber definitiv nicht mache: das Buch schreiben. Oder das andere Buch. Oder die Geschichten für die Wettbewerbe. Oder einfach mal wieder einen Blogbeitrag. 

In der Abizeitung meines Jahrgangs sollten alle Abiturientys die Frage beantworten, was sie später mal machen wollten. Also nicht später im Sinne von nachher wie beispielsweise "nach der Abifeier erst mal den Rausch ausschlafen", sondern mehr im Sinne von "Wo siehst du deine Bestimmung im Leben?", was in vielen Fällen eher verstanden wurde als Frage nach dem Studienfach. Erstaunlich viele Menschen wollten da BWL oder ähnlichen Quark studieren, einige auch Jura oder Medizin, die wenigsten interessierten sich für sinnvolle und sinnstiftende Berufe, die tatsächlich gesellschaftlichen Mehrwert besitzen. Also die in der Pandemie als essentiell eingestuften Jobs in der Pflege, im Handwerk, im Einzelhandel. Gut, Medizinys braucht es auch, und einige wollten auch Lehrkraft werden, aber der Trend war damals (wie vielleicht auch seither): Hauptsache Geld. 

Ums Geld ging es mir nie. Natürlich habe ich das Glück, dass es das nicht musste; einerseits hatte ich immer Menschen, die mein Leben finanzierten, andererseits sind meine Bedürfnisse nicht so ausgefallen, dass ich überhaupt viel Geld bräuchte. Wenn ich Geld ausgebe, dann in der Regel für Lebensmittel. 
Das passt natürlich ein bisschen zu meinem Studium, denn wer Ernährung studiert hat, darf sich auch fürs Essen interessieren.

Andererseits habe ich auf die Frage, was ich denn mal machen wollte mit meinem Leben, geantwortet: irgendwas mit Worten. Schon damals konnte ich nicht schreiben, ich wolle Schriftsteller werden. Vielleicht wusste ich nicht, ob ich das wirklich werden konnte. In dreierlei Hinsicht: Wie wird man Schriftsteller? Bin ich geeignet, Schriftsteller zu sein? Ist mir das überhaupt gestattet, Schriftsteller zu sein?

Das Irritierende daran ist, dass ich nie darüber nachgedacht habe, etwas anderes zu sein. Mein ganzes Leben besteht aus der Auseinandersetzung mit Geschichten, meist in Buchform, natürlich aber auch in Form von Videospielen, Filmen oder Serien. Seit ich schreiben kann, schreibe ich gerne, sowohl mit der Hand als auch digital (und ja, für lateinisch Angehauchte ist da ein unbeabsichtigter Wortwitz versteckt). Ich mag es, Worte aneinanderzureihen, finde es schön, wenn sich Gedanken erst im Gehirn formen und dann in einem Text wiederfinden. Ich lese gerne, lieber sogar als ich Gefilmtes oder Animiertes konsumiere, aber Lesen ist eine ausschließliche Tätigkeit, da kann man nebenbei nicht noch etwas Zweites erledigen. Außer Warten vielleicht (auch wenn Warten, wenn man liest, vielleicht schon nicht mehr Warten ist).

Ich hatte nie eine Vorstellung davon, was ich tun sollte, wenn ich nicht schriebe. Und doch schreibe ich nicht. Und ich weiß nicht warum. 

Klar, da ist die lose Erfahrung, dass bisher jede kreative Äußerung meinerseits früher oder später auf Ablehnung gestoßen ist. Wahrscheinlich, das gebe ich zu, hat mein Gehirn da auch Verknüpfungen hergestellt, wo keine sind. Als ich in der Grundschule gemobbt wurde, dann bestimmt nicht nur, weil ich mich künstlerisch von den anderen unterschied, sondern eben auch einfach anders war. Als ich im Gymnasium den Chor verließ, dann nicht, weil ich schief gesungen hätte, sondern eher, weil ich auch da als anders wahrgenommen und auch so von den anderen behandelt wurde. In meinen Jugendjahren habe ich mittelprächtige Gedichte geschrieben, bis mir gesagt wurde, ich müsse, um gut zu werden, noch vieles lernen; leider war diese bloße Feststellung weniger hilfreich, als es vielleicht ein Mentoring gewesen wäre. Und natürlich hat auch die Einschätzung meiner Eltern nicht geholfen, ich dürfe ja durchaus meinen Schreibkram machen, davon leben könne ich aber bestimmt nicht, ich solle mir also lieber einen Brotberuf suchen. 
Vielleicht darum das Studium der Ernährungswissenschaften.
Brot und so. 

In Gießen dann K. kennengelernt, den hyperpragmatischen Gegenentwurf zu meiner ohnehin schon angerauten Künstlerseele. K. hat mich im Studium immer angetrieben, gemeinsam haben wir alle Praktika und Seminare durchgezogen, uns gegenseitig (und danach allen anderen) die Naturwissenschaften erklärt, zu denen wir anfangs beide  keinen Zugang gefunden hatten. Gemeinsam haben wir uns durch ein Studium geschoben, das uns, wenn wir einander und uns selbst gegenüber ehrlich gewesen wären, doch eigentlich beide nicht wirklich interessierte. Doch das einzige Mal, dass ich tatsächlich ehrlich über meine Ambitionen mit K. sprach, erwähnte ich meinen Traum davon, ein Buch zu schreiben, vielleicht auch zwei. Schriftsteller wolle ich eigentlich werden, und das mit der Ernährung sei eigentlich nur ein Notnagel. Ein Brotberuf eben.

Und dann hat K. von dem Manuskript erzählt, das die Familie nach dem Tod des Großvaters gefunden hätte. Grauenvoll, unlesbar, komplett unbegabt; und doch hätte der Großvater bis zuletzt noch am Traum gehangen, irgendwann doch noch die Geschichte zu veröffentlichen. Ich solle, das sagte mir K. also, diesen Traum begraben, bevor mich der Traum unter sich begrabe.
Und weil ich K. aus Gründen, die ich rückblickend nicht nachvollziehen kann, mehr zutraute in Lebensfragen als mir selbst, folgte ich diesem Rat und verabschiedete mich von meinem Traum.

Nun wissen alle, die über die Jahre mein Blog gelesen haben, dass das nicht ganz stimmt. Ich habe immer wieder geschrieben. Kürzere und längere Blogbeiträge, auch Geschichten, ich habe auch (manchmal erfolgreich) an Wettbewerben teilgenommen; aber mein Herz habe ich doch nie so richtig hineingeworfen. In allem, was ich schreibe, halte ich mich zurück. Meine literarischen Texte sind oft von einer unpersönlichen Kälte durchzogen, meine Protagonistys unnahbar oder komplett unsympathisch, meine Sätze zu klinischer Sauberkeit ausgeputzt. 

Ich will mich, das ist meine Analyse, in meinem Schreiben nicht angreifbar machen, will nicht so weit aus mir rausgehen, dass ich vielleicht nicht zurückkann. Ich habe die Erfahrung, dass kreativer Ausdruck nicht nur belohnt wird, immer noch nicht überwunden. 
Als ich vor Jahren das sehr selbstentblößende Theaterstück "Die letzte Königin" geschrieben und aufgeführt hatte, sagte mir eine Zuschauerin hinterher, wie deutlich sie mir das Fehlen von Grundvertrauen angemerkt habe und wie wenig Grund ich doch dafür zu haben brauchte. Ich solle mit der Erkenntnis auf die Bühne gehen, dass es für ein solches Öffnen dem Publikum gegenüber zwar großer Kraft bedürfe, dass ich diese Kraft aber doch offensichtlich auch besäße. Ich müsse mich nicht mehr zurückhalten.

Und doch halte ich mich immer noch zurück. Ich suche immer noch Ausreden, Ablenkungen, andere Aufgaben. Ich weiß, dass ich mir selbst damit schade, nicht zu schreiben; dass ich den Drang, meine Geschichten zu erzählen, zwar unterdrücken, aber nicht einfach ausjäten kann. Und ich würde es ja auch gar nicht wollen. 
Ich will ja Geschichten erzählen, will Bücher schreiben; und doch traue ich es mir nicht zu. 

Ich warte. Darauf, dass irgendwann jemand zu mir kommt und sagt: schreib jetzt dieses Buch. Und doch warte ich nicht bewusst. Ich schaue Serien, ich lese Bücher, ich räume die Wohnung um, ich höre Podcasts. Ich weiß natürlich, dass auch die Welt nicht wartet. Ja, im Kleinen schon: Menschen stehen an der Kasse oder auf der Rolltreppe, sie sitzen in Autos und Eiscafés, sie warten auf ihren Arzttermin oder eine Organspende. Aber die Welt wartet nicht darauf, dass ich mich hinsetze und schreibe, sie wartet nicht darauf, dass ich das Buch beende. Jedes Jahr erscheinen 80000 Bücher, und die wenigsten davon werden tatsächlich gelesen; und selbst diese 80000 Bücher sind nur ein Bruchteil dessen, was Verlagen angeboten wird. 
Kein Verlag wartet auf mich, die Welt wartet nicht auf mich. Nur ich selbst warte auf mich und darauf, dass ich mir endlich selbst die Erlaubnis gebe, alle gut und schlecht gemeinten Ratschläge und Reaktionen auf einen wie auch immer gearteten kreativen Ausdruck hinter mir zu lassen. Und ich warte immer noch darauf, dass ich irgendwann zu mir komme und sage: Ich schreibe jetzt dieses Buch. 

How to not drown

Usus operi
Juli 28, 2021

Es mag sich anfühlen wie Schmerz und doch ist es nur Leere. Langeweile. Ein entnordeter Kompass. Reparabel vielleicht, vielleicht aber auch einfach nur ein weiteres Ding, was zu ignorieren ist. Zu überspielen. Spielend leicht ist das, es nennt sich "so tun als ob", und das ist ja nun mal das Einfachste von allem. 

Alles nämlich ist einfach, wenn ich es nur will. Und auch wenn das Einfache das ist, was mir in der Regel nicht gelingt, ist das nur eine weitere Regel, die zu brechen ist. Eine Grenze zu überwinden, ein Knoten zu durchschlagen, eine leere Seite zu beschreiben. Wieder und wieder die gleichen Worte aufs Papier setzen: Ich kann das. Ich kann das. Ich kann das. 

Im Grunde wie Magie. Licht in der Dunkelheit finden und die Dunkelheit dann einfach überstrahlen damit. Alle Geister austreiben, alle Schatten verjagen, alle Zweifel exorzieren. Das wollte ich schon einmal, ich erinnere mich daran. Kein Zweifler mehr sein an mir selbst und meinen Fähigkeiten. Dann kam die Pandemie, fokussierte mich auf mich selbst, und was ich gesehen habe, hat mir nicht mehr Vertrauen in mich selbst gegeben. 

Darum: Ich kann das. Ich kann das. Ich kann alles. Ich kann auch diese dumme Geschichte schreiben, ich kann mich um Stipendien bewerben, um Schreibseminare, ich kann bei Wettbewerben mitmachen, ich kann sogar welche gewinnen, wenn ich mich nur richtig anstrenge. Vielleicht kann ich auch irgendwann wieder aufhören, mich zu isolieren, mich zu verzwergen, so zu tun, als hätte ich es nicht verdient, gemocht zu werden. 

Denn das ist es ja eigentlich: ich will gemocht werden und glaube gleichzeitig nicht, dass es gut für mich ist, sichtbar zu sein. Selbst dieses repetierende Experiment einer emotionalen Selbstoffenbarung, diese Exhibition meiner Gefühle, meiner Sorgen, meines pathetischen Gejammers: auch nur Auswurf eines verwirrten Gefühls von "Sieh mich, aber schau nicht hin". Denn ganz ehrlich: wenn ich wollte, dass dies jemand liest, der mich kennt, dann schriebe ich unter meinem echten Namen. 

Und doch akzeptiere ich die Möglichkeit, dass ich gelesen und erkannt werde. Dass ich vielleicht - mal wieder - bemitleidet werde. Oder verspottet, was weiß ich. Dass sich jedenfalls mein doofes altes Trauma wiederholt. Dass ich auf mich aufmerksam mache und es bereue. 

Wie machen das wohl andere Menschen, die große Kunst schaffen und daran nicht zerbrechen. Oder gehen diese Menschen das Risiko ein, obwohl sie wissen, dass sie daran zerbrechen könnten? Oder wissen sie, dass nicht die Kunst sie zerstört, sondern die Zweifel, die sie haben könnten an sich und dem, was sie erschaffen? 

Ein Fritzfranz-Problem: zu wissen, wie es ist zu leben, aber doch Angst davor haben, es wirklich zu tun. Den Schmerz einfach wegprokrastinieren. Und ja, nicht alles ist Schmerz, das wenigste, um genau zu sein. Vieles ist einfach Arbeit. Langwierige, langweilige Arbeit. Wort an Wort reihen, tief im Gehirn nach dem nächsten Wort graben und dann an das vorige heften, einfach immer wieder und immer weiter. Und von nichts anderem angetrieben als der Hoffnung, dass alles irgendwann Sinn ergibt. Dass irgendwann am Ende noch genügend Kraft übrig bleibt, um auszujäten, was nicht mehr ins Bild passt. Oder einfach ignorieren, dass eine Selbstentblößung vielleicht mehr zeigt als beabsichtigt. 

Wer sich am Grunde des Ozeans wiederfindet und nicht ertrinken will, muss einfach in irgendeine Richtung gehen und nicht zwischendurch umkehren. Sieh nicht zurück, geh einfach immer weiter voran. Ich kann das. Ich kann das. Ich kann das. 

Angelsgeduld

Usus operi
Dezember 4, 2020

Nach Reaktionen fischen und im Trüben eines Schriftstellerforums nach Feedback stochern, das ist ein mühseliges Geschäft. Wie sollte es anders sein? Gerade im Lyrikbereich gibt es viele kleine Fische und nur wenige Hechte, die große Literatur produzieren, und jetzt tummle ich mich auch noch im ohnehin nur kleinen Becken und versuche meinen ungerechtfertigten Anteil am Plankton abzubekommen. 

Ich tauge eigentlich nicht dazu. Ich bin kein Schriftsteller, kein Autor. "Ja aber", sagt Ihr zu recht, "ist denn das hier, dieses Fortschreitungsdings, ist das denn keine Schreiberei?" Nein, das sagt Ihr nicht, und das nicht nur, weil Ihr nicht existiert, sondern auch, weil Ihr unrecht hättet. Halb zumindest. Ja, es ist Schreiberei, aber nein, es qualifiziert mich nicht dazu, Autor zu nennen oder eben Schriftsteller. Wortwerfer vielleicht, Ergußlyriker, Schwallpathetiker, aber doch kein wahrer Künstler. 

Kunst ist natürlich subjektiv, und Kunst vergleichen zu wollen wird nicht funktionieren und niemanden glücklich machen, weder die Erzeuger noch die Verbraucher von Kunst. Was der eine als Kunst sieht, ein monochromes Bild mit interessanten Strukturen beispielsweise, erscheint dem anderen nur als leere Leinwand und keineswegs als gerechtfertigte Raumnutzung. Gleichwohl rechtfertigt diese Gleichzeitigkeit, Diffusität von Kunst-oder-nicht-Kunst wahrscheinlich die Einordnung als Kunst. Öffnet das Werk einen Diskussionsraum, ist es Kunst. Erzeugt es Desinteresse, Langeweile, ödet es an, dann kann es weg. 

Natürlich ist dann auch wieder die Frage berechtigt: Was definiert den Diskussionsraum? Ist es ausreichend, dass sich die Frage stellt, ob das Kunst ist oder weg kann? Oder muss es tatsächlich auch eine inhaltliche Diskussion geben? Im Fall der weißen Leinwand könnte man eine Gesellschaftskritik hineinlesen: Wir haben so viele Leinwände und so wenig Farbe sie zu füllen. Oder: Ich bin deprimiert, mag es mir aber nicht ansehen lassen und darum male ich meine Angst in Weiß auf und über meine Narben. Oder: Der Weiße Mann als Tonangeber hat ausgedient, das einzig Weiße, von dem ich mich dominiert sehen will, ist ein weißes Bild. 

Sei es, wie es sei: Kunst entsteht im Auge des Betrachters. Problematisch nur, wenn es keinen Betrachter gibt, wenn das Kunstwerk allein in der Weite steht und niemand sieht es. Wenn ein Baum fällt, und niemand ist dabei, fällt er dann wirklich? Wenn ein Stern implodiert, und niemand sieht es, ist es dann wirklich eine Nova? Arbeitet, um mich selbst von anderswo zu zitieren, die Milz nur dann, wenn man sie betrachtet?

Auf das Schriftstellerforum bezogen: ich brauche diese unmögliche Geduld. Die wenigsten der eingestellten Gedichte dort werden ausführlich besprochen, und wenn, dann in der Regel von Leuten, die sich nicht wirklich kritisch oder hilfreich damit auseinandersetzen wollen. Ich habe damit meine Probleme, weiß aber, dass sie inhärent der Internetkultur des Austausches geschuldet sind: nur wer gibt, dem wird (vielleicht) gegeben. 

Bleibt mir also nur weiterzuschwimmen durch den Schlick und Schlamm des lyrischen Tümpels, in den ich mich da begeben habe, in der Hoffnung, das zu finden, was ich vermutlich suche: Anerkennung. Albern ist das, denn welche Form von Anerkennung will ich da haben? "Oha, dichten kann er ja doch" ist ja nun auch nicht, was ich hören will. Oder eigentlich schon, aber es bringt mich wahrscheinlich nicht weiter. Denn selbst wenn ich das zu hören bekäme: es lehrt mich nichts. Und auch wenn ich mich nicht immer in der Rezeption von Feedback so anstelle, als würde ich daraus lernen wollen, so bleibt mir doch kein anderer Ansporn als der, immer besser zu werden.

Mein Talent (es sei mal angenommen, ich hätte welches) reicht nämlich nicht aus, um meinen Roman oder die fünf Kurzgeschichten zu vermarkten. Und damit meine ich: mich will niemand lesen. Ich schreibe nicht interessant oder nahbar genug. Vielleicht habe ich auch die falschen Themen (wenn ich überhaupt welche habe). Mitunter fesseln mich meine Texte ja selbst nicht genug, dass ich sie zuende bringen will. Sonst hätte ich ja nicht so unfassbar viele Fragmente gehortet in der Hoffnung, dass sie irgendwann einmal ein zusammenhängendes Bild ergeben. 

Auch da hilft wahrscheinlich nur: Geduld. Und: Weitermachen.  

Is this the real life?

Usus operi
November 27, 2020

Schattengäste bei den Schriftstellern vorgestellt. Krass, wie alt das Gedicht ist, wie jung ich damals war. So anders. 

Manchmal versuche ich mich an mein damaliges Selbst zu erinnern, an den scheuen, aber extrovertierten jungen Mann, der Angst hatte gesehen zu werden, den es aber dennoch so deutlich ins Rampenlicht trieb, dass er keine Scheu kannte, ein selbstgeschriebenes Gedicht auf der Bühne vorzulesen, aber Angst hatte, in einem Theaterstück mitzuspielen. Vielleicht weil er nicht wusste, wie anders tatsächliche Furchtlosigkeit sein könnte. 

Später, als ich schon ein anderer war, besaß ich diesen Mut, der kein Gegenteil kannte. Und das war nicht nur das Fehlen von Sorge, sondern ein komplettes Ausblenden möglicher negativer Konsequenzen meines Tuns. Ich war frei, im besten Sinn dieses Wortes. Ohne mir Gedanken machen zu müssen über das Morgen, das Später, das Gleich. 

Ich erkenne diesen Menschen mittlerweile kaum noch wieder. Klar, ich bin knapp 20 Jahre entfernt von ihm, und es ist viel passiert in diesen zwei Jahrzehnten, aber dennoch ist mir diese Zeit auf ähnliche Art verschlossen wie meine Jugend und Kindheit. Manchmal kommt es mir vor, als wäre ich schon immer Ende 30 / Anfang 40 gewesen, hätte in dieser Wohnung gelebt, wäre von einem Zimmer zum anderen gegangen und hätte mal hier und da aus dem Fenster gesehen, während draußen die Welt und das Leben vorbeirasen wie Kometen. 

Wie läuft das mit den Tagen, Wochen, Monaten, Jahren? Wieso kann ich nicht einfach zurückblicken in einen anderen Moment, als erlebte ich ihn gerade neu? Wieso fallen mir die Namen meiner Mitschüler nicht mehr ein, obwohl ich mir in der Schule sogar ihre Geburtstage eingeprägt hatte, als hätte mir das einen Nutzen gebracht. Wieso habe ich nur so diffuse Erinnerungen an die Urlaube mit meinen Großeltern, weiß nur lose, dass wir durch das damalige Jugoslawien gefahren sind, um mit meinen Eltern Urlaub in Griechenland zu machen? Wieso erinnere ich mich lebhaft an die Alpträume, die ich als Kind hatte, aber nicht daran, wie es in der Schule war? Wie lange hebt das Gehirn Erinnerungen auf, bis es sie zugunsten neuer Erfahrungen entsorgt? 

Natürlich weiß ich, dass das Gehirn anders funktioniert, sich anders organisiert. Dass Sinneseindrücke über synaptische Verbindungen abgebildet werden und wiederholte Muster stärker sind als einmalige Erlebnisse, sofern diese Einzelerlebnisse nicht besonders einprägsam, sprich traumatisch sind. An den Unfall auf dem Rollsplit erinnere ich mich - und doch nicht, denn dazu ging alles zu schnell. Eine andere Autofahrt, sehr langsam durch dicht und dick fallenden Schnee, kommt mir in den Sinn - welche Assoziationskette liegt da in meinem Gehirn vergraben? 

Wer bin ich in diesem Sammelsurium aus Erinnerungen, Anekdoten und Scheinwirklichkeiten. Is this the real life? Or is it just Fantasy? sangen Queen, und ich habe aus meiner Perspektive keine Antwort darauf. Bin ich echt oder ein Konstrukt meiner in die Zukunft reichenden Erinnerungen? Ist meine Persönlichkeit eine retrospektiv eingefangene, aber prospektiv aufgefächerte Extrapolation? Wo ist mein ich verwurzelt, in welchem Haus wohnt mein Geist? Bin ich oder bin ich nicht -  und da, das gebe ich zu, endet mein Text etwas gewollt pathetisch - mein eigener Schattengast? 

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Semiliterarisches Lebenslogbuch von
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