Alles außer Ahnung | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Der kleine, der hoffentlich entscheidende Unterschied

Von der Front
Februar 24, 2025

Zur Wahrheit gehört natürlich: ich fürchte selbst den Tag, an dem ich mich selbst priorisiere. 

Wie viel von den Dingen, die ich nicht mache, weil ich Angst habe, was die Menschen denken könnten (ja, immer noch und immer wieder), könnte ich machen? Wie viele Bücher im Jahr schreiben (geschweige denn lesen), wie viele Gärten umgraben, wie viele Mäntel nähen, wie viele Podcasts aufnehmen, wie viel Theater machen? 

Die Antwort ist natürlich: nie genug. 

Die Zeit ist zu knapp, der Tag, das Jahr, das Leben zu kurz. Ich kann niemals all das erledigen, was ich noch alles auf der langen To-Do-Liste habe, erst recht nicht, wenn ich 40 Stunden mit einer Arbeit verbringe, die mich keinem meiner Ziele näher bringt. 

Die Wahrheit ist: es muss alles warten - und das in einer Zeit, die Warten kaum noch zulässt. Nicht meinetwegen, nicht meines endlichen Lebens wegen, sondern weil jetzt der Zeitpunkt ist, nicht zu verstummen, nicht zu resignieren, nicht zu verschwinden. Die Zeit, die ich als ohnehin schon als lähmend genug empfunden habe in den letzten Jahrzehnten, wird nach gestern noch zäher werden. Ein Großteil der Menschen in Deutschland glaubt, sie könnten den Fortschritten, den Veränderungen hinterherschleichen, weil sie hoffen, dadurch ihre eigene innere Unruhe zu besänftigen. Doch was ist diese besänftigte Unruhe?

Um mit dem Marquis von Posa zu sprechen:

Die Ruhe eines Kirchhofs! Und Sie hoffen,
Zu endigen, was Sie begannen? hoffen,
(...) Den allgemeinen Frühling aufzuhalten,
Der die Gestalt der Welt verjüngt?

Es ist die Hoffnung, die Welt möge, könne, würde sich nicht ändern, ließe sich anhalten.
Als ob. 

Nicht, dass ich diesen Wunsch nicht nachvollziehen könnte; nicht, dass ich mir nicht auch manchmal wünschte, ich könnte die Panik vor der immer rascher verfließenden Zukunft mit naivem Festhalten an der schön längst zerronnenen Vergangenheit betäuben; nicht, dass ich nicht auch manchmal das Paradies der Verantwortungslosigkeit vermisste.

Allein: es nutzt nichts, die Welt bleibt ja nicht stehen, dreht sich einfach weiter, und niemand hält inne, um sich dem Weh eines Einzelmenschen zu widmen. Die Zukunft wartet nicht, bis wir bereit sind.
Wartet erst recht nicht, bis ich bereit bin. 

Was also tun? 

Das einzig richtige: nicht erstarren, nicht verharren, trotz Angst und Sehnsucht nach vermeintlicher Sicherheit etwas tun. Wenigstens anfangen, einen kleinen Schritt, ein erstes Aufbäumen gegen die Salzsäuligkeit der Welt. Und: nicht in Angst nur existieren, sondern in den kleinen Fluchtfreuden des Alltags leben und jede Freude auskosten, jedes Gefühl fühlen und alle Wärme in der Welt in sich aufsaugen - und weitergeben. 

Die Antwort kann und darf nämlich nicht sein, in einer Welt, die sich immer mehr verhärtet, auch sich zu verschließen vor den Anderen und ihren Gefühlen. Abgrenzung, denken viele, das Nicht-Anerkennen der Menschlichkeit anderer, sagen manche, Konzentration auf das Ego und egoistische Entscheidungen, erwarten einige, könne sie, uns, irgendwen retten. 

Um das Internet fehlzuzitieren:

In einer Welt, die scharf und schneidend ist, kann die Lösung nicht sein, sich eine undurchdringlichere Haut zuzulegen. In einer solchen Welt muss es unsere Aufgabe sein, diese Welt zu einem weicheren, schöneren, besseren Ort für uns alle zu machen. 

Und ja, das mag naiv klingen, unmöglich vielleicht. 

Es ist aber auch unmöglich, die Vergangenheit festzuhalten; es ist naiv, die Zukunft verhindern zu wollen. Wenn ich also nur die Wahl habe zwischen zwei Unwahrscheinlichkeiten, dann entscheide ich mich für die, die weniger Schaden an meinem Herzen, an meiner Seele und den Menschen in meiner eigenen Gegenwart anrichtet. Und ich kann hoffen, dass die Zuversicht, das Wohlwollen, die Empathie und meine aktivistische Liebe vielleicht ebenso ansteckend sein können wie der egoistische Hass, an dem die Gesellschaft krankt. Ich will wider alle Erfahrung hoffen, dass das genug ist. Dass es wenigstens einen kleinen Unterschied macht. Vielleicht und hoffentlich: den entscheidenden.

Das Geheimnis

Usus operi
April 18, 2024

Ich habe ein Geheimnis, und nein: ich werde es nicht verraten. Nicht, weil es dann kein Geheimnis mehr wäre, sondern weil es gar nicht um das eigentliche Geheimnis geht, sondern darum, wie ich beinahe daran zerbrochen wäre, ein Geheimnis zu haben. Anderen Menschen nicht davon erzählen zu können, nicht einmal dem Mann. Keinen Freundys, keinen Familienangehörigen, keinen Bekannten oder gar Unbekannten.

Ich hatte schon einmal ein Geheimnis. Auch damals wäre ich beinahe zerbrochen, weil ich befürchtete, niemals jemandem davon erzählen zu können. Lange habe ich geglaubt, es hätte mich gerettet, das Geheimnis gelüftet zu haben; tatsächlich war mir lange nicht bewusst, dass ich das Geheimnis und die dahinter liegende Wahrheit verwechselt hatte. Und dass es vor allem einen Unterschied zwischen den beiden gab. 

Das Geheimnis, dachte ich lange, sei meine Homosexualität. Das Geheimnis sei, dass ich irgendwie schwul geworden sei; dass ich mich verändert hätte und das für mich behalten müsse. Tatsächlich war ich natürlich schon immer schwul, tatsächlich gehörte meine Homosexualität schon zu meiner Identität, als Sexualität an sich noch lange kein Thema für mich war. 

Ich war, glaube ich, ein sehr expressives, theatrales, vielleicht flamboyantes Kind. Es gibt Bilder von mir in Kleidern meiner Urgroßmutter; Fremde, aber auch Mitschülys hielten mich wiederholt für ein Mädchen. Menschen, die nur über ein binäres Verständnis von Geschlechterrollen verfügten, fanden mich nicht Junge, nicht Mann genug. Meine eigene Großmutter kommentierte meinen ersten Bartflaum mit: "Glaub nicht, dass dich das männlicher macht." 

Die Welt hatte mich da schon längst gelehrt, dass Selbstexpression anstößig war. Dass ich mich besser anpassen sollte, wollte ich nicht auffallen; denn Auffallen, das war die erste Lektion, wurde mit Schmähungen und (vorsichtig ausgedrückt) Liebesentzug geahndet. Also legte ich mir eine dicke Haut zu, versuchte nicht aufzufallen, versuchte zu verschwinden.

Erst als ich älter geworden war, erkannte ich, dass ich den Menschen, für den mich alle hielten, nicht kannte. Ich war tatsächlich verschwunden, war verloren gegangen hinter der Fassade, die aufrechtzuerhalten allmählich anstrengend wurde. Irgendwann erkannte ich, dass ich Masken trug, aber nicht, aus welchem Grund. Ich wusste nur: Ich war nicht der Mensch, der ich scheinbar geworden war. Ich war nicht ich selbst und war es lange nicht gewesen. 

Damals fühlte es sich an, als sei meine wahre Identität ein Geheimnis. Mittlerweile weiß ich: das Geheimnis war zu meiner Identität geworden. Das Geheimnis war nicht, dass ich schwul war. Hätte sich jemand genug interessiert, hätte jemand genauer hingesehen: es wäre klar gewesen. Das Geheimnis war, dass ich, besah ich mich selbst genau genug, wusste, dass ich mich verstellte und die Menschen glauben ließ, der Mensch, den sie in mir sahen, sei tatsächlich ich. 

Damals befürchtete ich, schwul zu sein, zerstöre meine Identität. Dass ich, leugnete ich es nur ausreichend ausgiebig, nicht schwul sein könnte. Und ich dachte, ich sei unglücklich, weil meine Homosexualität mein Selbst bedrohte.
Tatsächlich bedrohte das Geheimnis mein Selbst. Die Fassade, die Lüge, die Unaufrichtigkeit mir selbst und allen anderen gegenüber: Nicht ich selbst zu sein, bedrohte mich.

Das Geheimnis, das ich heute habe, ist keine Lüge, es ist ein Gefühl, von dem ich glaubte, es nicht fühlen zu dürfen. Vielleicht ist das auch das Geheimnis: dass ich glaube, meine Gefühle nicht sichtbar machen zu dürfen. Dass ich glaube, meine Gefühle seien invalide, irrelevant, egal. Und - ein Gefühl im Gefühl - dass auch die Trauer darüber, das Gefühl (aus welchen Gründen auch immer) nicht zulassen zu können, inakzeptabel sei. 

Gefühle sind komplex. Vielleicht gibt es Menschen, die verstehen, wie Gefühle ausgelöst werden, wie die Rezeption, die Expression, die Reaktion funktioniert. Ich gehöre nicht zu diesen Menschen, ich bin relativ fühllos. Nicht überraschend: ich trage immer noch die dicke Haut meiner Kindheit, ich habe gelernt, großen Schmerz von mir fernzuhalten. Mein Zahnarzt ist immer wieder neu beeindruckt, dass ich auf eine Betäubung verzichte.

War ich einst darauf stolz, bin ich es nicht mehr. Ich weiß mittlerweile, dass Schmerzresistenz manchmal auch ein Zeichen von Freudresistenz, von Depression sein kann oder zumindest ein Symptom emotionaler Dissoziation. Ich halte meine Gefühle auf Abstand, und während mich das manchmal davor bewahrt, verletzt zu werden (weil nur ich mich wirklich verletzen kann), halte ich damit auch Menschen auf Abstand. 

Ich wirke auf Fremde mitunter arrogant, überheblich, grob, kalt, unfreundlich, unwohlwollend. Ich weiß das, ich bin mir dessen bewusst. Ich glaube, dass Menschen, die mich dennoch mögen, weil ich eben doch manchmal offen und warmherzig und nahbar sein kann (wenn ich keine Angst vor ihnen haben zu müssen glaube), tatsächlich mein Gefühle wahrnehmen können. Meine Zuneigung. Meine Sehnsucht. Meine Liebe. 

Dennoch stoße ich Menschen öfter von mir, als ich das will, bin abweisend zu Menschen, indem ich mich zu stark filtere, weil ich vor Unsicherheit alle Emotion aus meiner Selbstpräsentation nehme. Was selten bewusst passiert, aber hinterher erkenne ich es. Manchmal wird es mir während der Interaktion selbst bewusst - und es verstört mich. Ich versuche dann, normal, emotional, menschlich zu sein - und überkompensiere. Oder schalte komplett ab.

Vor ein paar Monaten schrieb ich, jemand habe mir gesagt, ich halte mich zurück - und wie sehr das offensichtlich stimmt. In Konfrontation mit dem geheimen Gefühl ist mir bewusst geworden, wie tief das reicht und was es alles bewirkt, verändert, verhindert, zerstört. Ich sehe Menschen, die ich meine Freunde nenne, und ihre sorgenfreie Expression ihrer Gefühle und ich sitze daneben und sehne mich danach, meine Emotionen nicht als aufdringlich zu sehen. 

Eine Weile schon sind mir Berührungen unwohl. Schon vor Corona fand ich es mindestens lästig, anderen Menschen die Hand geben zu müssen, seither muss ich mich ernsthaft überwinden, der sozialen Norm nicht zu widersprechen. Legt mir jemand die Hand auf die Schulter oder auf den Rücken oder schlimmer: auf das Knie, muss ich mich zusammenreißen, nicht zurückzuzucken.

Und das betrifft keine Fremden, sondern Menschen, die mir nahe sind. Umarmungen mag ich, liebe ich, brauche ich, geben mir den besten emotionalen Halt, doch alles andere? Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Neulich habe ich in einem Sitzkreis mit gemischten Sitzhöhen der Person neben mir den Kopf ans Knie gelegt, weil ich die Person mag und sie mich wohl auch, immerhin wurde mir als Reaktion der Kopf gestreichelt.

Ich will glauben, dass sich das gut anfühlt. Dass Menschen das mögen. Ich will es verdammt noch mal selbst mögen. Aber die Wahrheit ist: ich fühlte mich unwohl, fühlte mich plötzlich aufdringlich, fühlte mich, als hätte ich einer anderen Person eine emotionale Geste abgenötigt. Also habe ich meinen Kopf zurückgenommen, mich anders hingesetzt, mich entzogen, abgeschirmt, abgegrenzt. Und mich gleichzeitig gefragt, was mit mir nicht stimmt. 

Denn wenige Tage zuvor noch habe ich einer anderen Person Trost gegeben mit einer Umarmung, mit einer Hand auf der Schulter, dem Arm, der Hand. Ich wollte der Person zeigen: es ist sicher, deinen Schmerz zu fühlen, du wirst nicht darin versinken, ich bin hier, um dich zu halten. Weine dich an mir aus, ich bin ein sicherer Hafen. 

Ich weiß, dass Gefühle zu zeigen, Gefühle zu haben, Gefühle zu fühlen, keine Schwäche ist. Ich weiß, dass schwach zu sein keine Schwäche ist. Ich weiß, dass, wer immer nur stark zu sein versucht und nichts an sich heranlassen will, vor allem ängstlich ist. Was aber bin ich, wenn ich einfach nur taub bin und mir zumindest attestieren würde, relativ angstfrei zu sein?

Das geheime Gefühl zu haben und es mit niemandem teilen zu können, hat mich fast wahnsinnig gemacht. Ich habe mich so sehr in dieses Gefühl hineingesteigert, dass ich fast schon dummes Zeug deswegen gemacht hätte. Nichts gefährliches, aber einfach Unsinn. Dinge, die ich später ganz sicher bereut hätte. Ich war wie besessen davon, auf dieses Gefühl zu reagieren, egal wie - und wollte gleichzeitig nichts davon wissen. 

Schließlich habe ich es aus mir herausgeschrieben. Vor Jahren, vielleicht Jahrzehnten habe ich die Morgenseiten von Julia Cameron entdeckt in ihrem Buch "Der Weg des Künstlers". Jeden Morgen auf drei Seiten handschriftlich alle Gedanken, die mich beschäftigten oder auch nur streiften, festzuhalten und so meinem Gehirn die Möglichkeit zu geben, sie loszulassen, weil sie ja irgendwo aufgeschrieben und damit gesichert waren, hat mich viele Jahre stabilisiert. 

Also habe ich es wieder so gemacht: geschrieben, geschrieben, geschrieben, einen ganzen Tag lang alles, was sich in mir aufgestaut hat, Wort für Wort aus mir heraus und aufs Papier fließen lassen. Dachte ich anfangs noch, nach einer Stunde dürfte ich fertig sein, habe ich nach mehreren Stunden akzeptieren müssen, dass ich so viel in mir trage, das ich nicht ausgesprochen habe in den letzten Wochen, Monaten, vielleicht Jahren. 

Ich habe festgestellt, dass ich viele Momente nicht verarbeitet, viele Abschiede nicht betrauert, viele Ängste nicht konfrontiert und vor allem viele Gefühle nicht gefühlt hatte. Das ganze letzte Jahr beispielsweise war eine Operation am offenen Herzen und ich habe nie richtig innegehalten, um mich damit auseinanderzusetzen, was das mit mir gemacht hat. Mir war bewusst, wie allein ich zwischendurch auf dem Dachboden war, aber nicht, wie einsam ich war. 

Das Geheimnis wird noch eine Weile ein Geheimnis bleiben, ich werde es nicht verraten. Es spielt aktuell keine Rolle mehr, denn ich habe das Gefühl, das ich nicht fühlen wollte, verstanden. Habe verstanden, was es mir sagen wollte; habe verstanden, dass ich nicht loslassen konnte, so lange ich mich ihm verweigert habe. Indem ich dem Gefühl Raum gegeben habe, konnte ich mir selbst die Freiheit geben, anders auf mein Leben und das Gefühl darin zu blicken. 

Natürlich bin ich immer noch nicht wieder ganz. Wie auch? Ich trage immer noch Ballast mit mir herum, sonst begriffe ich beispielsweise meine Mobbing-Erfahrungen nicht als Teil meiner Biographie. Aber wir alle tragen Schmerz in uns, Erinnerungen, die uns belasten, aber eben auch Erinnerungen an gute Dinge, Zeiten, Menschen. Wir alle haben manchmal Geheimnisse und geheime Gefühle, und irgendwie ist das auch okay. 

Was nicht okay war, was niemals okay sein wird, ist sich den Gefühlen zu verweigern, sie zu ignorieren oder gar abzulehnen. Sie herunterzuschlucken, um sie nicht fühlen zu müssen, um sich nicht damit auseinandersetzen zu müssen: das kann nicht funktionieren. Wir müssen unsere Gefühle nicht unbedingt mit jemandem teilen, wir können sie Geheimnisse sein lassen. Aber wir müssen trotzdem akzeptieren, dass sie sind.

Denn das ist ja das eigentliche Problem: Nicht etwa, dass ich bei meiner Gefühlsverarbeitung manchmal Probleme habe, sondern dass uns alle betrifft. Wir alle kämpfen manchmal mit unseren Gefühlen, manchmal auch gegen sie. Die Welt wäre ein so viel besserer Ort, wenn wir lernen könnten, unsere Ängste und Hoffnungen, unsere Liebe und unsere Wut, unsere Unzufriedenheit, aber auch unser Glück durchleben zu können, ohne uns selbst oder anderen damit zu schaden.

Und wenn wir vor allem verstünden, dass auch alle anderen Menschen die gleichen Gefühle haben wie wir. Wir bestehen aus dem gleichen Material, sind alle aus der gleichen Matrix gewoben. Wenn wir das verstehen würden, wenn wir unseren Mitmenschen gegenüber empathisch zugeben könnten, dass auch sie natürlich nur Menschen sind mit den gleichen Gefühlen wie wir selbst, wäre die Welt ein besserer Ort.

Denn dann müssten wir nicht unsere Gefühle gegen uns oder gegen andere richten, sondern könnten offen sagen: Ich fürchte mich vor der Veränderung, ich liebe, wen ich liebe, ich bin wütend, weil ich verletzt wurde und nicht weiß, wie ich diese Verletzung heilen soll, weil ich Angst habe, dass darüber zu sprechen mehr noch zerstören könnte als nur mein Selbstwertgefühl.

Natürlich basieren die Kriege, die geführt werden, nicht allein auf diesen Gefühlen, sondern auch auf dem wenig konstruktiven Hass, auf ererbtem Aberglauben, auf geschürten Fehlannahmen, auf Lügen und Unwahrheiten. Wenn aber die Menschen einander wohlwollender, offener, wertschätzender begegneten und sie (siehe oben) als Teil von sich selbst begriffen, hätten diese Werkzeuge der Destruktion keinen Ansatzpunkt.  

Und das ist das eigentliche Geheimnis. 

Atmen Sie - natürlich!

Von der Front
März 18, 2024

Übrigens lebe ich noch, bin nicht tot, war nur beschäftigt. 

Neuerdings mache ich, weil kaputter Rücken seit 2015, Kraftsport. Vor allem, wie die App sagt, für eine starke Mitte. Nie habe ich mich schwächer gefühlt als jetzt, da ich Übungen für eine starke Mitte mache. Alles schmerzt, alles zieht, alles irgendwie doof. Immerhin fühlt sich der Rücken manchmal besser. Manchmal nicht. Eigentlich also wie alles. 

Klar machen die Übungen einen Unterschied: sie zeigen mir auf eine ganz neue Weise, was alles ich noch nicht kann. Atmen zum Beispiel. Da mache ich seit fast sieben Jahren Yoga und die dazugehörigen Atemübungen, aber Luft bekomme ich trotzdem keine. Oder zumindest nicht richtig. Die App sagt einatmen - ausatmen: ein in die Entspannung, aus in die Anspannung. Ich komme da nicht mit. Entweder bin ich zu schnell oder zu langsam, mal gegenläufig, mal ersticke ich fast, während ich mich an die Anzahl der Wiederholungen zu erinnern versuche. Und dann sagt die App, als hätte sie meiner Krampfatmung gelauscht: Atmen sie natürlich. 

Sagt es allerdings nicht, wie normale Menschen es sagten, ist ja doch eine computergenerierte Stimme, die keine Ahnung hat, wie ordentliche Intonation zu klingen hat. Sagt also: "Diese Übung ist großartig für ihre Bauch. Und Rückenmuskeln." Oder: "30 Sekunden Kind-Erstellung." Oder: "24 Push-uuuups". Oder eben: "Atmen Sie - natürlich!" Wie als Antwort auf die Frage, was sinnvoller sei: atmen oder nicht atmen. Als wäre es komplett absurd, nicht zu atmen. Und stimmt ja auch irgendwie, Atmen ist ja ganz sinnvoll. Gleichzeitig fällt mir auf, wie wenig ich tatsächlich atmen kann, automatisch, instinktgetrieben. Natürlich. 

Andererseits auch nicht neu: ich traue mir und meinen Instinkten ja eh nicht, ich muss schon arg abgelenkt sein, dass ich tatsächlich mal impulsiv handele. Entschiede ich mich mal nicht erst nach einer einstündigen oder einwöchigen Reflexionszeit (je nach Schweregrad aller potentiellen Konsequenzen), sondern quasi reflexhaft, ich wüsste gar nicht mehr wohin mit meiner vielen neu gefundenen Freizeit. 

So verbringe ich viel prokrastinatorische Zeit damit abzuwägen, welchen Einfluss eine Entscheidung nicht nur auf mein Leben haben könnte, sondern auch auf das des Mannes, der Eltern, der Freunde, der Nachbarn. Vielleicht - je nach Entscheidung - auch auf das Leben aller Menschen. Klar: ethischer Konsum und ein Verzicht auf Produkte, die unter menschenunwürdigen oder umweltschädigen Umständen hergestellt worden sind, sind schon irgendwie geil, aber wenn ich drei Tage mit Abwägungen verbringe, ob es nicht vielleicht viel sinnvoller wäre, meine zerfetzten Leibchen ein weiteres Jahrzehnt zu tragen, als ein Grünknopf-Shirt im Internet zu bestellen, dann ist irgendwas nicht in Ordnung. Und zwar mit mir. 

Klar, auch mit einer Menschheit, die einfach hinnimmt, unter welchen Umständen Kleidung hergestellt wird (und wer noch nie davon gehört hat, wie schmutzig, umweltzerstörend und menschenverachtend das Modegeschäft ist, darf sich gerne bei mir melden). Und während meine individuellen Kaufentscheidungen jetzt auch nicht dazu führen werden, dass vermehrt nachhaltigere Fasern wie Hanf, Lein oder Ramie angebaut oder die gesundheitsschädlichen und ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft beendet werden, habe ich doch das Bedürfnis, keinen Mist zu kaufen, weil: irgendwie bin ich ja dann doch ein Ökofanatiker. 

Und ja: Wäre für uns alle besser, wenn unsere Entscheidungen altruistischer, empathiebasierter, nachhaltiger oder zumindest weniger selbstzerstörerischer wären, aber ganz ehrlich: darum geht's mir doch gerade gar nicht. 

Mir geht es darum, dass ich mich mit meiner Entscheidungsunfähigkeit, vielleicht auch Entscheidungsunwilligkeit manchmal so sehr blockiere, dass ich am Ende gar keine Entscheidung treffe; und das ist - Überraschung - nicht gut. Mir geht es darum, dass ich mich mit meinen Gedanken so sehr beschäftige, dass ich halb ersticke, obwohl ich mich doch einfach nur darauf konzentrieren sollte, bei den Spiderman-Push-Ups (oder wie die Stimme sagt: Spiedermann-Push-Uhps) den Körper in einer geraden Linie und das angewinkelte Bein parallel zum Boden zu halten. 

Aber immerhin mache ich den Kram, lausche der Stimme, wie sie komplett emotionsbefreit sagt, ich solle doch einfach noch mal 16 Diamant-Pushups machen, als läge ich nicht schon seit drei Übungen schmerzverkrampft auf dem Boden. Meine Protestrufe ignoriert sie, sie interessieren sie nicht, es ist ihr so sehr egal, man könnte glauben, sie wäre ein Roboter. Die haben's nämlich leicht zu sagen, man solle einfach nur natürlich atmen. 

Alles offen

Von der Front
Dezember 21, 2023

Seit heute Neubürger, diesmal ohne Willkommenspaket. In Bad Nauheim gab es noch eine Infobroschüre, ein paar Gutscheine für ermäßigten Eintritt und einen verbalen Händedruck vom Bürgermeister, den ich kurz danach mit meiner frisch zugezogenen Stimme abzuwählen geholfen habe.

Hier nichts davon. Aufkleber auf den Perso, fertig. Ist vielleicht auch einfach eine Frage der Zeitläufte. 2006 ist nicht 2023. Und erst recht nicht 2024, das mich ein bisschen einschüchtert, will nicht lügen. 2006 war alles dermaßen klar: noch kein Abschluss, noch keine Finanzkrise, noch keine Arbeitslosigkeit, noch keine Käsetheke, noch kein Theater, noch keine gefühlte Selbständigkeit. Erst recht noch keine Pandemie, kein mich tangierender Krieg, einfach nur postmoderne Überwindung der geschriebenen Geschichte. Abarbeiten dessen, was schon gegeben war. 

2024 nichts davon. Heute hoffentlich Ende der scheinbar endlosen Baustelle mit dem letzten zu installierenden Wasserhahn; nach nur einem knappen Jahr, das sich in meiner Aufteilung zwischen neuer und alter Stadt, Verabschieden und Ankommen, dem Reisen und Vergleichen, der Wehmut und der Vorfreude ziemlich fragmentiert anfühlt. Die Monate auf dem provisorisch eingerichteten Dachboden schnurzeln retrospektiv auf wenige Wochen zusammen. 2023 hat aufgehört, vergehende Zeit zu sein, es existieren nur die Schnappschüsse und Statusaufnahmen der sich ewig wandelnden Wohnung. 

Fehlen noch Weihnachten und Silvester. Angebliche Meilensteine nach einem Umzug. Oder eigentlich Rettungsanker für am Umzug Verzweifelnde: Immerhin können wir Weihnachten schon in der neuen Wohnung feiern. Sagt man so und hat keine Ahnung, was das eigentlich bedeutet. 

Wobei Bedeutung ja überbewertet wird: Dinge bekommen ihre Bedeutung durch unsere Beimessung. Was uns irrelevant erscheint, wem wir keine Aufmerksamkeit schenken, bedeutet uns nichts. Das bedeutet nicht, dass diese Dinge, diese Menschen nicht relevant sind. Aber wir nehmen sie nicht wahr. Manchmal ist das okay, manchmal kann das bedeuten, dass sich Entwicklungen außerhalb unserer Wahrnehmung anschleichen und wir sie erst wahrnehmen, wenn es vielleicht schon zu spät ist, sie noch zu gestalten. 

Der Klimawandel ist so eine Sache, die Fragmentierung der Gesellschaft eine andere. Der Siegeszug des Maskulinismus vielleicht eine dritte. Die drohende Offenheit von 2024 eine ganz eigene. 

Mir fehlt jede Perspektive auf das nächste Jahr. Ja, ich habe eineinhalb Urlaube geplant, ein hautärztliches Screening im Januar und eine Zahnreinigung im Juni. Außerdem noch ein Theaterstück Anfang Mai, dafür wird regelmäßig geprobt werden, aber sonst? 

Ich will und muss arbeiten. Das nach dieser langen Zeit ohne feste Arbeit anzugehen, ist verwirrend. Ein paar Bewerbungen habe ich ja erwähnt. Mittlerweile sind es immer noch kein Dutzend, und immer noch bin ich unschlüssig, was ich will. Die letzte Stelle, bei der ich vorstellig geworden bin, hätte wahrscheinlich den Eindruck von Arbeit wieder erweckt, den ich im Verein hatte. Gemeinsam mit Freunden an der Realisierung einzelner Projekte gewerkelt. Das wäre wahrscheinlich schön gewesen. Bis auf den Umstand, dass ich nur hätte zuschauen können, weil ich vor allem für Telefon und Ablage dagewesen wäre. Gibt schlimmeres, ist aber unterhalb meines Ehrgeizniveaus.

Ja: ich besitze dann doch Ehrgeiz. Ich will Dinge erreichen, bewegen, verändern. Ich will zeigen, dass ich etwas kann und was ich kann. Ich will Menschen berühren, zum Nachdenken bringen, sie vielleicht sogar unterhalten. Natürlich will ich auch gemocht werden, wer will das nicht. Aber nicht um jeden Preis, nicht von allen. Wer sich zu sehr bei allen beliebt machen will, wird beliebig. Unklar, unsicher, unschön anzuschauen. Ungern als Begleitung zu haben. 

Dann doch lieber eine Persönlichkeit wie 2023: indifferent, fragmentiert, nicht immer toll, aber immer aufregend. Die Sicherheit unzuverlässiger Bahnreisen und die Unberechenbarkeit bestellter Handwerker, gepaart mit der Aussicht auf ein Happy End, weil es anders ja eh nicht geht. Weil nichts anderes am Ende passieren kann. Außer vielleicht: neues Jahr, neues Ich - neue Stadt, neues Leben. 

Was werden wird? Keine Ahnung, wirklich: ich weiß es nicht, weil ich es nicht weiß. Die Zukunft ist ungeschrieben, es gibt nichts abzuarbeiten. Alles offen, alles gleichzeitig einschüchternd und euphorisierend. Ich bin gespannt. 

Edit: Und ja: ich habe das im Dezember geschrieben und dann erst im März veröffentlicht, weil mir einfach so viel Leben dazwischenkam. Kann passieren. Auch den besten, also auch mir. 

Einleben | Nachtrag

Störsatz
November 21, 2023

Nichts übrigens räumt die Wohnung so schnell auf wie überraschend angekündigter Besuch. 

Einleben

Von der Front
November 20, 2023

Herbst schon wieder, und meine Gedanken wie vom Winde verweht: überall, nur nicht hier. Ich versuche noch, meine Gefühle für die alte Heimat festzuhalten; gleichzeitig frage ich mich, ohne eine Antwort in mir zu finden: wie werde ich mich fühlen, wenn ich hier angekommen sein werde?

Wobei: angekommen bin ich ja. Die Möbel stehen, die Schränke sind eingeräumt, die gröbste Unordnung ist beseitigt, nur wenige Dinge suchen noch ihren Platz. Und auch verabschiedet bin ich irgendwie: die alte Wohnung ist gewienert übergeben, nur in der Garage stehen noch ein paar Sachen für den Wertstoffhof; und die Menschen dort habe ich so oft zum letzten Mal umarmt, dass sie sich schon gewundert haben, ob das mit dem Umzug nur ein Hoax war. 

Warum also fühle ich mich hier noch nicht eingelebt? 

Das fragen die Leute nämlich dauernd jetzt: Habt Ihr Euch schon eingelebt? Auf Instagram, über WhatsApp, in Telefonaten, selbst bei Gesprächen mit den fast noch unbekannten Nachbarn, die aber den spektakulär rasanten Einzug bezeugen können: Seids scho eigleebd?

Was das wohl heiße, frage ich den Göttergatten, sich einleben. Wann ist man so eingelebt, dass man nicht mehr nur ankommt? Und ist das ein anderer Punkt bei ihm als bei mir, weil ich die Stadt, die Leute, die Geschäfte und irgendwie alles schon kenne? Gibt es ein Punktesystem, eine Skala von Da bis Hier, an die man das Herz anschließen kann, so dass objektiv gemessen werden kann, ab wann nostalgisches Vermissen nur noch Fernweh genannt werden wird?

Der Göttergatte zuckt nur mit den Schultern und sagt: "Vielleicht ist man eingelebt, wenn man sich nicht mehr verläuft in der Nachbarschaft." 
"Vielleicht", sage ich, "wenn man blind in die seit dem Umzug siebenmal umgeräumte Besteckschublade greift und sofort das richtige Kneipchen erwischt." 
"Kneipchen", sagt der Göttergatte.
"Kneipchen", sage ich und: "Oh je."

Vielleicht muss man sich die alte Heimat auch erst ordentlich ausleben, bevor man die neue Heimat drüberleben kann. Vielleicht muss man dem Gehirn Worte wie Kneipchen und Kolter auswaschen, bevor sich das hiesige Vokabular einnisten kann. Wie viel Schäuferla und Schdaddwoschd muss i neischbachdln, um Äppler und Ahle Worscht hinter mir zu lassen?

Ist ja auch keine Sehnsucht in mir nach der kleinen Stadt. Ich will nicht zurück in die alte Wohnung, die zwar hübsch, aber ohne uns zuletzt nicht nur leer, sondern ganz traurig aussah (und überraschend renovierungsbedürftig an manchen Stellen). Ich will vielleicht zurück zu den Menschen dort, aber nicht in die kleine Stadt, in deren Straßen und Gässchen ich mich so arg hineingelebt hatte, dass mir schon ganz phlegmatisch war. 

Nicht dass mir das Aufraffen hier leichter fiele, aber hier springt einen die Arbeit überall an. Der Dachboden, wo Übriges provisorisch verstaut wurde, wartet auf Ordnung, der Garten legt mir auch schon den rotgoldenen Laubteppich aus. Eine Arbeitsstelle will gefunden und Text für ein neues Theaterprojekt will gelernt werden. Ich will und muss noch einige Kontakte knüpfen, zwei Vereine will ich mir noch anschauen; und vom nahenden Weihnachten und Silvester will ich gar nicht anfangen. Wir wissen nicht mal, wo der überdimensionierte Ficus stehen soll, wohin mit einem Weihnachtsbaum?

Und trotzdem will ich lieber zurückblicken, will irgendwie den Jahren in der baldigen Fremde einen würdigen Abschluss geben, eine herzwärmende Geschichte erzählen, während gleichzeitig die Natur selbst mit Flugblättern um sich wirft, auf denen ein sehr deutliches Memento Mori zu lesen ist. Gedenke deiner Sterblichkeit und vergeude nicht deine Zeit damit, etwas festzuhalten, was dir ja doch durch die Finger rinnt. Asche zu Asche, Laub zu Laub. 

Überhaupt, welch Luxus, dass ich mich nicht nur bequem in einer frisch renovierten Wohnung einleben darf, sondern auch ganz gemütlich aus der alten Heimat ausleben konnte. Abschiede noch und nöcher, immer wieder versichernd: Wir sind noch da, wir sind noch nicht fort, wir bleiben noch ein Weilchen. Trauert nicht um unseren Fortgang, denn wir gehen ja noch nicht. 

Wie viele Menschen haben diesen Luxus nicht? Wie viele brechen nicht ein ganzes Jahr lang ihre Zelte ab, sondern haben nur Wochen, vielleicht nur Tage, gar Stunden, bevor ihr altes Leben implodiert und nichts davon mehr für sie erreichbar ist? Werden auch sie gefragt in einer Heimat, die sie sich nicht vor Jahren und Jahrzehnten schon ausgesucht haben, ob sie sich denn jetzt schon eingelebt hätten? Ob sie ihre alte Leben denn schon endlich losgelassen hätten und die Hoffnung, dass jemals wieder irgendwas so werden könne, wie es einmal war? Sie sind wie Laub von den Zweigen ihres Lebens gerissen worden und liegen nun willkürlich in die Welt geworfen, teils Spielball der Winde, teils der Gravitation, und haben keine Wahl, keinen Einfluss.

Vom neuen Balkon aus schaue ich in den Himmel und sehe den wild fortgepusteten Blättern nach. Manche zieht eine Böe bis weit über die benachbarten Dächer in die nächste Straße oder sogar noch eine Kreuzung weiter. Die Blätter sind hilflos, taumeln durch die Lüfte so arg, dass ich, so bewegt mich mein Abschied doch hat, froh bin, dass mir dieses Trudeln erspart geblieben ist. Dass ich mir den Ort, an dem ich fortan leben wolle, selbst habe aussuchen können. 

Ob wir uns nun also schon eingelebt hätten, fragt K per E-Mail. Sie habe über Umwege erfahren, dass ich zurück in die Heimat gezogen wäre und dass sie das ja schon immer gewusst habe. Seine Wurzeln vergesse man ja dann doch nicht. 

Ich gebe auf und schreibe zurück: Wir suchen noch ein bisschen nach unserem Platz, aber im Großen und Ganzen, ja doch, leben wir uns ein.

Letzte Runde

Pöm
Oktober 31, 2023

bedeute mir 
nicht mehr die Welt
reiß aus mir 
das verwurzelte Herz

die Straßen leeren sich
und die Bäume schweigen
die Sonne fällt und
die Sterne haben frei

wir teilen uns
keinen Himmel mehr
wir blicken auf einander
fremde Wolken

ich vergesse
uns
wenn ich gehe
nicht ganz



17, fast 18 Jahre Heimat lassen sich nicht einfach ablaufen, sie sind eingraviert in die Synapsen, bleiben Phantomfühlungen der Papillarleisten und hallen nach in der Attosekunde zwischen Sys- und Diastole. Ich gehe weiter und mein Herz bleibt stehen, ich gehe weiter und will doch bleiben. Ein Blick zurück ist nie genug. Darum vielleicht blicke ich so wenig wie möglich zurück.

Ein Fehler, sagtest du vor Langem, sei dieser Umzug, und doch freutest du dich für mich. Ich freue und bereue, ich fürchte mich und weine um die Heimat, die letzten 17, fast 18 Jahre, die Menschen, das Lachen, das Miteinander, die viele Vergangenheit, die nie wieder Gegenwart sein wird. Ich hoffe viel in diesen Tagen, schmiede Pläne und schüre meine Erwartungen und will gleichzeitig nicht loslassen, will nichts loslassen, doch die Entscheidung hat sich schon gefällt, da wusste ich noch nicht von 17, 18 Jahren Heimat in der Fremde.

Noch bin ich nicht fort, sage ich, noch bin ich da, lüge ich, und doch wissen wir: wir teilen uns keine Zukunft.

Danke für alles ♥️

Komfortunkonform

Von der Front
Oktober 13, 2023

Mal was Neues ausprobiert: ein Casting für die Teilnahme an einer Inszenierung. Ungewohnt, wenn man üblicherweise bei Stückwerdung mitgedacht wird. Andererseits ist das ja auch ein erwünschter Nebeneffekt des Umzugs: das Verlassen der Komfortzone, das Dazulernen, das Wachstum. Ein neuer Mensch werden. Oder zumindest weniger bequem. 

Neulich habe ich einen Text mit dem Titel "Froschsuppe" angefangen, der einerseits beschreiben sollte, wie überraschend widerstandslos das Patriarchat im alten Damals hingenommen wurde, und andererseits, wie ich mich irgendwann im letzten Jahrzehnt aufgegeben habe; aber schon bei der grundsätzlichen Frage nach Froschsuppe hat es den Text zerlegt.

Stellt sich nämlich raus (ja, jemand - nicht ich - hat das in Versuchen nachgewiesen): Selbst Frösche sind nicht so bequem, einfach stillzuhalten, wenn man das Wasser zu sehr erhitzt. Nur wir Menschen lassen uns so sehr einlullen, dass wir aus einer für uns schädlichen Situation nicht rechtzeitig fliehen. Wir warten bis zur allerletzten Sekunde. Oder länger.

Vielleicht, weil wir uns anmaßen, intelligenter als Frösche zu sein und uns darum eine größere Problemlösekompetenz zusprechen. Vielleicht auch, weil wir uns für märtyrerhaft leidensfähiger als Frösche halten. Wir sind keine Weicheier und erst recht keine Warmduscher, wir bleiben auf unserem verlorenen Posten, bis die Polkappen schmelzen.

Ist ja bald soweit. 

Jedenfalls: Casting. Wie Vorstellungsgespräch, nur bewegter und mit Rumschreien. Auch ungewohnt; ist ja so gar nicht meins, das Rumschreien. Meine Rollen waren ja eher immer kontemplativ, vergeistigt, über den Dingen stehend, manchmal sogar schwebend. Und dabei hyperintellektuell vom Rand aus kommentierend. Quasi mich selbst spielend. 

Beim Casting stand ich da als unbeschriebenes Blatt. Die Menschen, die ich beeindrucken wollte, hatten mich noch nicht spielen sehen. Oder vielleicht doch, weil ich ja selten nicht spiele. Ich will ja, dass Menschen mich mögen, darum neige ich dazu, jemand zu sein, der ich nicht bin. Wie wird das wirken auf Menschen, die mich kennenlernen wollen?

Stellt sich raus, sie wollen mich vor allem fordern. Meine Szene, die ich erbost und unverkopft interpretiert habe (also sehr nicht-wie-ich), soll ich nochmal spielen und nochmal, introviertierter, extrovertierter. Ich ahne rückblickend, dass es darum ging, meine Reichweite auszuloten, und ich spüre währenddessen, wie unangenehm, ja unbequem mir das ist. 

Sie wollen mich in Rage sehen, als wäre ich tödlich beleidigt worden; statt aber auf mein lahmes Kindheitstrauma zurückzugreifen, gerate ich in die Panik des Schultheaters von vor über 25 Jahren, als ich vor lauter Kontrollaufgabe auf der Bühne beinahe jemanden körperlich verletzt hätte, wenn ich mich nicht in letzter Sekunde wieder gefangen hätte. 

"Du hältst dich zurück", bekomme ich als Feedback, obwohl ich mich so sehr provozieren und laut werden lassen habe, wie ich es aus meiner mühsam antrainierten Egalität gegenüber allem Echauffierenden heraus zulassen kann. "Du hältst dich zurück". Und ich antworte, wie es nun mal der Wahrheit entspricht: "Natürlich."

Klar halte ich mich zurück, denke ich spontan, irgendwer muss es ja tun.

Seltsamer Gedanke, denke ich später ausführlicher. Wieso muss gerade ich zurückgehalten werden? Die Welt ist voll mit Leuten, die sich nicht zurückhalten, die ihren Schmerz, ihren Hass, ihren Missmut, ihre Menschenfeindlichkeit, ihre generelle Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation in die Welt hinauskotzen.

Gerade eben wurde die AfD in zwei weiteren Bundesländern in den Status der größten Oppositionspartei gewählt. Eine Partei, die offen rechtsradikal ist, gegen Minderheiten aus dem gesamten verfügbaren Spektrum hetzt, die zu Gewalt gegenüber Menschen mit anderer Meinung aufruft; und ausgerechnet ich muss mich zurückhalten? 

Ebenso gerade eben hat die Hamas Israel überfallen; und bei aller möglichen Kritik an den Entwicklungen in der Palästina-Frage ist Terror die falscheste aller Antworten. Befeuert von religiösem Fanatismus und aus Angst vor Machtverlust nimmt die Hamas den Tod Tausender Menschen auf beiden Seiten in Kauf; und ausgerechnet ich muss mich zurückhalten?

Natürlich ist das sehr bauchnabelig im Vergleich zu dem Abgrund, auf den die Welt gerade sehenden Auges hinzu torkelt; aber mehr als mich selbst kann ich kaum beeinflussen - und selbst das ist schwierig. Vielleicht ist aber auch dieses Gefühl - dass ich selbst so unwichtig bin, dass es überflüssig ist, mich selbsttherapeutisch zu beschreiben - Ausdruck meiner Zurückhaltung. 

Offensichtlich jedenfalls hat eine kleine Bemerkung (fast wie nebenbei gesagt) in mir einen Nerv getroffen, der sich seither gar nicht mehr beruhigen will, weil es ja so scheußlich nah an der Wahrheit ist, dass man glauben könnte, die Person am anderen Ende der Botschaft kennte einen tatsächlich und sei nicht einfach nur eine erst eine Stunde alte Bekanntschaft. 

Andererseits interpretiere ich da vielleicht viel zu viel hinein, weil das Gehirn nun mal Muster im Chaos der Welt erkennen will, um alles zu sortieren und kategorisieren und damit irgendwie zu verarbeiten. Das Gehirn will auch nur seine Ruhe haben, wie ein ganz normaler Frosch. 

Andererseits andererseits halte ich mich ja tatsächlich zurück, nicht erst im Casting, nicht erst im letzten Jahr, nicht erst im letzten Jahrzehnt oder überhaupt in diesem Jahrtausend. Ich halte mich zurück, weil es mir (auf den ersten Blick) nicht geschadet hat. Und weil Zurückhaltung auch gesamtgesellschaftlich gewollt oder zumindest akzeptiert ist.  

Die letzten siebzehn, fast achtzehn Jahre beispielsweise habe ich in einer Kleinstadt gelebt, die ihre eigene Exzellenz predigt, in Progressivität allerdings eher unterperformt. Genau so lange hat die unionsgeführte Deutschlandverwaltung einen kaum abbaubaren Aufholbedarf geschaffen und uns gleichzeitig eingebläut, wie spitze alles ist. 

Mich beschleicht der Verdacht, dass nicht nur ich gelernt habe, Mittelmäßigkeit akzeptabel zu finden. Ist ja auch praktisch: wer sein Potential nicht ausschöpft, wer sich absichtlich kleiner macht, hat immer die perfekte Ausrede, wenn Dinge nicht funktionieren. Und wer aus Versehen zu ehrgeizig arbeitet, wird schon mal gebremst, damit die Kollegys nicht faul wirken.

Ich bin natürlich versucht, das Patriarchat als Schuldigen für diese Einstellung auszumachen, weil das Patriarchat (so wird es mir zumindest unterstellt) mein Lieblingsgegner in allen Fragen ist. Und es käme dem Patriarchat auch zupass, wenn alle ihre aktionistischen Regungen eher einhegen statt dauernd nach Revolution zu schreien. 

Stellt sich raus: das Patriarchat ist nicht an allem schuld; wenngleich es durchaus von der Bequemlichkeit der Eingelullten profitiert: Zuviel Enthusiasmus beim Hineinschleichen ins 21. Jahrhundert könnte zu unkontrollierbarem Pragmatismus führen, gar zu Improvisation oder Innovation. Und dann aus Versehen zu modernisierenden, machtkostenden Reformen. 

Wahrscheinlich sind wir auch ohne Patriarchat gerne bequem. Warum sich anstrengen, wenn das meiste auch so geht? Wozu über sich selbst hinauswachsen, wenn die Klamotten auch von allein zu eng werden? Warum nicht alles dem Zeitablauf überlassen? Manches hat sich in einem Monat oder drei Jahren oder nach der Sintflut eh von selbst erledigt.

Weil es natürlich um mehr geht. Darum, sich nicht aufzugeben.

Ich begnüge mich damit, einem Bild zu entsprechen, das ich mir als Kompromiss zwischen Authentizität und Anstoßlosigkeit etabliert habe. Ich finde die Realisierung meines Selbstbildes so mühsam, dass mich dabei ertappe, es lästig zu finden, für mich selbst zu kämpfen. Mühsam aber nicht nur wegen der potentiellen Meinung anderer, sondern meinetwegen.

Dass ich mich bei den Schriftstellern aussortiert habe, gehört da ebenso dazu wie der Nagellack, den ich für die Premiere des Antipatriarchatsstücks aufgetragen und direkt nach der Feier wieder entfernt habe. Dass ich lieber meine uralte Strickjacke zum xten Mal flicke, als mir endlich den flamboyanten Kram zu kaufen oder zu nähen, den ich eigentlich tragen will. 

Ich habe keine Lust auf eine mögliche Diskussion darüber, wer ich bin und wie ich mich ausdrücke, zumal ich die drohende Ablehnung mehr als zur Genüge kenne; diese Lustlosigkeit aber äußert sich nicht in einer Fuck-you-Haltung, sondern in einem andauernden Fuck-me. Statt den anderen mich selbst zuzumuten, halte ich mich einfach zurück.

Natürlich verrate ich damit mein Lebensziel, so echt, so authentisch und so unbequem wie möglich oder nötig zu sein. Aber es ging ja auch immer so; und ein bisschen war ich ja auch echt, authentisch und unbequem. Zumindest in der sozialen Blase, in der ich mich so sehr sicher gefühlt habe. Da habe ich nie daran gezweifelt, dass mir das reichen könnte. 

Nie wirklich gezweifelt. 

Natürlich war ich mir unterschwellig ständig dessen bewusst, dass ich unter meinen Möglichkeiten performe; nicht nur auf der Bühne, nicht nur in beruflichen Aspekten. Ausbildungen, die ich mir schlechtgemacht oder rational ausgeredet habe. Jobs, für die ich mich nicht tauglich genug fühlen wollte. Ich lag weichgekocht in lauwarmem Wasser.

Den Gedanken daran, dass ich zu mehr befähigt sein könnte, dass vielleicht sogar jemand an meinen Fähigkeiten interessiert sein könnte, habe ich ganz hervorragend wegprokrastiniert. Zur Not hilft da immer das Höllenloch Internet; gäbe es Wettbewerbe im Doomscrolling ... - nein, auch dafür hätte ich zu wenig Ehrgeiz für einen Spitzenplatz. 

Vor Jahren hatte ich eine Craniosakralmassage, und der Behandler meinte, er spüre eine große Spannung; ob es eine Blockade in meinem Leben gäbe. Natürlich hätte ich ihm damals sagen können, dass ich das selbst bin; bin aber vor lauter untätiger Liegerei einfach eingeschlafen. Beim Aufwachen war ich so verspannt wie lange nicht mehr davor oder danach. 

Die letzten Jahre hingegen habe ich mich zu sehr entspannt; das sehe ich nun aus der relativen Entfernung der halbneuen Heimat. Ich habe mich gehen lassen, habe mich aufgegeben, weil es mir um nichts mehr ging. Weil es mir schon lange nicht mehr um mich ging, sondern einfach nur darum, möglichst wenig Diskomfort zu verspüren.

Jetzt spüre ich nur noch meine Zurück/Fehlhaltung, aus der ich mich nicht rausprokrastinieren kann; auch, weil ich weiß, dass ich mich so sehr verloren habe, dass ich komplett gegen mein aktuelles Selbst gehen muss. Und da geht es natürlich um mehr als das Casting für eine Nebenrolle in einem mir unbekannten Stück eines Amateurtheaterensembles.

Da geht es um mein ganzes restliches Leben, das ich nicht einfach nur als Kaulquappe verbringen will, sondern vielleicht dann doch eher als überraschend selbsterhaltsorientierter Frosch. Vor allem, da ich mich ja hier in einem neuen Teich befinde, wo ich machen und tun und sein kann, was ich will und wie ich will.

Zumal ja auch ganz anders andererseits die Welt sich eh auf mehr Zumutung zubewegt. Hamas-Terror, Ukraine-Krieg, fragmentierte USA, ein fucking Viertel der Deutschen, das sich ganz empathiebefreit vorstellen kann, AfD zu wählen, weil es ihm offensichtlich scheißegal ist, welche realen Konsequenzen das für alle hat. Ach ja, und Klimawandel natürlich. 

Und ich halte mich selbst für die Zumutung, vor der alle anderen geschützt werden müssen.

Pfft. 

Cumulonimbus

Pöm
Oktober 9, 2023

gibt keine Ruhe mehr unter
der zu Stahlwolken geballten
Angst

sie verstellen sich
den eigenen Himmel mit
Sturm



Man will die Augen verschließen davor, dass ein Fünftel der Deutschen sich von gesellschaftszersetzenden Parolen nicht abschrecken lässt, sondern Hass, Lügen und Gewalt zumindest in Kauf nimmt, so lange man "denen da oben" eins auswischen kann. Wie beleidigte Teenager, die ihren Computer zerstören, weil die Eltern das WLAN abgeschaltet haben.

Man will naiv sein und hoffen, dass diejenigen, die rechts wählen, nicht rechts denken; aber die Alternative ist, dass sie, wenn sie schon nicht rechts denken, offensichtlich gar nicht denken, und das will man erst recht nicht hoffen. So naiv kann ich nicht sein, um mir nicht vorstellen zu können, wohin geistloses Taumeln führt.

Die Zeit für Naivität ist vorbei. Die Zeit für Passivität ist vorbei. Es muss allen klar werden, dass rechtes Wählen in einem Abgrund mündet: langsam mit der Union, abrupt mit der AfD, erratisch mit der FDP.

Die Zeit für geschlossene Augen ist vorbei. Ist lange vorbei. Jetzt zu handeln, heißt vielleicht zu spät handeln, heißt: jetzt unbedingt handeln. Wird sich jetzt nichts ändern, werden wir lange nicht beruhigt die Augen schließen können.

Und nein, keine Ahnung, wie der Bann gebrochen werden kann, der Rechtsextreme als Staatsträger tarnt. Keine Ahnung, wieso Menschen sich in der Hoffnung auf Trost Hasspredigern anschließen. Ich verstehe nicht, wie Menschen vor solch grauenhaften Offensichtlichkeiten die Augen verschließen können.

So naiv kann ich nicht sein zu hoffen, dass sie sich verwählt haben. Und so muss ich fürchten, dass all jene, die vorgeben, nur besorgt oder verängstigt zu sein, in Wahrheit blind dafür sind, dass ihre Schläge gegen die Welt letztlich sie selbst treffen.

All jenen, die die Wahl gestern (und die Wahlen zuvor) (erneut) erschüttert haben sollte, bleibt nur ein Trost: es gibt noch das Entsetzen, noch ist es unfassbar. Noch sind wir, die an Mitmenschlichkeit glauben, mehr. Wir sind mehr.

Wunderland

Pöm
Oktober 7, 2023

die Sehnsucht dir
vom Kopf auf
die Bretter
die die Welt

der Vorhang
dir auf den Fuß
des Berges
deiner Träume

schrick nicht vor
dem Unsichtbaren
das das Sichtbare
in sich

mit lachendem und
weinendem
dir eine Heimat

Science Fiction Triple Feature

Von der Front
September 26, 2023

Oppenheimer, der Langatmer über den gleichnamigen J. Robert, hat - anders als Barbie - ungefähr vier Frauen im Cast; ungefähr, weil zwei nur Deko sind, die dritte noch vor Mitte des Films gefridget wird und die vierte, immerhin Oppis Frau, nur als Resonanzfläche dient. Selbst patriarchatisierte Barbies verfügen über größeren Spielraum als Oppenheimer-Frauen.

Und während Barbie das Spannungsfeld "Feminismus vs. Patriarchat" aufmacht, muss Mister Man sich erst zwischen der (intellektuellen) Schlampe und der (hausfraulichen) Alkoholikerin entscheiden, bevor er die Atombombe erfinden, wegen seiner Freigeistigkeit von Big Atom ausgebootet, über Bande gerächt und ordensvoll rehabilitiert werden kann.

Öde Ode, gerettet nur durch die Koinzidenz mit Barbie, dem trojanischen Pferd des Sommers, das als Komödie angeritten kommt und existentielle Fragen über Gesellschaft, Gleichberechtigung und Gender stellt. Und rechte Schneeflocken derart anfasst, dass ein Megachurch-Führer mit einer an einen Baseballschläger geklebten Bibel ein Barbie-Haus verkloppt

Kannste dir nicht ausdenken, sowas.

Andererseits ist ja auch evangelikalen Christen Jesus zu woke

Dass Barbie übrigens ein Meisterstück in Queerness und Camp ist, zeigt James Somerton in seinem Video-Essay Deep Pink. Die Psychotherapeutin Georgia Dow wiederum untersucht in ihren Video-Essays zum Film die beschädigten Psychen von Barbie bzw. Ken und geht der Frage nach: Wie viel toxischer Feminismus trägt den Film?

Andererseits sollte man sich vielleicht weniger mit Barbie beschäftigen als viel mehr mit der Frage: Was will moderner Feminismus? Ist denn nicht schon alles gut? Frauen durften ja immerhin schon Kanzler werden. Spoiler: Es gibt noch Arbeit, bevor wir uns zurücklehnen dürfen. Aber das sehen natürlich nur die (Mikro- oder Makro-)Marginalisierten.

Der Dokumentarfilm Feminism WTF scheint grundlegende Antworten auf diese Frage zu finden und ist damit wahrscheinlich sehenswerter als Oppenheimer und Barbie zusammen. Zugegeben: ich habe den Film nicht gesehen, nur eine Kurzbesprechung, habe aber das Gefühl, dass er zumindest die Diskussion substantiell unterfüttern könnte. 

Denn das ist, bei allem Erfolg von Barbie die größte Schwäche: die berechtigten Anliegen des Feminismus geraten dank der notwendigen Camp-Verkleidung unter die Räder einer Markt- und Vermarktungsmaschine, so dass man den Film eben auch nur als langen Werbefilm sehen kann. Aber dann schon lieber Werbung für Puppen als für Atombomben. 

Blende

Pöm
September 17, 2023

Wir glauben uns
Kinder der Sonne
und ihre Strahlen
allein unser Werk:
Zeugnis unserer Größe.

Auf der Fahrt über
unseren Himmel
neigt sich
der lange Tag
haltlos gen Horizont.

Unpasslichkeiten

Von der Front
September 4, 2023

Klamotten aussortiert. Hatte ich seit Jahren vor, jetzt gibt der semi-akute Umzug die nötige Zusatzmotivation. Über ein Dutzend farbverirrte Strickjacken und Pullover, über ein Dutzend geschrumpfte Hosen und über ein Dutzend zermusterte Hemden: macht keine Freude, raus damit. Der Kleiderschrank sieht dennoch kaum leerer aus, erst jetzt fällt auf, wie arg die untragbare Mode in den Schrank gequetscht war. 

Nun bin ich ja kein Fast-Fashion-Typ, der sich dauernd neue Sachen kauft. Das Ausgemusterte lag seit Jahren, teils Jahrzehnten ungetragen im Schrank und wurde dabei weder weiter noch hipper. Die Klamotten und ich - wir haben uns mit der Zeit einfach so weit von einander entfernt, dass wir einander nicht mehr passten. Sich zu trennen, war also die einzig richtige Lösung. 

Manchmal weiß man sowas: dass eine Entscheidung getroffen werden muss, die vielleicht lästig ist, die vielleicht aufwendig ist, die vielleicht mit der Anerkennung einer schmerzhaften Wahrheit zu tun hat (und sei es nur, dass ich einfach keine beigefarbenen Rippenstrickjacken aus Polyacryl in Größe S mehr tragen kann/will/sollte); und man schiebt sie trotzdem vor sich her. Hilft alles nix: Macht es keine Freude mehr, muss man loslassen. 

Leider passiert das nicht nur bei Kleidung, manchmal trifft es die Essenz eines Lebens. Wie oft beispielsweise habe ich mir schon vorgenommen, das Geschreibsel sein zu lassen; diesen Traum von lukrativer Wortarbeit aufzugeben. Ist ja nicht so, als wäre ich täglich dabei oder hätte außerhalb meines Blogs oder von Wettbewerben großartig was veröffentlicht. 

Ich kann aber trotz aller Hiatus - irritierenderweise lautet der Plural von /hiˈaːtus/ wohl /hiˈaːtuːs/ - dann immer wieder doch das Bedürfnis zu schreiben, und sei es "nur" ein Blogeintrag. In einer der letzten Bewerbungen habe ich die für mich immer wieder neue Entdeckung ins Anschreiben eingepasst (wenngleich anders formuliert), dass mich Schreiben ordnet und erdet und mir eine Welt erklärt, die mir sonst unpassend scheint.

Tatsächlich ist die Erkenntnis weder neu noch allein meine, spätestens seit ich Julia Camerons Ansatz der Morgenseiten für mich entdeckt habe (und es mir damit deutlich besser ging als vorher oder nachher), weiß ich, dass ich nicht der Entdecker dieser These bin. Andererseits habe ich irgendwo einen Zettel, auf dem ich als 13jähriger schon festgehalten habe, dass ich mich schreibend besser (oder zumindest weniger verwirrend) ausdrücken kann als mündlich. 

Und dann wieder gibt es Momente, da versage ich sogar schriftlich. Bei den Schriftstellern beispielsweise verheddere ich mich statt in Textarbeit immer wieder in Diskussionen zu gesellschaftspolitischen Themen. Da versuche ich eine Lanze für progressive Empathie zu brechen, interpretiert wird es mir aber als überhöhter Schwachsinn. 

Wobei mir tatsächlich unklar ist, ob sich meine Argumentation so verheddert hat, dass ich meinen Punkt nicht verdeutlichen kann, oder ob sie schlicht falsch ist, zu radikal oder nicht informiert genug. Oder ob ich doch recht haben sollte, das Publikum aber mit meinen Worten nicht erreiche. Ich erlebe nur, dass meine Perspektive nicht zu der der anderen passt. 

Dabei wollte ich bei den Schriftstellern ja gar nicht über Weltanschauungen diskutieren, sondern über Texte. Irgendwie kann ich das aber nicht. Denn entweder will ich so gründlich sein, dass meine "Analyse" eines 250-Zeichen-Textes dreimal so lang ausfällt, oder aber ich habe zu einem Text nichts zu sagen außer "Gefällt (nicht)." Und das hilft ja nun auch niemandem weiter. 

Einzig bei Wettbewerben bin ich nie auf die Tastatur gefallen, da haue ich Kritik um Kritik raus ohne Rücksicht auf Verluste (und schäme mich hinterher für die Harschigkeit); vielleicht liegt es an der zeitlichen Enge, vielleicht an der relativen Vergleichbarkeit von Texten, die der selben Prämisse folgen (sollten). Vielleicht liegt es am überschaubaren Commitment. Da jedenfalls bin ich nicht schreibfaul, nicht übergründlich, ich sortiere impulsiv aus, was mir nicht passt.  

Jetzt - scheint es - habe ich mich selbst aussortiert. Bei einer Diskussion über den Barbie-Film, das Patriarchat und den Feminismus bin ich auf einer Inselmeinung gestrandet, zu der mir andere nicht folgen konnten. Oder - und das will ich niemandem unterstellen, nur um mich selbst nicht hinterfragen zu müssen - nicht folgen wollten. Denn ich weiß, dass ich falsch liegen kann; ich weiß nur nicht, ob das der Fall ist, wenn die Gegenseite einfach ausfällt. 

Andererseits: ich gehöre ja auch nicht zu den Schriftstellern, bin nicht einer von ihnen, bin nur Gast, der irgendwie immer in den Orkus von Diskussionen gerät, die mich in eine radikale Wokeness-Ecke spülen, in die ich mich selbst nicht einsortieren würde. Und wie bei den Wettbewerben, wo in der Regel meine Einschätzung zu Texten weit von der Rezipienz anderer abweicht, mache ich mich so aus Versehen und gegen meinen Willen zum Außenseiter. 

Wahrscheinlich klingt das nach Selbstmitleid oder Verbitterung. Klar, ich bin traurig, aber nicht enttäuscht. Irritiert vielleicht, wie bei den Hemden, die sich in der hintersten Ecke des Kleiderschranks versteckt hielten. Da fragt man sich auch, wieso man je gedacht hat, dass das hätte passen können. Hätte doch offensichtlich sein müssen, dass manche Farben und Muster nicht harmonieren; von falschen Größen mal ganz abgesehen. 

Da hilft dann nichts anderes als sich zu fragen: "Macht das noch Freude? Oder kann das weg?" Was ja nicht heißt, dass alles damit Zusammenhängende falsch gewesen wären - im Gegenteil: Wer oder was uns begleitet, entspricht Phasen unseres Lebens. Und irgendwann entwachsen wir diesen Phasen, diesen Kleidungsstücken, diesen Menschen. Und dann ist es wahrscheinlich besser, sich kurz und schmerzhaft zu trennen. Weil es eben nicht mehr passt. 

Die Kleiderkammer übrigens hat alles angenommen - leider ist aber auch da das Gespräch eskaliert (liegt also wohl doch an mir). Die Damen dort waren ungehalten über Tütenverbote, das Bürgergeld, den "Heizungshammer", kinderreiche Familien und die angeblichen 83 %, die sich von den restlichen 17 % durchfüttern ließen. Als sie dann noch sagten, dass man ja bald kaum mehr wisse, ob einem das eigene Land überhaupt noch gehöre, war ich schon out of Widerspruch.

Ich hatte nur meinen Kleiderschrank ausmisten, nicht reaktionäre Motten jagen wollen; noch dazu in einer Einrichtung, die gebrauchte Kleidung zu niedrigen Preisen an Menschen im Prekariat ausgibt. Ich hatte dort Menschen mit Gemeinschaftssinn erwartet, keine fremdenfeindliche Silberrückenbrigade. Andererseits bin ich ja gerne naiv. Nur weil jemand aussieht wie eine nette Omi, heißt das nicht, dass sie einem nicht den Rollator in die Hacke dengelt.

Die Klamotten habe ich trotzdem dagelassen. Ist ja nicht die Schuld der Bedürftigen, dass sie bedürftig sind - auch wenn sowohl die Silberrücken als auch die Schriftsteller da sicherlich anderer Meinung sind. Ich werde sie nicht überzeugen; Menschen - eine weitere Erkenntnis, die ich leider immer wieder vergesse - können sich nur selbst überzeugen. Gegen eingefahrene Meinungen kommt man von außen einfach nicht an. 

Und dann hilft einfach nur: loslassen. Sei es das Ego; sei es das einst heißgeliebte Hemd mit den Palmwedeln drauf, von dem man dachte, es lasse einen lässig erscheinen (außerdem war der Stoff sehr weich), dabei war es einfach nur grau; sei es eine verwirrende Institution, zu der man ohnehin nie einen richtigen Draht gefunden hatte. Was nicht passt, kann selten passend gemacht werden. Manchmal kann die Frage "Wird es jemals wieder Freude machen?" nur verneint werden.

Gleichzeitig kann man nie etwas wirklich wissen. Feststellungen sind Momentaufnahmen aktuellen Kenntnisstandes, selten Absoluta. Wir können ja in uns selbst schon nur begrenzt hineinsehen, wie sollen wir da Mitmenschen oder die Welt verstehen? Alle Zuschreibungen sind gefärbt von Meinungen, Erwartungen, Umständen. Wir treffen auf Basis der Vergangenheit Annahmen über die Gegenwart, ohne zu wissen, ob sie auch in Zukunft passen.

Manchmal liegen wir richtig damit, manchmal nicht. Aber jetzt sortiere ich erstmal aus.   

Zeitumkehr

Von der Front
Juli 20, 2023

Wie die Tage ineinanderfließen. Eben war noch letzte Woche, gleich ist August. Demnächst vielleicht Umzug, seit einem halben Jahr demnächst vielleicht Umzug; und trotzdem ist die Zukunft nicht greifbar, die eigentlich schon Gegenwart sein sollte. Die alte Heimat ist fast nur noch Traum, Erinnerung, ein Es-War-Einmal. Gleichzeitig ist die neue Heimat ein Noch-Nicht, eine Vorstellung, eine Hoffnung. Noch ist es nicht soweit. Noch ist nichts so weit. 

Noch. Nichts schlimmer als Hoffnung, als Warten, ungewiss sein. Nichts schlimmer als wieder und wieder die Deadline gerissen zu sehen. Wann darf ich endlich loslassen, wann darf ich endlich fallen? Wann bin ich frei genug, ein neues Leben anfangen zu dürfen? Oder hat das neue Leben vielleicht schon begonnen, und ich sehe es nur noch nicht?

Derweil fließt alles ineinander und doch an mir vorbei: bin ich nicht auf der Baustelle, bin ich in Hyrule: Tears of the Kingdom, das jüngste "Legend of Zelda"-Spiel, lässt mich nicht los. Noch eine Herausforderung in meinem Leben. Genau was ich brauchte. Als überforderten mich nicht schon genügend unfertige Projekte. Vielleicht brauche ich es aber wirklich: weil es etwas ist, was ich beherrschen kann und auch beherrsche. 

Eine Spielmechanik von Tears of the Kingdom (zungenfreundlich abgekürzt TOTK) ist die Zeitumkehr. Dingliche Bewegung kann rückgängig gemacht und so für das eigene Fortkommen genutzt werden. Felsen, die aus einem bislang noch unklaren Grund aus den Wolken gefallen sind, dienen so dem Aufstieg in den Himmel: einfach Zeitumkehr hinzufügen, voilà, Sie baden gerade Ihre Hände darin.

Natürlich ist das ohnehin ein Grundmotiv des Spiels: der Wunsch nach Rückkehr in die Vergangenheit, in ein Goldenes Zeitalter, das irgendwie verschütt gegangen ist. Kennt man, den Wunsch, ist ja mehr oder weniger spezifisch den meisten von uns inert. Zumindest all jenen, die irgendwie das Gefühl haben, dass früher mal alles besser war. Oder zumindest besser gewesen sein musste, denn so schlimm wie heute war es noch nie. 

Wahrscheinlich alles eine Frage der Erwartungshaltung. Wenn ich meine Situation gerade suboptimal finde, hoffe ich natürlich auf Besserung; wenn die aber nicht eintritt, sondern - wie üblich - der Status Quo nur eine Verlagerung der Baustellen erlebt, dann ist zwar nichts besser oder schlechter, meine zu optimistische Erwartung wurde trotzdem unterlaufen. Anders reicht einfach nicht als Veränderung, es soll schon auch gut sein. 

Rückblickend könnten wir den Fehler daran erkennen. Da könnten wir die Erwartungshaltung anpassen, da könnten wir analysieren, dass nicht die Ergebnisse ernüchternd, sondern die Hoffnung im Vorfeld zu groß, zu naiv war. Da könnten wir uns sagen: Wir haben uns beim Buffet möglicher Enttäuschungen zu großzügig bedient und einiges nicht abräumen können (wie bei jedem All you can eat put on your plate).

Natürlich sagen wir das nicht, erkennen wir das nicht, akzeptieren wir das nicht. Wir sehen nur die gerissenen Deadlines, die enttäuschten Gesichter, den Frust, die schlechte Laune. Vielleicht auch darum TOTK. Da gibt es keine Enttäuschung, das Unglück ist passiert, die Apokalypse liegt hinter uns, was soll man machen. Muss ja irgendwie weitergehen, man richtet sich ein am Abgrund, der sich plötzlich im eigenen Leben aufgetan hat. Und lebt damit.

Denn alles rückgängig machen, den bösen Geist wieder in die Flasche, das dunkelrote Geschmier, das sich über die WElt gelegt hat, wieder zurück in die Zahnpastatube stopfen, das geht nicht. Die Zeitumkehr erschöpft sich auf der Kurzstrecke, den letzten 30 Sekunden. Noch dazu ist sie nicht auf Komplexität ausgelegt, nutzt die historisch-kinetische Energie nur eines einzelnen Dings, seine (wie es spielintern heißt) Kurzzeiterinnerung an einen subtil früheren Zustand, der Rest des Systems folgt weiter seinem Lauf (so physikalisch/logisch falsch das auch sein mag).

Trotzdem verspüre ich im Spiel ein Gefühl von Selbstwirksamkeit, über das ich in der Realität nicht verfüge. Ich bringe Dinge in Bewegung, ich bringe NPCs in ihren eigenen Geschichten und Handlungspunkten voran, und wenn ich mal nicht weiter weiß, schaue ich in meinem Logbuch mit Quests und Aufgaben nach. Alles im Spiel ist vorprogrammiert, ich bin die einzige Variable und selbst als solche noch Teil des Musters. Die Frage ist nicht, ob ich auftauche, sondern nur: wann.

Im Spiel geht alles seinen Gang, und wenn es den nicht geht, dann kann ich einen früheren Spielstand laden und es einfach erneut probieren. In der Realität funktioniert das natürlich nicht. Überhaupt ist die Realität dreisterweise ganz anders. Nicht nur hadern die NPCs dauernd mit allem (auch noch mit der jüngst überwundenen Apokalypse), sie handeln auch oft eigenständig und unvorhersehbar, folgen keinen vorhersehbaren Mustern. Lästig.

Könnte ich einen früheren Stand der Renovierungen laden, ich würde einiges anders machen. Anders planen, anders kommunizieren, anders koordinieren. Auch grundsätzlich andere Entscheidungen treffen, manche Dinge streichen. Ich würde auch rund um die Baustelle einiges verändern. Hätte ich gewusst, wie lange ich auf dem Dachboden leben würde, ich hätte mich anders in diesem Leben eingerichtet. 

Hätte, hätte, Fahrradkette. Wir können das Geschehene nicht rückgängig machen, heißt es, wir können nur daraus lernen. Ich habe es versucht, daraus zu lernen, und doch habe ich das Gefühl, nicht weiter zu sein als zu Beginn. Doch: etwas in mir ist anders, ich bin einsamer, mürber, zwischen Es-war-einmal und Noch-nicht zerrissen, zeitlich und räumlich. Meine Haut ist dünn geworden in diesen Monaten und ich wünschte, ich würde mir nicht wünschen, es wäre anders.  

So aber bleibt alles, wie es ist. Die Tage fließen ineinander, die Nächte blinzeln sich weg; eben war noch letzte Woche, demnächst ist schon August. Und der Umzug. Der ist nah oder fern, irgendwann auf jeden Fall. Außer, es kehrt mir doch noch jemand die Zeit zurück. 

Abruptum

Usus operi
Juni 25, 2023

Als sie mir das Geschenk überreichen, ein Album Best of Bühnenwolf, haben sie es fast geschafft. Für ein paar Sekunden fühle ich mich der Klippe nah, der ich mich seit Monaten fernhalte. Ich überlege zu springen, mich fallen zu lassen, mich einfach dem Sog zu ergeben, doch dann ist der Moment vorbei, ich stehe wieder sicher, die Vertigo ist vergangen, bin wieder stabil. 

Ist nicht so, als trauerte ich nicht. Oder eigentlich: als hätte ich nicht schon genug Tränen vergossen. Wobei: wie viele Tränen sind ausreichend, um zehn, zwanzig Jahre eines Lebens angemessen zu verabschieden? Wie viele habe ich nach dem Tod meiner Großeltern vergossen? Wie viele nach dem Tod der lieben Freundin? Wann darf ich mich mit zwei lachenden Augen auf und über die neue Stadt freuen und nicht nur mit mindestens einem weinenden?

Die Wahrheit ist: es wird nie genug sein und doch immer zu viel. Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass alle Freundschaften den Umzug überleben werden. Noch nicht mal, wenn ich mich ganz besonders anstrengte: es wird anders sein, weil ich einfach fort bin. Keine zufälligen Treffen, kein spontanes Kaffeetrinken, keine überraschenden Besuche, kein Theater mehr, keine gemeinsamen Projekte. Das ist vorbei. Diesen Teil der Entwicklung zu bedauern ist richtig und wichtig.

Andererseits ändert Weinen nichts, im Gegenteil steht jede Träne für einen verlorenen Moment, einen verschwundenen Punkt im Raum-Zeit-Kontinuum, eine ausgelöschte Zukunft. Wir beweinen, was wir nicht mehr haben werden, wir beweinen den Schmerz, der uns ausfüllt; wir trauern um das, was nie wieder sein wird, statt uns auf das zu freuen, was vielleicht kommen kann. Wir schauen zurück, klammern uns an das Vergangene - und verpassen Gegenwart und Zukunft.

Natürlich bewegen wir uns in verschiedenen Geschwindigkeiten durch diesen Abschied. Während ich mich seit dem Sommer (und seien wir ehrlich: im Grunde seit Jahren, Jahrzehnten) darauf habe vorbereiten können, war die Ankündigung für die meisten anderen doch eher abrupt und hat sie auch dementsprechend geschockt. Ich hatte Monate Zeit, mich zur Klippe vorzutasten und in die unermessliche Tiefe hinab zu starren, mich an die Perspektive zu gewöhnen. 

Ich hatte Gelegenheit, mir den Absprung vorzustellen; alle anderen jedoch habe ich mehr oder weniger über die Kante geschubst. Kein Wunder also, dass sie von dem Abruptum - sagen wir mal - unerfreut sind. Niemand wird gerne vor vollendete Tatsachen gestellt, und auch wenn es meine Entscheidung ist, was ich mit meinem Leben anfange: es tangiert letztlich alle Leben, die mit meinem verbunden sind, und sei es auch noch so lose. 

Ich weiß nicht, ob man lernen kann, solche Veränderungen, die ja letztlich sehr eigene sind, so zu moderieren, dass am Ende alle glücklich sind. Ich weiß, es gibt so etwas wie Change Management, aber dem liegt ja eine gemeinschaftlich zu erkennende Dringlichkeit zur Veränderung zugrunde. Diese Notwendigkeit ist ja hier nur knapp und sehr persönlich beim Mann und mir gegeben; alle anderen hatten kein Problem mit dem Status Quo.

Ähnlich bei meinem Coming Out vor zweieinhalb Leben: als ich nach Jahren der Introspektion plötzlich die Erkenntnis oder eher Akzeptanz gefunden hatte, mich als schwul zu identifizieren und mich nicht davor zu fürchten oder dafür zu hassen, wollte ich es auch nicht mehr für mich behalten. Dass das nicht alle begeistern würde - darauf hatte ich keinen Gedanken verschwendet. Warum sollte sich jemand nicht für mich und meine neu gefundene Selbstliebe freuen?

Stellt sich raus: Menschen wollen Sicherheit und mögen nur selten Überraschungen. Sie werden nicht gerne mit Fakten konfrontiert, die ihre Vorstellungen von der Welt (oder ihre eigenen Pläne) ins Wanken bringen können. Es scheint, als würde niemand gerne über den Rand einer Klippe geschubst. Wenn sie die Veränderung ahnen, Zeichen für einen bevorstehenden Wandel wahrnehmen können, dann ist es (vielleicht) akzeptabel. Wenn nicht, dann aber mal echt nicht. 

Ebenfalls zu besichtigen war das (vielleicht) bei Corona. Das hat ja auch niemand (außer Epidemiologys) so richtig kommen sehen und hat darum (fast) ausnahmslos alle gleichermaßen getroffen - bis die Veränderungsträgen plötzlich zu Anpassungsunwilligen mutierten und sich in einen ideologisch verbrämten Widerstand reinstilisierten, der an der virologischen Wirklichkeit komplett vorbeidriftete und nicht wenige Coronaleugnys das Leben kostete.  

Natürlich hätten wir uns alle am Status Quo verbeißen und daran ersticken können, aber so realitätsavers sind ja dann doch die wenigsten. Am Ende verstehen die meisten, dass sich die Dinge nun mal ändern, manchmal langsam, manchmal schnell. Dass alles immer gleich bleibt, das wünschen wir uns vielleicht. Aber dass das nicht so ist, wissen wir spätestens, wenn wir  morgens nicht mehr so elastisch aus dem Bett hüpfen wie vor zwanzig oder dreißig Jahren. 

Nun ist der Umzug insgesamt weniger dramatisch: niemand müsste mit einer Selbstlüge leben oder sich an die ECMO anschließen lassen, wenn der Mann und ich in Bad Nauheim blieben; im Gegenteil ging es uns - bis auf eine einsetzende Fatigue - ganz gut. Der Mann ist im Job an einer guten Position, im Theater hätte ich (Achtung, überspitztes Selbstlob) jedes Stück mit meiner Teilnahme geadelt. Und Bad Nauheim selbst? Einzigartig schöne Stadt, soziales Netz. 

Und doch: langweilig das alles. Dem Mann wird vor lauter Betriebszugehörigkeit demnächst eine versilberte Uhr aufgedrängt; meine Unausweichlichkeit im Theater wurzelt nicht zuletzt in meiner Selbstbestätigungsnot; Bad Nauheim ist anstrengend vergangenheitsverliebt. Nur das soziale Netz: nicht langweilig, aber eben doch löchrig. Die Pandemie hat gezeigt, dass irgendwie alle untereinander Vertrauenskontakte waren; mir und dem Mann allein blieben der Mann und ich. 

Klar, auch da gehört Einsatz dazu. Wer sich nicht meldet, weil er sich niemandem aufdrängen will, gerät leicht in den Hintergrund. Und wären wir im Abflauen der Pandemie schon umgezogen und nicht nach drei postpandemischen Theaterprojekten: wer weiß, ob das Abruptum ebenso empfunden worden wäre. So war ich nochmal eine kurze Zeit omnipräsent - und bin es demnächst kein bisschen mehr: einfach von der Klippe gekippt. 

Insofern ist da natürlich Abschiedsschmerz, in seiner Nostalgie fast schon überwältigend, während ich durch die Bilder im Album blättere und mich an die Momente dahinter erinnere: Mephisto, Verkündigungsengel, Feldprediger, Marquis Posa, noch andere, kleinere Rollen; vor allem anderen aber das größte Geschenk, das mir der Verein je gemacht hat: Die letzte Königin, mein eigenes Stück, die ultimative Selbstverwirklichung, nur ich auf der Bühne, drei Stunden lang. 

So, denke ich, ist es letztlich immer, wir sind am Ende immer allein auf der Bühne, können natürlich hoffen, dass die anderen in den Reigen einsteigen, sich auf uns verlassen, uns vertrauen, sich mit uns fallen lassen; aber am Ende sind wir für uns selbst verantwortlich. Für unseren eigenen Erfolg ebenso wie für unseren eigenen Schmerz. Wir können versuchen, ihn zu teilen, ihn mitzuteilen, doch wirklich spüren werden wir ihn nur selbst. 

Vielleicht habe ich deswegen im Grunde schon damit abgeschlossen, mich innerlich schon verabschiedet und jedes wir sehen uns nochmal vor dem Umzug gedanklich um ein vielleicht ergänzt. Nicht absichtlich, nur um sicher zu gehen. Ich habe mir den Rückweg mit all den Arbeiten in der neuen Wohnung ohnehin schon verbaut; und auch wenn wir natürlich das Ganze nochmal streichen könnten: trotz aller Angst vor dem Neuen freue ich mich auch darauf. 

Natürlich ist nicht gesagt, dass in der neuen Stadt nur alles super sein wird. Wir werden anfangs Schwierigkeiten haben, Anschluss zu finden. Klar, durch die Arbeit, durch den Alltag werden wir mit Menschen in Kontakt kommen, aber immer werden wir die neuen mit den alten vergleichen und nicht selten zum Schluss kommen: das Bad Nauheimer Netz, so löchrig es manchmal schien, es hielt doch, und es hielt gut und hat uns gut aufgefangen. 

In der neuen Stadt sind es erstmal nur der Mann und ich. Das ist nicht ganz schlimm, das wissen wir, im Zweifels- und Pandemiefall sind wir uns auch genug, ohne uns ausschließlich auf die Nerven zu gehen; aber manchmal braucht es eben auch Input von Außen, neue Gedanken, neue Gesichter, Disruption des Alltags. Vor allem brauche ich das, brauchte das, war doch vor allem ich als Arbeitsfreier von üblichen sozialen Kontakten abgeschnitten. 

Vielleicht - und das ist der letzte Gedanke, mit dem ich mir die Klippe vom Hals und die Tränen hinter der Maske zu halten versuche - sind die alten Freundys auch nur ängstlich, dass sie ersetzt werden könnten; dass ich irgendwann bessere Freundschaften schließen und die alten vergessen könnte. Dass ich sie nicht mehr brauchen und also nie mehr zurückkehren müsste.

Tatsächlich ist es wahrscheinlich eher so, dass - so unvorstellbar dem gebrannten Kind in mir das auch erscheinen mag - sie mich wirklich mögen. Dass wir einander nicht nur Knoten im sozialen Netz waren, sondern Herzensmenschen, die wir gerne sehen, hören und sprechen. Dass die miteinander verbrachte Zeit mehr war als Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre und Jahrzehnte. Dass sie gemeinsames Leben war. Das eben nun vorbei sein wird. 

Den Schmerz darüber kann ich aber nicht teilen, will ihn niemandem aufdrängen, will ihn vielleicht aber auch einfach nicht formulieren, um die naheliegende Frage nicht beantworten zu müssen: wenn es so schmerzt, warum dann nicht bleiben? Warum den Plan nicht ändern, warum an etwas festhalten, das doch mitunter wie ein Fehler scheint und nicht ausschließlich wie ein Befreiungsschlag aus einem eingefahrenen Leben?

Und klar, vielleicht ist das tatsächlich nur, wie manche sagen, eine midlife crisis. Vielleicht anders behandelbar als mit einem Neuanfang in einer fremden Stadt. Ein Motorrad vielleicht oder ein junger Geliebter, ein Haus samt Hausboy? Ein neuer Job, eine Fortbildung, ein riskantes Hobby, ein Ayahuasca-Retreat? Vielleicht doch die Angst vor einer Absage über Bord werfen und sich als professioneller Schauspieler oder Autor versuchen? Ist vielleicht alles besser als das Abruptum.

Und doch gibt es gute Gründe, die für den Umzug sprechen. Allen voran das Haus mit Garten und die Heimat, die es verspricht. Die Familie, die in der relativen Nähe lebt und deren Nähe man vor allem angesichts der jüngsten Todesfälle mehr zu schätzen weiß. Die Notwendigkeit, sich in einer fremden Umgebung neu auszurichten und die alten Muster aufzubrechen. Die maximale Disruption also, noch dazu zu einem Zeitpunkt, an dem sie uns nicht nur überfordert. 

Die Menschen, die zurückbleiben, geben das, wenn sie nüchtern darauf blicken, schon auch zu. Es gebe Gründe, nachvollziehbare sogar, und wenn da diese Kleinigkeit von 300 km nicht wäre, würden sie uns auch vorbehaltlos unterstützen. So versuchen sie sich für uns zu freuen und sind doch für sich traurig. So wird es sich für uns alle eine kurze oder lange Weile anfühlen. Bis der Alltag wieder einsetzt und damit eine langsam voranschreitende Entflechtung.

Manche Freundschaft wird das nicht überleben, und vielleicht rührt auch diese Angst manche zu Tränen: dass dieses Wir, das es gab, dann einfach fort sein wird. Dass es ersetzt wird durch etwas, das dauernd mit der Vergangenheit verbunden sein wird und nicht mehr mit der Zukunft. Dass das Best of Wir nicht um neue Höhepunkte erweitert werden kann. Ob es das aber würde, bliebe ich, ist ja auch nicht gesagt. Wir kennen die Zukunft nicht.

Und so ist das einzige, das bleibt, sich hineinzustürzen in die noch bleibende Gegenwart, die Momente, die als Erinnerung bleiben sollen, so bewusst zu erleben, dass sie dem Schleifstein der Zukunft standhalten. Nicht immer wird das gelingen, manchmal werden wir ganz grandios daran scheitern. Die Angst vor dem Scheitern darf uns aber nicht aufhalten, denn einen Weg daran vorbei gibt es nicht, es geht voran, immer nur voran und niemals zurück.

Das veränderte Klima

Von der Front
Juni 20, 2023

Mit R. gesprochen, dem künftigen Nachbarn. Wie die Bauarbeiten voranschritten (und nicht: wann sie endlich vorbei seien), ob wir uns auf den Umzug freuten (und nicht: wann die praktischen Parkplätze in der Einfahrt belegt seien), und ob wir uns schon auf das veränderte Klima eingestellt hätten. Und meint damit nicht das Wetter.

Die Menschen hier, sagt er und meint damit die Gesellschaft, seien zunehmend kalt, abweisend, oberflächlich geworden. Sie hätten so hohe Mauern um sich gezogen, um sich unangreifbar zu machen, und gleichzeitig besäßen sie so wenig Resilienz, dass sie beim geringsten Gegenwind gleich auf Angriff schalteten. 

Ich befürchte, dass wir an verschiedene Menschen denken. Er meint vor allem die Jungen und Jüngeren, die er in seiner pädagogischen Arbeit tagtäglich vor sich sitzen hat. Die sich entweder von TikTok fesseln lassen oder sich auf die Straßen kleben oder ganz einfach überfordert sind mit den Komplexitäten einer sich zu rasch wandelnden Welt, die ihnen aber auch niemand endgültig erklärt oder erklären kann. Weder-noch übrigens: weder die Komplexitäten noch die Welt.

Ich meine eher, als ich an ihm vorbeirede, genau die andere Seite der Konfrontationslinie: jene Menschen, die an Mobtagen durch die Innenstadt ziehen und die Rückgabe einer ihnen nicht entzogenen Freiheit fordern, oder solche, die auf politischen Podien stehen und vor dem Gendersternchen warnen oder Klimaschutz-Aktivisten zu Terroristen hochstilisieren, weil auch sie keine Antworten mehr haben auf die Fragen, die wir uns alle eigentlich stellen (sollten). Wie nämlich wir das alles aushalten sollen: Long-Covid, Krieg und Klima. Krise, Krise, Krise.

Da sitzen wir doch schließlich alle im gleichen Boot, wir haben nur unterschiedliche Coping-Mechanismen. Während die Jugend, die es ohnehin gewohnt ist, nicht nach ihrer Meinung oder gar Ideen zur Gestaltung der Zukunft befragt zu werden, sich einfach nur ins Digitale zurückzieht, wo klar ist, dass sie von den Boomern nicht behelligt wird, weil die Alten das Internet aufgrund ihrer latenten Techniküberforderung eh nicht verstehen, zieht es die besorgten Alten auf die Straßen, Podien oder in den Untergrund der Verschwurbelung, wo es einfache Fragen auf unterkomplexe Fragen gibt. 

Und dann machen sie sich lustig, die Alten oder zumindest Bockigen, über die Jüngeren, die sich mit SUVs zu Freitagsdemos kutschieren ließen, alle halbe Jahre ein neues Handy bräuchten, überhaupt keine Werte hätten, null Bock auf Arbeit hätten, andauernd alle aggressiv angenderten, aber sich ansonsten kein bisschen ordentlich ausdrücken könnten. 

Und vergessen darüber, dass keine Generation aus sich selbst entsteht oder unabhängig von anderen existiert. Diejenigen, die jetzt selbstgerecht über die Menschen urteilen, die sie letztlich über eine Zwischengeneration selbst in die Welt gesetzt haben (und die dafür nicht etwa dankbar sind, sondern sich eher fragen, warum diese Welt nicht in einem besseren Zustand übergeben wurde), vergessen, dass es an ihnen gewesen wäre, Wohlstand und Werte und Weisheit weiterzugeben. 

Die Jungen wollen nicht arbeiten? Wer hat denn eine Arbeitskultur etabliert mit minimaler Bezahlung bei maximaler Selbstausbeutung? Können sich nicht ausdrücken? Wer hätte es ihnen denn vielleicht beibringen können? Lassen sich mit SUVs zur Schule bringen? Wer hat denn die SUVs gebaut und gekauft? Protestieren für härteren Klimaschutz, weil die Alten ... Ach, uralter Hut: Seit 1856 hätten wir gewarnt sein können, als Eunice Newton Foote als erste den wärmenden Einfluss von Kohlendioxid auf die Erdatmosphäre beschrieb. Man könnte vermuten, dass ihre Erkenntnisse unberücksichtigt geblieben sind, weil sie eine Frau war. Das hat sicher nicht geholfen, aber als John Tyndall drei Jahre später die gleichen Beobachtungen beschrieb, wollte auch niemand die richtigen Schlüsse ziehen. 

Ist ja aber auch nachvollziehbar. Wir alle wollen mehr Wohlstand, mehr Luxus, mehr Bequemlichkeit und weniger Schweiß, Blut und Tränen. Diejenigen Alten, die sich jetzt über den Arbeitsverweigerungsgestus der Jüngeren aufregen, haben doch auch ihr ganzes Leben lang vor allem deswegen gearbeitet, weil sie es dann in der Rente einmal besser haben wollten. Und angeblich, um den Jüngeren ein besseres Leben zu ermöglichen; was nicht nur misslungen ist, sondern auch leicht egoman; ist doch der Glaube zu wissen, was für andere das Beste wäre, subtil übergriffig. 

Tatsächlich scheint mir die Dünnhäutigkeit der Alten, seien es Aiwanger, Dobrindt, Gruber, Merz, Nuhr, Pechstein, Söder (oder auch Amthor, Kramp-Karrenbauer oder Spahn), statt einer tatsächlichen Besorgnis über das Wohlergehen der Jüngeren (was ja durchaus ein legitimer Grund wäre, sich zu den Auffälligkeiten der jüngeren Generationen zu äußern), eher ein Zorn über den Verlust an Einfluss über eine eigensinnige Generation, wie sie es vorher nicht kannten. 

Denn wir dazwischen, wir, die wir still und leise unsere eigenen Leben leben, aber eben nicht auf die Straße gehen, wir haben das Spiel der Alten noch mitgemacht, bis wir in einem Akt des quiet quittings uns einfach davon losgesagt haben, als wir feststellen mussten, dass das System keinen Sinn mehr ergibt. Wir sind zwar aufgewachsen in einer übervollen Welt und konnten alles haben, aber davon wenig brauchen, allem voran nicht den Kernwert, den uns die vorige Generation überlassen hat: Wachstum, Wachstum über alles. Wir haben uns daran ausgebrannt und wollen jetzt vor allem eines: nicht bis zu unserem Tod arbeiten zu müssen. Denn Rente gibt es ja ohnehin nicht mehr, weil die Alten, die noch was hätten tun können, das ganze System an die Wand gefahren haben und es jetzt nicht gewesen sein wollen. 

Wie diejenigen, die mit dem neuen SUV vom Parkplatz aus mit Schmackes in den Blumenladen krachen, weil sie Vor- und Rückwärtsgang verwechseln.

R. übrigens, der neue Nachbar, kann allen nichts abgewinnen, sagt er. Alle, die dauernd für oder gegen etwas die andere Seite anbrüllen, weil sie einfach nur der eigenen Überforderung durch aggressiven Aktionismus etwas entgegensetzen wollen, seien ihm lästig. Er schätze ja sehr, sagt er und blickt lose hoch zu den neuen Fenstern, die wir vor kurzem mit lautem Gehämmere und Geklopfe haben einbauen lassen, seine Ruhe. 

Die Anknüpfung

Usus operi
Juni 1, 2023

Da geht man einen halben Tag mal nicht nur ins Internet, sondern nur spazieren und in sich, und schon kommen die Gedanken wieder hoch, wie das alles doch funktionieren kann. Oder besser gesagt: was da nicht funktioniert und wieso. 

Klingt abstrakt, wird aber sofort plausibel: Ich versuche, eine Welt wiederzufinden, die mir verloren ist. Ich hoffe, mit dem Umzug ein Stück meiner Identität wiederzugewinnen, das mir zu fehlen scheint.

Immer noch nicht genug: ich ziehe in meine Geburtsstadt zurück und kämpfe seither mit der Zerrissenheit meiner Erinnerungen daran, wie es hier war, und den neuen Bildern, die nach und nach die alten überlagern. 

Das Ding ist: ich habe hier nie richtig gelebt. Ich habe Wochenenden und Ferienwochen bei meinen Großeltern hier verbracht, große Teile meiner Familie lebten hier und sind noch in der Umgebung, ich war ein Semester hier an der Uni eingeschrieben und habe vergeblich versucht zu verstehen, was Studenten so tun, wenn sie nicht im Internet surfen. 

Meine alten Erinnerungen sind also vor allem mit den Menschen verknüpft, die ich hier kannte, vor allem mit meinen Großeltern und eben jenem Haus, in das der Mann und ich einziehen werden. Und klar kenne ich das Haus und die Wohnung, den Dachboden und den Garten; ich habe auch während dieses einen Semesters hier gewohnt. Aber ich finde mich hier nicht wieder. Was auch immer ich erwartet habe, es ist nicht da. 

Das ist ja nun nicht ganz schlecht.

Es kann durchaus hilfreich sein, ganz neu anzufangen, wenn man glaubt, in einer Sackgasse zu stecken. Tatsächlich sehen der Mann und ich das beide so: dass wir nochmal ganz neu anfangen. Nicht, weil es uns in unserem alten Leben schlecht ging; aber sehr wohl, weil wir eben neu anfangen können. Weil wir wissen, dass wir es jetzt noch können, und weil wir befürchten, dass wir es irgendwann nicht mehr können könnten. 

Und wie oft bekommt man denn auch eine Chance, in einer Stadt, die man schon einigermaßen gut kennt, einen kompletten Neuanfang zu machen? Vor allem noch mit dem Privileg eines geerbten Hauses in einer guten Lage? Ich kann hier sein, wer ich will, weil mich hier kein Korsett aus bekannten Identitäten in meiner Entfaltung einschränkt. 

Das Problem ist: ich weiß nicht, wer ich sein will. 

Und das viel größere Problem ist: ich erkenne ein Muster.

Vor einigen Wochen, als ich hier auf dem Dachboden saß und versucht habe, meiner Zeit als "Bauleitung" etwas produktives abzugewinnen, habe ich angefangen, Inhalte meiner verschiedensten Weblogs hier einzupflegen. Mit dem Effekt, dass ich jetzt Beiträge von 2004 bis 2023 mit teilweise großen Lücken dazwischen habe, die nicht ganz so groß sein müssten, wenn ich mal den Import abgeschlossen und nicht wie so viele angefangene Projekt einfach verlassen hätte.

Die Motivation dafür ähnelte dem Impuls, der mich jetzt immer befällt, wenn ich mir Teile des Hauses ansehe oder in Fotoalben blättere: Ich versuche mich selbst  zu erkennen und mich mit einer Version von mir zu identifizieren, die es nicht mehr gibt. Einer Version vor allem, die noch nicht so viel bedauerte und darum - so nehme ich das an - glücklicher war. 

Natürlich war ich früher nicht unbedingt glücklicher - von der Unmöglichkeit einer objektiven Messung mal ganz abgesehen. Aber das Bedauern, das sich manchmal als veritable Reue darstellt, das hatte ich früher nicht. Aber da war ich eben auch jünger und hatte nicht so viele Jahre, auf die ich zurückblicken konnte. 

Mit dem ganz abscheulichen Gefühl, große Anteile meiner Zeit vergeudet zu haben. 

Und das nicht, weil ich ja auch einfach direkt in Bamberg hätte bleiben und mein erstes Studium irgendwie beenden können. Dann hätten wir vielleicht den Dachboden vor 25 Jahren schon ausgebaut und ich hätte hier gewohnt, ich hätte als Germanist ...

Keine Ahnung, ist recht irrelevant für die Reue, die ja deutlich greifbarer auf dem großen Leerraum aufbaut, der sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten aufgetan hat; all der Zeit, die ich sinnbefreit durchs Internet gegeistert bin, Youtube- und Porno-Videos geschaut, mit Fremden gechattet, Breath of the Wild gespielt und ganz allgemein rumgedödelt habe. 

Denn jetzt, wo ich verstanden habe, dass ich eigentlich für nichts richtig qualifiziert bin, denke ich: was hätte ich in den letzten Jahren nicht alles an Zusatzqualifikationen machen können. Die Yoga-Ausbildung natürlich, die Schriftsteller-Ausbildung, den Resilienz-Trainer. Oder das Theaterwissenschaftsstudium, das Praktikum in der Näherei der Oper, die Assistenz in der Dramaturgie (gut, da bin ich nicht genommen worden, aber eventuell ist auch meine Bewerbung nicht angekommen, unklar, es hat niemand geforscht). Aber auch Fortbildungen im Ernährungsbereich, einen Trainer-Schein (als ich noch im Fitnessstudio war), vielleicht einfach nur eine Therapie? 

In den Blog-Import-Beiträgen eine Selbstbeschreibung von 2010 gefunden und erschrocken darüber, wie wenig ich mich doch verändert habe. Und dann aber gleichzeitig auch wieder überrascht, wie wenig ich noch diesem Menschen gleiche. 

Ist also nicht so, dass sich nichts geändert hätte. Dass ich mich nicht geändert, weiterentwickelt, fortgebildet hätte von dem Menschen, der ich damals war. Immerhin liegen da ein Dutzend Theaterstücke und einiges an bezahlter und ehrenamtlicher Arbeit dazwischen, natürlich auch Autorentätigkeit, Autodidaktik und Selbstanalyse (mitunter sogar Selbsterkenntnis). 

Und klar, ich hätte natürlich auch mehr machen können, mehr rausholen können aus meiner (Frei-)Zeit, weniger prokrastinieren in der Hoffnung, dass doch endlich der Tag vorbeigehen möge; und mehr Arbeit, egal, wie unglücklich sie mich gemacht hätte, weil der Mensch doch eine Aufgabe braucht, um nicht dauernd nur ans Aufgeben denken zu müssen. 

Aber ich habe ja auch beim Prokrastinieren gelernt, es ist ja nicht alles spurlos vorbeigegangen. Klar, mein popkulturelles Wissen ist nicht halb so beeindruckend wie meine Kenntnis mesopotamischer Geschichte (obwohl das Menschen auf Partys überraschend oft anders sehen). Und auch klar: die Theorie zu kennen, wie man Dinge erledigt, bedeutet noch lange nicht, dass irgendwelche Dinge tatsächlich erledigt werden. 

Aber Fakt ist ja, dass alles, was uns geschieht oder wir mit uns geschehen lassen, Spuren auf und in uns hinterlässt, uns formt und verändert und wir also - egal was wir tun oder lassen - nicht mehr die selben Menschen sind. Und wenn ich schon nicht zweimal durch den selben Fluss gehen kann (oder Bach; ich glaube nicht, dass ich durch einen Fluss gehen könnte, ohne davongespült zu werden), dann kann ich mir ja auch Zeit lassen. 

Natürlich werde ich mir auf dem Sterbebett nicht wünschen, noch ein Youtube-Video über Permakultur gesehen zu haben. Aber ich werde mir auch ganz sicher nicht wünschen, länger Käse verkauft zu haben. 

Eingangs schrieb ich (sinngemäß), ich jagte einer Welt nach, die mir verloren ist. Tatsache ist: es gab diese Welt nie. Die Erinnerungen, die ich aus meiner Kindheit, Jugend und auch meiner jungen Erwachsenenzeit habe: sie geben nicht die Realität wieder. In den späteren Jahren vielleicht noch am ehesten; aber selbst wenn ich mir Fotos aus den frühen 1980ern anschaue, wo ich in lustigen Stramplern oder Latzhosen durch die Gegend wackle, ist da zwar eine vergangene Version von mir abgebildet, aber ich weiß doch dadurch noch lange nicht, was in dieser Zeit war. 

Ich hätte damals beim Beerdigungsgottesdienst meines Großvaters schon stutzen können, als der Pastor sagte, der Verstorbene sei ein gottesfürchtiger Mann gewesen. Mein Opa - gottesfürchtig? Nicht, dass ich schockiert gewesen wäre, mir war bloß bis zu diesem Moment der Gedanke nicht gekommen, jemand könne ihn anders sehen als ich ihn sah. 

Mittlerweile weiß ich natürlich, dass die Menschen von außen und von innen anders aussehen - im wörtlichen und vor allem übertragenen Sinn. Damals aber erschien mir das seltsam inkongruent, wie eine Lüge, nur dass mir nicht klar war, wer da wen angelogen hatte und ob es tatsächlich Geschädigte gab. 

Zumal es ja eben die Welt, wie wir sie uns vorstellen, gar nicht gibt. 

Woran also will ich anknüpfen, wenn ich hier in der neuen Stadt nach Vertrautem suche und Möglichkeiten, mich zu orientieren? Was glaube ich zu gewinnen, wenn ich meine alten Blogs in das (nicht mehr ganz) neue stopfe?
Will ich mich konsolidieren, identifizieren, definieren? Oder will ich ganz im Gegenteil all die Unterschiede erkennen und mich anhand der Differenzen selbst erkennen wie einen Schattenriss? 

Vielleicht hoffe ich, durch die Sichtbarmachung des Korsetts, das meine Identität hält, mir selbst eine Möglichkeit zu geben, eben dieses Korsett auch aufzubrechen, mich wirklich von den Stricken der Vergangenheit zu befreien und tatsächlich neu anfangen zu können. 

Master of None

Usus operi
April 14, 2023

Das Vorstellungsgespräch übrigens: "sehr informativ" (Eigenzitat in der Absage). Augenöffnend die Frage, ob ich mir vorstellen könne, die nächsten zwei Jahre chronisch Kranke zu beraten, wie sie, wenn schon nicht gesund, immerhin weniger belastet leben können. 
Augenöffnend, weil: Nein, kann ich nicht, will ich nicht. Fühle mich weder stark noch qualifiziert genug. Beim imaginierten Gespräch mit ausgedachten Patienten den schlimmsten aller Sätze aus dem Unbewusstsein hochblubbern sehen: "Nun reißen Sie sich doch mal zusammen!"

Schlimm, weil er zeigt, wie ahnungslos ich im Umgang mit solchen Menschen tatsächlich bin. Vor allem, weil ich Ratschläge gäbe, an die ich mich selbst nicht hielte. Ich reiße mich ja auch nicht zusammen. 
Ich mache keinen Sport mehr, gehe nicht mehr zum Yoga. Die 25 Stufen zwischen der zu renovierenden Wohnung und dem Dachboden zählen nicht als Trainingsstrecke, egal wie oft ich sie gehe. Meine derzeitige Ausrede: nach dem Sport muss geduscht werden, das kann ich aber nicht. Könnte ich schon, wir haben eine Komplettdusche mit beboilertem Wassertank; aber der Aufwand! Oder halt Fitnessstudio. Aber ist halt Fitnessstudio. 
Tatsächlich geht es ja eh nicht um Körper-, sondern um Psychohygiene. Zusammenreißen bedeutet ja nicht einfach nur 100 Liegestützen am Tag, und dann ist die Welt gerettet. Zusammenreißen bedeutet:

Nicht auseinanderfallen. 

Manchmal glaube ich, dass Auseinanderfallen tatsächlich ganz hilfreich wäre. Wie bei der Wand zwischen Bad und Küche, bei der es besser gewesen wäre, sie komplett einzureißen und neu und schön und mit Platz für die Installationen wieder aufzumauern. So haben wir ein Flickwerk aus alter und neuer Verrohrung zwischen bröseligen Ziegelsteinen hinter glatter Putzfassade. Auch stabil, aber ich weiß, wie es unter der Oberfläche aussieht. 
Wenn man alles auseinandernimmt, kann man verborgene Altlasten entdecken und Schwachstellen, die stabilisiert werden sollten, bevor man sich neuen Zumutungen aussetzt. "Everything is falling to pieces, so all the pieces can fall into place", habe ich vor zehn Jahren mal in einem Anfall von Webdesign is my passion in eine Grafik gepummelt, und so banal das klingt, und so lahm das aussieht, so wahr ist es doch.

 

Andererseits ein Irrglaube, man könne einfach so Ballast abwerfen und sich neu erfinden. A clean slate, ein Neuanfang. Gibt es nicht, ist nicht drin, die Hardware lässt sich nicht austauschen. Selbst ein neues Betriebssystem müsste ja um unzugängliche Datencluster heruminstalliert werden, weil die sich nicht defragmentieren lassen. Bleibt nur, das Alte mit dem Neuen zu vermählen. Das Beste aus zwei Welten.

Oder eben nur das, was möglich ist. 
Die weitere Stellensuche offenbart vor allem, was nicht möglich ist. Das Vorstellungsgespräch hat mir zwar gezeigt, dass ich mir viel zutraue. Gleichzeitig bin ich überfordert, meine Stärken und Qualifikationen zu identifizieren. Warum gerade ich für diese Stelle geeignet sei, wurde im Gespräch gefragt. Ich konnte schlecht sagen: "Haben Sie denn nicht meinen Lebenslauf gelesen?" Immerhin spiegelten meine Stationen die Anforderungen doch deutlich wieder. Gleichzeitig fiel mir da erst auf, dass das nicht reicht. Ich wusste nicht einmal, ob ich diesen Job überhaupt machen wollte und, wenn ja, warum. 

Die Wahrheit ist: Ich weiß nicht, warum ich im Besonderen für diese oder eine andere Arbeit qualifiziert sein sollte. Ich schrieb mal, ich sei ein Jack of all Trades. Tatsächlich aber hatte ich keine der Stellen in meinem Lebenslauf, weil ich qualifiziert war, sondern weil ich es wollte. Wenn mich etwas angesprochen hat, habe ich es getan. Und selbst bei meinen letzten Job hat sich nur die Geschäftsführung gefragt, ob ich für den Verkauf von Käse im Biomarkt nicht überqualifiziert sei. Ich hatte andere Prioritäten: Brotjob mit Krankenversicherung. Hat dann trotzdem überraschend viel Spaß gemacht. 

Stellenanzeigen lösen aktuell eine unterminierende Dialektik aus: Klar kann ich das, denke ich, aber bin ich dafür qualifiziert? Von wegen Jack of all Trades: Master of None! Durchgemogelt überall, selbst meine Bühnenkarriere verdanke ich keiner entsprechenden Vorbereitung, sondern vermutlich nur meiner verdächtig großen Befähigung zu Lüge und Selbstverleugnung. 

Zusammenreißen ist da nicht.

Was sollte ich auch zusammenreißen? Wie sollte ich einer nicht fixierten Struktur, die dauernd ihre Anforderungen ändert, eine feste Form geben? Ich bin kein fertiges Werk, ich halte immer nur Momentaufnahmen fest. Und weiß gleichzeitig, dass ich mich möglicherweise schon im nächsten Moment in eine komplett andere Richtung entwickle. 
Insofern vielleicht kein Wunder, dass ich mir so vieles für meine Zukunft nicht vorstellen kann, wenn ich schon meine Gegenwart nicht greifen kann. 

Gleichzeitig ist ja meine Vergangenheit auch kein leicht zu überschauender Pfad. Davon abgesehen, dass ich große Teile meiner Erinnerungen als unbrauchbar wegsortiert habe, hatte ich auch nie wirklich feste Bande, innerhalb derer ich mich bewegt habe. Ich habe die Regeln, nach denen ich lebe (und damit mich selbst) immer erst in eben jenem Moment erfunden, in dem ich sie gebraucht habe. Und wenn irgendwas nicht passte, dann passte es halt nicht, und dann passte ich mich eben an. 

Vielleicht ist das eine dieser Stärken, die ich bei Fragen in Vorstellungsgesprächen anbringen sollte: dass ich mich gut anpassen kann, dass ich offen bin für Neues, sei es noch nicht erlerntes Wissen oder unbekannte Situationen. Ich habe eine große Resilienz, könnte ich das beim nächsten Mal sagen, um dann noch hinzuzufügen: Und diese Resilienz kann ich  weitergeben, auch an Menschen, die glauben, mit Zusammenreißen allein sei alles getan. 

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Die Narrative

Von der Front
April 6, 2023

Mit dem deutlich jüngeren Handwerker über die vermeintlich fehlende Frustrationstoleranz nochmal jüngerer Menschen gesprochen. Wir sind als Nichtangehörige dieser Generation beide hochgradig qualifiziert, dieses Thema zu diskutieren, also kommen wir auch schnell wieder vom Thema ab. Er sagt, er sei als Kind dauernd draußen gewesen, habe Baumhäuser gebaut und sei dauernd mit aufgeschürften Knien nach Hause gekommen. Ich kenne das ja bestimmt auch, fügt er hinzu. 

Ich sage: "Jein." Tatsächlich weiß ich, was er meint, gleichzeitig habe ich in meinem Leben nicht ein einziges Baumhaus gebaut, und wenn ich mal blutig nach Hause gekommen bin, dann wegen Fahrradunfällen (ja, mehrere) oder, weil ich mich mit anderen Kindern, die mich mobben wollten, geprügelt habe, weil mir die Lust, den Spott anderer über mich ergehen zu lassen, irgendwann abhanden gekommen war. 

Was ich tatsächlich sage nach meinem Jein ist ein seltsamer Rückfall auf meine Identitätserzählung: ich hätte als Kind zugezogener Eltern wenig Freunde gehabt und also deutlich andere Erfahrungen als er gemacht. Das ist der Beginn meines Standard-Narrativs: ich armes Opfer. Dabei ist das hinsichtlich der Frage, ob oder ob nicht ich mit dem Internet oder sozialen Medien aufgewachsen bin, komplett egal. Und natürlich bin ich nicht mit dem Internet aufgewachsen, das gab es damals ja (fast) noch gar nicht, sondern mit Videospielen und Büchern, die gab es auch damals schon zuhauf.

Was mich irritiert, ist diese Bereitschaft, einem relativen Fremden mein wie auch immer einzustufendes Trauma hinzuwerfen, als hätte es eine definierende Macht über mein damaliges oder heutiges Leben. Als könne ich baumhausbauende Jugendliche nicht nachvollziehen, nur weil ich eher über sie gelesen habe als selbst ein Baumhaus zu bauen.  

Natürlich bricht sich da was ganz anderes Bahn: die latente Neigung zum verfälschten Selbstframing. Einem Narrativ, das mich als irgendwas darstellt, das ich nicht bin; ich weiß nicht mal als was. Während der Bauarbeiten stehe ich immer wieder vor der Frage, was ich den Fremden, die in meiner Wohnung ein- und ausgehen, von mir erzählen will. Bis heute kam das Gespräch nie auf meine Homosexualität. Klar, bei den Vorgesprächen mit den leitenden Handwerkern war mein Mann anwesend; aber die ausführenden Handwerker haben ihn nicht gesehen und selbst mich nur, wenn ich durch die Wohnung geistere auf der Suche nach Fortschritten.

Heute aber hat der Handwerker nicht nur seine Freundin erwähnt und erzählt, dass er sich ein Auto gekauft habe, ich habe im Gegenzug auf seine Frage, ob ich mir freigenommen hätte für die Bauarbeiten, erzählt, dass ich derzeit gar nicht arbeite, sondern nur mein Mann. Sogleich habe ich mich gefragt, ob das wohl ein Fehler war. Was denkt er jetzt von mir, ist ein immer wieder aufpoppender Gedanke. Ohnehin frage ich mich dauernd, ob offensichtlich gleichgeschlechtliche Paare von Handwerkern, die ja in einem eher "traditionellen" Gefüge arbeiten, anders behandelt werden als heterosexuelle Menschen. Dürften sie natürlich nicht, aber wer weiß es schon im Einzelfall?

Ich frage mich: welchem Narrativ hänge ich da nach? Wieso empfinde ich meine Homosexualität immer noch als etwas, das manchmal verschwiegen gehört? Klar: heteronormative Sozialisation. Aber mal ehrlich: wieso hat die immer noch Macht über mich? Warum erkenne ich in der Art, wie ich lebe, einen potentiellen Aufhänger für einen Makel? Wie tief geht die Indoktrination, dass manches ungesagt bleiben sollte? 

Da hilft natürlich nicht, wenn wie derzeit sexuelle und geschlechtliche Identität heiß umkämpft ist. Das Selbstbestimmungsgesetz soll trans-Menschen ein Stück ihrer Würde zurückgeben, die Abendlanduntergangshysteriker hingegen sorgen sich ums vermeintlich gefährdete Kindeswohl und unbeschwerte Sauna-Gänge, als ob demnächst Purge-artige Szenen in Wellnesshotels zu erwarten seien. Auch da drücken sich die alten hässlichen Narrative durch, die alles, was nicht heterosexuell ist, mit Pädokriminalität und Exhibitionismus in einen Topf werfen, weil die "normale" heteronormative Gesellschaft sowas niemals machen würde. Als ob nicht die eigentliche Gefahr für das Kindeswohl von der dezidiert unqueeren Mehrheitsgesellschaft bzw. sich daraus rekrutierenden Einzelvertretern ausginge. 

Die allgemeine Debatte um Gender und Gendern ist auch nur wenig erfreulich. Die in den letzten Tagen kurioseste Meldung: Die Tagesschau beugt sich dem mit dem rechten Kampfbegriff der "Zwangsgebühren" hantierenden bayrischen Ministerpräsidenten, der die geschlechtsneutrale Wortwahl "gebärende Person" als Woke-Wahn bezeichnet. Gleichzeitig keimen mit Just-Gay-Gruppen bigotte LGB-Ableger, die die Rechte homosexueller Männer schützen wollen, indem sie sich nach dem Floriansprinzip vom Kampf anderer queerer Gruppen um Gleichbehandlung distanzieren. Sie fürchten, dass die trans-Bewegung all das riskiert, was die Schwulen sich erkämpft haben (als ob die das alleine erreicht hätten und als ob Hyperkonservative einen Unterschied zwischen schwul, queer oder trans machten, wenn sie sich entscheiden müssten, wessen Rechte sie zuerst abschaffen würden). 

Und natürlich beschränkt sich die Hysterie nicht auf Identitätsfragen. Es ist ja grundsätzlich die Angst des Patriarchats um sich selbst, die jeden Diskurs bis zur Kenntlichkeit aufbläht, um nur kurz danach in einem Shitstorm zu implodieren. Jedes ideologische Schlachtfeld ist ja derzeit durch überdeutliche Demarkationslinien getrennt. Hier die Getreuen, dort der Feind. Grautöne scheint es nicht mehr zu geben, ein Dialog unmöglich. Alle Seiten canceln sich gegenseitig, in all dem Geschrei ist es oft nicht mehr auszumachen, wer eigentlich recht hat (soweit das überhaupt geht), in der Regel gibt es zwar wissenschaftlich argumentierende Expertys, aber die will ja nun gar niemand zu Rate ziehen, sie könnten der allgemeinen Kakophonie ja etwas fundiertes entgegensetzen und damit Weltbilder zum Einstürzen bringen. 

Der Wandel hat aber ohnehin schon begonnen, hat immer schon begonnen, war niemals nicht da, auch wenn sich die Bewahrer des Stillstands noch so sehr an eine verblassende Realität klammern. Die Welt, die es früher gab, gibt es nicht mehr, jetzt ist später, ein anderes Jetzt; und mit den Narrativen des Gestern kommen wir da nicht weiter. Egal wie sehr wir es uns vielleicht wünschen. Und entweder erkennen wir das an und lösen uns von den überlebten Gewissheiten, die wir uns über uns selbst und über die Welt erzählen; oder wir fallen aus der Gegenwart in eine Zeit, die die heutige Jugend nicht mehr versteht und wahrscheinlich auch gar nicht verstehen will, denn die undankbare, gedankenlose Jugend verschwendet ja auch keinen Gedanken daran, wie es den Alten geht. Die interessieren sich nur für den dummen Planeten oder TikTok. Nichts dazwischen. Keine Grautöne, keine Nuancen. Nix als Narrative. 

Ein Baumhaus werde ich auch auf absehbare Zeit nicht bauen. Aber dafür kann ich jetzt Gas- und Heizungsrohre verlegen. 

Die Performanz perfektionierter Produktivität

Von der Front
März 31, 2023

Weil ich scheinbar nichts anderes zu tun habe, als darauf zu warten, dass Dinge in mein Leben treten (auch bekannt als "Prokrastinieren"), habe ich einige Zeit damit verbracht, Videos zur optimalen Produktivitätssteigerung anzuschauen. Davon gibt es viele, es gibt bei Youtube einen Haufen Menschen, die sich mit der Thematik auseinandersetzen. Derzeit scheint Notion der heiße Scheiß zu sein, danach kommen wohl Obsidian und OneNote, demnächst wird wahrscheinlich Loop nicht nur als Teamworking-Tool die Runde machen, sondern aufgrund seiner maximalen Synchronisierungsfähigkeit in der Microsoft-Umgebung auch als Selbstorganisations- und Produktivitätswerkzeug entdeckt werden. Manche mögen es auch weniger digital, da sind es dann ToDo-Listen, oft in Kombination mit Pomodoros oder Atomic Habits oder die SuperBuch-Methode oder gleich ein Bullet Journal (mein Langzeitfavorit; vielleicht zeige ich das mal). Das ist natürlich nur eine Auswahl. Es gibt Dutzende weitere Systeme, das sind nur die, die mir ohne weitere Recherche eingefallen sind. Immerhin geht es hier nicht um das optimale System zur Selbstoptimierung, sondern darum, wie falsch das alles ist.

Es geht nämlich nicht um Selbstoptimierung, sondern darum, einen Sinn im Leben zu finden.

Und ja, das kann man auch kleiner aufhängen: es geht darum, dass wir das, was wir tun, nicht nur tun, damit wir etwas tun. Sondern dass es aus einem ganz bestimmten Grund getan wird: dass wir zufrieden sind. 
Gelernt haben wir das nicht, im Gegenteil. Selbst das spielerische Lernen im Kindergarten und der Grundschule, später das Leistungsnoten-Prinzip auf weiterführenden Schulen, Zeugnisse im Beruf - es führt dazu, dass der Sinn der Arbeit nicht gesucht wird, sondern nur das Erledigen der Arbeit. Gerade in nicht systemrelevanten Berufen geht es mehr um das Füllen und Arbarbeiten einer To-Do-Liste als darum, Wert zu schaffen, das Leben zu verbessern, die Gesellschaft zu einen. Das Ziel ist das Schaffen eines abstrakten Wertes: Erledigung. 

Nun ist das relativ albern und wenig erfüllend und darum sucht man sich einen anderen Zweck: die maximale Produktivität bzw. die Erreichung derselben durch ein möglichst optimiertes Produktivitätserreichungssystem. Beispiel: Bullet Journal. 
Ein sehr gutes System, um einen Kalender mit einer To-Do-Liste und einem Ort für kurze Reflexion zu schaffen. Analog, weil das beim Denken hilft, und ohne vorgegebenes Raster, weil das die Kreativität und auch die Freude fördert (und damit dem Ziel der Sinnfindung zumindest ein bisschen näher kommt).
Weil aber viele Menschen weniger Aufgaben als Zeit haben, wird das Bullet Journal selbst zur Aufgabe, es wird verschönert, gemalt, Sticker werden eingeklebt, inspirierende Zitate werden ausgesucht und liebevoll eingerahmt, es hat sich ein Markt für BuJo-Sticker, Monatstemplates und Washi-Tape-Dispenser gebildet. Es gibt Menschen, deren ganze Produktivität in die Ausgestaltung eines Werkzeugs zur Steigerung ihrer Produktivität fließt.  

Grundsätzlich ist das nicht unbedingt als schlecht zu bewerten, es ist schön für diese Menschen, dass sie diese Arbeit für sich als sinnvoll empfinden. Doch in Relation zum Großen Ganzen, also Klimawandel, Krieg, Pandemie etc. ist es doch relativ sinnentleert, das perfekte Coverbild für den nächsten Monat auszusuchen. 
Natürlich: Whatever gets you through the day. Auch das hat die Pandemie ja gezeigt: wir alle sind ja nicht nur mit den besten Coping-Mechanismen ausgestattet; und ein kurzer Besuch bei twitter zeigt, wie kurz die Zündschnur bei manchen Menschen ist: sie kontern selbst leichte Nachfragen gleich mit unterirdischen Beleidigungen. Sie wollen verstören, verletzen, vernichten; alles nur, um davon abzulenken, wie leer sie sind. 

Nicht, dass ein BuJo sie retten würde, aber vielleicht wäre das der geeignete Weg, sonst sinnlos in Hass kanalisierte Energie wenigstens schadlos umzuwidmen. Lieber einen weiteren Monatsspread in der Welt als transphobe Mord-Drohungen in einem vermeintlich sozialen Netzwerk. 
Natürlich ist meine Vermutung, dass der Hass genauso wie der Drang zum Perfektionismus auf das selbe Ungleichgewicht in der Welt zurückzuführen sind, wagemutig, um nicht zu sagen: aus der Luft gegriffen. Andererseits: was wir beobachten können ist eine zunehmende Sinnentleerung der Dinge, während gleichzeitig rudimentäre Bedürfnisse unerfüllt bleiben. Wir suchen nach der besten Morgenroutine (inklusive Meditation und Kaffeeritual), weil wir vor allem die Zeit haben für ein Morgenritual. Wir sammeln Statussymbole: Autos, Uhren, Schuhe, Markenklamotten, Smartphones, Snapchatfilter, drei Urlaube im Jahr, Füllhalter mit extra feiner Goldfeder und ein dotted-Notizbuch mit extra faserarmem Non-Bleed-Papier für das allerbeste Schreiberlebnis, Regenduschen, eine Kaffeestation in einem Ausziehregal in einem Wohnzimmerschrank mit Anti-Fingerprint-Mattlack, die PlayStation 5. Doch: wofür?

Es gibt Familien, auch in Deutschland, da teilen sich fünf Menschen 50 m². Es gibt in diesem angeblich so technikaffinen Land Familien ohne Computer, Internetanschluss, Handy. Was ja beim flächendeckend gedachten Heim-Unterricht während der Pandemie die bildungssoziale Schere noch ein wenig weiter geöffnet hat. Es gibt Kinder, die sich kein Mittagessen leisten können. Es gibt Menschen, die können nur davon träumen, jemals etwas zu besitzen, was als Statussymbol durchgehen könnte. Wobei auch sie sich vielleicht fragen: wofür?

Um die Leere zu füllen, die innere Verwahrlosung, das Verlorensein in der Welt. Um dazuzugehören zum Club derjenigen, die sich Dinge leisten, und seien diese Dinge noch so sinnbefreit. Um zu zeigen: ich habe etwas geleistet, habe etwas erreicht, habe es mir verdient. 
Sind diese Menschen geliebter? Sind sie glücklicher? Sind sie bessere Menschen? Leben sie bessere Leben? Retten sie die Welt? Sind ihre Bedürfnisse durch Symbole gedeckt? 
Natürlich nicht. Sie haben nur etwas gefunden, um die Leere zu überdecken, zu verstecken, zu vergessen. Die Leere aber bleibt: ein starrender Abgrund der Seele, ein Loch in der Welt. 

Vielleicht, wenn meine nächsten Weeklies besonders schön ausfallen, wenn ich lerne, Linien auch ohne Lineal gerade zu ziehen, wenn ich es schaffe, sowohl meinen Habittracker als auch meine Moodblume jeden Tag auszumalen, wenn ich beim Hinkalligrafieren der Wochentage nicht kleckse, vielleicht hat dann das Leben einen Sinn. Vielleicht ist es dann all den Ärger wert, den ich mir selbst mache, wenn ich meinem Perfektionismus nicht genüge. Wenn ich nur einmal einen einzigen Monat lang alles gut gemacht und endlich etwas vorzeigbares geschaffen habe, dann ist vielleicht das Leben nicht sinnlos gewesen. Wenn ich nur in meiner egozentrischen BuJo-Malerei ein Mal nicht versagt habe, dann habe ich vielleicht als Mensch nicht versagt. 

Falsch.

Es geht doch beim Menschsein nicht um Perfektion, nicht um Performanz, nicht um Produktivität. Es geht einzig und allein um Purpose, um Zweck, um Sinn. Es geht darum, sich mit anderen Menschen zu verbinden und etwas größeres zu schaffen als das, was wir alleine ohnehin nicht erreichen können. Es geht darum, nicht alleine zu sein mit unseren Ängsten, Sorgen, Nöten, Hoffnungen, Wünschen und Träumen. Es geht darum, dass wir nur dann Menschen sein können, wenn wir Mitmenschen haben.

Da nützt auch alle perfektionierte Produktivitätsperformanz nicht; im Gegenteil: die ganzen BuJo-Showoffs, die Desktop-Setup-Gurus, die Morgenroutine-Influencys: sie grenzen sich ab, wollen zwar vielleicht Teil einer Community sein, aber möglichst ihrer eigenen, wollen keine Peers, sondern Followys. Das Zeigen ihrer Produktivität ist weniger Passion als Posen. Schaut her, eifert mir nach, lebt nach meinem leuchtenden Vorbild. 

Was also tun? Wahrscheinlich das Übliche: Besinnung, Reflexion, Zurückhaltung und die ewig harte Übung, andere Menschen nicht nur als Arschlöcher, sondern als fehlbare Wesen zu sehen. Sie als potentielle Bereicherung zu begreifen, als Teile unseres Lebens. Denn ist es nun mal, ob wir es wollen oder nicht: wir stehen alle miteinander in Verbindung, teilen die gleiche DNA, das gleiche Biotop. Wir leben auf einem endlichen Planeten und können uns nicht entkommen. Da hilft es also nur, Kontakt zueinander zu finden und anzuerkennen, dass wir alle dieses Loch in uns fühlen, das uns nach einem Sinn im Leben suchen lässt. Wir teilen einen gemeinsamen Schmerz; und nur gemeinsam können wir ihn, wenn schon nicht überwinden, dann doch erträglicher machen. 

Das wilde Herz

Von der Front
März 27, 2023

Eigentlich will ich nur den ganzen Tag in der frisch aufgeräumten Dachbodenkammer zu Wild Heart von CATT tanzen. Vor allem, wenn die Synthie-Trompeten einsetzen gegen Ende, da läuft mir die Musik gänsehautig über den ganzen Körper; mit geschlossenen Augen und rhythmisch sich hebenden Armen will ich mich in der freigelegten Raummitte drehen, in jeder Runde mal einen Blick aus dem Fenster auf das aprilige Spätmärzwetter werfend, das mal Schnee, mal Regen, mal Sonnenschein, mal alles gleichzeitig bietet und manchmal einfach nur das Dunkel eines mitten in der Stadt unerwartet unbeleuchteten Hinterhofes. 

Eigentlich.

Uneigentlich gibt es Dinge zu tun. Nicht nachts um halb elf oder gegen Mitternacht, aber tagsüber. Morgens wollen die Handwerker ins Haus gelassen und begrüßt werden; obwohl sie wahrscheinlich wissen, was sie zu tun haben, habe ich doch das Gefühl, dass ich ihnen hilfreich zur Seite stehen muss, sollte es doch mal bauherrliche Entscheidungen zu fällen geben. Weitere Räume im Dachboden wollen auf- und vor allem ausgeräumt werden; klar, ich kann nur umschichten, die Handwerker sind im Haus, ich kann nicht wirklich weg, Sperrmüll entsorgen oder die abgezogenen Tapeten aus acht Räumen (inklusive Küche, Bad, Toilette, Flur) zur Müllverbrennung fahren. Und irgendwann sind auch hier oben alle Böden gewischt.

Also doch Computerarbeit: die Cloud ausmisten, doppelte und dreifache Daten aus unprofessionell durchgeführten Datensicherungen zusammenführen, Redundanzen ausmisten. Alte, ältere und uralte Blogbeiträge ins aktuelle Blog importieren (und sich nebenbei über das Geschriebene und schon wieder Vergessene wundern, manchmal auch darüber lachen). Vor allem Merkwürdigkeiten löschen: PDFs, die vielleicht mal hätten wichtig sein können, unbeabsichtigte Screenshots, auf Verdacht installierte, aber komplett ungenutzte Software (offensichtlich wollte ich auch mal Musik komponieren). Zwischendurch eine Bewerbung für eine komplett unerwartete Stellenausschreibung verfassen, weil das gesuchte Profil zu sehr meinem Lebenslauf ähnelt, als dass ich an meinem Vorsatz hätte festhalten können, mich erst um eine Arbeitsstelle zu bemühen, wenn ich tatsächlich hier wohne.

Natürlich auch viele Videos gucken, nicht unbedingt Musik (aber auch), sondern eher zu Gartengestaltung, Home-Office-Einrichtung, sogar Videos zu Waschtischarmaturen gibt es. Natürlich auch Booktube, Zelda-Hype, ASOIAF-Theorien und andere Popkultur. Ich habe so viele Interessen, zu viel, das mein Kurzschlussgehirn befeuern kann, meine Konzentration flackert schneller als ein Stroboskop. Ich lenke mich schon wieder ab, lenke mich dauernd ab, auch wenn das mitunter nur mit einem Buffy-Podcast ist, was das Aufräumen des Dachbodens sehr erleichtert, weil ich nicht dauernd alles hinterfrage, was ich in die Hand nehme, aber so richtig voran komme ich damit auch nicht. Sowohl die Podcasts als auch der aufgeräumte Dachboden sind nur temporary fixes, weder fange ich was mit dem Gehörten an, noch will ich hier oben wohnen; ansonsten könnten wir uns die Handwerkerorgie im zweiten Stock schenken. 

Andererseits.

Die Ablenkung scheint mir wichtig. Hätte ich sie nicht, ich müsste nachdenken. Ausnahmsweise nicht über mich selbst, die Selbstreflexion erschöpft sich momentan arg. Ich bin zu sehr zerstreut zwischen Orten und Zeiten, als dass ich mich um meine Befindlichkeiten kümmern könnte oder wollte. Später, wenn die Offensichtlichkeiten abgearbeitet sind: das Vorstellungsgespräch, das Bad, die Küche, die Fenster, der Garten. Die Farbe und Einrichtung des Arbeitszimmers. Der Abschied von der alten Wohnung, der alten Stadt und - viel dramatischer - von den alten Freunden. Die Wochen hier haben mir gezeigt, dass es mir im Zweifelsfall leicht fällt, Brücken abzubrechen. Oder, zutreffender, sie dem Verfall preiszugeben. Jedes Gespräch mit den Menschen in Bad Nauheim fühlt sich jetzt schon nach Abschied an, jedes "Bis zum nächsten Mal" kann sich auf April, Mai, Weihnachten oder 2024 beziehen. 

Viel schlimmer als das Mikrodrama des Abschieds von eigenen Gewissheiten ist aber das Wegbrechen der restlichen Normalität. Und ja, ich muss den eigentlich unweigerlichen Zusatz dazuschreiben: Was auch immer das sein soll. Normalität ist ein soziales Konstrukt, Kontrolle ist Illusion, die Wirklichkeit ein höchst subjektiver Zustand. Ich habe einen Blogbeitrag vor Jahren zur Wahrnehmung geschrieben, falls ich ihn beim weiteren Importieren wiederfinde, verlinke ich ihn hier. Über vermeintliche Kontrolle habe ich vielleicht im Rahmen der nur oberflächlich behandelten Pandemie geschrieben, ich erinnere mich schon nicht mal mehr, ob ich wirklich etwas über Corona geschrieben habe oder nicht. Vielleicht hatte ich da von Anfang an die gleiche Fatigue, die auch die Pandemie-Überlebenden von 1918 erfüllte, weswegen wir kaum Quellen von damals haben. Und Normalität ... Pft. 

Tatsächlich gibt es zu viel, worüber ich schreiben wollte, wenn ich mich nicht nur mit mir beschäftigen wollte. Der Krieg gegen die Ukraine, die Menschenrechtsverbrechen im Iran, das Abdriften Israels in den Faschismus, den irrlichternden Lobby-Konservatismus in den Vereinigten Staaten, der Drag und Abtreibungen verbietet, Waffengesetze und menschenfeindliche Strukturen aber unangetastet lässt. Und über allem der Klimawandel, der sich nicht übersehen, nicht wegdeuten, nicht mehr aufhalten lässt, auch wenn manche Menschen das nicht wahrhaben und wieder andere entweder gar keine oder nur die offensichtlich falschen Antworten darauf haben. Ach so, außerdem war heute Großstreik, weil die Inflation schneller die Gehälter von Durchschnittsverdienern auffrisst als sie erhöht wurden, während Gutverdienende immer häufiger zu Noch-besser-Verdienenden wurden. Von Menschen, die schon vor den aktuell über ein Dutzend Krisen kurz vor oder schon in Armut lebten, mal ganz zu schweigen. Erwähnte ich schon strukturellen Rassismus?  

Immerhin muss ich mich nicht auch noch um Fußball kümmern. 

2023 fühlt sich derweil an wie eine einzige Baustelle; und das mag durchaus an meiner sehr offensichtlichen Baustelle im zweiten Obergeschoss liegen. Tatsächlich aber fühlt sich die Welt im Allgemeinen so an, als sei zu viel auf einmal ins Rutschen gekommen, einiges durch Zufall, anderes durch Agitation, manches hat sich angekündigt, vieles scheint aus heiterem Himmel über uns hereingebrochen.

Und vielleicht ist das mit der Baustelle ja auch gar keine falsche Wahrnehmung: wir erleben einen Moment in der Erinnerung der Menschheit, der wie keiner vorher so vielen Menschen so präsent war. Wir sind in der Wahrnehmung der Welt bis ins Walz- und Walzenwerk der Geschichte vorgedrungen: vor unseren Augen legen sich die Ereignisse wie Lettern auf die Buchseiten der Ewigkeit, angetrieben vom unaufhörlichen Vergehen der Zeit presst sich die Zukunft auf dem Tiegel der Gegenwart in Vergangenheitssubstrat. Wir sehen direkt zu, wir sind so nah dran wie nie zuvor. Die Geschichte wird nicht mehr von den Nachkommenden, nicht von Historikern geschrieben: wir alle machen sie, und wie bei der Herstellung von Wurst sind wir nicht nur begeistert über die Art und Weise, wie das passiert. 

Dass das überfordernd ist, verwundert nicht. Dass sich Menschen in Ablenkungen flüchten, in die scheinbare Sicherheit sozialer Blasen zurückziehen, in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit schnell konfrontativ, mitunter sogar beleidigend werden, vielleicht in ihrer Hilflosigkeit und Panik rasch an die Grenze zur Gewalt (oder darüber hinaus) geraten; das ist nicht abwegig. Und doch nicht akzeptabel. Weder aus dem sehr offensichtlichen Grund, dass die eigene Überforderung mit der Gegenwart nicht zur Gefahr für die Zukunft anderer werden darf; noch aus dem viel dringlicheren Grund, dass wir alle miteinander am selben Strang ziehen sollten. Die Probleme, deren Eskalation wir gerade mit offenen Augen und Mündern beiwohnen, sprachlos, tatenlos, ahnungslos; wir können sie nicht alleine lösen, ja selbst als Gemeinschaften, als Städte, als Bundesländer, als Einzelstaaten sind wir nicht in der Lage, die eruptiv ausfransende Zukunft wieder zu zähmen. Es braucht uns alle. 

Ich habe übrigens keine Antwort auf das Dilemma. Ich will ja auch nur am liebsten den ganzen Tag Musik hören, die Augen geschlossen, die Arme gehoben, will tanzen und nicht auf das Chaos da draußen achten müssen, doch mein Herz, mein wildes, mein wütendes, mein weinendes, mein fürchterlich hoffnungsvolles Herz will glauben, dass wir das Ruder doch noch mal herumreißen können, nur dieses eine Mal, ein vielleicht letztes Mal noch, danach kommt hoffentlich und endlich die Zeit, in der alle Probleme gelöst sind und vielleicht doch noch Weltfrieden kommt. 

Dass das gleichermaßen naiv wie rahmschnitzelig klingt, ist mir bewusst. An das Gute im Menschen zu glauben angesichts der täglich empfangbaren schlechten Nachrichten von den Dingen, die sich die eben doch nicht so guten Menschen gegenseitig antun, ist eine ganz eigene Herkulesaufgabe. Aber es ist das Mindeste, was ich tun kann; denn das empathische Mitfühlen mit den anderen, das Erkennen, dass andere Menschen eigene Sorgen und Nöte und Hoffnungen haben und mitunter sogar eine eigene, vielleicht nicht immer hochkompatible Persönlichkeit besitzen; das Akzeptieren also, dass andere Menschen eben auch nur Menschen sind und dass in allen von uns ein wildes Herz schlägt, ist doch der erste, unabdingbare Schritt auf dem Weg in eine bessere gemeinsame Zukunft. 

Morgen

Pöm
Januar 12, 2023

dem Tag
entgegen
sammeln sich
(unsichtbar)
Krähen am Fluss
(ihr Lied dein Leid)

in Morgenrot
gerinnt eine Ahnung
zu deiner
Heimat

blinzle nicht
(nach ermüdeter Nacht)
die Sonne geht
(endlich)
auf

How to drown

Von der Front
Januar 4, 2023

"So tun als ob", schrieb ich im Juli 2021, sei ja wohl nicht nur das einfachste, sondern vor allem das einzig richtige in einer Situation, in der das Sich-Zurecht-Finden mal echt nicht mehr funktioniert, weil der Kompass - und sei es aus Versehen - entnordet ist. Alles sei einfach, schrieb ich, wenn ich nur wirklich wollte.

Pfft.

"Fake it 'til you make it" ist ja wohl die bescheuertste Selbstlüge, die ich mir in den letzten Jahren erzählt habe. Ich springe ja auch nicht ins Meer, wenn ich zwar nicht schwimmen kann, aber plane, so zu tun, als wüsste ich es. Sich bewusst selbst zu überschätzen, ist eine der einfachsten Möglichkeiten, sich ins Unglück zu stürzen. 

Ich habe 2022 ein mir fremdes Leben simuliert, in Mustern gelebt, die mir nicht unbekannt, aber auch nicht eigen waren. Zwar hatte ich mit Urlauben, Theaterprojekten und Schreibwettbewerbe ein paar Bojen, die mich durch das Jahr gelotst haben, dazwischen lagen aber weite Meilen voller Nichts.

Diese seelische Leere hatte ich für 2020 erwartet, doch im ersten Corona-Jahr konnte ich noch von vorigen Reserven zehren. Die Daueranwesenheit meines Mannes gab meinem Tag Struktur, über die Vereine hatte ich Aufgaben, Digitalyoga hielt mich flexibel, und irgendwie war die Pandemie trotz allen Horrors ja auch aufregend. 

Im zweiten Corona-Jahr pendelten die Welt und ich uns ein in der allgemeinen Überforderung. Ich verließ ich meine Vereinsvorstände, mein Mann kehrte zurück ins Büro, und statt Yoga zu machen starrte ich jetzt immer häufiger vom Fenster aus auf Menschen, die komplett rationalitätsentkoppelt durch die Straßen marschierten. 

Mit leichter Restüberforderung bin ich dann ins dritte Jahr der Pandemie gestolpert. Aus Gesprächen mit anderen weiß ich (mittlerweile), dass es nicht nur für mich ein fragmentiertes Jahr war. Noch dazu war ich so viel weg wie seit Jahren nicht, und wenn ich mal daheim war, war ich doch nicht mehr daheim

Nach außen habe ich so getan, als sei alles in Ordnung, während in mir alles verfiel. Ich war desorientiert in meinem eigenen Leben und unfähig, die offensichtlichen Baustellen wirklich anzugehen. Stattdessen habe ich mir Youtube-Videos reingezogen, Netflix-Serien, Pornographie oder Soziale-Medien-Müll. 

Ich habe - offensichtlich - versucht, mich in einem Meer aus Nichtigkeiten zu ersäufen. Ich wollte - so meine Vermutung - einfach etwas fühlen, irgendwas. Oder - so meine Befürchtung - ich wollte nur nicht mich fühlen. Dann doch lieber einen sechsstündigen Verriss von Dr. Strange in the Multiverse of Madness gucken.

Hauptsache nicht denken. 

Denkvermeidung funktioniert leider nur an der Oberfläche. Das Gehirn arbeitet ja auch unbemerkt, es vermisst dauernd die Welt und rekalibriert unsere Erwartungen mit unserer Wahrnehmung. Und wenn der Tauchgang erst begonnen hat, geht es so lange abwärts, bis man ganz unten ankommt.

Gesunkene Erwartungen schwächen nämlich auch die Notwendigkeit ab, den kümmerlichen Status Quo zu ändern. Wer nichts erwartet, ist zwar schätzungsweise auch mit nichts zufrieden, wird aber auch nichts investieren, denn es gibt ja auch nichts zu gewinnen. Und irgendwann ist dann auch das Selbstwertgefühl ersoffen. 

Wenn man überhaupt noch fühlt. 

2022 sind einige Menschen in meinem Verwandten- und Bekanntenkreis gestorben, nicht an Covid, sondern an üblichen, nicht weniger einschneidenden Todesursachen. Aber entweder hat die Pandemie meine grundsätzliche Reaktionsfähigkeit auf das Sterben anderer Menschen eingeschränkt oder ich bin einfach kaputt gegangen. 

Mir ist das erst retrospektiv aufgefallen, als ich anlässlich des Jahreswechsels meine Tagebucheinträge des letzten Jahres durchgegangen bin. Wie häufig ich da aufgeschrieben habe, den ganzen Tag mit nichts als Videos zugebracht zu haben. Und wie beiläufig ich anlässlich eines Todesfall geschrieben habe: "Fühle nichts dazu."

Ich weiß nicht, wie das von außen ausgesehen hat. Eine Freundin hat vor ein paar Tagen zu mir gesagt, wenngleich im Kontext des angekündigten Umzugs, sie habe durchaus gemerkt, wie ich mich im letzten Jahr entfernt hätte, nicht nur von ihr, sondern auch von gemeinsamen Freunden und Bekannten. 

Wenn ich die Wahl hatte, habe ich lieber Unpässlichkeit vorgeschützt als mich in eine soziale Interaktion zu begeben. Mir waren selbst mir liebe Menschen lästig geworden. Als der Mann mal für eine Woche weg war, ist mir erst nach einigen Tagen aufgefallen, dass ich seit seiner Abreise mit niemandem mehr gesprochen hatte. 

So kann es nicht weitergehen, denke ich mir und frage mich gleichzeitig: was also tun? Partiell hat sich die Frage schon unbeabsichtigt beantwortet, weil der Mann und ich ja in eine andere Stadt ziehen. Meine Muster aus dem letzten Jahr werde ich dort so nicht aufrechterhalten können.

Gleichzeitig droht mir eine noch stärkere Verwahrlosung, weil ich da noch weniger mit Menschen zu tun haben muss als hier. Um mich irgendwie einzugewöhnen, Kontakte zu knüpfen, ein neues soziales Netz zu weben, werde ich wohl wieder arbeiten gehen, in Vereine eintreten, das Naheliegende eben. 

Ich muss aber meine Tage grundsätzlich neu strukturieren und ausrichten: Ich brauche eigene Projekte, Dinge, an denen mein Herz hängt, und die mich auch dann an die Oberfläche ziehen, wenn mir die Kraft zum Gerade-so-über-Wasser-Halten auszugehen droht. Eine Rettungsweste gegen den Ruf der Tiefe. 

"So tun als ob" ist nämlich nicht die Lösung auf die Frage, wie man mit selbsterschütternden Krisen umgeht. Es kann nicht darum gehen, sich und anderen etwas vorzumachen in der Hoffnung, niemand und vor allem man selbst würde nicht erkennen, wie ernst die Lage ist. "So tun als ob" ist nicht die Lösung, sondern: Tun.

Drachentod

Textualitäten
Dezember 22, 2022

Kaum hatte Ulvar den Drachen erblickt, stürmte er auch schon los. Seine Rüstung, ein über Jahrhunderte weitergegebenes Erbe des Königshauses, spiegelte das Grün der Lichtung, das Braun der Bäume, die Flammen in den Kronen und den Qualm in der Luft. In der Rechten führte Ulvar Weißdorn, die Palladiumklinge seiner Vorväter, ein Langschwert, das normal gebaute Männer vielleicht gerade so mit zwei Händen führen könnten, und in der Linken den Spiegelschild, den der Legende nach niemand geringerer als Nothor Basiliskentöter gefertigt und getragen hatte, als er mit dem Sieg über den letzten Schlangenkönig den Grundstein für sein Königtum legte.

Ulvar rannte zwischen den Klauen seines Gegners hindurch, wich einem Schwanzschlag aus, einem zweiten und dritten und sprang dann - ohne dabei langsamer zu werden - auf Schwarzfeuers Rücken. Pfirsichblüte hatte Ulvar geraten, nach der verletzlichen Stelle direkt am Schädelansatz des Drachen zu suchen: ein gezielter Stich, und der Kampf wäre im Nu vorbei.

Und tatsächlich schien Ulvar an seinem Ziel angekommen: zwischen den wild schlagenden Flügeln des Drachens sein Gleichgewicht haltend lupfte er das Schwert kurz an, griff um, drehte Weißdorn mit dem Heft gen Himmel und hieb die Spitze zwischen die Schuppen.

Über Schwarzfeuers Gebrüll meinte Pfirsichblüte ein leises Ploing zu hören, als sich die Klinge leicht bog und dann aus Ulvars Griff seitlich ins Gebüsch sprang; er merkte sich die Stelle, um später dort zu suchen, wandte sich dann aber rasch wieder dem Kampf zu. Ulvar hatte den Schild fallen gelassen, um sich mit der Linken auf dem Rücken des bockenden Drachen festzuhalten. In der Rechten hielt Ulvar jetzt ein weiteres Schwert, kürzer als Weißdorn und für den Hünen sicherlich das Äquivalent eines Apfelmessers, für normalgroße Menschen aber immer noch eine Waffe beachtlicher Größe. Das musste Blauzahn sein, die Zweitklinge des Königshauses, älter noch als Weißdorn, übernommen von den exilierten Nachkommen der vorigen Dynastie. Pfirsichblüte hatte einmal gewusst, in welcher Generation die beiden Häuser sich vereinigt hatten, für jetzt schob er den Gedanken aber beiseite. Wenn das Schwert wirklich Blauzahn war, musste der Knauf versehen worden sein mit einem Saphir in der Größe von Pfirsichblütes Hand. Unfassbar, mit welchem Arsenal Prinz Ulvar gekommen war, um Schwarzfeuer, den letzten Drachen der südlichen Ebene zu besiegen und damit den Königsfrieden auch über die Verfluchten Lande hinaus auszudehnen.

Ulvar hieb Blauzahn nun mit beiden Händen auf Schwarzfeuers Rücken, doch die Schuppen wollten nicht brechen. Der Drache wand und bog sich, brüllte und schrie, schlug mit den Flügeln, spie Feuer in die Luft und schien seinerseits nicht in der Lage, den Recken abzuschütteln. Und dann ging ein Ruck durch Schwarzfeuers Leib, eine Welle beginnend vom Schwanz über den unteren Rücken bis zum Nacken. Die Flügel erschlafften und schlugen zu Boden, den Kopf reckte Schwarzfeuer ein letztes Mal in den Himmel, die Augen rollten zurück, eine Wolke aus Dampf entstieg noch seinen Nüstern, dann fiel auch der Schädel auf die Erde: ein Schlag, den auch Pfirsichblüte in seiner sicheren Entfernung noch spürte. Und Ulvar richtete sich langsam auf, fast ungläubig, doch noch den Drachen besiegt zu haben, an dem schon so viele Helden vor ihm gescheitert waren. In einer - wie Pfirsichblüte fand - lächerlichen Geste stand Ulvar auf, streckte seinen ganzen Körper, die Linke seitlich an die Hüfte gesetzt, die Rechte mit Blauzahn in die Luft gereckt und stieß einen Jubelschrei aus.

Dann rollte sich Schwarzfeuer auf den Rücken und begrub Ulvar unter sich.

"Du hast es schon wieder getan." Schwarzfeuer klang entschieden maulig, aber Pfirsichblüte beschloss, diesen Tonfall nicht mit einer schuldhaften Reaktion zu belohnen. Statt dessen sagte er: "Was soll ich getan haben?"

"Du hast schon wieder behauptet, ich hätte eine Schwachstelle am Rücken."

"Vielleicht ist er selbst drauf gekommen." Pfirsichblüte wandte sich wieder dem Gebüsch zu. Irgendwo hier im Unterholz musste Weißdorn gelandet sein, aber es war schon recht dunkel. Pfirsichblüte überlegte, ob er Schwarzfeuer um ein wenig Licht bitten sollte, aber in dieser Stimmung würde er sicherlich den halben Wald abfackeln.

"Pfft."

Pfirsichblüte machte ein Gesicht, von dem er glaubte, es würde ehrliche Betroffenheit ausstrahlen und drehte sich um. "Was heißt denn da Pfft? Ulvar kommt … kam aus einer Familie berühmter Drachentöter, da war bestimmt ein Drache mit schwachem Nacken dabei."

"Schwacher Nacken? Was soll das denn sein? Osteoporose für Saurier?" Schwarzfeuer schnaubte rauchlos. "Jedenfalls habe ich dir gesagt, dass ich das hasse, und dass du das bitte lassen sollst."

"Aber …"

"Nichts aber, Pfirsichblüte." Der Drache schwenkte seinen Kopf ins Unterholz, so dass seine riesigen goldfarbenen Augen Pfirsichblüte direkt anleuchteten. "Erstens laufen die Kämpfe dann immer gleich ab, und das beginnt mich zu langweilen, und zweitens haben meine Schuppen beim letzten Mal noch nach zwei Wochen gejuckt. Such dir wenigstens eine andere" - Schwarzfeuer hob kurz die Vorderklauen und malte mit Zeige- und Mittelkralle Striche in die Luft - "'verwundbare Stelle' aus."

"Wieso jucken die Schuppen? Ich dachte, sie sind unkaputtbar."

"Lass dir mal mit einem Schwert auf den Rücken schlagen und bekomme kein schwaches Schlagtrauma davon. Es sind auch nicht so sehr die Schuppen als die Muskulatur darunter. Und du weißt ganz genau, dass ich mich am Rücken so schlecht selbst kratzen kann."

Pfirsichblüte wandte sich wieder dem Boden zu. Im Umdrehen sagte er: "Wenn du mal endlich deine Mobilitätsübungen machen würdest, die ich dir schon vor Jahren empfohlen habe, wärst du vielleicht etwas flexibler."

"Pfirsichblüte!" Schwarzfeuers Empörung ließ das Licht aus seinen Augen noch heller strahlen.

"Ich mein ja nur. Und jetzt: schau mal bitte auf diesen Strauch, ich glaube da ist … Ha! Gefunden!" Zufrieden hob Pfirsichblüte den Zweihänder aus Palladium aus dem Dreck.

Mut zur Lücke

Von der Front
Dezember 12, 2022

Neulich habe ich mich mit meinem Zahnarzt über Linkshändigkeit unterhalten. Oder anders: während ich dem Krampf im schmerzhaft weit geöffneten Kiefer mit Entspannungsatmung entgegenmeditiert habe, sprach er davon, wie er einerseits davon profitiere, als umgelernter Linkshänder beidhändig behandeln zu können, dass er aber andererseits glaube, seine Eltern und Lehrer hätten ihm damals das Gehirn zerschossen, als sie ihn zum Rechtshänder erzogen haben. Er führte nämlich seine Leseschwäche darauf zurück, dass er nicht nur gleichzeitig habe Lesen und Schreiben, sondern eben auch eine veränderte Handdominanz erlernen müssen.

Ich fand das plausibel, konnte aber nur sagen: "Ghingt ghgigl."

Der Leseschwäche verdanke er einerseits sein fast fotografisches Gedächtnis, andererseits aber auch, weil er nicht schnell lesen könne, eine sehr gründliche Ausbildung. Er habe nicht einfach Dinge überfliegen können, sondern immer alles komplett durchdringen und vor allem verstehen müssen. Andere könnten vielleicht grob lesen und dabei entscheiden, was erstmal wichtig und was unwichtig sei, er habe immer alles gleich gründlich lesen müssen, denn den Luxus mal eben etwas nochmal lesen zu können, hatte er nicht. Diesen Mut zur Lücke, den andere besäßen, hätte er sich nicht leisten können.

Hätte ich nicht eben den Mund voller Instrumente gehabt, ich hätte gesagt: "Als Zahnarzt Mut zur Lücke zu haben, ist ja auch nicht geschäftstüchtig." So habe ich halt irgendwas gegurgelt und versucht, dabei keinen Speichel in die Lunge zu bekommen.

Ich jedenfalls kenne diese Problem nicht. Ja, ich kann auch viel auswendig lernen (sonst liefe das mit dem Theater deutlich schlechter), aber gleichzeitig habe ich die Geduld nicht, langsam zu lesen. Ich kann (und will) eine Seite pro Minute lesen, manchmal bin ich auch schneller, wenn das Buch seichter oder die Buchstaben größer sind. Dadurch lese ich aber auch nicht gründlich, ich übersehe ab und an ein Detail, das vielleicht fürs Verständnis relevant gewesen wäre; manchmal musste ich mir darum auch Zusammenhänge zusammenreimen oder selbst erklären. Hat gut funktioniert, aber diesen Mut zur Lücke habe ich oft mit einer gewissen Unsicherheit im Gelernten bezahlt. Andererseits ist es bei meinem Gehirn, das ohnehin die Tendenz hat, sich lieber mit neuem Input zu beschäftigen, als lästige (wenngleich manchmal nützliche) Details zu behalten, unabdingbar, dass ich einen gewissen Mut zur Lücke entwickelt habe. Oder anders: ich vergesse halt auch viel.

Vielleicht erklärt das mein aktuelles Hadern: Meine Tendenz, mich nicht mit Details aufzuhalten, führt oft dazu, dass ich Entscheidungen auf Basis unvollständiger Informationen fälle. Sprich: ich zweifle an, ob Dinge, die in meinem Leben passieren, so passieren müssen, wie sie passieren. Oder ob die Entscheidung, die ich gerade treffe, wirklich die richtige ist.

Was mich umso mehr verwundert, weil es eigentlich ein alter Traum von mir ist, in das Haus zu ziehen, in dem meine Großeltern den größten Teil ihres Lebens gelebt haben. Nach deren Tod haben meine Eltern das Haus nicht verkauft, sondern vermietet. Und jetzt, da die letzten Mieter ausgezogen sind, wollen der Mann und ich einziehen. Also der Mann will; ich bin mir da manchmal nicht sicher. Ich fremdele plötzlich mit der Idee, in eine andere Stadt zu ziehen. Eine Stadt, die ich zwar kenne, aber nicht gewohnt bin. Eine Stadt, die deutlich größer, im Bevölkerungsdurchschnitt deutlich jünger und dadurch deutlich lebendiger ist als Bad Nauheim. Die eine reichere Kulturszene hat, eine Universität und vor allem ein Haus mit Garten, das meiner Familie gehört. Und doch: ich habe dort nichts außer Ziegelsteine und Mörtel. Mein soziales Netz ist hier; ich habe 16 Jahre daran geknüpft. Als jemand, der lange Zeit sehr zurückhaltend dabei war, sich anderen Menschen anzuvertrauen, befürchte ich, dass es mir nicht leicht fallen wird, das, was ich hinter mir lassen werde, wenn wir umziehen, zu ersetzen. Ich bin Teil eines großartigen Theaterensembles, ich habe dadurch viele Freundschaften geschlossen, ich habe durch meine sonstigen beruflichen und ehrenamtlichen Tätigkeiten viele Bekanntschaften. In Bad Nauheim, das trifft es vielleicht auch ein bisschen, bin ich wer. Ich habe eine Identität, ich dachte, ich wäre angekommen.

In der neuen Stadt werde ich das nicht haben. Ich bin ein Fremder dort, fremd in einer Stadt, die ich eigentlich kennen müsste. Die aber mich nicht kennt.

Manchmal springt der Funke über. Dann erkenne ich, dass diese Unkenntnis auch von Vorteil sein kann. Ich bin dermaßen angekommen in Bad Nauheim, dass ich in einer Rolle festzuhängen scheine. Nicht theatertechnisch, da bin ich (angeblich) immer wieder anders. Aber außerhalb des Theaters bin ich lethargisch geworden, unwillig, mich aufzuraffen, unfähig, Veränderungen mitzugestalten, zu moderieren. Oder überhaupt zu goutieren. Ich bin verfestigt in Bad Nauheim, unflexibel.

In der neuen Stadt schlage ich ein sehr neues Kapitel auf. Eines, in dem ich mich auch selbst neu kennenlernen kann. Neu kennenlernen werde, weil ich die neue Stadt kennenlernen muss. Neu kennenlernen, denn obwohl ich ja auch schon mal vor über zwei Jahrzehnten ein paar Monate dort gelebt habe, kenne ich doch nichts wirklich. Ich kenne Porto besser als die neue Stadt.
Und ich kann mich damit selbst herausfordern. Kann mich selbst neu erfinden. Und kann zumindest auch endlich diese Sehnsucht begraben, die mich seit langem an diese Stadt bindet. Denn eigentlich wollte ich dort immer leben. Ich will nur nicht alles aufgeben, was ich in der Zwischenzeit hier erlebt und geschaffen habe.
So ist es aber manchmal mit dem Leben, schätzungsweise. Wir verändern uns, wir verändern unseren Wohnsitz, wir ziehen manchmal nur eine Straße weiter, manchmal in einen anderen Stadtteil, manchmal in ein anderes Land. Und dann passen wir uns an.

Ich fürchte mich vor dem Neuanfang, weil ich befürchte, nicht neu anfangen zu können. Weil ich vielleicht nicht weiß, wie das geht. Weil ich vielleicht zu sozialinkompatibel geworden bin.

Ich weiß, dass diese Ängste unbegründet sind. Ich bin 42, ich bin ein offener Mensch, ich bin in der Lage neue Menschen kennenzulernen. Und ich ziehe ja nicht allein in die neue Stadt. Der Mann kommt ja mit, und das ist eh das wichtigste.

 Ich habe vielleicht auch Angst, dass ich all die Menschen, die ich in Bad Nauheim kennen- und lieben gelernt habe, vergessen könnte, dass vielleicht auch sie mich vergessen könnten, weil das Leben einfach andere Prioritäten bereithält. Im Theater werde ich ersetzt werden, im Freundeskreis wird sich die Lücke, die ich hinterlassen werde, nach und nach schließen. Das Leben geht für uns alle weiter; etwas anderes von jemandem zu verlangen, wäre nicht nur selbstsüchtig, sondern auch relativ unmöglich.

Ich werde die Menschen vermissen, die ich hinter mir lassen werde. Aber ich weiß auch, wir werden uns wiedersehen. Bis dahin sammele ich all meinen Mut, diese Lücke, die in meinem Leben entstehen wird, zuzulassen. Und dann eben aktiv daran zu arbeiten, sie zu kompensieren.

Gut, dass das beim Zahnarzt nicht so läuft. Da habe ich meine letzte (und gesprungene) Amalgamfüllung gegen neue Keramik ausgetauscht. Manchmal ist es besser, das Alte loszulassen und einfach die notwendige Veränderung zuzulassen. Wer den Wandel nicht gestaltet, heißt es ja, wird von ihm überrollt.

Katzencontent

Pöm
Dezember 7, 2022
Katzencontent
betäubt die
in den Abgrund
der Welt 
vor Angst
starrende Seele
 
Lina dagegen
ihrer Angst entgegen
in der zitternden Hand
ein brennendes Tuch
auf ihren Lippen
 
Jin Jiyan Azadi
 
ihr Haar weht
im Wind
der Veränderung
 
Und ich
schaffe nur
Katzencontent

Acht Kisten

Bewerbe
November 20, 2022

"Schätze, deine Tante war Sammlerin", sagt Heiner, als er aus dem Keller wieder auf die Terrasse tritt.
"Das liegt in der Familie", sage ich.
Heiner staubt mit seiner linken Hand die Weinflasche in seiner Rechten ab. "Sammlerin, aber keine Kennerin."
"Auch das liegt in der Familie."
Er hält mir die Flasche hin.
"Huxelrebe, Brenneiser Soden", lese ich vor. "Und?"
Er dreht mir das Rückenetikett zu.
"Tafelwein lieblich, Jahrgang Neunundachtzig. Vielleicht hast du sie unterschätzt."
"Unterschätzt?" Heiner lacht. "Das ist dreißig Jahre alter Wein zweifelhafter Qualität."
"Heiner, Neunzehnneunundachtzig! Denk nur: Wendewein!"
"Ralf, denk nur: Plörre! Acht Kisten Plörre!"
Wir schweigen ein paar Augenblicke. Genießen den Ausblick von der Terrasse. Tante Linas Häuschen steht in der höchstgelegenen Straße eines dämmernden Dorfes am parabolischen Scheitelpunkt eines Taleinschnitts. Unsere Blicke reichen weit über die karge Geometrie flurbereinigter Landwirtschaft in der Ebene. Die späte Nachmittagssonne, selbst schon recht angekupfert, vergoldet das herbstliche Messing der waldigen Hänge.
Eine Amsel singt.
"Wo ist sie jetzt?" fragt Heiner.
"Zu neunzig Prozent auf dem Friedhof in Engelthal. Zu zehn Prozent da drüben." Ich deute zum Apfelbaum, in dessen Zweigen die Amsel sitzt. "Frag nicht."
Heiner zuckt mit den Achseln.
"Ihr werdet also nicht verkaufen?"
"Und zulassen, dass irgendwelche Stadtschnösel für ihren Infinitypool meine Tante selig wegbaggern?"
"Nein", sagt Heiner.
"Nein", sage ich.
Die Amsel singt.
"Was machen wir jetzt mit der Plörre?"
"Mit dem wundervollen Wendewein? Na, was wohl?" Heiner zieht sein Taschenmesser aus der Hosentasche, klappt einhändig die Spindel aus, bohrt sie durch die Kapsel in den Korken, dreht dabei seelengegenläufig die Flasche, ein beherzter Zug, ein leises Ploppen - in nicht mal zehn Sekunden hat Heiner den Brenneiser Soden geöffnet.
"Auf deine Tante", sagt er und trinkt aus der Flasche. Er schüttelt sich, verzieht das Gesicht, sagt: "Acht Kisten. Wahrlich keine Kennerin."
Ich nehme Heiner die Flasche ab, proste der Amsel zu und sage, bevor auch ich einen Schluck nehme: "Auf Lina und ihre Schätze."

Die Katze

Bewerbe
November 20, 2022

Hier ist Lina
schwarzer Samt auf vier Pfoten
Wonneball mit weißbuntem Ohr
Neugier mit rausanfter Zunge
Schnurrigster aller Schätze

Hier Lina
fand ich dich auf den Stufen
wo sonst Sonne dich wärmte
kalt im Schatten und starr

Lina
ist nicht mehr
hier

Die Verschiebung

Von der Front
November 7, 2022

Abgemahnt worden, Angst bekommen, davonlaufen wollen. Grüß Gott, das ist mein neues Muster: Eine wilde Konfrontation poppt auf, ich renne weg. Das meinte ich nicht, als ich von Fortschreitungen schrieb. 

In den letzten Wochen häuft sich das: Situationen des Diskomforts, nicht einfach nur des sich nicht Wohlfühlens, sondern der imminenten Panik, einhergehend mit kompletter Paralyse. Beim geringsten Anzeichen von Feindseligkeit, an- oder wahrgenommen, schaltet mein Körper in einen Fluchtmodus, den ich nur damit begrenzen kann, dass ich mich immer tiefer in mich zurückziehe. Ich weiß einfach nicht, was sonst zu tun. 

Mir ist nun, da diese Abmahnung mich in Versuchung geführt hat, das gesamte Internet zu löschen (siehste selbst: ist nicht passiert), das Musterhafte daran aufgefallen, das Automatische, das komplett und eben doch nicht uncharakteristische für mich. Für jetzt. Für diesen Moment, in dem ich mich befinde. 

Die Abmahnung an sich lehrt mich übrigens zweierlei: Erstens lassen sich Googlefonts auch lokal einbinden, da muss keine Verbindung zu Google aufgebaut werden, durch die sich dann jemand in Persönlichkeitsschutzrechten verletzt fühlen kann. Inwieweit sich daraus (also aus diesem Gefühl) legal Schadensersatzansprüche ableiten lassen (vor allem in der Masse an Abmahnungen, die selbst auf Laien rechtsmissbräuchlich wirken), kann bei cr online nachgelesen werden. 
Die wichtigere Erkenntnis, zweitens also, ist eine weitere Enttäuschung meines Menschenbilds. Ich bin nicht nur konfliktscheu, ich bin auch zu naiv offensichtlich. Obwohl mir jeden Tag erschütternde Nachrichten aus dem Fernseher ins Wohnzimmer fallen (zuletzt besonders horrend: amerikanische Wahlwerbespots, in denen Menschen ihre politische Kompetenz mit dem Tragen und Benutzen von Waffen zu unterstreichen versuchen), bin ich doch jedes Mal wieder aufs Neue enttäuscht oder entsetzt oder einfach nur baff, wie wenig mitmenschlich manche Menschen agieren. 

Und da rede ich noch nicht mal über das richtige Elend in der Welt (da komme ich gleich noch drauf), sondern über die ganz einfache Frage, was denn das Richtige, das Menschliche wäre. Was sollte ich ganz konkret tun, wenn ich feststelle, dass jemand Googlefonts auf einer Webseite einbindet, obwohl es doch viel besser (und vielleicht persönlichkeitsrechtschutzwahrend) wäre, das lokal zu tun? Sollte ich da eine strafbewehrte Abmahnung schicken oder einfach nur eine E-Mail mit einem Hinweis, dass das zu einer Strafe führen könnte, sollte sich eine Verletzung von Persönlichkeitsschutzrechten nachweisen lassen?

Natürlich würde ich eine Mail schreiben. Natürlich würde ich warnen, aber ich hebe ja auch Jacken vom Boden auf, die anderen Leuten vom Stuhl gerutscht sind, und hänge sie wieder über die Rückenlehne. Neulich habe ich trotz eingeklemmtem Rückennerv und der Angst, meinen Anschlusszug zu verpassen, einer Frau mit Kinderwagen beim Ausstieg geholfen. Zuletzt habe ich im Wartezimmer mit weniger Sitzplätzen als Wartenden zweimal meinen Stuhl weitergegeben und mich hingestellt, obwohl ich wegen einer Fußverletzung beim Arzt war; aber die jeweils andere Person schien einfach eines Sitzplatzes bedürftiger. 
Ich verstehe es einfach nicht, wie man anderen Menschen gegenüber missgünstig sein kann, wie man auf Kosten anderer Profit will, wie man die Ängste anderer Menschen schüren kann, um sie zu kontrollieren. Ich verstehe nicht, wie manche Menschen ihre Menschlichkeit aufgeben, um sich über andere Menschen zu erheben. 

Und mit "Ich verstehe es nicht" meine ich tatsächlich: ich verstehe es nicht. Mir fehlt das Verständnis dafür, wie skrupellos, wie misanthrop, wie sozial verwahrlost jemand sein muss, um anderen den eigenen Willen aufzuzwingen. Ich verstehe die Menschenverachtung Trumps nicht, die Machtbesoffenheit Xi Jinpings nicht, den Hass der Ajatollahs nicht und die ganz allgemeine Irrationalität Putins nicht. Ich habe Vermutungen, wieso diese Menschen so agieren, wie sie agieren, und weshalb sie keine Hemmungen haben, das Unglück Hunderter, Tausender, Hunderttausender nutzen, um sich persönlich zu bereichern, sei es nun mit Macht oder Geld. Und zwar nicht einfach in Kauf nehmen, wie Menschen, die sich jedes Jahr ein neues Handy besorgen, das Leid von Minenarbeitern oder Wanderarbeitern stillschweigend übergehen; sondern mit dem Blut ihrer Opfer ihre eigenen Lobeshymnen schreiben. 
Aber diese Vermutungen laufen meist auf einen recht einfachen und naiven Gedanken heraus: Sie wurden nicht geliebt und können nicht lieben. 

Was aber tun mit dieser vermutlich nicht besonders hilfreichen Erkenntnis? Was tun mit der Angst vor der nächsten Abmahnung? Oder wie überhaupt mit Konfrontationen umgehen? Das Blog dichtmachen? Das Muster befolgen? So tun, als wäre ich ein Opfer, als hätte ich nicht eben erst darüber geschrieben, dass ich kein Opfer mehr sein wollte? Erst recht nicht ein Opfer meiner selbst?

Ich könnte aufhören, weggehen statt einfach nur fortschreiten. Passend: meine Domain verlängert sich automatisch diesen Monat, um ein Jahr, wenn ich nicht kündige. Als wäre dies ein Zeichen. Als müsste ich mich nicht einmal selbst für oder gegen etwas entscheiden, die Umstände haben schon meinen Weg vorgezeichnet. 
Aber mein einer Tag auf twitter nach der Musk-Übernahme hat mir gezeigt: Wer den Diskurs verlässt, darf sich nicht darüber aufregen, wie er sich entwickelt. Wer die eigene Stimme nicht erhebt, darf sich nicht darüber wundern, nicht gehört zu werden. Und auch wenn mich kaum jemand liest (erst recht nicht die Menschen, die mich abgemahnt haben), so ist es doch wichtig, dass ich wenigstens um meiner selbst willen nicht aufhöre, meine Stimme zu erheben. 

Auf ein Neues also. 

Stolpersteine

Pöm
November 1, 2022

überschätzt
sagen sie
nicht unsere Geduld

unterschätzt
sagen wir
nicht unsere Ungeduld

wir sind der Boden
der euch trägt
auf uns legt ihr
die Steine eurer Mauern
unser Blut bindet
den Mörtel eurer Macht

wir wollen die Steine
aus euren Mauern nehmen
ihr könnt uns
nicht mehr bluten machen

der Tod ist alles
was wir besitzen
wir fürchten ihn nicht

Schattenboxen

Aus dem Maschinenraum
Oktober 31, 2022

Am Ende gibt es nichts mehr zu sagen, auch wenn nicht alles gesagt ist am Ende.
Es ist einfach vorbei, wobei: einfach, was ist das schon?
Was heißt das in einer komplexen Welt, was könnte es heißen? 

Grundsätzlich, also jetzt und letztlich, heißt es: ich höre auf damit so zu tun, als hätte ich nicht längst schon aufgehört. 
Also höre ich auf. Weil Fortschreiten manchmal Weggehen heißt.

Nachtrag: Nö. Umorientierung ja, Aufgeben nein. 

hämatom

Pöm
Oktober 16, 2022

sorglos gesprungen
haltlos gefallen
wann wirst du lernen
auf dich zu achten

vielleicht einmal
wenn du wieder stehst
stehst du für dich ein
einmal vielleicht

Tiefsee

Morpheon
August 18, 2022

Im Fernseher erklärt eine Taucherin, was sie im Wasser hört. „Das Einatmen klingt nach Darth Vader.“ Sie kehlt ein langes ch. „Und beim Ausatmen strudeln die Luftblasen am Ohr vorbei.“ Sie hat ihre Finger zu konischen Spitzen zusammengelegt und lässt sie neben ihrem Gesicht aufsteigend in die Luft schnappen. „Blub blub blupi blub.“
„Das haben wir schon mal gesehen“, sagt der Göttergatte.
„Ja, kann sein“, erwidere ich. „Aber ich glaube, wir haben umgeschaltet, als sie dieses Geblubbere gemacht hat.“
„Nein, wir haben ausgeschaltet und sind ins Bett gegangen. Das war Freitagabend in dieser Kultursendung.“
„Eine Kultursendung am Freitagabend? Wer schaut denn sowas?“
„Wir offensichtlich.“
„Offensichtlich nicht, sonst hätten wir ja nicht ausgeschaltet.“
„Vielleicht war es spät.“
„Und der Beitrag ist ja auch immer noch nicht besonders interessant.“
„Stimmt.“
Wir schauen der Taucherin zu, wie sie an einem Korallenriff entlangtaucht. Aus dem Off sagt ihre Stimme: „Die Tiefsee ist weniger erforscht als das Weltall.“
„Schalt um, das kennen wir doch schon. Gleich wird sie sagen, dass da trotzdem schon menschengemachter Müll hingelangt ist.“
Durchs Bild treibt eine Plastiktüte.
"Was habe ich gesagt?"
Die Stimme aus dem Off sagt: „Neuesten Erkenntnissen zufolge können Grönlandhaie bis zu 500 Jahre alt werden.“
Als die Plastiktüte sich umwendet, ist plötzlich ein Auge zu sehen.
Der Göttergatte sagt: „Oh.“
„Hm?“
„Ich habe zuerst gedacht, dass das eine Plastiktüte ist.“
„Pft. Sieht doch jeder, dass es ein Hai ist. Mit den Zähnen.“
Es blubbert wieder. Aus dem Dunkelgraugrün schält sich ein Müllberg.
„Muscheln können sogar noch älter werden.“
Ich schnaube.
Der Göttergatte sagt: „Das sind doch keine Muscheln.“
„Ich glaube, das ist eine Fake-Doku.“
„Und Forscher haben Schwämme gefunden, die sogar Tausende von Jahren alt sein könnten.“
Im Bild brackiger Meeresboden, darauf graues Gekröse.
„Und du jammerst, wenn ich nicht alle paar Wochen den Küchenschwamm austausche. Dabei können die Tausende von Jahren alt werden.“
„Ja, wenn sie leben.“
Da fällt mir nichts ein. Also sage ich: „Schalt um, das kennen wir doch schon.“
Der Göttergatte schaltet um. Der Bildschirm ist schwarz.
„Hä?“
Dann wird er grau, fleckig, faserig, dann wehen Fetzen durchs Bild.
„Wieder Tiefsee?“
Plötzlich Grün im Hintergrund, davor Kraftwerkschlote, daraus graue Berge. Die Kamera schält sich ganz aus dem Gewölk.
„Ah“, machen der Göttergatte und ich gemeinsam.
„Der CO2-Ausstoß soll bis –“
Der Göttergatte schaltet um.
„Kennen wir schon.“

Hallo, ich bin der Täter

Usus operi
August 3, 2022

Recht einfach, sich als Opfer zu fühlen. Hat viel für sich, und man spart sich alle weiteren Ausreden. Die Umstände sind schuld, die Umwelt, alle, nur nicht ich selbst. Ich nämlich bin frei von aller Verantwortung. 

Der Preis der Freiheit

Natürlich ist das Quatsch, denn wer wenn nicht ich trägt denn Verantwortung für mein Leben? Und damit natürlich nicht nur für meine Erfolge und Niederlagen, sondern vor allem auch für die Art, wie ich mich selbst sehe und präsentiere.

Freiheit, das ist die lästigste Erkenntnis aller Zeiten, verdammt das Individuum dazu, den eigenen Weg zu gehen. Nein, nicht nur zu gehen, sondern erstmal in das Dickicht der Möglichkeiten hineinzuschlagen. Kein Wunder, dass sich manche Menschen lieber in Abhängigkeiten begeben, in Positionen der Schwäche, der Nach- oder Mitläuferschaft. Frei zu sein bedarf es angeblich wenig, tatsächlich ist es aber anstrengend, und sich selbst in Unfreiheit zu begeben oder zu halten, ist deutlich entspannter.

Der Preis der Unfreiheit

Natürlich ist auch das ein Trugschluss. Unfreiheit bedeutet Kompromisse und Akte gegen die eigenen Überzeugungen. Bedeutet das Aufgeben der eigenen Ziele. Und letztlich auch der eigenen Individualität.

"Sei du selbst, alle anderen sind schon vergeben", ist ein weiteres tolles Selbsthilfezitat. Die Wahrheit ist ein bisschen drastischer: sei du selbst oder sei gar nicht. Wer die eigene Individualität aufgibt, wer sich in Abhängigkeiten begibt, gibt sich selbst auf.

Man muss nicht in der Ukraine leben, um die Tragweite dieser Erkenntnis zu verstehen - und ihre eigentliche Konsequenz. Wer nicht für die eigene Freiheit kämpft, wer beschließt, in Unfreiheit zu leben, wer sich also selbst aufgibt, hat sein Leben verwirkt.

Ohn|macht|los

Natürlich haben wir die Wahl. Immer und in allen Situationen. Schlimmer: in jeder einzelnen Sekunde und selbst da wahrscheinlich mehrfach. Wir treffen bewusst und unbewusst andauernd Entscheidungen, die mal kurz- und mal langfristige Konsequenzen nach sich ziehen. Stehe ich gleich auf oder lese ich erst noch ein Kapitel? Esse ich Haferflocken oder Rührei? Packe ich am Vortag der Reise oder erst kurz vor der Abfahrt? Stelle ich mich in den übervollen Regionalexpress oder setze ich mich in die langsamere, aber eben auch leerere S-Bahn? Kämpfe ich für meine Freiheit oder gebe ich auf?

Das Extrembeispiel Ukraine zeigt, wie grauenvoll die Alternativen manchmal sein können: wer in der Ukraine für die eigene Freiheit kämpft, begibt sich in reale Lebensgefahr. Die Entscheidung für die Freiheit ist möglicherweise eine Entscheidung für den eigenen Tod.

Der Preis des Lebens

Andererseits: So unterschiedlich wir Menschen auch sein mögen, so sehr wir uns auch von allen anderen Lebewesen unterscheiden mögen, so sehr eint uns der Umstand unserer Sterblichkeit. Das mag banal klingen, hat aber die sehr einfache Konsequenz: Früher oder später werden wir unabhängig von all unseren Entscheidungen ohnehin sterben. Der Preis des Lebens ist der Tod.

Warum also nicht in der Ukraine für die Freiheit kämpfen und riskieren, dabei ums Leben zu kommen? Oder, weniger dramatisch und mehr auf meine Situation bezogen: Warum nicht alle Zweifel aus dem Fenster werfen und das Buch einfach schreiben - egal, was irgendwer sagen könnte. Zumal - und das ist die schlimmste aller Erkenntnisse - es wahrscheinlich niemanden interessiert, ob ich das Buch schreibe oder nicht.

Tat- & Tätersachen

Der einzige, der tatsächlich ein Interesse an diesem Buch (oder auch all meinen anderen Geschichten) hat, bin ich. Und ich bin auch der einzige, der mich dazu motivieren kann, es zu schreiben; wie ich ja auch der einzige bin, der mich letztlich davon abhält.

Ich bin derjenige, der nicht schreibt, ich bin derjenige, der sich in die Unfreiheit der Opferrolle begibt, ich bin derjenige, der die Verantwortung für mein Glück trägt oder eigentlich nicht trägt, sondern zugunsten größerer Bequemlichkeit abgibt. Ich habe mich allzu häufig darauf ausgeruht, ein Opfer zu sein. Weil es geht. Weil ich offensichtlich an mir selbst desinteressiert genug bin, dass ich nicht an mir und für mich arbeiten muss und mir trotzdem einreden kann, glücklich zu sein.

Und so unterdrücke ich mich einfach dauernd selbst, verschwende darauf meine Energie, bis ich ausnahmsweise mal wieder nicht aufpasse und dann plötzlich wieder das Entsetzen verspüre, dass seit den letzten Sätzen an der Geschichte schon wieder Wochen, wenn nicht Monate vergangen sind. Und dann suche ich natürlich einen Menschen, bei dem ich die Schuld für mein Versagen abladen kann. Und finde natürlich niemanden.

Der Fluch der {guten} Tat

Der Täter tut. So simpel. Und umgekehrt: Wo niemand tut, da kein Täter. Wo also höchstens ich selbst mich in Unfreiheit halte, da bin ich Opfer und Täter zugleich. Ziemlich blöd, denn ich könnte beides ja aufgeben - oder vielleicht einfach umkehren: statt alle Energie in Selbstmitleid zu stecken, könnte ich auch Self Empowerment betreiben, wie das heutzutage heißt.

Das einzige Problem dabei: ich weiß nicht, wie das geht. Ich habe das nicht gelernt, meine lang gelebten Muster sind eher solche der Selbstaufgabe. Und ich bin mittlerweile so gut darin, diesen Mustern zu folgen, dass ich mich selbst sabotieren kann ohne darüber nachdenken zu müssen.

Sollte ich nun also aus dieser Schonhaltung ausbrechen wollen, erfordert das Arbeit und Anstrengung, eine eben ganz andere Täterschaft. Und vor allem: ein andauerndes Weitertun, ankämpfend gegen den ewig lockenden Stillstand. 

Die Unwahrscheinlichkeit der Entropie

Es gibt die durchaus einleuchtende Theorie, dass eine gewisse Unordnung unvermeidlich ist, ja dass eigentlich alles im Universum auf Chaos zusteuert, auf ein endloses Auseinanderdriften, bis das größtmögliche Durcheinander erreicht ist.  Natürlich ist diese Theorie falsch. Nicht, weil Universen nicht auseinanderdrifteten und unsere Wohnstätten nicht fast von alleine immer wieder ungeeignet für spontanen Besuch gerieten. Sondern weil schon auf molekularer Ebene immer ein Zustand größter Ordnung angestrebt wird. So falten sich beispielsweise Proteine bei ihrer Produktion überwiegend selbst, bis sie einen Zustand größter Stabilität erreicht haben, was zufälligerweise eben auch der Zustand geringster potentieller Energie ist.

Wobei, Zufall ist das ja nicht. Wir alle streben nach der Stabilität des geringsten Energieaufwandes. Wenn wir ehrlich zu uns sind, dann liegen wir doch lieber auf der Couch als bei größter Sommerhitze den Wildwuchs im Garten zurückzuschneiden. Wenn wir die Wahl hätten, uns ein Getränk zu holen oder eines gebracht zu bekommen, wie würden sich die meisten Menschen wohl entscheiden?

Die Entropie des Universums, also das Auseinanderdriften aller Materie in einen Zustand größter Unordnung, ist eine Illusion - oder vielmehr eine Momentaufnahme. Denn tatsächlich ist die Ausbreitung der Entropie nur eine Folge allergrößter Kraftentfaltung: dem Urknall.

Lost in Komfortzone

Nun muss man nicht zwangsläufig bis zum Beginn unseres Universums zurückgehen, um zu verstehen, wie Dinge funktionieren (oder eben auch nicht). Aber der Urknall ist eben auch eine hervorragende Analogie dafür, dass es manchmal eines großen Knalls bedarf, um Veränderungen in Gang zu setzen.

Politik arbeitet in der Regel so. Längst veraltete Systeme werden so lange am Leben erhalten, bis sie so dysfunktional geworden sind, dass gar nichts mehr funktioniert. Und weil dann keine rettende (Ab)Lösung zur Verfügung steht, ist das Geheul erst mal groß auf allen Seiten. Wenn es gut läuft, reißen sich dann alle zusammen und kommen irgendwie weiter. Aber wann läuft irgendwann schon mal was gut?

Niemand verlässt gerne die Komfortzone, ich schon gar nicht. Ist ja Aufwand, Erfolg ungewiss; am Ende lohnt sich das gar nicht, sich anzustrengen, außerdem kann ich mich doch auch kurzfristig mit Dopamin belohnen statt einen langfristigen und vielleicht komplizierten Plan umzusetzen. Wenn es denn überhaupt einen Plan gibt.

Disziplin für Anfänger

Disziplin, so eine weitere, vielleicht letzte Selbsthilfeweisheit, bedeutet, auf das zu verzichten, was man haben kann, um das zu bekommen, was man haben will. Und nein, ich habe gar nicht so viele Ratgeber gelesen, wie es scheint. Ich verbringe einfach nur zu viel Zeit im Internet. Selbst bei Pinterest werde ich zugeworfen mit Tipps, wie ich endlich meine Lebensziele erreichen kann und total glücklich werde.

Ist natürlich Quatsch, Pins pinnen auf Pinterest wird mich meinem Nirwana nicht näher bringen. Tatsächlich braucht es harte Arbeit, Hingabe und vor allem Eigenverantwortung für das optimale Selbstentfalten. Ich bin der Autor meiner Geschichte, im übertragenen wie eben auch im eigentlichen Sinn. Wenn ich ein Buch schreiben will, muss ich mich einfach nur ernst nehmen und eben ein Buch schreiben. Die Ausreden aufgeben und ein Buch schreiben. Mich täglich hinsetzen, keine Sudokus machen oder YouTubes gucken, sondern das Buch schreiben. Jeden Tag, immer ein bisschen und vielleicht manchmal ein bisschen mehr. Und da braucht es keine Aufforderung, keine Erlaubnis, kein Bitten und Betteln, da braucht es einfach nur: Tun. Und mich als Täter der guten, der richtigen Tat.

Hallo, ich bin das Opfer

Usus operi
Juli 26, 2022

Ich wurde also verletzt. Kleine und große Aggressionen, mittlere und katastrophale Entmutigungen. Selten körperliche Gewalt, eher verbale und psychologische Attacken. Eigentlich dermaßen verjährt, dass ich längst drüber weg sein sollte. Und doch wirft die doofe Vergangenheit immer noch lange Schatten in meine Gegenwart. 

Willkommen im Land des Selbstmitleids

"Selbstmitleid", sagt Wikipedia, "bezeichnet das menschliche Verhalten, seelischen Schmerz über ein scheinbar oder tatsächlich zu Unrecht erlittenes Übel zu empfinden." Es geht schlimmer weiter: Andere sollten bedauern, dass ich ein Opfer von Gewalt geworden bin. Sie sollten mich bedauern. Weil es aber niemanden kümmert, habe ich - schwupps - einen neuen Grund, mich selbst zu bemitleiden. Ein Teufelskreis mit Potential zur Chronifizierung als Posttraumatische Verbitterungsstörung. 

Nun ist das vielleicht erklärbar, aber nicht hilfreich. Denn zum Selbstmitleid gehört der Groll gegenüber der teilnahmslosen Welt. Selbstmitleid chronifiziert mich als Opfer, beunfähigt mich, mein Schicksal zu kontrollieren. 

Armes Menschlein

Leider heilt Selbstmitleid nicht. Es amputiert.
Natürlich ist es verlockend, Verantwortung abzugeben und zu sagen: "Immer wenn ich kreativ wurde, habe ich eins auf den Deckel bekommen, es soll wohl nicht sein." Als ob zu meinem Los die zielgerichtete Unterdrückung meines Charakters durch die Welt gehörte, eine große Verschwörung zur Verzwergung von Anders Wolf. 

Das soll die Existenz von Traumata nicht relativieren. Verletzungen durch Andere passieren, immer und überall. Schön wäre es in einer Welt ohne Aggressionen zu leben. Allerdings müssten wir unseren Planeten dazu relativ stark entvölkern (böse Zungen behaupten, wir arbeiteten bereits daran), schließlich bedeuten Menschen Konkurrenz. Alle kämpfen ums Überleben, manchmal mehr, manchmal weniger deutlich. Und in der Hitze (oder manchmal auch nur lauen Wärme) des Gefechts entfährt auch den wohlmeinendsten Gemütern mal eine unbedachte Bemerkung. 

(Rat)Schläge

Zuletzt schrieb ich von Mitschülys, von Eltern, von K. aus dem Studium. Ich sei gemobbt, nicht gefördert, sogar entmutigt worden. Das ist nicht toll, aber kein Grund aufzugeben. 
Vor allem nicht wegen gut gemeinter Ratschläge, die ja einen Kern von Sorge in sich tragen. Ich solle mich nicht von meinem Traum begraben lassen, hatte K. mir geraten. Ich solle mich nicht in die Armut treiben lassen, so die Eltern. Gut gemeint beides, und doch ohne Kenntnis meiner Fähigkeiten ohne Basis. 

Seltsamerweise ist mir das Mobbing weniger präsent. Vielleicht weil die tiefer empfundenen Kränkungen später geschahen, in einer Zeit und Umgebung, in der ich mich sicher fühlte. Vielleicht weil das Mobbing unpersönlicher war, weil von mehreren Menschen, vor allem solchen, die ich ohnehin nie als Freunde bezeichnet hätte.

Diese Diskrepanz ist unverständlich, hat mich das Mobbing doch gerade während meiner Persönlichkeitsbildung in den Kindes- und Jugendjahren verformt. Studien zeigen, dass gemobbte Kinder lebenslang Narben tragen, egal wie viele Schichten scheinbarer Selbstsicherheit darüber liegen. Ist das Selbstwertgefühl erst mal unterminiert, ist das Grundvertrauen, in dem der Charakter wurzeln sollte, nachhaltig erodiert.  

Aufgeben vs. Aufgabe

"Wir können nicht kontrollieren, was uns geschieht, nur unsere Reaktion darauf." Klassiker der Selbsthilfe, dennoch nicht unwahr. Oder: "Wenn die Welt dir Zitronen gibt, mach Limonade draus."

Narben, so heißt es, sind nicht Zeichen für Schwäche, sondern fürs Überleben. Narben stehen für Verletzungen, die uns getroffen, verändert, aber nicht bezwungen haben. Verstecken wir eine Narbe, negieren wir den damit verbundenen Schmerz, negieren wir auch uns selbst, denn auch wenn wir das nicht wollen, sind unsere Narben doch unauslöschlich mit uns verbunden.

Was also tun, wenn nicht aufgeben? Weitergehen, weiterleben, weitermachen. Ich wurde verletzt, weil ich anders war. Aber eben auch noch immer anders bin. Nie nicht anders sein werde. Soll ich mich deswegen immer noch kleinmachen, anpassen, verstellen? Mir wurde davon abgeraten, meinen Träumen zu folgen, nur weil sich andere darin keinen Erfolg für mich vorstellen konnten? Warum habe ich angenommen (und scheine immer noch anzunehmen), sie hätten recht? 
Es ist leicht aufzugeben, bevor man etwas versucht hat, es ist sogar verlockend, nicht die Energie aufzubringen, wenn alles, was man als Belohnung sieht, Scheitern heißt. Wer nicht mit dem Gedanken ans Ziel losläuft - Achtung Sportmetapher -, sollte nicht für einen Marathon antreten. 

Tatsächlich sollten Entmutigungen uns nicht zum Aufgeben bringen, wir sollten sie als Aufgabe verstehen. Als Aufgabe, in uns selbst zu investieren, stärker zu werden, besser, schneller, resilienter. Überzeuge deine Kritiker vom Gegenteil. Oder besser noch: beschäftige dich mit deiner Arbeit, nicht mit denen, die sie ohnehin nicht verstehen. 

Er|folg|en|los

Erfolg entsteht nicht über Nacht, er ist das Ergebnis nicht immer harter, aber doch ausdauernder Arbeit. Vor allem belohnt Erfolg den Glauben an sich selbst, auch und gerade in Zeiten, in denen das nicht leicht ist. Lichter, die im Dunkeln entzündet werden, leuchten am hellsten. Klingt nach noch mehr Selbsthilfe-Bullshit. Ist trotzdem wahr, vor allem aus der Perspektive eines Menschen, dessen größter Erfolg die Selbstsabotage ist. 

Im Grunde weiß ich, was ich kann. Natürlich weiß ich um meine Schwächen, viel besser aber kenne ich mein Potential. Ich kenne es, weil ich es in den letzten Jahren und eigentlich Jahrzehnten sehr erfolgreich unterdrückt habe. Und weil ich, wenn ich mich aus Versehen mal nicht zurückgehalten habe, alles geschafft habe, was ich mir in den Kopf gesetzt habe. Ich muss nur wollen, denn wo ein Wille, da auch Limonade. 

Sei wie FritzFranz

Ich wurde also verletzt und durch diese Verletzungen geformt, ebenso wie durch meine Versuche, mich selbst zu zähmen. All das hat mich hierher geführt, und ich kann bedauern, wie viel Zeit mich die Umwege gekostet haben. Wie viel ich schon hätte schreiben und veröffentlichen können. Aber ganz ehrlich: Hätte ich es wirklich gekonnt, ich hätte es getan. 

Manchmal ist die Zeit nicht reif, manchmal ist der Mensch nicht reif. Ich weiß immer noch nicht, wie mein kleineres Romanprojekt zu Ende gehen soll. Ich weiß, dass mein unentschiedener FritzFranz-Protagonist auf halber Strecke eine Erleuchtung hat und dass danach erst mal alles auseinanderfällt, bevor sich die Puzzleteile wieder ordentlich zusammenfügen. Eigentlich: bevor er selbst die Bruchstücke seines Lebens wieder zusammensetzen kann.

Und das ist auch meine Aufgabe: mich nicht mehr davon abzulenken, meine Unordnung zu sortieren. Mich nicht mehr davon abzuhalten, mein Potential zu entfalten. Oder konkreter: endlich das Wagnis einzugehen, das Buch zu schreiben. Und vielleicht erst auf dem Weg Richtung Ende zu entdecken, wie FritzFranz und ich die größte Hürde aller Zeiten überspringen: den eigenen Schatten.

Das große Warten

Usus operi
Juli 20, 2022

Angeblich verbringen wir zwei Jahre unseres Lebens mit Warten. Das habe ich im Internet gelesen, es muss also stimmen. 

Andererseits: Was ist Warten? Was heißt Warten? Wenn ich an der Supermarktkasse in der Schlange stehe und noch nicht mal meine Sachen aufs Band gelegt habe, sondern nur langsam näher ranrutsche, bis endlich auch ich an der Reihe mit Auflegen, Wiedereinpacken und Bezahlen bin: warte ich dann auch, wenn ich gleichzeitig darüber nachdenke, ob ich alles in meinem Korb gelegt habe, was auf meinem Einkaufszettel stand? Denke ich dann beim Warten, warte ich beim Denken? Oder warte ich gar nicht, sondern denke nur?

Menschen im Stau warten (und hinterfragen gleichzeitig ihre Lebensentscheidungen). Menschen auf der Rolltreppe warten (und schauen derweil den Hintern des Vordermenschen an). Menschen im Eiscafé warten auf ihren Eiskaffee (und überlegen, ob sie bei der Hitze nicht besser im Keller sitzen sollten). Menschen in der Warteschleife warten (und summen Für Elise mit). Menschen am Gepäckband warten (und überlegen, ob es sich noch lohnt, nochmal zur Toilette zu gehen). Menschen im Wartezimmer warten (und blättern vielleicht in einer Zeitschrift, in der sie sich nur zu lesen trauen, weil der neutrale Umschlag des Lesezirkels das reißerische Titelblatt von Frau am Abgrund verdeckt). Menschen, die auf einer Organspendeliste stehen, warten (und hoffen, dass alle anderen Menschen eine so positive Einstellung zur Organspende haben, dass sie Organspendeausweise mit sich führen, weil es immer noch keine gesetzliche Regelung zur Widerspruchslösung und ergo einen Spenderorganmangel gibt). 

Wenn aber Warten bedeutet, dass ich in der Wartezeit nichts anderes machen darf als Warten, warten all diese Menschen dann wirklich? Gerade die Organspendemenschen: die machen ja bestimmt auch was anderes zwischendurch. Warten geht ja gar nicht den ganzen Tag. Ich muss ja was essen, trinken, Blumen gießen, Bücher lesen, E-Mails schreiben, Radio hören, mich mit Menschen aus der Nachbarschaft unterhalten (oder sie aktiv ignorieren). Irgendwas, denke ich mir, ist ja immer zu tun. 

Und wenn nichts ist, dann suche ich mir eben was. Dann beschäftige ich mich, damit ich nicht einfach nur rumsitze. Vielleicht schaue ich ein Video (oder fünfzehn Videos) auf YouTube an, vielleicht höre ich einen Podcast, vielleicht telefoniere ich oder räume den Hauswirtschaftsraum um. Vielleicht memoriere ich meinen restlichen Text oder wiederhole die bisher einstudierten Szenen. Vielleicht gehe ich spazieren oder zum Abkühlen in den Keller, vielleicht hefte ich die Sachen aus meiner Ablage ab oder bringe Altpapier in den Altpapiercontainer. Vielleicht kaufe ich Lebensmittel ein, vielleicht backe ich eine Limettentarte, vielleicht nähe ich mir eine Hose. Vielleicht trenne ich die missglückte Hose wieder auf, um aus dem Verschnitt etwas anderes zu nähen. Vielleicht stutze ich endlich den Ficus. Vielleicht wechsle ich nach nur drei Monaten Displayschwärze den Akku meines Funkweckers. Vielleicht baue ich doch noch die Balkonbank. Vielleicht bringe ich mir Akkordeonspielen bei oder studiere Running up that Hill auf dem Keyboard ein. 
Vielleicht, vielleicht, vielleicht. 

Was ich aber definitiv nicht mache: das Buch schreiben. Oder das andere Buch. Oder die Geschichten für die Wettbewerbe. Oder einfach mal wieder einen Blogbeitrag. 

In der Abizeitung meines Jahrgangs sollten alle Abiturientys die Frage beantworten, was sie später mal machen wollten. Also nicht später im Sinne von nachher wie beispielsweise "nach der Abifeier erst mal den Rausch ausschlafen", sondern mehr im Sinne von "Wo siehst du deine Bestimmung im Leben?", was in vielen Fällen eher verstanden wurde als Frage nach dem Studienfach. Erstaunlich viele Menschen wollten da BWL oder ähnlichen Quark studieren, einige auch Jura oder Medizin, die wenigsten interessierten sich für sinnvolle und sinnstiftende Berufe, die tatsächlich gesellschaftlichen Mehrwert besitzen. Also die in der Pandemie als essentiell eingestuften Jobs in der Pflege, im Handwerk, im Einzelhandel. Gut, Medizinys braucht es auch, und einige wollten auch Lehrkraft werden, aber der Trend war damals (wie vielleicht auch seither): Hauptsache Geld. 

Ums Geld ging es mir nie. Natürlich habe ich das Glück, dass es das nicht musste; einerseits hatte ich immer Menschen, die mein Leben finanzierten, andererseits sind meine Bedürfnisse nicht so ausgefallen, dass ich überhaupt viel Geld bräuchte. Wenn ich Geld ausgebe, dann in der Regel für Lebensmittel. 
Das passt natürlich ein bisschen zu meinem Studium, denn wer Ernährung studiert hat, darf sich auch fürs Essen interessieren.

Andererseits habe ich auf die Frage, was ich denn mal machen wollte mit meinem Leben, geantwortet: irgendwas mit Worten. Schon damals konnte ich nicht schreiben, ich wolle Schriftsteller werden. Vielleicht wusste ich nicht, ob ich das wirklich werden konnte. In dreierlei Hinsicht: Wie wird man Schriftsteller? Bin ich geeignet, Schriftsteller zu sein? Ist mir das überhaupt gestattet, Schriftsteller zu sein?

Das Irritierende daran ist, dass ich nie darüber nachgedacht habe, etwas anderes zu sein. Mein ganzes Leben besteht aus der Auseinandersetzung mit Geschichten, meist in Buchform, natürlich aber auch in Form von Videospielen, Filmen oder Serien. Seit ich schreiben kann, schreibe ich gerne, sowohl mit der Hand als auch digital (und ja, für lateinisch Angehauchte ist da ein unbeabsichtigter Wortwitz versteckt). Ich mag es, Worte aneinanderzureihen, finde es schön, wenn sich Gedanken erst im Gehirn formen und dann in einem Text wiederfinden. Ich lese gerne, lieber sogar als ich Gefilmtes oder Animiertes konsumiere, aber Lesen ist eine ausschließliche Tätigkeit, da kann man nebenbei nicht noch etwas Zweites erledigen. Außer Warten vielleicht (auch wenn Warten, wenn man liest, vielleicht schon nicht mehr Warten ist).

Ich hatte nie eine Vorstellung davon, was ich tun sollte, wenn ich nicht schriebe. Und doch schreibe ich nicht. Und ich weiß nicht warum. 

Klar, da ist die lose Erfahrung, dass bisher jede kreative Äußerung meinerseits früher oder später auf Ablehnung gestoßen ist. Wahrscheinlich, das gebe ich zu, hat mein Gehirn da auch Verknüpfungen hergestellt, wo keine sind. Als ich in der Grundschule gemobbt wurde, dann bestimmt nicht nur, weil ich mich künstlerisch von den anderen unterschied, sondern eben auch einfach anders war. Als ich im Gymnasium den Chor verließ, dann nicht, weil ich schief gesungen hätte, sondern eher, weil ich auch da als anders wahrgenommen und auch so von den anderen behandelt wurde. In meinen Jugendjahren habe ich mittelprächtige Gedichte geschrieben, bis mir gesagt wurde, ich müsse, um gut zu werden, noch vieles lernen; leider war diese bloße Feststellung weniger hilfreich, als es vielleicht ein Mentoring gewesen wäre. Und natürlich hat auch die Einschätzung meiner Eltern nicht geholfen, ich dürfe ja durchaus meinen Schreibkram machen, davon leben könne ich aber bestimmt nicht, ich solle mir also lieber einen Brotberuf suchen. 
Vielleicht darum das Studium der Ernährungswissenschaften.
Brot und so. 

In Gießen dann K. kennengelernt, den hyperpragmatischen Gegenentwurf zu meiner ohnehin schon angerauten Künstlerseele. K. hat mich im Studium immer angetrieben, gemeinsam haben wir alle Praktika und Seminare durchgezogen, uns gegenseitig (und danach allen anderen) die Naturwissenschaften erklärt, zu denen wir anfangs beide  keinen Zugang gefunden hatten. Gemeinsam haben wir uns durch ein Studium geschoben, das uns, wenn wir einander und uns selbst gegenüber ehrlich gewesen wären, doch eigentlich beide nicht wirklich interessierte. Doch das einzige Mal, dass ich tatsächlich ehrlich über meine Ambitionen mit K. sprach, erwähnte ich meinen Traum davon, ein Buch zu schreiben, vielleicht auch zwei. Schriftsteller wolle ich eigentlich werden, und das mit der Ernährung sei eigentlich nur ein Notnagel. Ein Brotberuf eben.

Und dann hat K. von dem Manuskript erzählt, das die Familie nach dem Tod des Großvaters gefunden hätte. Grauenvoll, unlesbar, komplett unbegabt; und doch hätte der Großvater bis zuletzt noch am Traum gehangen, irgendwann doch noch die Geschichte zu veröffentlichen. Ich solle, das sagte mir K. also, diesen Traum begraben, bevor mich der Traum unter sich begrabe.
Und weil ich K. aus Gründen, die ich rückblickend nicht nachvollziehen kann, mehr zutraute in Lebensfragen als mir selbst, folgte ich diesem Rat und verabschiedete mich von meinem Traum.

Nun wissen alle, die über die Jahre mein Blog gelesen haben, dass das nicht ganz stimmt. Ich habe immer wieder geschrieben. Kürzere und längere Blogbeiträge, auch Geschichten, ich habe auch (manchmal erfolgreich) an Wettbewerben teilgenommen; aber mein Herz habe ich doch nie so richtig hineingeworfen. In allem, was ich schreibe, halte ich mich zurück. Meine literarischen Texte sind oft von einer unpersönlichen Kälte durchzogen, meine Protagonistys unnahbar oder komplett unsympathisch, meine Sätze zu klinischer Sauberkeit ausgeputzt. 

Ich will mich, das ist meine Analyse, in meinem Schreiben nicht angreifbar machen, will nicht so weit aus mir rausgehen, dass ich vielleicht nicht zurückkann. Ich habe die Erfahrung, dass kreativer Ausdruck nicht nur belohnt wird, immer noch nicht überwunden. 
Als ich vor Jahren das sehr selbstentblößende Theaterstück "Die letzte Königin" geschrieben und aufgeführt hatte, sagte mir eine Zuschauerin hinterher, wie deutlich sie mir das Fehlen von Grundvertrauen angemerkt habe und wie wenig Grund ich doch dafür zu haben brauchte. Ich solle mit der Erkenntnis auf die Bühne gehen, dass es für ein solches Öffnen dem Publikum gegenüber zwar großer Kraft bedürfe, dass ich diese Kraft aber doch offensichtlich auch besäße. Ich müsse mich nicht mehr zurückhalten.

Und doch halte ich mich immer noch zurück. Ich suche immer noch Ausreden, Ablenkungen, andere Aufgaben. Ich weiß, dass ich mir selbst damit schade, nicht zu schreiben; dass ich den Drang, meine Geschichten zu erzählen, zwar unterdrücken, aber nicht einfach ausjäten kann. Und ich würde es ja auch gar nicht wollen. 
Ich will ja Geschichten erzählen, will Bücher schreiben; und doch traue ich es mir nicht zu. 

Ich warte. Darauf, dass irgendwann jemand zu mir kommt und sagt: schreib jetzt dieses Buch. Und doch warte ich nicht bewusst. Ich schaue Serien, ich lese Bücher, ich räume die Wohnung um, ich höre Podcasts. Ich weiß natürlich, dass auch die Welt nicht wartet. Ja, im Kleinen schon: Menschen stehen an der Kasse oder auf der Rolltreppe, sie sitzen in Autos und Eiscafés, sie warten auf ihren Arzttermin oder eine Organspende. Aber die Welt wartet nicht darauf, dass ich mich hinsetze und schreibe, sie wartet nicht darauf, dass ich das Buch beende. Jedes Jahr erscheinen 80000 Bücher, und die wenigsten davon werden tatsächlich gelesen; und selbst diese 80000 Bücher sind nur ein Bruchteil dessen, was Verlagen angeboten wird. 
Kein Verlag wartet auf mich, die Welt wartet nicht auf mich. Nur ich selbst warte auf mich und darauf, dass ich mir endlich selbst die Erlaubnis gebe, alle gut und schlecht gemeinten Ratschläge und Reaktionen auf einen wie auch immer gearteten kreativen Ausdruck hinter mir zu lassen. Und ich warte immer noch darauf, dass ich irgendwann zu mir komme und sage: Ich schreibe jetzt dieses Buch. 

Nie ganz da

Von der Front
Juli 1, 2022

Die Welt hat sich, während der Mann und ich in Portugal waren, einfach weitergedreht. Frech. Schließlich haben der Mann und ich uns doch auch nicht verändert, während wir in Portugal waren. So wie auch Portugal noch genau so ist wie vor drei Jahren, seit der Mann und ich zuletzt in Portugal waren. Erwähnte ich, dass der Mann und ich in Portugal waren? Wir waren nämlich in Portugal, der Mann und ich. 

Ich spreche schon nicht mehr so viel darüber. Habe H. befragt, wie der Aufenthalt in I. war, der großen Stadt im Süden. Das halbe Jahr verging sehr schnell, rückblickend. H. weiß nicht so recht, wo anfangen. I. war toll, groß, dreckig. Wie große Städte wohl sind, nur größer, lauter, dreckiger. H. sagt, I. sei einfach mehr als andere Städte. Ich weiß, was H. meint, ohne es wirklich zu wissen.

Urlaub macht was mit den Menschen. Sowieso in Zeiten, wo manche Menschen den gesamten Urlaub am Flughafen verbringen und gar nicht wissen, ob es sich lohnt, auf einen vielleicht doch noch übermorgen in den frühen Morgenstunden startenden Flieger zu warten oder doch lieber nach Hause zu fahren, wo es sich auch ganz okay in den eigenen vier Wänden rumlungern lässt (solange der Gießdienst Bescheid weiß, dass die Blumen doch nicht fremdbegossen werden müssen; gibt sonst womöglich blöde Überraschungen). 

Aber auch in Zeiten, wo Urlaub tatsächlich Wegsein heißt, anderes Land also, andere Sitten, andere Sprachen, andere Menschen (oder eben doch nicht, weil überall in Deutschland irgendwelche Ferien sind und es die Deutschen nicht daheim hält, wenn sie wegfahren können), macht der Urlaub Sachen mit den Menschen. Manche gut, manche schlecht, wie eben einfach alles.
Na, außer Krieg.
Der macht nix gut, außer vielleicht ein paar Dinge zu klären. Prioritäten zum Beispiel. Ob man etwa ein paar Milliarden in einen effektarmen Tankrabatt steckt oder in ein 9-€-Ticket, das im Grunde auch eine Fehlsteuerung ist, weil Menschen ohne entsprechende Infrastruktur beispielsweise nichts davon haben oder sozialschwache Menschen, die das auf irgendwas anrechnen müssen (habe die Schlagzeilen nur überflogen). Sinnvoller wäre natürlich gewesen, irgendwie den ÖPNV auszubauen, aber hinterher sind wir ja alle schlauer, und daheim auf dem Sofa sitzen wir ja nur ganz allein, unbeeinflusst von Lobbygruppen. Da redet es sich leicht aus der rückblickenden Lameng. 

Der Krieg, ja, der ist irgendwie immer noch da, aber auch nicht richtig. Vor Wochen, Monaten, also im März/April (und ein klitzebisschen Februar noch), da war der Krieg ja nicht aus den Nachrichtensendungen rauszubekommen, da hat sogar das hessische Radio sein Nachrichtenintro geändert in "News aus Hessen, Deutschland, der Ukraine und der Welt". Oder so ähnlich. Der Krieg jedenfalls ist nur noch Grundrauschen, so wie Corona auch nur noch wie Tinnitus irgendwo rumschwirrt. Inzidenzen in den Hunderten? Kein Problem, wir hatten's schon schlimmer. Als ob das irgendwas gut machte. 

Halt nur anders. Aber warum muss denn immer alles anders werden, wenn ich doch eigentlich nur nach Portugal zurück möchte, in den Urlaub, der alles mögliche ist, nur einfach nicht Alltag. Alltag und ich sind uns nämlich nicht ganz grün. Wir sind gewissermaßen ein dysfunktionales Paar. Besser, wir gehen uns aus dem Weg. Haben wir alle mehr davon. Andererseits sind Urlaub und ich auch nicht nur Freunde. Urlaub bedeutet ja nicht nur Ausbruch aus dem öden Alltag, sondern eben auch Einbruch in fremder Leute Alltag. 
Touristy zu sein ist eine schreckliche Verantwortung. Du bist da als Mensch mit all deinen privaten Bedürfnissen, die sich aber nochmal ganz anders konzentrieren, weil du ja eben nicht einfach nur alltagsfunktional denken musst, sondern komplett anders ausgerichtet durch die Gegend läufst: Kirchen, Rathäuser, Plätze, Portale, Springbrunnen, Treppen, Aussichtsplattformen, Trams, Aufzüge, Bötchen, Strand, Sand, Sonne, Fischgrill, Frühstück, Mittag, Abend, keine Sonnenbrille, danke, auch keinen Plastikhut, dafür Sonnencreme und wo, verdammt nochmal, ist der Traubenzucker gegen die schlechte Laune des Blutzuckertiefs?
Wer hätte den einstecken sollen und hat es vergessen?
Wer trägt Schuld an der Aggressionsspirale des mittleren Nachmittags?
Dann eben ein Eis, auch wenn die gute Eisdiele vom letzten Mal einfach geschlossen hat.
Weswegen?
Pandemie? Frech. 
Welche Pandemie überhaupt?
War da was?

In Urlaubswoche zwei schickt die Mutter eine Nachricht: Portugal im festen Griff des Virus, neue Variante im Durchmarsch. Frech. Die Straßen sind voll mit Menschen, weder Trams noch E-Tretroller kommen durch, aber die Pandemie hat Vorfahrt? Wer hat da nicht aufgepasst? 
Dann mal lieber essen gehen.
Fisch, Fleisch, Gemüse nur Nebensache, da fühlt sich der Deutsche wohl. Sandalen und Socken übrigens sind auch wieder da. Wir drehen die Zeit bis nach knapp hinter den Fall des Eisernen Vorhangs zurück, bis knapp vor die Pandemie kann ja jeder. Ganzkörperjeans-Outfits sind wieder in oder halt auch Ganzkörpernix, die Übergänge sind fließend, vor allem am heißesten Tag des Jahres, der am einzigen Strand des Landes von allen Anwesenden auf einmal besucht wird.
Dumme Idee, und dann keine Badehose dabei.
Erstmal Sangria trinken, ohne Strohhalm oder Eimer, dafür mit echtem Obst, Zimt und Sternanis. Da lässt es sich gut entspannen, immerhin sitzen wir im Schatten, der Mann und ich, in Sichtweite rauscht das Meer gegen Wellenbrecherbeton, und der Nachmittag zerfließt wie Limettensorbet.

Eigentlich, und darum sind der Mann und ich eigentlich weggefahren, ist alles zu viel. Der Mensch ist zu viel. Ob nun in der Stadt in Portugal oder eben daheim, ob im Bus, der Tram, im Zug oder im Flugzeug, überall sind die Menschen, als ob sie kein Zuhause hätten, keinen Ort, wo sie eigentlich sein wollen. Sie wollen überall sein, nur eben nicht da, wo sie sonst leben. Raus wollen sie, Deutschland scheint allen zu eng. Vielleicht sind das die Nachwehen von Corona: so wie alle Hosen zu eng geworden sind in den Pandemiejahren, ist auch Deutschland zu klein geworden für das deutsche Wohlbefinden, das schon immer zu groß war für das deutsche Selbstverständnis (so wie SUVs in Fußgängerzonen).
Also wird Lissabon geflutet mit Deutschen, auch Porto, wo wir schon dabei sind. Die Algarve auch gleich, auch alles dazwischen, warum nicht. Deutsche, Deutsche überall, um keine Ecke kannst du biegen, überall quengelt irgendeine Reisegruppe, dass die Portugiesen nicht zu verstehen sind, keine ordentlichen Gastgeber sind, dass der Service so schlecht ist, dass die Betten nicht so hart/weich sind wie daheim, dass die Portugiesen, wenn sie schon selbst nicht frühstücken, doch wenigstens ein ordentliches kontinentales Frühstück zubereiten könnten, dass überhaupt ein Land, dass doch angeblich vom Tourismus lebt, so schlecht darauf vorbereitet ist. Dass die Einheimischen, das sagt der Deutsche im Urlaub so über die Menschen, in deren Leben er einbricht, nicht einfach gastfreundlich sind, sondern ganz unwirsch reagieren, wenn man ihnen doch mit den paar Spanischbrocken, die man noch im Kopf hat (Sangria, Paella, Buenos Nachos), doch schon ordentlich entgegenkommt. Als ob da so ein großer Unterschied wäre zwischen Portugal und Spanien, beides ist doch iberisch. Anders als die Ukraine und Russland übrigens, das ist nicht nur nicht iberisch, das ist auch nicht eins. Hier kennt der Deutsche sich jetzt aus, darüber ist man informiert, da gibt es kein Vertun mehr und keine Verwechslung.

Eigentlich, und das kommt ja gar nicht durch, war der Urlaub ganz nett. Mehr eigentlich, ganz toll nämlich. So toll, dass die Überlegung, vielleicht doch mal portugiesisch zu lernen, also ernsthaft diesmal, nicht einfach nur Farben und Obst bei Duolingo, in nähere Nähe rückt. So toll, dass Stunden im Urlaub in die Suche nach attraktiven Immobilien investiert werden. 
Die Portugiesen nämlich, stellt sich raus, sind unfähig, ihren Wohnbestand in den Innenstädten selbst zu renovieren, da muss mal ein Mensch mit Geld und zu viel Zeit ran, um ordentlich klar Schiff zu machen. Wichtig aber, die Wohnungen, immerhin frisch renoviert, nicht einfach wieder den Portugiesys zu geben, die wohnen ganz frech einfach nur runter, was man gerade so schön hochsaniert hat. Dann doch lieber AirBnBys, die zahlen wenigstens ordentlich für mangelhaft eingerichtete Küchen und abgeranzte Boxspringbetten, die haben noch die richtigen Prioritäten. Außerdem sprechen die meisten mindestens Englisch, manche sogar Deutsch, dann versteht man sich auch richtig. Viel besser so als mit den radebrechenden Portugiesys, die sich ja doch nur von ihren Niedriglohntourismusdienstleistungsjobs nach 18 Stunden Abwesenheit zurück in die Wohnung schleppen, die wissen doch die viele Arbeit, die man da investiert hat, gar nicht zu schätzen. Touristen dagegen, sehr fein, bringen Geld und auch noch Arbeitsplätze. Also das Geld für die Investorys, die Arbeitsplätze für die Einheimischen. Eine Win-Win-Win-Situation. Nacht für Nacht für Nacht, so toll. 

Nein, alles falsch, alles unwahr, alles Lüge. 
Ja, die Touristen, ja das AirBnB, ja, der Verlust von Authentizität und die Disneylandifizierung der Alt- und Innenstädte, ja, erwischt, das findet alles statt. Aber trotzdem hat doch Portugal auch gute Seiten. Das Licht zum Beispiel, das Meer, die Luft, das Wetter. Die Landschaft, die Architektur, die Geschichte eines Landes, das mal klein war, dann groß, dann wieder klein, dann Provinz, dann freigekämpft, dann Diktatur, dann Rebellion. Ein Land mit Geschichte, mit Tiefe, mit Leidenschaft, durchtränkt von einer greifbaren, ansteckenden Sehnsucht, der saudade, die mehr ist als der Wunsch nach Zufriedenheit, sondern schon auch ein bisschen die wehmütige Träne ist, die den traurigen Zeiten nachgeweint wird, denn auch da hat man ja gelebt und gelacht und geliebt. Der Mensch ist erst ganz, wenn er anerkennt, dass er mehr ist als die Instagram-fähigen Momente. Ja, banal, aber die Glückskeksfabrik ist derzeit wegen neu regulierter Arbeitszeiten geschlossen. 

Und überhaupt, muss hier abrupt abgebrochen werden. Zeit für einen Ortswechsel. 

Doppelbelichtung

Pöm
April 7, 2022

den Tod haben wir
abgeschafft
er passte uns
nicht mehr ins Bild

hier schlafen Menschen
mit Sand in den Augen
atemlos die Ruhe
zu wahren

dieser hier malte mir
Milchherzen auf den Kaffee
und schenkte mir
Kekse mit süßem Kern

hier hat er die Augen
geschlossen das Lächeln
verloren das Herz hart
und kalt seine Haut

wir legen ihn hier
unter Erde und Steine
die streunenden Hunde
wecken ihn nicht.

Der Narr, der den Riesen geblendet hatte

Textualitäten
März 31, 2022

An jenem wie an jedem anderen Morgen stand Outis auf, wusch sich an dem Bach, trocknete seinen Leib und band sich den Schurz um die Hüfte. Er holte sich ein Stück Brot und trank einige Schlucke vom süßen Wasser, bevor er zu den Tieren ging. 
Die Wachteln musste er suchen: sie versteckten sich gerne im Unterholz. Mit einigen Bröseln des harten Brotes jedoch konnte er sie hervorlocken. Die größte und wohl älteste Wachtel, vielleicht auch die Mutter der übrigen neun, pickte ihm eine große Krume direkt aus den Fingern, danach schmiegte sie ihren Kopf in seine Hand. Outis hatte sie Gedächtnis genannt in der Hoffnung, dass wie sie auch seine Erinnerungen sich einmal locken ließen und zu ihm zurückkehrten. 
Eine Weile saß er zwischen den gurrenden Vögeln und streichelte ihre Köpfchen, bis sich die Ziege näherte, der er den Namen Vergessen gegeben hatte. Sie musste er nie suchen, sie fand ihn an jedem Tag ohne sein Zutun. Vergessen meckerte leise, stupste seine Hand mit den Nüstern an, bis er den Rest des Brotes freigab, das sie mit Knuspern und Knirschen zerbiss und dann schluckte. Wieder stupste sie ihn an, erst sanft, dann fordernder, doch Outis sagte: „Ich habe nichts mehr.“ Da ließ sie von ihm ab und trottete wieder fort.
„Ich habe nichts mehr“, wiederholte Outis und sah den Wachteln nach, die wieder im Unterholz verschwanden, um dort nach Würmchen, Gräsern und Samen zu picken. Dann stand er auf und ging wie an jedem anderen Morgen ans Ufer, um in der Sonne zu sitzen und das Meer zu betrachten. 

Seit Wochen, Monaten oder Jahren schon war Outis nun hier zu Gast bei Hirte und Jägerin und ihrer stets vor ihm verborgenen Mutter. In seiner Zeit hier hatte er letztere noch nicht gesehen, weilte sie doch beständig in dem kleinen Hain aus Zypressen, Weiden und Erlen, den zu betreten er bislang vermieden hatte. Dort buk sie das Brot, und sie molk auch die Ziege und verarbeitete die Milch zu Käse, den ihre Kinder ihm brachten, zusammen mit Obst, Gemüse, Oliven und Wein. Sie hatte ihm auch ein Tuch gewebt, das er abends um sich legte, wenn Hirte ihn besuchen kam und ihn seine Lieder zu singen lehrte. Manchmal setzte sich auch Jägerin zu ihnen und unterhielt sie mit Geschichten. Die meisten Abende aber verbrachte Outis allein an seinem kleinen Feuer und folgte dem schläfrigen Mäander seiner Gedanken. 
Am Abend jenes Tages setzten sich Hirte und Jägerin zu Outis. Jägerin erzählte von einem Narren, der einen Riesen zu blenden versucht hatte, dann wob Hirte auf der Lyra eine in sich verschlungene Melodie. Outis hört eine Weile zu, dann sagte er: „Ich kann mich an Sterne erinnern und an den Mond. Die Nächte früher sind nie so dunkel gewesen.“ 
Tatsächlich hatte er in all seiner Zeit hier noch keinen einzigen Stern gesehen, der Himmel wurde nach Sonnenuntergang stets so finster wie das Innere seines Kopfes. Outis hatte das nicht hinterfragt, hatte es als weitere Selbstverständlichkeit hingenommen, doch nachdem er früher am Tag die fremde Küste gesehen hatte, waren ihm alle Selbstverständlichkeiten abhandengekommen. Ihm war zumute gewesen, als habe ein Boot den Berg einer Welle erklommen und sei dann am höchsten Punkt über den Kamm gekippt, um wieder hinab zu sinken ins Wellental. Angesichts des Festlands auf der anderen Seite des Meeresarms hatte er erkannt, dass der Boden unter seinen Füßen weder fest noch Land war.

Am Abend jenes Tages also sagte er zu Hirte und Jägerin: „Ich habe heute Land gesehen, zu weit entfernt, um hinüber zu schwimmen, aber doch Land. Ich mag mir selbst ein Niemand sein, aber ich weiß mit der Gewissheit eines Lebenden um das Schlagen des eigenen Herzens, dass es dieses Land gestern dort nicht gab.“
Hirte und Jägerin sahen Outis an mit ihren strahlenden Augen, die nicht vom Licht der Flammen glänzten, sondern von innen heraus, als brenne in ihnen ein ganz eigenes Feuer, silbern bei Jägerin und golden die Augen von Hirte. Wäre dieses Strahlen nicht gewesen, Outis hätte die beiden für die schönsten aller Menschen halten können: jung und kraftvoll, makellos mit seidenglatter Haut und schimmerndem Haar; diese Augen aber, mit denen die beiden ihn ansahen, verrieten ihre Unmenschlichkeit: Sie waren Götter, die ihn zu sich genommen hatten, um ihn mit der Leere in seinen Erinnerungen zu quälen. 
„Den halben Tag habe ich nach Erklärungen gesucht. Das Land kann nicht über Nacht aus dem Meer aufgestiegen sein, also müssen wir uns bewegt haben. Doch wie? Sind wir etwa nicht auf einer Insel, fragte ich mich und fand: Nein, denn das hier“, er schlug auf den Boden, der nun, da Outis um die Nichtinseligkeit wusste, für ihn spürbar zurückfederte, „ist keine Erde, und doch wachsen Blumen und Büsche und Bäume darauf. Ich kann in einem glatten Kreis an der Meereskante entlanggehen, doch nirgends eine Bucht, nirgends eine Anse, nichts, das den Saum des Ufers durchbricht. Unter der Wasseroberfläche aber habe ich große eingewölbte Flächen entdeckt, wie Bootsrümpfe, doch ohne Planken, Spanten oder Mastschuh.“ 
Mehr um diese Kehlung sich selbst zu verdeutlichen als dem Hirten und der Jägerin, legte er die Hände an der Seite der kleinen Finger aneinander, als wolle er Wasser schöpfen, doch als ihm auffiel, wie sehr diese Geste einer Bitte um Mildtätigkeit glich, ließ er die Hände fallen und hob stattdessen die Augen, um sich mit dem Mut des Verzweifelten den glühenden Blicken der Götter zu stellen. 
„Ich bin zu einem Schluss gekommen, zu einer Erkenntnis so einfach wie widersinnig: Das hier“, er schlug erneut auf den Boden, „ist eine Blüte, groß genug, um einen kleinen Wald zu tragen. Und ich sehe keine Sterne und keinen Mond, weil sich diese Blüte abends schließt und so die Nacht vor meinen Augen verbirgt.“ 

Hirte sagte leise zu seiner Schwester: „Ich sagte doch, er ist schlauer als du denkst.“
Und Jägerin sagte ebenso leise zu ihrem Bruder: „Doch ist er schlau genug, um zu verstehen?“

„Was ich nicht verstehe, ist: Warum? Ich zweifle nicht daran, dass Ihr in Eurer Göttlichkeit auch eine Blume von der Größe eines Kriegsschiffes erschaffen könntet; doch warum bin ich hier? Was habe ich Euch getan?“ Und da erfasste Outis ein Schrecken. „Oder bin ich doch schon gestorben und glaube nur, mein Herz schlagen zu spüren?“
Da erhob sich Hirte, umrundete das Feuer und hielt Outis die Hand hin, um ihm aufzuhelfen. Ohne nachzudenken, ergriff Outis die Hand des Gottes. Erst zu spät fiel ihm ein, dass er, der Sterbliche, noch nie den Unsterblichen berührt hatte, und Entsetzen lähmte ihn. Doch Hirte, dessen Hand sich anfühlte wie die eines zwar starken, aber dennoch gewöhnlichen jungen Mannes, zog ihn ohne Mühe auf die Beine. Und dann war da auch schon Jägerin, die seine andere Hand nahm, mit festem, weniger freundlichem Griff. Nebeneinander standen sie vor ihm, hinter ihnen das auflodernde Feuer, das Outis' Blick auf sich zog, so dass er die Götter vor ihm kaum noch ausmachen konnte. Ihre Stimmen jedoch schmolzen ihm durch Haar und Haut und Knochen und Mark direkt in seine Gedanken.
„Zwar bist du dem Tode nah“, sagte Jägerin. Und Hirte sagte: „Doch dein Leben ist noch nicht vorbei.“
Und hinter ihnen und hinter dem Feuer, das noch einmal aufbrannte und dann in sich zusammenfiel, sagte eine Frau, die niemand anderes als die lang verborgene Mutter der göttlichen Zwillinge sein konnte: „Noch bist du fern der letzten Ufer, noch ist dein Werk nicht ganz getan.“ 
Outis‘ Sicht war noch geblendet von den Flammen und doch erfasste sein Geist im Dämmerlicht der glimmenden Kohlen die Gestalt dieser Frau: sie hielt sich aufrecht mit dem Stolz einer Königin, ihre Hände jedoch hatte sie in einer Geste des Willkommens geöffnet. Ein Teil von Outis' Geist ahnte, dass diese Frau schön sein musste, ihr Gesicht allerdings war, als trauerte sie, hinter einem schwarzen Schleier verborgen. Als sie sprach, war ihre Stimme honigsanft: „Du bist aus freien Stücken unser Gast, und es steht dir frei, uns zu verlassen, wann immer du willst.“
„Warum aber kann ich mich nicht daran erinnern?“ Outis hatte Schwierigkeiten zu sprechen, nicht nur der Erhabenheit eines vermeintlichen Sakrilegs wegen, sondern auch, weil es ihn alle Kraft kostete, nicht in Tränen auszubrechen. „Habe ich Euch etwa ums Vergessen gebeten?“
„Ja, mein Kind“, antwortete die Verschleierte, „ja, das hast du.“
Und dann war sie bei ihm und schloss ihn in ihre Arme und er weinte, wie er lange nicht geweint hatte. Alles in ihm krampfte sich um sein heftig schlagendes Herz, sein ganzer Körper bebte unter dem Ansturm einer Verzweiflung, die er bis eben noch nicht in sich gekannt hatte. Bilder stiegen in ihm auf: Wunden an seinem Leib, an seinen Händen fremdes Blut, Körper, über die er hinwegstieg, seine Waffe schwingend, schreiend, fluchend, weinend. Er sah sich selbst töten, wahllos auf Lebende, Sterbende und Tote einschlagend, um sich herum Dutzende Soldaten, die im abgehackten Flackern einer brennenden Stadt fliehenden Männern, Frauen und Kindern nachjagten. Er stand inmitten von Leichen, und er hörte sich lachen, und er erkannte den Wahnsinn darin, und er verstand, warum er hatte vergessen wollen, und dann er erinnerte sich an mehr.
„Ihr wart dort“, sagte er, seine Stimme nur noch ein Flüstern. „Ich habe Euch gesehen. Ich habe gegen Euch gekämpft.“
„Ja“, sagte die Frau hinter dem Schleier, „wir waren dort und wurden Zeugen deines Mordens.“
Outis entwand sich der ebenso tröstenden wie schrecklichen Umarmung. „Und doch habt Ihr mich hier aufgenommen und mir die Seligkeit des Vergessens geschenkt?“
„Wir haben dir eine Zuflucht gegeben, als du uns darum batest, aber nicht wir haben deine Erinnerungen genommen. Das hast du selbst getan. Du wolltest dich vergessen.“ Die Verschleierte trat beiseite, so dass er hinter ihr einen abgeflachten Hügel sehen konnte, auf dem der Körper eines Mannes lag, durchscheinend wie aus mattem Licht gewebt. Outis erkannte, als er nähertrat, sein eigenes Gesicht auf diesem Mann: hager mit schütterem, von grauen Strähnen durchzogenem Bart, über einer durchfurchten Stirn langes, schwarzes Haar mit Silberfäden darin. Der Mann, der Outis' Züge trug, schien zu schlafen, doch was er träumte, quälte ihn sichtlich. 
„Du warst ein flaches Boot auf einem tiefen Meer, überladen mit Reue. Sie drohte, dich ins Nichtsein hinabzuziehen. Ein Rest von Weisheit rettete dich: All das vergossene Blut sollte nicht für nichts gewesen sein. So entkamst du dem Tod, so entkam dir die Welt. Sieben Jahre sind vergangen ohne dich.“
„Werde ich zurückkehren?“ Outis deutete unbestimmt auf den zitternden Mann. „Muss ich dieses Leben wieder aufnehmen? Kann ich es überhaupt? Sollte ich es wollen?“
„Es ist das Glück der Sterblichen, nichts über ihr Schicksal zu wissen. Wir werden dir nichts befehlen, wir werden dir nichts raten. Du wirst tun, was du willst.“
„Aber Ihr seid Götter!“ rief Outis aus und bereute sofort seinen Ausbruch. Ruhiger sagte er: „Ihr besitzt die Macht über Leben und Tod, Ihr habt gewiss auch Macht über mich.“
„Es ist wahr, wir verfügen über mehr Kenntnisse und Möglichkeiten als die Sterblichen. Doch auch uns sind Grenzen gesetzt. Auch wir beugen uns einem Schicksal. Wir tragen die Last der Unsterblichkeit und die Bürde von Wissen, Wahrheit und Erinnerung.“
Und die Jägerin, die in dem Moment, in dem sie sprach, neben Outis trat, sagte: „Wir können töten, und jedes Leben, das wir nehmen, ist unauslöschlich in unsere Seele eingeschrieben.“
Und der Hirte, der bis eben noch nicht wieder neben Outis gestanden hatte, sagte: „Wir können heilen, und jene Leben, die wir retten, sind unentwirrbar mit unserer Seele verbunden.“
Und die Frau mit dem Schleier sagte: „Richteten wir über dich, machte es das Leid, das du verschuldet hast, geringer? Nähme es den Trauernden ihr Leid? Wäre die Welt ein besserer Ort?“
„Nein“, sagte Outis, das Wort bitter in seinem Mund und bitterer noch seine Gedanken. Doch sagen konnte er nur: „Nein.“ Und dann: „Ich will zurückkehren.“
Und alle drei, Hirte, Jägerin und verschleierte Frau, sagten zugleich: „So sei es.“

Da erlosch das Glühen der Glut und hoch über ihnen brach ein Licht durch einen Spalt in der Finsternis. Outis blickte hinauf in einen achtzackigen Stern aus hellblauem Himmel, dessen Kanten sich rasch verlängerten und bis auf den Horizont herabsanken, während die Lichtlosigkeit mehr und mehr ausblich und nur das Licht eines Morgens zurückließ, als die Blütenblätter unter der Wasserlinie verschwanden. Und auch die Bäume, Sträucher und Blumen waren fort. 

Outis stand im Zentrum einer kreisrunden Ebene, die bewachsen war mit weißblühendem Klee und gelbdoldigem Kraut. Neben ihm standen Hirte und Jägerin, vom Tageslicht durchschienen. Ihre Mutter war nicht mehr zu sehen. Zwischen ihnen sprudelte eine Quelle aus vier Öffnungen einer niedrigen Aufwölbung. 
Erinnerungen stürzten auf Outis ein: die Jahre des Kriegs, das Taktieren, das Gemetzel, die Opfer davor und danach. Aber auch an das Leben, das er früher geführt hatte, erinnerte er sich, als König an einem eigenen Hof mit einer ihn liebenden Frau und einem kleinen Sohn. Und dann auch an den Moment kurz vor seinem Vergessen, an den Schatten einer Frau mit einem Schleier, die zu ihm von der Macht der vier Quellen gesprochen hatte. Die erste bringe den Tod, hatte sie gesagt, und die zweite das Vergessen und die dritte … Doch Outis war schon auf die Knie gefallen, hatte die Hände wie eine Schale ins Wasser getaucht und getrunken. Geschöpft und getrunken, geschöpft und getrunken. Geschöpft und …
All diese Gedanken türmten sich wie Felsen auf die Ruhe in seinem Inneren. Kurz stach ihn die Sehnsucht nach dem Stupsen einer Ziege und dem Gurren der Wachteln. Alles war so einfach gewesen, so konsequenzenlos unwichtig. 
Doch Outis bat nicht um die Gnade erneuten Vergessens, sondern ging in Begleitung der geisterhaften Zwillinge zur Meereskante, wo er sein Boot an einer speerartig aufragenden Blütenzunge befestigt fand. Hirte reichte ihm einen Wasserschlauch und Jägerin einen Sack mit Proviant. Outis bedankte sich wortlos, kletterte in das Boot, setzte das Segel und überließ sich dem Westwind.

verschweige dem Feuer das Holz

Pöm
März 15, 2022

seine Gier beißt sich
in unsere Augen
und
unsere Tränen entreißt uns
sein Hunger

in seinem Flackern
queren wir Schatten

erreichen wir bald
eine Lichtung
oder
gehen wir tiefer
hinein in die Glut

Tomaten im März

Von der Front
März 7, 2022

Gewohnheiten sind Gefängnisse. Gewissheiten auch. Sind wir in ihnen verhaftet, können wir nicht mehr aus unserer Haut, und manchmal, so sagt es der Gatte, kann das ziemlich lästig sein. 
Na gut, er sagt nicht lästig, sondern nervig, aber wo - ganz ehrlich - ist der Unterschied?

Ich habe Tomate auf dem Teller. Genauer: ein Bett aus konzentrierter Tomate. Kein Tomatenmark, keine gebackene Tomate, ein Bett aus konzentrierter Tomate. Darauf: sechs Zentimeter Schwarzwurzel, längs halbiert, außen angegart, innen knusprig, weil roh. Um ganz ehrlich zu sein: ich habe zwei Betten aus konzentrierter Tomate, darauf jeweils ein längs halbiertes Stück Schwarzwurzel, dazwischen eine mit Spitzkohl gefüllte Spitzkohlroulade. Die wiederum liegt auf ihrem eigenen Bett aus Bratkartoffelpü. Weiß immer noch nicht, ob es gebratenes Kartoffelpü ist oder Pü aus Bratkartoffeln. Oder gebratenes Pü aus Bratkartoffeln.

Überhaupt: Pü. 
Der Service sagt ganz unironisch "Pü". Immerhin sagt der Service nicht "Kapü". Wobei "Brakapü" mich vielleicht noch mehr verwirrt hätte. Mit einem Hauch möglichen Amüsements. "Bratkapü, wie neckisch!"
Andererseits sind wir ja hier in einem Sternerestaurant, in der Karte stand Bratkartoffelstampf, keine Ahnung, warum ich jetzt Brakapü auf dem Teller haben sollte. Oder Bratkartoffelpü.

Oder Tomate, von der stand nämlich nichts in der Karte. Sondern nur, wie es heutzutage nicht mehr nur in der gehobenen Gastronomie üblich ist: "Spitzkohlroulade & Schwarzwurzel. Bratkartoffelstampf / Crottin de Chavignol"

Crottin de Chavignol übrigens ist ein in der Regel weiß beflaumter Ziegenrohmilchweichkäse mit nur leicht ziegigem, dafür gut nussigem Geschmack. Es gibt ihn auch lange gereift, dann wird die Rinde schwarzbraun, das Aroma sehr intensiv. Dann erinnert er auch daran, was Crottin eigentlich heißt: nämlich Pferdeapfel. 
Nun bin ich kein Käseverächter, ganz im Gegenteil. Ich liebe Käse. Mein erstes Käsebuch habe ich bekommen, da war ich noch nicht in der Pubertät. Ich habe drei Jahre Käse verkauft und der Kundschaft dabei auch erfolgreich Milbenkäse untergejubelt. Also eigentlich: sie davon überzeugt, Mimolette zu kaufen. Und zu mögen. 
Insofern war ich nicht überrascht, in der Speisekartenaufzählung von "Spitzkohlroulade & Schwarzwurzel. Bratkartoffelstampf" auch Crottin de Chavignol vorzufinden. 

Überrascht bin ich, dass der Crottin de Chavignol nur dünn auf eine Lage schwarzen Trüffels gerieben worden war, darunter dann die (mit Spitzkohl gefüllte) Spitzkohlroulade auf ihrem Brakapübett, rechts und links akkompagniert von Schwarzwurzelhälften auf einem Bett konzentrierter Tomate. Und außenherum noch irgendwelcher Kram, keine Ahnung, ich kann mir nicht alles merken. Und überhaupt ist eh schon zu viel auf dem Teller. Wir sind in einem Sternerestaurant, da will ich nicht den ganzen Teller voller Kram, da will ich Konzentration auf das Wesentliche. 

Und vor allem will ich weder Trüffel - der nicht nur komplett überbewertet ist für einen meinetwegen schwer zu findenden Wurzelpilz, sondern auch ein so intensives Eigenaroma hat, dass er gerade in Kombination mit Schwarzwurzel und Spitzkohl mal besser auf der Karte gestanden hätte, dann hätte ich gleich im Vorfeld was anderes bestellen können - noch will ich Tomate, nicht als Konzentrat, auch nicht unter meiner Schwarzwurzel und erst recht nicht im März!

"Ja", könnte da wer sagen, der Gatte zum Beispiel, "vielleicht ist es ordinäres Tomatenmark."
WTF?
Warum sollte mir in der Sternegastronomie jemand einen Esslöffel ordinäres Tomatenmark auf den Teller schmieren und dann eine halbe ungegarte Schwarzwurzel drauflegen? Warum sollte ich dafür 26 € zahlen? Soviel nämlich kostet das Gericht, wenn es außerhalb des Menüs bestellt wird.

Tomate, das wissen viele Menschen nicht, weil es sie nicht tangiert, ist ein interessantes Gemüse, das - und das wissen wiederum viele Menschen, weil es ein nicht mehr lustiger Fun Fact ist - eigentlich eine Frucht ist, genauer: eine Beere. Sie wurde erst im 16. Jahrhundert aus Mittelamerika nach Europa gebracht, wo sie als Nutzpflanze kaum Verbreitung fand, weil alle die Früchte für giftig hielten (was sie ja in Teilen auch sind), weshalb sie im 17. Jahrhundert auch für medizinische Zwecke genutzt wurde. Erst im 18. Jahrhundert wurde der Verzehr der Tomatenfrucht üblich. So üblich übrigens, dass Tomaten mittlerweile kaum noch als Schmuckpflanze in Betracht kommt, sondern überwiegend in Intensivkultur gezogen wird. Sprich: in Gewächshäusern. Und die stehen entweder in Südeuropa, weil es da viel Sonne, wenngleich wenig Wasser gibt, oder in den Niederlanden, wo es viel Wasser, dafür wenig Sonne gibt. Irgendwas ist halt immer. 
In den Gewächshäusern leben nicht nur die Tomaten, sondern auch Hummeln. Tomaten sind nämlich Vibrationsbestäuber, und darum werden für die Bestäubung von Tomaten gerne Hummeln eingesetzt, die aber nicht aus den Gewächshäusern entkommen sollen, damit sie sich - weil sie in der Regel keine einheimischen Hummeln sind - nicht irgendwo in der für sie fremden Natur niederlassen. Wobei sie ja eigentlich für die einheimische Natur fremd sind. Trotzdem schlecht. 
Ach so, und dann gibt es ja noch die schwarzarbeitenden Geflüchteten aus Afrika, die für Hungerlöhne in den Gewächshäusern schuften, damit ich auch im März im einzigen Sternerestaurant auf Norderney ein Bett aus konzentrierter Tomate mit einem Stück Schwarzwurzel obendrauf neben meiner Spitzkohlroulade finden kann. Aber wer interessiert sich schon für geflüchtete Schwarzarbeiter. Und, ja, das war eine rhetorische Frage, sonst hätte ich den Satz mit einem Fragezeichen interpunktiert. 

Es beginnt der dritte Akt. Der Abend hat ganz freundlich angefangen, umsichtig der Concierge, der die Reservierung abfragte, die Mäntel entgegennahm, die Impfzertifikate prüfte, uns an den Tisch geleitete, sogar einen der Stühle leicht zurückzog, ein Relikt chauvinistischer Höflichkeit, als man den Damen noch den Stuhl zurechtrückte, weil sie das bestimmt nicht selbst gekonnt hätten. Es wurde die Karte gebracht, Wasser angeboten, ein Aperitif vorgeschlagen, um die Speisenauswahl zu erleichtern. Sprich: Eine gut laufende Maschinerie war in Gang gesetzt worden.

Eine Maschinerie, die sich mittlerweile auch dort durchgesetzt hat, wo es keinen Michelin-Stern an der Tür, keine Hauben im Gault-Millau hat. 
Natürlich gibt es einen Grund für das Gewese: der Gast soll sich wohlfühlen, sich einschließen lassen in das gemütliche Gefängnis aus Gewissheiten. Erst die Begrüßung an der Tür, dann die Begrüßung am Tisch, hier das Wasser, da das Brot, gleich der Gruß aus der Küche. Sei unser Gast, es ist alles wie üblich, du kennst das ja schon, also entspann dich. 

Der zweite Akt beginnt mit dem ersten richtigen Gang des Menüs. Denn da mag ja "Blumenkohl in Nussbutter konfiert. Garam Masala / Orangenvinaigrette / Mandelcreme" in der Karte stehen. Aber wie das dann an den Tisch kommt, ist ja eine ganz andere Frage. 
Als Gast habe ich ja aufgrund meiner bisherigen Erfahrung mit Restaurants verschiedener Qualität auch bestimmte Erwartungen. Betrete ich ein Lokal, dem ich das alte Fritierfett nicht nur anrieche, sondern es auch als Lack auf den Wänden dient, vermute ich eine andere Qualität der Speisen als, sagen wir, in einem Tempel der gestärkten Tischwäsche, wo im Dunkel einer eigens dafür hingemauerten Nische ein Dessertwagen mit handgemachten Rhabarberlollis winkt. Das muss nicht unbedingt bedeuten, dass mir auf feinstem Porzellan servierter "Skrei im Pankomantel an gerösteten Kartoffelspitzen" besser schmeckt als "Fish and Chips" auf die Hand. Das bedeutet lediglich, dass das Ambiente eine gewisse Erwartungshaltung auslöst. 

Und das, was mir dann serviert wird, kann meine Erwartung enttäuschen oder auch übertreffen. Darum, denke ich, gehe ich auch in ein Restaurant der gehobenen, ja sogar der sterneprämierten Gastronomie: um meine Erwartung von Essen zu unterlaufen. Gerne im positiven Sinne. Einmal kurz das Gefängnis der Gewohnheit verlassen, sich über die Erlebnisse beim Freigang freuen und dann auch wieder zurückkehren in das alte Leben aus Gewissheit. 
Natürlich ist das Luxus. Und natürlich muss Luxus nicht immer teuer sein. Auch ein Strandspaziergang kann Luxus sein, vor allem, wenn der eigentliche Wohnort nicht am Meer liegt, sondern in der Mitte Deutschlands, eine sechsstündige Zugfahrt vom Strand entfernt (plus eine weitere Stunde auf der Fähre). 
Luxus kann es auch sein, sich eine Stunde für einen Plausch mit der liebsten Freundin freizuschaufeln. Luxus ist alles, was das Gefängnis der Gewohnheit aufbricht. Dass das nicht jedem in einem Sternerestaurant widerfährt, ist mir klar, und ich bin mir meines Privilegs da wohl bewusst. 

Der Blumenkohl jedenfalls überrascht positiv. "Konfiert" hätte ich das, was dem Kohl geschehen ist, zwar nicht genannt, aber er ist gut gegart, hübsch mit Garam Masala bestreut und nochmals kurz geröstet, danach mit der Mandelcreme auf den Teller geklebt worden. Die Mandelcreme dient auch der Befestigung anderer Dinge, Schnipsel französischen Estragons beispielsweise, der zwar auch bei mir auf der Fensterbank gerade wieder austreibt, aber in dieser Größe und Aromatik nur aus dem Lebensmittelgroßhandel stammen kann. Aber sei es drum, es ist ja nur ein bisschen Deko, nix Wildes. 

Obwohl: ich verbinde die Kunst des Kochens vor allem mit Reduktion und Konzentration. Ein Teller sollte Sinn ergeben, nicht übersättigen; denn erstens: Luxus. Und zweitens kommen ja noch fünf Gänge. 
Dekoration brauche ich da also eigentlich nicht, vor allem, wenn sie geschmacklich nicht viel bringt. Der Estragon ist, kommt er aus dem Großhandel, fast nur scharf, das Estragol wird deutlich vom Ocimen und vor allem vom Phellandren überlagert. Gleichzeitig besitzt der Blumenkohl mit seinem Sulphoraphan ja schon eine eigene subtile Senfölschärfe, zwar gemildert, aber doch ausreichend wahrnehmbar. Wozu also der Estragon, könnte ich mich fragen. Mache ich aber nicht, weil es hübsch aussieht (wenngleich ganze Blättchen oder ordentliche Streifchen besser aussähen als offensichtlich ungleich geschnittene Lanzetten), ich außerdem noch in der wohligen Hülle des Ankommensrituals stecke und ich ganz allgemein ja kein kleinlicher Spielverderber sein will. 

Der zweite und der dritte Gang: Artischockensuppe (ein bisschen zu säurelastig, die Parmesangnocchi darin zu dominant, außerdem: Trüffel, wenngleich angekündigt) und Pilzrisotto (hier hätte ich den gesamten Trüffel des Abends erwartet, stattdessen unreife Feige als: Dekoration? Kontrastmittel? Hinweis auf die saisonalitätsvergessene Konzepthörigkeit?). Dann: Pause. Unangekündigt. 

Der Gatte hat auf dem Sofa den besseren Platz: Er kann in den Gastraum schauen, auf die Menschen, die dort sitzen, teils zahlen, teils die neu eingedeckten Tische nachbesetzen, teils erst den Aperitif bestellen, dann die geleerten Gläser abservieren lassen. Er hat auch einen guten Blick in die offene Küche. Natürlich nicht ganz offen, eine Glasscheibe trennt den Ort der Produktion von der Stätte der Konsumtion. Aber auch das ist ja mittlerweile üblich: den Gast am Werden dessen, was gegessen werden soll, wenigstens blicklich beteiligen. 
Natürlich sieht der Gast eher wenig, nur ein gewisses Gewusel, ein scheinbar orchestriertes Chaos, in dem alle ihre Rolle kennen, aber doch keiner stringenten Choreografie folgen. Aber zumindest weiß jede Hand, was sie zu tun hat, folgt der Gewissheit der nötigen Arbeitsschritte, um beispielsweise aus einem vorgegarten Blumenkohlröschen und der vorbereiteten Vinaigrette sowie der cremierten Mandel einen ansprechenden Teller zu bereiten. Inklusive Chichi. 

Wobei: Röschen. Tatsächlich ist das, wird mir Tage später beim Schreiben dieses Textes erst auffallen, gar kein Röschen, sondern ein ganzer Kopf. Ein ganzer Blumenkohl, früh geerntet, damit er als Minigemüse auf meinem Teller liegen kann. Wie ich diesen Trend der Gemüsediminiuierung finden soll, weiß ich noch nicht. Natürlich war er mir bekannt, denn Minigemüse gibt es ja nicht erst seit letzter Woche. Die vegetabilen Auslagen sind ja voll mit miniaturisiertem Gemüse, eine gewisse spielerische Arroganz dem Lebensmittel gegenüber hat sich eingeschlichen selbst in discounterigste Supermärkte. 
Teils natürlich nachvollziehbar: das junge Gemüse ist natürlich auch das feinste. Die Verholzung der Frucht hat noch nicht eingesetzt, das Fruchtfleisch ist noch nicht zäh verfasert, die Bildung der Bitterstoffe beginnt erst. Außerdem sind kleine Gemüse niedliche Gemüse, und das Kindchenschema, obschon es nicht funktionieren dürfte, greift auch hier. 

Andererseits: mit einem großen Blumenkohlkopf bekomme ich deutlich mehr Menschen satt pro Blumenkohlpflanze als nur mit einem Minikopf. Ist das eine Rechnung, die ich jetzt aufmachen mag? Ich glaube nicht, ich denke auch nicht weiter nach, es gibt Wichtigeres zu tun: der Hauptgang kommt: "Spitzkohlroulade & Schwarzwurzel. Bratkartoffelstampf / Crottin de Chavignol"

Oder kommt auch nicht. 
Kommt lange nicht. 
Kommt vielleicht gar nicht mehr.

Die Gläser sind leer, das Brot ist gegessen, der Gatte gönnt mir den letzten Schluck Wasser aus der Flasche. Die Tische um uns herum werden bedient, in der Küche herrscht Betriebsamkeit. Sagt der Gatte. Sieht der Gatte. Ich sehe nur die rohe Backsteinmauer und das Fenster, das schräg rechts vor mir einen Blick auf den Deich und das dahinterliegende Meer bot, bevor die Sonne unterging. Nun ist draußen nur noch Dunkelheit. Als wäre die Welt hinter dem Fenster abgeschnitten worden. Ich könnte die Tür öffnen und hindurchtreten und einfach in tiefe Schwärze oder schwarze Tiefe fallen, je nach Gusto. Tatsächlich sitze ich aber nur auf meinem Stuhl und schaue abwechselnd das Fenster an, den Gatten und die Wand. Der Gatte berichtet derweil davon, was die anderen Gäste alles bekommen und wir nicht. 

Der einzelnen Dame neben uns serviert der Concierge ein Sorbet. Ein palate cleanser. Wird üblicherweise vor dem Hauptgang gereicht, um die Geschmacksknospen zu erfrischen, bevor sie sich mit dem nächsten Gang auseinandersetzen sollen. Beim Sushi tut es auch eingelegter Ingwer. Oder eine Gurkenscheibe. Bei Weinverkostungen gibt es dazu das Brot. Im Grunde könnte man sich aber auch einfach den Mund mit Wasser ausspülen, wenn man noch welches hätte. 

Ich bemerke das Anpirschen meiner eigenen Unleidlichkeit in meinen Gedanken bezüglich des palate cleansers. Kann mich gerade noch daran hindern, meine Abfälligkeit laut auszusprechen, das Augenrollen kann ich aber schon nicht mehr aufhalten. Der Gatte hat das Augenrollen nicht bemerkt, also rolle ich noch einmal. Immer noch nichts, er ist abgelenkt, versucht, den Service auf die Leere unserer Gläser hinzuweisen. Recht hat er, das Warten wäre erträglicher, könnte ich es mir schöntrinken. Gleichwohl bleibt er ohne Erfolg, denn plötzlich ist alles Personal fort, nur in der Küche herrscht noch Betriebsamkeit. 

"Ob", hebt der Gatte an, "die Arbeit in der offenen Küche sich sehr von der in einer geschlossenen unterscheidet?" 
"Du meinst, ob ordentlicher gekocht wird, wenn die Gäste jedes Abschlecken eines Probierlöffels sehen könnten?"
"Nein, ob die allgemeine Atmosphäre besser ist, weil die Gäste es mitbekommen würden, wenn die Restaurantleitung die Lehrlinge abkanzelt."
"Ah. Wahrscheinlich auch das."
"Jedenfalls kommt jetzt unser Essen."

Kommt es nicht. Ein benachbarter Tisch, der deutlich nach uns besetzt wurde und auch das ganze Sechsgangmenü serviert bekommt, wird vorrangig bedient. Frage mich, ob ich uns mit meiner Dekorationsseziererei dermaßen abgehängt habe. Denke dann wieder, dass ein Sternerestaurant doch damit umgehen können sollte, wenn mal wieder jemand länger als sieben Minuten für einen in Stunden durchdachten und hochdekorierten Teller benötigt und damit den rasch gedachten Takt der Speisenfolge unterbricht. Habe mich wohl getäuscht. 

Die Dame neben uns löffelt eben die letzten Reste ihrer Ganache weg. Was ist mit ihrem Hauptgang passiert? Hat sie den palate cleanser etwa zwischen Hauptgang und Dessert bekommen? War das am Ende unser palate cleanser? Wann wird mein Gaumen gereinigt? Wieso habe ich noch nicht mal Wasser, Brot oder eine Gurkenscheibe, um das selbst zu machen? Warum werde ich als hochgeschätzter Gast einfach so ignoriert? Rolle wieder mit den Augen. Der Gatte sieht es immer noch nicht. Vielleicht ignoriert er es auch und weiß es gut zu verbergen, dass er mich ignoriert. 

"Und jetzt", sagt der Service überraschend nah an meinem linken Ohr, "ein Sorbet von der Blutorange." Ein kleines Schälchen mit einem Kügelchen roten Frosts steht vor mir. Darauf: eine winzige weiße Rolle. Denke spontan, es handelt sich um eine verzeihensheischende Botschaft aus der Küche. Tatsächlich ist es nur weiße Schokolade. Natürlich ist es weiße Schokolade, warum sollte jemand Papier auf ein Sorbet legen? Fühle mich dumm, ahne, dass ich mich bald noch dümmer fühlen werde. Ich kenne mich doch, kenne die Muster, in die ich verfalle, wenn ich mich entspannen soll, die Abwehr, die mein Geist aufbaut, um mir ganz sicher einen potentiell angenehmen Abend zu vermiesen. 

Während ich noch das Sorbet löffle, wird mir ein österreichischer Roter ins frische Glas gegossen, kaum ist das Schälchen leer, wird es ersetzt durch: "Spitzkohlroulade & Schwarzwurzel. Bratkartoffelstampf / Crottin de Chavignol".

Es beginnt also: der dritte Akt. 

Eigentlich hat er längst begonnen, die lange Pause vor dem Sorbet hat mit einem öde Prélude die Missstimmung  eingeleitet, der palate ist zwar gecleanst, die Laune aber auf dem Weg in den Keller. Und da habe ich noch nicht mal erkannt, dass meine Schwarzwurzel auf konzentrierte Tomate gebettet wurde. 

Ganz ehrlich: ich liebe Schwarzwurzel. Wäre sie nicht so eine dreckige Angelegenheit in der Zubereitung, ich zöge sie eindeutig dem Spargel vor, zu dem sie ja oft analogisiert wird als Winterspargel. Nicht dass sie irgendwas gemeinsam hätten, ist das eine doch ein im Frühjahr gestochener fleischig sprießender Stängel aus der Gruppe der Einkeimblättrigen und das andere eine eine erst ab dem Spätherbst geerntete tiefreichende Pfahlwurzel aus der Gruppe der Zweikeimblättrigen (spezifischer wird es jetzt nicht).
Mich erinnern Schwarzwurzeln sehr an meine Kindheit. Meine Großmutter hat sie immer in einer dicklichen Béchamel gekocht, ordentlich mit Muskat überstäubt und mit Schnittlauchröllchen bestreut, dazu Salzkartoffeln. Im Grunde bereite ich sie auch so zu, allerdings schäle ich sie erst nach dem Dampfgaren, weil dann der Latexsaft nicht so färbt.

Jedenfalls liebe ich Schwarzwurzeln so sehr, dass ich mich allein deswegen schon für das vegetarische Menü entschieden habe. Und wegen der Artischocken, der Nussbutter und des noch angekündigten Fourme d'Amberts und des ebenso angekündigten Baumkuchens wegen.
Meine Entscheidungen für oder gegen ein Gericht oder eine ganze Speisenfolge kann von bestimmten Reizworten abhängen. Es gibt Lebensmittel, die ich nicht mag, aber tolerieren kann, Trüffel gehört dazu, wenn ich mich darauf einstellen kann. Hummer hingegen sagt mir geschmacklich einigermaßen zu, ich kann ihn aber nicht genießen. Garnelen mag ich nicht und finde ich auch nur ausnahmsweise essbar. 
Dann gibt es Lebensmittel, die ich liebe, aber nicht oder nur begrenzt essen kann, beispielsweise Rote Bete. Topinambur. Bries. Überhaupt Innereien, schwer unterschätzt, weil die Menschen ja nichts mehr essen, was auch nur darauf hindeutet, dass das Essen mal ein Lebewesen war. Leber geht bei vielen ja noch, aber Bries? Das ist ja schon fortgeschrittene Anatomie. Und bei Niere denken gleich alle an Dialyse. Oder an Nierenspieß von der Kirchweih, was ein ganz eigenes Unrecht an der Welt darstellt. Aber überall da, wo es Bries gibt, muss ich Bries bestellen, weil mein Gehirn denkt: Wenn sie es anbieten, werden sie es auch zubereiten können. Und zumindest hatte mein Magen bislang noch keinen Grund, sich über diesen naiven Ansatz zu beschweren.

Als ich also Schwarzwurzel auf der Karte gelesen habe, war mir klar, ich muss mindestens den Hauptgang austauschen oder einfach gleich ganz das vegetarische Menü bestellen. Letzteres war einfacher, Ersteres hätte mich vielleicht aber weniger enttäuscht. Denn was dem Gatten jeweils aufgetischt wurde, erweckte in mir den Argwohn, dass das vegetarische Menü eher so eine Art Zweitverwertung der Reste des Fleischmenüs darstellte. Gab es zum Raviolo vom Wildhasen doch einen gebackenen Artischockenboden und zur Essenz von der Challans-Ente Krause Glucke, deren Putzabfälle sich jeweils hervorragend zu Suppe beziehungsweise Risotto restverwerten ließen. 
Ist mir natürlich recht, wenn Genießbares nicht weggeworfen wird, ich bin auch ein großer Verfechter der Nose-to-tail-Philosophie (auch wenn ich immer noch nicht weiß, was ich aus Rüssel machen würde). Allerdings könnte doch das vegetarische Gericht zuerst bedacht werden und das Übrige dann in die Beilage zum Fleisch wandern.

Im vierten Gang aber ist es zu spät für solcherlei Überlegungen, ich habe meine Wahl längst getroffen und muss, nein: will nun damit leben. Schwarzwurzel also, große Freude. Freude so groß, dass sie von der Bestellung reicht bis zum ersten Bissen. Außen glitschig, innen hart, dazwischen gähnende Leere. Geschmacklos. Oder vielleicht geschmacksschwach, zu ätherisch jedenfalls für die Wuchtbrumme von konzentrierter Tomate, die mit ihrer süßen Säure und der ganzen Kraft eines Umamilacks den frisch gecleansten palate in ein verödetes Schlachtfeld verwandelt. 

Dann eben die Spitzkohlroulade. Keine Ahnung, warum mich nicht wundert, dass die Füllung in Spitzkohl gerollt ist, aber es mich dann doch überrascht, dass die Füllung selbst auch nur aus streifig geschnittenem Spitzkohl besteht und schmeckt, als sei sie in ungesalzenem Wasser pochiert worden. 
Fun Fact: wenn einem ein Gemüse nicht schmeckt, hilft es meistens, das Zeug in ungesalzenem Wasser zu pochieren, gerne lang. Dadurch lässt sich fast 80 Prozent jeglichen Eigengeschmacks entfernen. Ein guter Tipp ist das für sehr geschmacksintensiven Kram, eine sehr dumme Idee ist das beim geschmacklich ohnehin schon reduzierten Spitzkohl. Vor allem, wenn auf dem Teller zwei große Kleckse mit konzentrierter Tomate rumliegen.

Dann also eben das Brakapü. Immerhin hier Röstaromen. Immerhin hier ein Geschmack, der dem Tomatenmark gewachsen sein könnte. So die Erwartung. Zeigt sich: Ja, da ist was. 
Leider.

Kartoffeln, das lese ich immer, sollen für Bratkartoffeln oder Klöße et cetera am besten am Vortag gekocht werden. Der praktische Nutzen liegt auf der Hand: Kartoffeln vom Vortag sind nicht mehr so heiß, sollen sie weiterverarbeitet werden. Leider, und das steht nicht in den Rezepten, schmecken sie dann leider auch so, als wären sie vom Vortag. Früher nannte ich das für mich immer Kühlschrankgeschmack. Nicht unbedingt weitreichende Experimente auf dem Feld der Kartoffelverarbeitung haben in mir mittlerweile die Erkenntnis reifen lassen, dass der Kühlschrankgeschmack nicht vom Kühlschrank kommt, denn auch wenn sie außerhalb gelagert werden, schmecken sie muffig. Wahrscheinlicher führt das Kondenswasser bei den auskühlenden Kartoffeln zu einem kaltmuffigen Geschmacksunterton. Da ich aber kein Kartoffellabor bin, habe ich keine substanzielleren Forschungen durchgeführt, weil irgendwer den ollen Kram ja auch essen soll. Wenn ich aber nicht muss, will ich keine alten Kartoffeln essen.

Schon gar nicht, wenn der Kühlschrankkartoffelgeschmack die einzige Alternative zum Tomatenmark ist. Röstaromen durch das nachträgliche Anbraten hin oder her. Mir wurde Spitzkohl und Schwarzwurzel versprochen und bekommen habe ich Tomate und Muff. 

Wer mich kennt und auch meine Einstellung zum Essen, wird wissen, dass ich so ziemlich alles esse. Während ich diesen Text schreibe, esse ich zwei Spiegeleier und dünnflüssige Polenta, die ich mit der selben Brühe angerührt habe, in der ich am Vortag Maultaschen gargezogen habe. Ich bin da nicht so. Ich bin nie so. Ich esse alles und in der Regel esse ich alles auf, ich lasse Dinge nur zurückgehen, wenn ich wirklich satt bin (oder aber verschimmelte Himbeeren in meinem Dessert finde, aber das ist eine ganz andere, ziemlich widerliche Geschichte). 

Hier aber, am Ende des dritten Aktes im Sternerestaurant auf Norderney, war meine Kapazitätsgrenze erreicht. Der Spannungsbogen war durch die lange Pause ohnehin schon komplett zerschnitten, die Enttäuschung hatte sich schon zu uns an den Tisch gesetzt, als der palate cleanser serviert worden war.

Beginn Akt Vier. Die Große Beschwerde. 
Eine Große Beschwerde richtet sich nicht an den Urheber eines Problems, es werden auch Menschen in Mitleidenschaft gezogen, die überhaupt keinen Anteil am Drama nehmen wollten und sollten. Es ist der Ausweis der Großen Beschwerde, dass sie meistens jene überhaupt erst trifft, die gar nichts dafür können. Es ist die klassische Reaktion des ungeliebten Kinds, dass alle Schaden nehmen sollen, die auch nur ansatzweise in akustischer oder optischer Erreichbarkeit sind. Die Große Beschwerde ist die dümmste Reaktion, die man sich vorstellen kann, kombiniert mit einem Megaphon. Die Große Beschwerde kennt nur einen Feind: die Vernunft. Zwei Feinde: die Vernunft und das schlechte Gewissen.

Abruptes Ende Akt Vier.
Der Gatte sagt: "Du machst es schon wieder." 
"Was mache ich?"
"Du bläst dich auf."
"Ich blase mich nicht auf. Ich habe" - und das gibt meine Antwort nur paraphrasiert wieder - "Schund vorgesetzt bekommen und dafür ist die Große Beschwerde fällig."
"Du bläst dich auf. Wie damals."
Der Gatte muss nicht sagen, welches Damals er meint. Damals ist Südafrika, genauer Kapstadt, genauer am Kreisverkehr, wo Hout Bay in Constantia übergeht, nach rechts den Berg hoch, die Treppe ins Lokal hinab, am Tisch mit dem Blick in den Garten hinein. Ich kann mich an nichts davon erinnern, aber wie mit der Frappanz eines glühend heißen Messers, das aus dem Inneren des Körpers nach außen gestochen wird, blitzt ein Unwohlsein in mir auf, das mich taumeln ließe, säße ich nicht auf einem ziemlich bequemen Stuhl, der mir vor Unzeiten von einem freundlichen Concierge leicht zurückgezogen wurde, als wollte er mir das Angebot machen, einen schönen Abend zu haben. 

Am liebsten würde ich rausgehen und ein bisschen in den kalten Nordseehimmel schreien. Denn natürlich blase ich mich auf. Es ist nur Essen. Ja, es ist schade, dass meine Freude auf Schwarzwurzel komplett für die Brause war, und die Enttäuschung gehen zu lassen ist nicht einfach. Ist es nie, vor allem nicht, wenn ich 26 € für zwei Esslöffel Tomatenmark zahlen soll, aber das zahle ja noch nicht mal ich, das zahlt der Gatte. Aber es ist nur Essen, es ist nur Geld. Deutlich mehr als die Servicekraft wahrscheinlich pro Stunde verdient, aber nur Geld. 

In der Ukraine ist an diesem Tag immer noch Krieg. Auch jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, ist noch Krieg, und es wird noch eine Weile Krieg sein. Im Kreml sitzt ein Wahnsinniger, der für seinen idiotischen Traum von einem großrussischen Reich bereit ist über Leichen zu gehen, und zwar nicht nur über die von Wolodymyr Selenskyi, sondern auch über die von etwas mehr als 40 Millionen Ukrainern. Wladimir Putin ist unzufrieden damit, wie die Welt ist, und er glaubt, er hätte das Recht, mit Gewalt diesen (wie er es wohl sieht) Fehler im Gewebe der Zeit auszumerzen, einen Völkermord hin oder her. 
Zum Zeitpunkt meiner Großen Beschwerde sind es noch nicht viele Tote, doch der Krieg hat schon im Land Fuß gefasst, hat Menschen schon traumatisiert und vertrieben. Der Westen ist schon entsetzt über die Angriffe, wahrscheinlicher aber auch über die eigenen Erwartungen. 

Wir im reichen Europa, gerade wir Deutschen, haben uns in den letzten Jahrzehnten an unseren Reichtum gewöhnt und vor allem an unseren Frieden. Wir sind davon ausgegangen, dass der Markt alles regelt, auch Konflikte nicht nur zwischen offensichtlichen Marktteilnehmern, sondern auch zwischen Staaten. Wandel durch Handel, das sollte nicht nur das Verhältnis zwischen Europa und China regeln, sondern auch in Europa selbst, nämlich mit den östlichen Staaten der EU, aber eben auch mit Russland, das wir ganz selbstverständlich auch als Teil Europas gesehen haben. Ganz vergessend, dass Europa, also das, was wir als Europa sehen und sehen wollen, nicht unbedingt das gleiche Europa ist, das im Baltikum oder auf dem Balkan vorherrscht. Wir haben uns eingerichtet damit, im sicheren Herzen Europas zu leben, während die Ränder immer noch ausfransen und wir einfach so tun, als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis zusammenwächst, was zusammengehört. Immerhin will doch niemand Krieg. Wie könnte jemand so dumm sein, sich Krieg zu wünschen?

Dass unser Europa nicht Putins Europa ist, ist spätestens seit dem 24. Februar 2022 klar, zumindest all jenen, die nicht allzusehr ideologisch oder finanziell verblendet sind. Dass es aber schon lange nicht mehr Putins Europa war, hätten wir spätestens 2014 erkennen müssen, Stichwort Krim. Wir hätten es aber auch schon sehr viel früher erkennen können. 2004 beispielsweise, als Gerhard Schröder, der letzte Putin-Versteher in diesen Zeiten, in einem Interview mit Reinhold Beckmann auf die Frage "Ist Putin ein lupenreiner Demokrat?" folgende Antwort gab: "Das sind immer so Begriffe. Ich glaube ihm das und ich bin davon überzeugt, dass er das ist. Dass in Russland nicht alles so ist, wie er sich das vorstellt und gar wie ich oder wir uns das vorstellen würden, das, glaube ich, sollte man verstehen. Dieses Land hat 75 Jahre kommunistische Herrschaft hinter sich und ich würde immer gerne die Fundamentalkritiker daran erinnern, mal darüber nachzudenken, ab wann denn bei uns alles so wunderbar gelaufen ist."

Wir haben uns lange daran festgehalten, dass Wladimir Putin vielleicht nicht der beste aller Menschen war, dass er sich auch nicht an das europäische Wertesystem gebunden sah, dass er aber zumindest bestimmte Grenzen zu überschreiten nicht bereit sein würde. Wir haben uns lange an die Hoffnung geklammert, dass Russland letztlich ein Teil von Europa werden könne, denn ganz ehrlich: wir sind viel zu nah aneinander, als dass wir so gut so fern voneinander leben könnten. 

Stellt sich raus: Wladmir Putin ist das egal. Es scheint, als hätte er jeden Kontakt zur Wirklichkeit oder zumindest Menschlichkeit verloren, wenn er denn je eines hatte. Rückblickend fällt jede Schicht Humanität von ihm ab; nicht dass er mir als Menschenfreund erschienen wäre: sein Chauvinismus, seine Homophobie, sein Mangel an Empathie war ja für alle zu sehen. Aber klammheimlich habe ich ihm doch unterstellt, dass er wenigstens im Privaten eine charmante Seite haben müsste. Gerhard Schröder pflegt irgendwie eine Freundschaft mit ihm. Nun ist Gerhard Schröder zwar ein Charismat, aber nur von kalter Herzlichkeit, fraglich also, worauf diese Freundschaft fußt. Aber wann weiß man sowas schon? Woran macht man das fest? Wie will man überhaupt bestimmen, ob das, was die beiden Männer da verbindet, tatsächlich belastbar ist? 

Oder ob da nicht auch eine große Illusion vorhanden war, eine große Erwartung, die nun zerbricht oder schon zerbrochen ist, so wie die Deutschen jede Erwartung an den Altkanzler, mit dem sie immer schon gehadert haben, verloren hätten. Gerhard Schröder ist der Blinde unter den Einäugigen, wie es scheint, vielleicht ist er aber auch einfach nur derjenige mit dem größten Realitätsschock angesichts seiner zerschlagenen Gewissheiten. 

Als die Servicekraft den Teller abräumen will, sage ich doch noch etwas, aber weniger erfüllt von Wut als von Traurigkeit. Ich hätte mich so sehr auf die Schwarzwurzel gefreut, auch auf den Spitzkohl, und jetzt geht alles in der Tomate unter, die so komplett fehl auf dem Teller scheint. Es wirkt nicht, als hätte jemand sich Gedanken darüber gemacht, was hier womit wie in Berührung kommt und vielleicht negative Einflüsse aufeinander hat. 
Die Servicekraft sagt, es täte ihr leid, dass meine Erwartungen nicht erfüllt wurden, sie gäbe es an die Küche weiter. Die Antwort aus der Küche lautet, der Teller sei wohlkomponiert worden vom Chefkoch persönlich, wenn mir das nicht schmecke, dann sei das - sinngemäß - mein Pech. Die Servicekraft versichert uns, der Süßwein, der die letzten beiden Gänge begleite, gehe als Ausgleich für unser Ungemach aufs Haus. Das ist nett, aber die Freude ist dahin.

Die Welt ist zerbrochen, nicht aufgrund der Tomate, sondern wegen des vergossenen Blutes und meiner Unfähigkeit, mich selbst davon zu abstrahieren. Wie soll das auch gehen, wie soll ich eine Krieg in Europa als gegeben sehen. Nicht so schnell, nicht so akut, nicht so absolut. 
Ja, wir Menschen sind in der Regel hochkompensatorisch, wir blenden aus, was uns nicht hilft zu überleben. Oder anders: wir konzentrieren uns auf das, was uns das Leben leichter macht und ignorieren gerne das, was uns nicht weiterhilft. Wir entwickeln blinde Flecken und vereinfachen uns die Welt, wir wickeln uns ein in Gewohn- und Gewissheiten. Es braucht viel, um uns aus unserem Gefängnis der Langeweile zu reißen. Selbst in den Hochzeiten der Pandemie war es uns doch ein leichtes, die erschütternde Realität auszublenden, so lange wir nicht persönlich betroffen waren. Jetzt, zwei Jahre Pandemie später, sitzen wir wieder in den Restaurants bei Inzidenzen, die uns noch vor zwölf Monaten in unsere Panikräume getrieben hätte. 

Wir passen uns an, wir gewöhnen uns. Bald wird auch der Krieg Hintergrundrauschen sein; ein lauter Hintergrund zwar, aber so lange die Ukraine nicht in der Nato oder der EU ist, sind wir doch nur peripher betroffen. Ja, wir fürchten uns, aber unsere Leben gehen weiter. Unsere Aufgaben, unsere Prioritäten verändern sich nicht. Einige von uns fahren vielleicht jetzt mehr Bahn, weil das Benzin so teuer geworden ist, aber wahrscheinlich nicht, weil Russland der größte Öllieferant Deutschlands ist. Der Krieg ist noch nicht in Europa, denn da können wir plötzlich wieder kompartmentalisieren. Da gehört die Ukraine, da gehört Russland noch nicht zu uns, da sind sie uns fremd genug, da können wir die Gedanken abschalten, die uns panisch machen könnten. 

Dabei geht es eben doch um uns. Um das Leben in Europa. Wir haben uns als pazifistischen Kontinent betrachtet oder zumindest als einen, der sich selbst einigermaßen im Griff hat. Stellt sich raus, wir waren nur blind oder haben zumindest großzügig weggeschaut. Wir wollten nicht sehen, was uns Angst hätte machen können. Und deswegen tun wir jetzt noch so, als wäre dieser Krieg nicht unser Krieg. Als gehe es letztlich nur um Russland und die Ukraine, aber es geht letztlich darum, wie wir in Europa und wie wir in der Welt miteinander leben wollen. 
Momentan behauptet sich unser Ansatz noch. Die Nato steht zu ihrem Wort, sich nicht an den Kampfhandlungen in der Ukraine direkt zu beteiligen. Sie nimmt sogar zusätzliche Menschenleben in Kauf durch das Nichterrichten einer Flugverbotszone über der Ukraine. Die Nato könnte, wenn sie wollte und keine Angst vor den Konsequenzen hätte, das russische Militär an die Wand klatschen. Und doch reagieren wir nur indirekt und überwiegend mit Sanktionen, was der richtige Weg ist, vielleicht der einzige, um zu beweisen, dass der Markt vielleicht doch regeln kann, was mit Gewalt nicht geregelt werden kann: dass alle davon profitieren, wenn Frieden herrscht.  

Pfft.

Letztlich versuche ich mir doch auch nur, die Situation schönzuschreiben. Was anderes habe ich nicht. Noch nicht mal ein schönes Schlusswort. Akt fünf im Sternerestaurant war absehbar ernüchtert. Der Kokon feierlicher Stimmung war dahin, die letzten beiden Gänge waren gut, wenn auch nichts besonderes. Den angebotenen Digestif haben wir angenommen, aber auch gleich gezahlt. Der Concierge, der anfangs so hilfsbereit war, hat uns aus großer Entfernung noch einen guten Heimweg gewünscht, als wir uns unsere Mäntel von der Garderobe nahmen. Dann gingen wir hinaus in die Nacht. 

schwert/feder

Pöm
Februar 24, 2022

der sturm
der das gefieder 
der taube spreizt

bricht ihr

nicht fahne
nicht kiel

Amsel auf Abstand

Von der Front
Januar 31, 2022

Draußen auf dem Balkon eine Amsel mit zupfelnden Flügelspitzen und leichtem Atempumpen. Sie ruckt manchmal mit dem Kopf und scheint mich anzusehen, manchmal vielleicht auch nur ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe. Manchmal fiept sie leise, kein klägliches Fiepsen wie ein verletztes Tier, sondern mehr so ein unschlüssiges Hach von einem Piepsen, hochfrequent und gleichzeitig tragisch wie Weltschmerz.

Letztes Jahr um die Zeit habe ich Frühstücksbrösel in die Blumenkästen geschüttet, vielleicht wartet sie darauf. Andererseits war es letztes Jahr um die Zeit zehn Grad kälter, da war es ungleich schwerer für die Vögelchen, Futter zu finden. Dieses Jahr steht da, wo letztes Jahr noch Nüsschen und Krümel lagen, ein zweifarbiger Heidebusch, und vielleicht versteckt sich die Amsel auch dahinter vor den größeren Krähen. Oder vor den Kindern.

Denn unten in der Fußgängerzone lärmen die Kinder. Jetzt, wo die Ferien zwar vorüber sind, Corona aber noch nicht, gehen die Kinder nicht in die Kita oder den Kindergarten, sie gehen mit der Gruppenleitung in den Wald. Gut in einem Ort zu leben, wo der Wald nicht so weit weg ist, da kann man schnell mal in den Wald, Tiere sehen oder Äste aufsammeln oder was weiß ich. Vielleicht Amseln nachjagen. Nicht meiner Amsel allerdings, denn diese Amsel sitzt oben auf dem Balkon hinter der Heide und zuckt mit den Flügeln, während unten die Kinder lärmend durch die Fußgängerzone ziehen.

Und ich sitze drin, schaue die Amsel an, während sie zuckt und immer wieder nach innen blickt oder auf ihr Spiegelbild, und ich hoffe, dass sie nicht die Spiegelung als Rivalen begreift und das Fenster anfällt. Ich hoffe, sie verletzt sich nicht. Andererseits: Wie viel Momentum kann sie auf einen halben Meter Entfernung schon bekommen. Wieviel Schwung ist auf kurzer Strecke wohl möglich? Oder geht auch das exponentiell? Dann sollte ich vielleicht lieber in ein anderes Zimmer umziehen, bevor mir die Fenstersplitter um die Ohren fliegen. Abstand ist ja heutzutage alles.

Schuppungen

Pöm
Januar 19, 2022

das Zwischen teilt
es oder fällst du
nur ab vor Glauben

das Brechen der
Haut schilfert dich
suchst du denn Halt

schorfst dir die Worte
selbst am Wetzstahl
deiner Verheißung

der Riss reißt nur
dich in den Abgrund
die Klippe sind wir

calluna

Pöm
Dezember 25, 2021

kurz nur inne
halten der welt
schnee auf der
heide heute dann
kommt morgen tau

zum brunnen

Pöm
November 30, 2021

mir alles über
müdet zur ruh
der krug füllt nicht
die erschöpfung

Die unvollständige Liste der Phasen

Von der Front
November 24, 2021

Überraschung. Keine Ahnung eigentlich, warum da diese Überraschung ist. Oder eigentlich: keine Ahnung, warum das Fehlen von Überraschung überhaupt nicht überraschend ist. M. nannte das neulich "Huch-Politik". Recht hat er. Dauernd ist irgendwas total überraschend, zumindest für jene, die eigentlich damit beschäftigt sein sollten, Dinge nicht überraschend zu finden, sondern Entwicklungen zu betrachten, zu extrapolieren und die Weichen dafür zu stellen, dass die eigentlich als kommend sichtbare Überraschung eben keine Überraschung mehr ist. Aber da ist offensichtlich niemand, um die Weichen zu stellen, und alle, die noch da sind, müssen also die unausweichlichen Härten akzeptieren. Und das, was für alle, die nicht angestrengt wegschauen, eigentlich keine Überraschungen sind, sondern absehbare Entwicklungen. 

Hoffnung, natürlich, die ist verständlich, die ist erklärbar, nachvollziehbar, eigentlich auch manchmal ganz niedlich. Süß fast. Wenn sie nicht so unerträglich wäre. So unerträglich abstoßend. Hoffnung. Worauf denn? Dass sich Naturgesetze unnatürlich verhalten? Dass die Grundlagen der der Organischen und Biochemie nicht auf objektiver Beobachtung basieren, sondern auf launengetriebener Kreativität? Und dass Exponentialfunktionen mal lieber nur Potentialfunktionen sein sollten, weil das manchen Menschen besser in den Kram passt?

So geht das nicht, Realität ist nicht optional. 

Wut. Kurz war da Wut. Aber Wut, was nützt das? Wut ist ein nutzloses Gefühl. Wut ändert nichts an der Realität, es ändert nur die Energie zwischen den Menschen, und selten in günstigem Maß. Wut nährt nur die Stille zwischen den Menschen, entfernt sie voneinander. Wut will Widerstand, fordert Opposition, und wo keine ist, wird eine gemacht. Wut will wachsen, will Zorn werden, will Gewalt werden und Zerstörung. Wut will vor allem eines nicht: Aushalten, Auseinandersetzung, Aussöhnung. Wut ist Wortlosigkeit. 

Resignation also, was sonst. Bleibt ja sonst nichts. Nur wer sich arrangiert mit den sich unaufhörlich entwickelnden Entwicklungen, wird bleiben. Was aber bedeutet bleiben, wenn doch nichts bleibt, wie es war? Wenn alles sich ändert, kann niemand doch ungeändert bleiben. Ist Resignation dann überhaupt möglich, ist es nicht eher Resistenz? Resilienz? Sich selbst treu bleiben, wenn die Welt es schon nicht tut? Oder ist Treue (wie Ehre) weit überschätzt? Oder ist Treue (wie Solidarität) weit unterschätzt? 

Oder sind alle die falschen Worte?

Verwirrung, also klar, die bleibt. Die ist gekommen, um zu bleiben. Äußert sich manchmal in Missverständnissen, manchmal in schiefen Gleichnissen, manchmal in unachtsamen Flunkereien, die als Scherze durchgehen könnten, wenn nicht Leben davon abhingen. Wenn es nicht so verdammt ernst wäre. Aber ernst, was heißt das? Ernst fühlt sich 2021 anders an als 2020 und 2020 anders 2019. 2019 war ernst eigentlich nur: hoffentlich geht die Welt nicht kaputt, weil die Menschen so dumm sind. 2021 ist ernst: Triage. Und unvermeidbare Zerstörung der Welt. Vielleicht auch da eine Art Triage: Orte, die wahrscheinlich sicher sind. Orte, die vielleicht gerettet werden können. Orte, die vielleicht aufgegeben werden müssen. Und natürlich der ganz große Rest, wo menschliches Leben unmöglich ist.

So fühlt es sich auch manchmal in meinem Gehirn an: Verlässlichkeiten, die noch unangegriffen sind. Vermutungen, die sich noch richtig anfühlen. Verwirrungen, die mitunter beunruhigen. Und schließlich der ganze große Rest an Verzweiflungen über den Zustand der Welt und vor allem über die galoppierende Egozentrik und Ignoranz viel zu vieler Menschen. 

Wo also soll das enden? Hier etwa?

Der Fall Franz Kalo

Textualitäten
Oktober 12, 2021

„Vielen Dank für Ihren Bericht, Herr Kalo. Fragen?“ Ewa Pandora ließ ihren Blick über die Runde schweifen. „Das scheint nicht der Fall zu sein. Nächster Punkt: die Neuorganisation der Ablage. Sie kennen die Probleme, die wir damit haben. Herr Kalo, ist noch was?“

Franz Kalo hatte sich noch nicht wieder gesetzt. Der Gedanke, der ihm eben noch auf der Zunge gelegen hatte, klebte ihm nun am Gaumen. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder, sagte schließlich: „Oblate.“

Ewa Pandora sah Franz Kalo an, den Kopf leicht geneigt, die Augen ein wenig zusammengezogen. Franz Kalo versuchte, ihren Blick zu erwidern, musste aber ein Lid schließen, um zu verhindern, dass ihm der rechte Apfel aus der Höhle glitt; und weil das den ganzen Raum in eine Schieflage brachte, senkte er auch das linke Lid. Doch statt beruhigender Dunkelheit füllte nur wieder die auslaufende Sonne sein Bewusstsein.

„Frau Geirönul, könnten Sie Herrn Kalo bitte helfen? Vielleicht möchte er sich hinlegen.“

Franz Kalo, der eben fast noch in den Teppich versickert wäre, spürte eine Hand an seinem Ellbogen und eine Hand auf seiner Schulter und eine Hand in seiner eigenen. Es dauerte einen Moment, bis er erkannte, dass auch die dritte Hand seine eigene war.

„Komm, Franz“, sagte eine leise Stimme an seiner Seite, „ich bringe dich raus.“

Mit geschlossenen Augen ließ Franz Kalo sich führen, konzentrierte sich darauf, keinen seiner Füße zu verlieren, während er gleichzeitig versuchte, nicht der allverschlingenden Gravitation in seinem Kopf zu erliegen. Hinter der ohrenbetäubenden Stille des Vakuums meinte er das leise Flüstern der Anwesenden zu hören und dann Ewa Pandora, die die Aufmerksamkeit wieder auf drängendere Themen lenkte: „In den Dossiers, die Sie vor sich liegen haben, finden Sie die Vorschläge von Professor Schrödingers Institut. Wie Sie sehen werden, könnten wir mit seinen Negentropie-Maßnahmen unsere Workflows deutlich …“

Während Hilda Geirönul Franz Kalo vorsichtig über den Flur leitete, verdrängte das leise Schlurfen über Kurzflor Ewa Pandoras Stimme.

„Hier nach rechts, Franz, noch ein paar Schritte, dann … ja, hier, setz dich, ich helfe dir, dich hinzulegen.“

„Danke.“ Franz Kalo spürte dem Wort nach, drückte die Zunge gegen den Gaumen, um die bitteren Reste des Ks herunterschlucken zu können und leckte sich dann die E-Spuren von den Lippen.

„Was ist denn los mit dir, Franz?“ Franz Kalo wusste nicht, wie laut Hilda Geirönul gesprochen hatte, ob sie überhaupt gesprochen hatte, ob er zu allem anderen Übel nun auch noch Gedanken spüren konnte: Ihre Worte hatten seinen ganzen Körper beben lassen, eine Vibration, die bis in seinen kleinen Zeh nachhallte. Hoffentlich fiel er nicht doch noch auseinander. Er musste sich zusammenreißen.

„Der Spiegel. “

„Aber eben in der Besprechung hast du doch …“

„Pandora.“

„Willst du sagen, sie hat dich gezwungen, deinen Bericht zu fälschen?“

„Nahegelegt. Sagte, ich könnte nichts beweisen. Recht hat sie.“

„Was denn beweisen?“

Franz Kalo atmete langsam ein und langsam wieder aus, um sich zu fassen. Im Spiegel hatte ihm das zwar nicht geholfen, aber da war er immerhin auf ein Schwarzes Loch zugefallen. Jetzt lag er nur auf einem Sofa und die größte Gefahr für ihn bestand darin, durch die Polster zu rutschen. Vorsichtig öffnete er erst ein Auge, dann das zweite. Über sich sah er Hilda Geirönuls Kopf, ihre Augen geweitet, und fast meinte Franz Kalo, darin kleine Supernoven blitzen zu sehen.

„Der Spiegel ist ein Portal.“

„Das wussten wir doch schon.“

„Aber nicht, wohin es führt. Ein Schwarzes Loch.“

„Der Spiegel ist ein Schwarzes Loch?“

„Nicht der Spiegel, dahinter. Ich konnte die Entfernung nicht abschätzen, ich bin zu schnell hineingefallen.“

Er verschwieg, was vorher geschehen war. Wie schildert man auch die Begegnung mit sich selbst am Ereignishorizont, das Gefühl sich – beziehungsweise einem zeit- und räumlich leicht verschobenen Selbst – in den Rücken zu fallen oder eigentlich: Rücken an Bauch, Zwerchfell an Zwerchfell, Fuß an Fuß und Hand an Hand und Kopf an Kopf miteinander zu verschmelzen, eins mit sich selbst zu werden ohne vorher gewusst zu haben, wie uneins man mit sich sein konnte. Und dann erst die Gedanken! Sprunghaft waren sie schon immer gewesen, hatten asymmetrisch in seinem Kopf gestanden, anomalisch selbst für einen wie ihn; doch in der autophagischen Synthese seines cerebralen Cortex und aller darin entstandenen Gedanken – dem Aufeinanderprallen nur subtil sich unterscheidender Echokammern, einem Urknall der Verkenntnis gewissermaßen – war Franz Kalo erst bewusst geworden, wie wenig Selbst-Bewusstsein er bislang besessen hatte.

„Aber im Versuchsprotokoll steht, du hättest den Spiegel nicht einmal berührt.“

„Ja. Das steht da.“

„Wie soll das zusammengehen? Nicht, dass ich dich loswerden wollte, aber wenn du wirklich in ein Schwarzes Loch geraten wärst, könntest du mir doch jetzt nicht die Bürocouch vollheulen.“

„Ich sag ja, keine Beweise. Was auch immer mich zurückgebracht hat, hat auch die Zeit zurückgedreht. Ich bin durch das Glas getreten und zurückgekehrt, um mich daran zu hindern, durch das Glas zu treten. Wenn ich aber nicht durch das Glas trete, kann ich doch nicht wissen, dass ich nicht durch das Glas treten sollte.“ Er seufzte. „Ich bin eine Realitätsvariable geworden, ein Paradoxon. Mir ist etwas geschehen, das mir nicht geschehen ist. Aber ich erinnere mich, Hilda, ich kann es immer noch fühlen, wie der Jet mich zerfetzt und Atom für Atom ins Multiversum schießt.“

„Tut es weh?“

„Manchmal. Manchmal fühlt es sich auch nur an, als würden Teile von mir verglasen oder stückweise abbrechen. Und manchmal habe ich einfach nur Angst, gar nicht da zu sein.“

Hilda Geirönul nahm Franz Kalos Hand in ihre.

„Du bist da. Hier, meine ich.“ Sie lächelte ihn an. „Ich sehe dich. Ich spüre dich. Ich glaube dir.“

„Was kann ich nur tun?“

„Nichts.“ Das Gesicht von Ewa Pandora schob sich neben Hilda Geirönul in sein Blickfeld. „Wir legen den Fall zu den Akten.“

[Fortsetzung von Nichts. Alles.]

Das Timing der Welt

Von der Front
Oktober 5, 2021

Zwei Jungs, 13 oder vielleicht 14 Jahre alt, haben mich auf dem zweiten Heimweg vom offenen Bücherschrank überholt. Zugegeben: ich habe mich überholen lassen. Seit ich beschlossen habe, dass die Welt im Zweifelsfall eben auch mal auf mich warten kann, habe ich es nicht mehr eilig. Die Welt und ich - wir haben manchmal Schwierigkeiten beim Timing. 

Die Jungs jedenfalls überholten mich - und es waren zwei Jungs, ganz sicher. Auf meinem Rück- und Hinweg vom und zum offenen Bücherschrank hatte ich sie nämlich schon gesehen. Üblicherweise ist der Schrank immer voll, ich kann maximal einen schmalen Band quer auf die dichtgestopften Reihen legen. Diesmal war nicht nur Platz für meine drei mitgebrachten Bücher, sondern auch für ein weiteres Dutzend, das ich noch zuhause liegen hatte. Manchmal passt das mit dem Timing doch - mit der Welt und mir. 

Auf dem Weg jedenfalls vom und zum Bücherschrank sah ich zum ersten und zweiten Mal die beiden Jungs, vielleicht 13 oder 14 Jahre alt, also in genau dem Alter, in dem ich dieses Dutzend Bände einer Fantasy-Reihe zu lesen begann. Erst, als ich doppelt so alt war, fiel mir auf, dass der moralische Kompass des Autors nicht mit meinem übereinstimmte und dass auch meine Ansprüche ans Erzählen höher geworden waren. Getrennt habe ich mich trotzdem lange nicht von den Büchern, wozu auch? Ich hatte den Platz auch für mittelmäßige Literatur. Heute weiß ich: alles eine Frage der Zeit. 

Denn mittlerweile bin ich dreimal so alt wie die Jungs. Ich bin am Zenit der durchschnittlichen Lebenserwartung für Männer meines Jahrgangs angekommen, habe ihn schon überschritten eigentlich. Ich werde also sterben. Und Erben werde ich nicht haben. Nur Räume mit zu vielen Dingen darin.

Also miste ich aus, bringe Bücher fort, an denen mein Herz nicht hängt. In denen beispielsweise kein Platz ist für Jungen wie mich damals oder die Jungs heute. Denn als sie mich überholten, die beiden Jungs, sah ich, was mir vorher entgangen war: sie hielten sich an den Händen, nicht wie wenn einer den anderen zu dessen Rettung hinter sich her zog, sondern aus Zuneigung, aus einem Gefühl der Zusammengehörigkeit heraus. 

Mein Herz, das tat einen kleinen Hüpfer. 

Die Welt nämlich in der Zeit, als ich 13 oder 14 war, als ich diese Bücher las, war eine andere. Der 175er war gerade aus dem Grundgesetz gestrichen worden, als ich erkannte, dass der 175er und wie der 175er auch mich betraf, als ich verstand, dass der 175er mir zu einer noch unglücklicheren Zeit nicht nur Gefängnis, sondern vielleicht auch den Tod eingebracht hätte, weit vor dem Zenit meiner durchschnittlichen Lebenserwartung. 

Die Jungs jedenfalls dürften daran nicht gedacht haben. Und sie dürfen daran auch nicht denken müssen. Sie müssen nicht wissen, dass sie zu einer glücklicheren Zeit geboren wurden, zumindest was ihre Liebe angeht. Und sie müssen auch nicht wissen, dass ihre Unwissenheit mich ein klein wenig glücklicher gemacht hat. 

Manchmal trennen wir uns von Dingen, von Büchern, von Vorstellungen, von Paragraphen, von der Notwendigkeit, es immer allen recht machen zu wollen. Manchmal trennen wir uns davon, wer wir einmal waren in einer anderen Welt, in einer anderen Zeit. Und dann passt es manchmal auch wieder mit dem Timing zwischen der Welt und mir.  

Kondens

Pöm
September 23, 2021

Nebel drückt sich an
die Scheibe auch von innen
dunstbeschlagen die Synapsen
im Kopf zertasten sich
die Worte fehlen mir und

Im Wannenbad schwimme ich
aus meiner Haut löst sich
mein Schweiß schmeckt
nach Mitternacht esse ich
meine Wut hält mich, nicht

Aus den Feldern steigt
der Mond verliert sich zwischen
den Sternen ist unser Streit
gleich sind wir

Doldige Schleifenblume

Pöm
September 4, 2021

nicht bitte
versteh
bitte versteh
mich bitte versteh nicht
bitte nicht mich
versteh bitte mich
bitte versteh mich nicht
falsch
bitte falsch
mich versteh
nicht

und geh
gehst du
entstehst
und enthörst du
verlässt du
zu früh

verstehst du
verstehen wir uns
niemals

also bitte nicht
geh bitte
nicht
bitte geh nicht
und versteh mich
bitte nicht falsch

Kornblume, pink

Pöm
August 11, 2021

anders als
gedacht anders
als erwartet
so anders
deine farbe
doch du selbst
bist noch die
gleiche blume trägst
die gleiche blüte
bist nicht weniger
als die anderen

Galaktika

Pöm
August 4, 2021

die kleinen fluchten und
das unsagbar schöne
das traurige dur und
die sehnsucht in moll

du berührst mich mit worten
triffst mit deinen liedern
unabsichtlich grausam
mich mitten ins herz

Jungfer im Grün

Pöm
August 1, 2021

zerbrechlich und leicht
zu verletzen scheinst du

deine größte stärke ist
unterschätzt zu werden

How to not drown

Usus operi
Juli 28, 2021

Es mag sich anfühlen wie Schmerz und doch ist es nur Leere. Langeweile. Ein entnordeter Kompass. Reparabel vielleicht, vielleicht aber auch einfach nur ein weiteres Ding, was zu ignorieren ist. Zu überspielen. Spielend leicht ist das, es nennt sich "so tun als ob", und das ist ja nun mal das Einfachste von allem. 

Alles nämlich ist einfach, wenn ich es nur will. Und auch wenn das Einfache das ist, was mir in der Regel nicht gelingt, ist das nur eine weitere Regel, die zu brechen ist. Eine Grenze zu überwinden, ein Knoten zu durchschlagen, eine leere Seite zu beschreiben. Wieder und wieder die gleichen Worte aufs Papier setzen: Ich kann das. Ich kann das. Ich kann das. 

Im Grunde wie Magie. Licht in der Dunkelheit finden und die Dunkelheit dann einfach überstrahlen damit. Alle Geister austreiben, alle Schatten verjagen, alle Zweifel exorzieren. Das wollte ich schon einmal, ich erinnere mich daran. Kein Zweifler mehr sein an mir selbst und meinen Fähigkeiten. Dann kam die Pandemie, fokussierte mich auf mich selbst, und was ich gesehen habe, hat mir nicht mehr Vertrauen in mich selbst gegeben. 

Darum: Ich kann das. Ich kann das. Ich kann alles. Ich kann auch diese dumme Geschichte schreiben, ich kann mich um Stipendien bewerben, um Schreibseminare, ich kann bei Wettbewerben mitmachen, ich kann sogar welche gewinnen, wenn ich mich nur richtig anstrenge. Vielleicht kann ich auch irgendwann wieder aufhören, mich zu isolieren, mich zu verzwergen, so zu tun, als hätte ich es nicht verdient, gemocht zu werden. 

Denn das ist es ja eigentlich: ich will gemocht werden und glaube gleichzeitig nicht, dass es gut für mich ist, sichtbar zu sein. Selbst dieses repetierende Experiment einer emotionalen Selbstoffenbarung, diese Exhibition meiner Gefühle, meiner Sorgen, meines pathetischen Gejammers: auch nur Auswurf eines verwirrten Gefühls von "Sieh mich, aber schau nicht hin". Denn ganz ehrlich: wenn ich wollte, dass dies jemand liest, der mich kennt, dann schriebe ich unter meinem echten Namen. 

Und doch akzeptiere ich die Möglichkeit, dass ich gelesen und erkannt werde. Dass ich vielleicht - mal wieder - bemitleidet werde. Oder verspottet, was weiß ich. Dass sich jedenfalls mein doofes altes Trauma wiederholt. Dass ich auf mich aufmerksam mache und es bereue. 

Wie machen das wohl andere Menschen, die große Kunst schaffen und daran nicht zerbrechen. Oder gehen diese Menschen das Risiko ein, obwohl sie wissen, dass sie daran zerbrechen könnten? Oder wissen sie, dass nicht die Kunst sie zerstört, sondern die Zweifel, die sie haben könnten an sich und dem, was sie erschaffen? 

Ein Fritzfranz-Problem: zu wissen, wie es ist zu leben, aber doch Angst davor haben, es wirklich zu tun. Den Schmerz einfach wegprokrastinieren. Und ja, nicht alles ist Schmerz, das wenigste, um genau zu sein. Vieles ist einfach Arbeit. Langwierige, langweilige Arbeit. Wort an Wort reihen, tief im Gehirn nach dem nächsten Wort graben und dann an das vorige heften, einfach immer wieder und immer weiter. Und von nichts anderem angetrieben als der Hoffnung, dass alles irgendwann Sinn ergibt. Dass irgendwann am Ende noch genügend Kraft übrig bleibt, um auszujäten, was nicht mehr ins Bild passt. Oder einfach ignorieren, dass eine Selbstentblößung vielleicht mehr zeigt als beabsichtigt. 

Wer sich am Grunde des Ozeans wiederfindet und nicht ertrinken will, muss einfach in irgendeine Richtung gehen und nicht zwischendurch umkehren. Sieh nicht zurück, geh einfach immer weiter voran. Ich kann das. Ich kann das. Ich kann das. 

Die anderen Menschen

Von der Front
Juli 27, 2021

Als ob die Zeit stehengblieben wäre oder nur ich in ihr; alles so surreal; alles entkoppelt von mir. 

Oder eigentlich natürlich andersherum, ich so distanziert von allem, als gebe es die Welt da draußen nicht, als gebe es die Menschen nicht, die mich irgendwie kennen. Oder zu kennen glauben. 
Das alte Spiel: ich glaube, eine Maske zu tragen oder ein ganzes Kostüm, ein anderer als ich selbst zu sein und: dass mich niemand durchschaut. Als ob es wirklich Menschen interessierte, was ich tue.

Im Fernsehen einen Bericht über eine nicht-binäre Transperson gesehen. Sie, die Person, hat sich vor einigen Wochen die Brüste abnehmen lassen, fühlt sich seither mehr wie sie selbst; gleichzeitig glaubt sie, die Transperson, dass auf der Straße sich dauernd Menschen nach ihr umdrehen, dass die Menschen auf der Straße sie zu lesen, einzuordnen versuchen, und vor allem glaubt sie, dass diese Versuche scheitern und dass deshalb die Menschen irritiert auf sie, die Transperson, reagieren. 

Aus queerer Perspektive gesehen mag das vielleicht plausibel klingen. Kaum ist der Bericht über eine Transperson angekündigt, lese ich die Transperson als trans. Ich als queerer Mensch erkenne die Transperson in diesem Beitrag eindeutig als trans, vor allem, weil sie noch mitten im Prozess steckt. Ob ich sie auf der Straße jedoch als trans gelesen hätte? Ob vor allem ein nicht-queerer Mensch auf den Gedanken gekommen wäre, sie als trans zu lesen oder lesen zu wollen? Ich bezweifle es. Die Menschen auf der Straße hätten sicherlich nur das unbewusste Gefühl bekommen, dass da jemand nicht selbstsicher ist, dass da jemand zwar auf dem Weg zu sich selbst, aber noch nicht angekommen ist. 

Die Menschen interessieren sich in der Regel nicht. Zumindest nicht für viele Dinge außer sich selbst. Wir alle haben unsere großen und kleinen Kämpfe, die wir tagtäglich mit uns und unserer Umwelt ausfechten, sei es die klemmende Schublade, sei es die Frage nach dem Abendessen, sei es die Suche nach der fehlenden Socke. Oder die Frage danach, wie es nach einer Flut weitergehen soll, die alles zerstört hat, was einmal das Leben ausmachte. Niemand interessiert sich für das Leid der Anderen, und wenn, dann auch nur, um das eigene Leid nicht angehen, nicht heilen zu müssen. 

Darum vielleicht die Distanz. Ich will mein eigenes Leid heilen, ich will mich selbst wiederfinden. 

Oder aber: ich habe keine Lust mehr auf das Desinteresse anderer Menschen an mir. 

Und auch das ist lächerliches Selbstmitleid. Menschen haben Interesse an mir. Ich bin nur kurz draußen auf dem Balkon, um nachzusehen, wie der Lavendel den Rückschnitt verkraftet hat bislang, da ruft eine Freundin von der Straße hoch, ob ich mit ihr einen Kaffee trinken will. Letzte Woche war ich mit einer anderen Freundin frühstücken. Es gibt sehr wohl Menschen, die an mir interessiert sind. 

Es ist vielmehr so, dass ich kein Interesse an anderen habe. Warum, frage ich mich. Warum ist das so? Und wie kann ich das ändern, falls ich es ändern will. Will ich das ändern? 

Es ist das Insel-Dilemma, das mein Fritz-Franz-Protagonist durchlebt. Er interessiert sich nicht für andere Menschen, er meidet Begegnungen und Beziehungen, wo es nur geht. Manchmal natürlich geht es nicht anders. Dann braucht er Menschen, vor allem die körperliche Intimität, die seine grundlegendsten Bedürfnisse an Nähe befriedigt. Sex, mehr braucht er nicht von diesen anderen Menschen, denn für alles andere hat er sich selbst. 

Ein trauriger Protagonist eigentlich - und ein wütender, der seine Wut weder verbergen noch kanalisieren kann. Und klar, er fürchtet die Intimität und Nähe genau so, wie er sie sucht. Er weiß, dass er etwas braucht, aber er weiß nicht, wie er die Angst, die mit dem Brauchen einhergeht, besiegen kann. Darum lenkt er sich ab, stürzt sich in Abenteuer, in Dummheiten, in Affekte; sportelt bis zum Umfallen, trainiert seinen Körper in ungesunde Höhen vermeintlicher Schönheitsideale und sitzt am Ende des Tages doch nur alleine in seiner Wohnung. 

Wobei, wer weiß. Ich kenne ihn nicht, weniger noch als er sich kennt. Das - unter anderem - ist mein Problem mit der Geschichte: ich kenne meinen Protagonisten nicht, ich kann ihn nur lose erfühlen, nur erahnen, was er so tut und will und fürchtet; sein restliches Leben ist Nebel für mich. Ich kann ihn mir nicht im Kontext anderer Menschen vorstellen; vielleicht weil ich meinen eigenen Menschen-Kontext nicht mehr erkenne, weil ich mich eben selbst von allen anderen so abgekoppelt habe. Um niemandem zur Last zu fallen, dachte ich früher, doch nun weiß ich: um nicht die Ernsthaftigkeit und Gebundenheit einer Beziehung eingehen zu müssen. Was paradox ist, bin ich doch seit fast 20 Jahren mit meinem Mann zusammen, seit fast zehn Jahren sind wir verheiratet; und doch fühle ich mich manchmal seltsam ungebunden, seltsam frei. Vielleicht muss das so sein, vielleicht darf es das auch, vielleicht sind wir uns auch einfach nur Menschen in unserem Leben, die einander viel bedeuten, die das gleiche denken und wollen und tun, aber wir sind nicht so sehr ineinander verwoben, dass wir uns emotional zu sehr aneinander binden. 

Nein. Das ist es nicht. Wir sind ja im Wesentlichen nur aneinander gebunden; und vielleicht erklärt es das: wir haben uns aneinander gebunden und uns dadurch von der restlichen Welt abgenabelt. Wir brauchen sie nicht, suchen sie nicht, wir sind uns oft, meistens selbst genug. Andere Menschen sind eine Zugabe, ein Extra, aber wenn nicht, dann nicht. Oder vielleicht ist das auch nur meine Sicht der Dinge.

Wobei die eigentlich relevante Frage ja bleibt: inwiefern ist das relevant? Wie sehr steuert mein Bezug zu meinem Mann, wie sehr steuert mein Bezug zu anderen Menschen mein Leben? Was änderte sich, wäre ich weniger distanziert zu allem und allen, nähme ich mehr Anteil am Leben der Anderen? Machte es mich glücklicher? Oder - und das ist eine meiner Grundempfindungen - überforderte es mich einfach nur? Denn auch das ist ja ein Grund für meine Distanz: nicht nur will ich anderen nicht zur Last fallen, auch sind andere eine Last für mich. Mitgefühl kann ich haben, Empathie ist mir nicht fremd, aber die Verantwortung einer Freundschaft kann ich nur selten tragen. Vielleicht, weil mein eigenes Gepäck schon schwer genug ist. 

Entkoppelt also, fern von allem, ausgestiegen aus der Zeit. Warum? 

regenbogen

Pöm
Juni 23, 2021

mitunter ungreifbar
und doch berührt

verzage nicht in der
dunkelheit sie währt
nicht

goldgelbe hummel

Pöm
Juni 10, 2021

den halben tag versucht
und doch gescheitert
dich zu fokussieren
sinnlose jagd

salbeizeiten

Pöm
Juni 7, 2021

fürchte nicht
deine sehnsucht

der wunsch trägt
mehr als der wille
zu deinem schick
sal bei

vergissmeinnicht

Pöm
Juni 1, 2021

es ist
wie gesagt
eine lange weile

verweile

wie lang
ist lange
genug

Über Menschen

Textualitäten
Mai 25, 2021

Vor etwas über einem Jahr lese ich auf reddit von einem Iraker, der nach Kanada flüchten will, wo er in der Ölindustrie arbeiten und dank der LSBTI*-freundlichen Gesetzgebung seinen Partner nachholen könnte. Im Irak wird Homosexualität offiziell "nur" mit Gefängnis bestraft, Morde an Schwulen werden aber nicht geahndet. Alles, was mit Homosexualität assoziiert werden kann, zum Beispiel eine HIV-Infektion, gleicht einem Todesurteil. Der Partner des Mannes ist vor Kurzem positiv auf HIV getestet worden; die Familie hat davon erfahren und ihn beinahe gelyncht. Nun sind beide auf der Flucht im eigenen Land, stets in Angst vor Entdeckung und in Sorge vor dem Ausbruch von AIDS. Mit Medikamenten aus dem Ausland halten sie die Infektion in Schach, aber die Beschaffung ist teuer und schwierig und erhöht ihr Risiko aufzufliegen.

Bei allem Mitgefühl, das ich empfinde, muss ich an das Gilgamesch-Epos denken; immerhin stammen die Männer aus dem Irak, dessen Gebiet auch das einstige Sumer umfasst, dessen berühmtester König Gilgamesch war. Im Epos sucht Gilgamesch nach dem Tod seines Gefährten Enkidu ein Mittel gegen die eigene Sterblichkeit und findet auf einer Insel inmitten der Wasser des Todes seinen Urahn, der ihm nicht nur die Geschichte der Großen Flut erzählt, sondern auch von der Pflanze der ewigen Jugend. Gilgamesch erringt die Pflanze, verliert sie jedoch an eine Schlange. Derart gescheitert kann er nur darauf hoffen, dass wenigstens sein Name ihn überleben wird.

Die Überlagerung individuellen Leids mit der mythischen Tragödie abstrahiert jene, deren Leben tatsächlich in Gefahr ist und nicht nur eine Geschichte; aber was soll ich tun? Ich kann nur Mitleid empfinden und tröstende Worte spenden. Ansonsten bleiben mir ohnehin nur Annahmen: Gibt es diesen Mann wirklich? Stimmt seine Geschichte? Oder ist das - auf reddit nicht abwegig - nicht nur eine mitleidheischende Erfindung? Ich blicke durch ein kleines Fenster in ein großes Leben, dessen Details ich nicht erkenne und nur mit Annahmen füllen kann.

Aber eigentlich ist eh gerade Corona, die Welt ist stehengeblieben, sonst hätte ich gar keine Zeit für reddit; und weil es da jede Menge Geschichten gibt, habe ich den Irak rasch wieder vergessen. Alles geht unter in der Flut der Schicksale. Andere Männer aus anderen homophoben Ländern, vor allem aber Pandemiegeschichten, in denen Existenzen oder ganze Leben von einer Krankheit bedroht werden, die anders als HIV/AIDS alle Menschen trifft und nicht scheinbar nur jene, die Randgruppen angehören oder sich in Subkulturen bewegen.

Corona raubt der ganzen Welt den Atem, ist eine laute Pandemie, während HIV/AIDS immer noch eine stille Seuche ist. Auch wenn mittlerweile Medikamente entwickelt wurden, die ein symptomfreies Leben ermöglichen und auch die Weitergabe des Virus verhindern. "Mittlerweile" heißt: über 30 Jahre, nachdem HIV/AIDS als Pandemie eingestuft wurde, hat die EU 2016 PrEP zugelassen. Heißt: Ein Ende dieser Pandemie ist noch nicht in Sicht; über HIV wird immer noch zu wenig gesprochen, Scham und/oder Unwissenheit führen dazu, dass sich täglich weltweit immer noch zehn Menschen neu mit HIV anstecken.
Das soll nicht heißen, dass mit den Corona-Infizierten genauso ignorant umgegangen werden soll wie mit den HIV-Infizierten. Es ist leichter, dem HI-Virus zu entgehen, es überträgt sich nicht über Aerosole, sondern über Körperflüssigkeiten. Corona tötet rascher, nach den sechs Wochen, die bei COVID zwischen Infektion und Tod stehen können, bemerkt ein HIV-Patient gerade mal die ersten Symptome. Corona priorisiert zu behandeln ist richtig und wichtig. Hätte die Welt wie bei HIV weggeschaut … ich will es mir gar nicht vorstellen.

Corona ist omnipräsent, ich hänge am Fernseher: neue Zahlen, neue Negativrekorde, neue Eskalationen. Ich lauere auf die nächsten Einschläge, die doch nie näher kommen. Ein entfernter Cousin ist an COVID gestorben, da ist die Pandemie kaum mehr als ein Gerücht, danach sind die Zahlen einfach nur Zahlen, keine Schicksale mehr, nur anonyme Infizierte, namenlose Tote. Der Welt da draußen geht die Luft aus und ich schaue durchs geschlossene Fenster in leere Straßen und lenke mich mit reddit, YouTube und Podcasts von meiner Langeweile ab.

Im September brennt Moria, in Deutschland unterschreiten die Corona-Neuinfektionen noch die 2000er-Grenze, und mein Mann und ich fahren für ein Wochenende an die Mosel. Wir trinken Wein, gehen essen, tragen unsere selbstgenähten Masken und fühlen uns sicher. Im März werden zwei afghanische Jugendliche für den Brand in Moria zu fünf Jahren Haft verurteilt. Lese ich heute, zwei Monate später. Gestern waren wir bei Freunden zum Grillen, bei Nieselregen saßen wir unter dem Vordach, reden darüber, was wir im letzten Jahr, also seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, alles nicht erlebt haben. In der Innenstadt sind die Außentische der Lokale voll besetzt. Pandemie? Welche Pandemie? Moria? Irgendwas mit Feuer. Ach ja, klar: In Moria tötete Gandalf der Graue den Balrog und kehrte als Gandalf der Weiße nach Mittelerde zurück.

Vor knapp vier Wochen stolpere ich auf reddit mal wieder über den Iraker. Sein Partner und er verstecken sich immer noch, sie haben immer noch Angst. Die Medikamente sind immer noch teuer, die Pläne für eine Flucht nach Kanada liegen auf Eis, wegen Corona schotten sich alle Länder ab. Der Iraker und sein Partner haben eine Corona-Infektion mit zweiwöchigem starken Fieber überlebt. Er schreibt, dass er in The Last of Us 2 zwei 60jährige Männer gefunden hat, die zusammen in der Wüste leben; einer sagt: "Früher hatte ich alles und brauchte nichts davon; jetzt brauche ich nur, was ich habe mit diesem Mann." Und der Iraker schreibt, dass er da habe weinen müssen vor Rührung, denn dieser Satz treffe auch auf ihn und seinen Partner zu: sie haben nur einander und doch ist das alles, was wirklich zählt.

Und dann kommt der Wettbewerb, es geht um geöffnete Fenster, an denen vorbeigegangen wird, und ich denke an Schicksale, an denen wir vorübergehen, Geschichten, die wir anschauen und abhaken, an Menschen, die uns begegnen und die wir vergessen. An den Iraker denke ich da gar nicht, sondern will nur einen anfangs gutwilligen Übersetzer in einer Erstaufnahmestation beschreiben, der vor lauter erzähltem Leben irgendwann ganz stumpf wird und werden muss, soll ihn das viele fremde Leid nicht auffressen. Mit diesem Gedanken schlafe ich ein, doch als ich mich morgens an den Schreibtisch setze, wartet da schon eine andere Geschichte und lässt sich mehr oder weniger so aufschreiben, wie sie jetzt da steht.

Erst später, kurz vor dem Einsendeschluss, geht mir auf, was ich getan habe: Mich parasitär an fremden Schicksalen und fremdem Leid bedient nämlich, und das dann auch noch in der Form pauschalisierter Annahme, kenne ich doch keinen einzigen Menschen mit Fluchthintergrund persönlich und selbst die Zustände von Moria nur aus meinem Fenster zur Welt, dem Fernseher. Das Ganze garniert mit dem Kernmythos einer untergegangenen, mir komplett fernen Kultur, die ich faszinierend - oder schlimmer: "exotisch" - finde, über die ich viel gelesen habe, die ich letztlich aber nur aus zweiter, dritter oder zwölfter Hand kenne. Während ich mich gleichzeitig darüber aufrege, dass die ARD-Produktion All you need  das Leben schwuler Männer in Berlin nicht nur oberflächlich und klischeehaft beleuchtet, sondern auch noch in den Hauptrollen nur mit heterosexuellen Männern besetzt.

Für einen neuen Text ist es da schon zu spät, außerdem mag ich die Geschichte trotz allem. Ich habe meine Figuren liebgewonnen, meine Remixe von Realitäten. Ich habe ihnen meine Vorstellung von Wirklichkeit eingeimpft, sprechende Namen gesucht: Moussa und Harun, die arabischen Varianten von Moses und Aaron; Zaher, den Helfer; İlkin, dessen Name "Erster" bedeutet, weil er sich selbst allem und allen voranstellt. Das Feuer  brannte sich in der xten Bearbeitung plötzlich in den Text. Keine Ahnung, was mit Moussa dabei passiert ist. Zaher sucht ihn kurz, wird ihn wohl mit der Zeit vergessen. Den einen Moment, wirklich mit Moussa Kontakt aufzunehmen, hat er verpasst, ihn vielleicht aktiv verstreichen lassen. Er stellt sich vor, wie es wäre, Moussa eine tröstende Hand hinzustrecken. Doch dann geht Moussa lieber zurück in das Zelt, wo ihn Gewalt erwartet, als weiter neben Zaher auf einem Stein zu sitzen, wo es noch nicht mal Trost gibt. Zu spät erst wird Zaher denken, alles wäre besser gewesen als nichts.

Mit diesem Gedanken rechtfertige ich auch meinen Text und wohl auch, wenn Heterosexuelle Nicht-Heterosexuelle darstellen: Es ist besser als nichts.
1993 hat Tom Hanks' Darstellung eines AIDS-Kranken in Philadelphia die Themen Homosexualität, Homophobie und HIV einem breiteren Publikum nähergebracht. Hätte die Rolle nur mit einem schwulen Schauspieler besetzt werden dürfen, wäre der Film wahrscheinlich überhaupt nicht gedreht worden oder hätte niemals die Reichweite bekommen, die er dank Tom Hanks erst erreicht hat.
Und ohne mich mit Hanks vergleichen zu wollen oder meinen Text mit diesem Film: Ich glaube, es ist besser, einen fehlerhaften Text aus angenommener Perspektive zu schreiben und so vielleicht wenigstens das Fenster zu einer Diskussion zu öffnen, als ein Thema komplett zu ignorieren, das uns sonst nur ins Bewusstsein rückt, wenn Lager brennen. Es wird immer besser gewesen sein als nichts.

Kurz vor dem Absenden streiche ich noch das "und" aus dem Titel und fühle mich superschlau, denn in dieser Geschichte geht es um Menschen und um das Göttliche und das Tierische in uns und wie das Spannungsfeld dazwischen uns erst zu Menschen macht; und es geht (überspitzt dargestellt) ein bisschen darum, wie die westlichen Menschen die geflüchteten Menschen wie Tiere in Lager sperren und wie Götter über Schicksale richten. Dabei sind wir nicht Götter oder Tiere, wir sind Göttertiere: Menschen. Wir alle sind nur Menschen.

Götter, Tiere

Bewerbe
April 29, 2021

Als ihnen nur noch wenig Luft bleibt, beginnt Moussa eine Geschichte.
„Der Große König, der über die vier Weltgegenden herrschte, besaß alles, was Menschen sich wünschen konnten, und war doch unglücklich. Also betete er zu den Göttern – “
İlkin unterbricht ihn: „Es gibt keine Götter, es gibt nur – “
„Lass ihn.“ Zahers Stimme übertönt kaum das Glucksen des Wassers. „Wer auch immer unsere Leichen finden wird, sei es Tier, sei es Mensch; es wird sie nicht kümmern, ob wir an einen oder viele Götter geglaubt haben.“
„Gott kümmert es.“
„Es ist nur eine Geschichte, İlkin.“
Moussa wendet sich zum Horizont. „Es ist nicht einfach nur eine Geschichte. Harun hat sie mir erzählt. Er sagte, es sei unsere, aber ich habe ihn zu spät verstanden. Harun war – er ist … Harun ist mein – “
„Wir haben Augen. Wir haben Ohren. Wir wissen, wer Harun war. Du weinst im Schlaf.“
„İlkin, lass ihn. Moussa, erzähl weiter.“
Moussa atmet tief ein und langsam wieder aus, bevor er weiterspricht. „Der Große König war halb Gott, halb Mensch, darum erschufen die Götter“ – İlkin schnaubt, sagt aber nichts weiter – „einen Wilden Mann, halb Mensch, halb Tier. Gegen ihn sollte der König kämpfen und so seine Unruhe vergessen. Sie rangen Tag und Nacht, doch keiner der beiden konnte sich den anderen unterwerfen. Schließlich schlossen sie Frieden und wurden Freunde. Gefährten, halb Gott, halb Tier, aber gemeinsam – " Er stockt kurz, dann fügt er tonlos hinzu: „Ein Schiff.“
„Wie sollen zwei Menschen – “, poltert İlkin los.
„Ein Schiff“, sagt Zaher und deutet dahin, wo Moussas Blick sich verliert.
„Ein Schiff“, ruft İlkin. „Wir sind gerettet!“ Er lacht.
Moussa lacht nicht.
Zaher schweigt, denkt an die letzten Toten, die sie gestern erst dem Wasser übergeben haben. Hätten sie nur einen Tag länger durchgehalten.
„Wir sind gerettet“, ruft İlkin und winkt dem Schiff. „Gott ist groß!“

Die Soldaten auf dem Schiff mustern die Männer, die sie aus dem Meer geholt haben, wie Fischer den Beifang. Moussa und Zaher werden an gleichgültigen Blicken vorbei ins Heck gebracht, während İlkin einer Frau vorgeführt wird, die angeblich ihre Sprache versteht. Zaher stellt sich neben Moussa an die Reling. Das Schlauchboot treibt knapp unter der Wasseroberfläche davon.
„Deine Götter hatten Mitleid mit uns“, sagt Zaher.
„Götter kennen kein Mitleid.“
„Wie ging es weiter?“
Moussa schweigt lange.
„Sie haben den König geprüft.“
İlkin kommt zu ihnen.
„Du bist dran“, sagt er zu Moussa.
„Wie war es?“ fragt Zaher.
İlkin zuckt mit den Schultern und sagt: „Es liegt in Gottes Hand.“
Zaher weiß, was Moussa der Frau sagen wird. Dass er anpacken kann, dass er nützlich ist. Dass er in seiner Heimat schwer gearbeitet, Öl gefördert hat. Sie wird es seinem Körper ansehen, trotz der viel zu vielen Tage auf See ist Moussa noch stark, stärker als İlkin und viel stärker als Zaher ohnehin. Moussas Kraft hat ihn im Boot vor İlkin geschützt, doch hier und jetzt wird sie ihm nichts nützen.
„Die Zeit für Öl ist vorbei“, wird die Frau sagen. „Du kommst zu spät. Wir brauchen dich nicht.“

Zaher spricht gutes Englisch, im Lager eine wertvolle Währung. Er darf zwischen den Hilfsorganisationen und den Lagermenschen übersetzen.
„Meri hier braucht Medikamente“, sagt er zu der Frau in der wolkenweißen Uniform. „Ihr Kind ist krank.“ Dass es Meris drittes Kind ist, dass die beiden anderen schon gestorben sind, sagt er nicht. Die weiße Frau müsste blind sein, um Meris Schmerz nicht zu sehen.
Husên, der seinen Sohn sucht, sagt er, die Aufseher würden die Augen offenhalten, obwohl er weiß, dass sie es nicht tun werden. Der Junge wird entweder von allein wieder auftauchen oder verschwunden bleiben. Die Aufseher kümmert es nicht, wenn ein Lagerkind verloren geht.
„Diese Frau ist vergewaltigt worden.“ Sie hat es ihm nicht gesagt, sie weint mehr als sie spricht, aber Zaher kann die Zeichen lesen. „Sie weiß nicht, wer es war, aber sie hat Angst, es könnte wieder geschehen.“ Der Mann in Weiß geht fort, vielleicht holt er eine Ärztin, vielleicht einen Soldaten, vielleicht kommt er nicht wieder. Zaher schaut die Frau an, sie weint und weint und weint.
„Fatin braucht Decken für sich und seinen Bruder.“ Zaher überlegt, ob er der Helferin verraten soll, dass Fatin diese Woche schon dreimal nach Decken gefragt und sie dreimal bekommen hat. Zaher überlegt, ob er Fatin fragen soll, was er mit den vielen Decken macht.
Die Menschen, die im Lager leben, kommen zu Zaher, und Zaher spricht für sie mit den Menschen, die das Lager kontrollieren. Er übersetzt ihre Bitten, ihr Flehen, ihre Schwüre, ihre Drohungen in einfache, klare Worte. Zaher glättet die Wogen, er weiß um die verheerenden Folgen eines Sturms. Niemand kommt zu Zaher, um mit Zaher zu sprechen.

Die Sonne geht unter. Zaher findet Moussa am steinigen Strand.
„Wieso bist du nicht im Zelt?“
„İlkin.“
Zaher fragt nicht nach. Er hat Moussa welken sehen, er weiß, dass auch İlkin Moussas Verfall nicht entgangen ist. Moussa, der am ersten Tag auf See noch wirkte, als könnte er allein das Schlauchboot samt seinen 30 Passagieren über das Meer rudern, könnte jetzt nicht einmal mehr das Steuer halten. Wenn İlkin seine neuen Freunde einlädt, wehrt Moussa sich noch nicht einmal mehr. Zaher hat versucht, Moussa zu schützen, doch so schwach Moussa sein mag, Zaher ist immer noch nicht stärker als er.
„Lass ihn“, hat Moussa darum zu Zaher gesagt, „du bist ein guter Mensch. Er verdient es nicht, dich zu verletzen. Geh und hilf denen, denen geholfen werden kann.“
Jetzt sitzen sie gemeinsam auf einem Felsen und starren auf die kupferfarbenen Wellen.
„Was ist aus dem Großen König geworden? Willst du mir das Ende der Geschichte erzählen? Ich höre zu.“
Erst stürzten die Götter den König ins Glück, dann forderten sie ihn heraus, sein Unglück zu versuchen. Vielleicht erschien er ihnen rückblickend unwürdig, vielleicht nicht dankbar genug. Vielleicht unterzogen sie ihn aus Bosheit, vielleicht aus Langeweile einer Prüfung.
„Den Wilden Mann befiel eine Krankheit. Er, der stets zugleich schlau wie ein Mensch und stark wie ein Tier gewesen war, war nun weder das eine noch das andere. Mal schlug er um sich wie eine zornige Bestie, mal konnte er kaum das Bett verlassen wie ein alter Mann. Der König befragte die Ärzte, die Priester, die weisen Frauen, doch niemand wollte seinem Gefährten helfen.“
„Vielleicht konnten sie es nicht.“
„Vielleicht. Der König verfluchte sie alle und machte sich selbst auf, ein Heilmittel zu finden. In allen vier Weltgegenden suchte er, doch erst im Reich der Götter fand er ein Kraut, das den Wilden Mann unsterblich hätte machen können.“
„Hat der König den Wilden Mann gerettet?“ Zaher fragt, obwohl er die Antwort kennt. Moussa weint noch immer im Schlaf.
„Er war inzwischen gestorben.“
Zaher, der den ganzen Tag den Schmerz fremder Menschen in Worte gefasst hat, findet in sich keinen Trost für den Mann, der am ehesten das ist, was er einen Freund nennen würde. Die Toten fallen ihm ein, die sie den Wellen überlassen haben; er erinnert sich an die Stille danach.
„Ich hätte Harun nicht verlassen dürfen.“
Zaher stellt sich vor, Moussas Hand in seine zu nehmen; Moussa über den Rücken zu streichen; Moussa in seine Arme zu schließen. Später wird Zaher denken: Alles wäre mehr gewesen als nichts.
Moussa steht auf und sagt: „Ich gehe zurück.“
Zaher sitzt noch lange in der Finsternis und lauscht den Stimmen von Wind, Wasser und Stein.

Als einige Abende später das Feuer kommt, ist Zaher noch im Containerdorf der Hilfsorganisationen. Er hat lange übersetzt an diesem Tag, hat die Worte der Menschen durch sich hindurchwehen lassen wie Wind, der durch ein leeres Zimmer geht. Er lässt jetzt nichts mehr aus, er hört nicht mehr zu, er ist nur Ohr und Zunge; seine Augen sind jetzt oft geschlossen, als müsse er sich konzentrieren, dabei will er nur die Menschen nicht mehr sehen.
Die Container stehen im Luv, der Wind treibt den Brand von ihnen fort über die Hügel. Zaher lehnt sich mit dem Rücken an den Zaun, der den Wildwuchs des Lagers von den ordentlichen Baumreihen eines Olivenhains trennt. Schatten flackern über sein Gesicht. Er riecht nicht den Rauch, er hört nur die Schreie und dann auch die nicht mehr.

Zaher irrt durch den Wald gerußter Metallstäbe. Er wird nicht mehr gebraucht, die Hilfsorganisationen wurden abgezogen, die Soldaten, die das neue Lager bewachen, haben kein Interesse an Dolmetschern. Auf der Suche nach dem Zelt, in dem er mit İlkin und Moussa gelebt hat, verliert er wieder und wieder er die Orientierung.
Plötzlich steht da İlkin.
„Hast Du Moussa gesehen?“ fragt Zaher, doch İlkin lacht nur und geht durch die Asche davon.

Asche | Remix

Pöm
April 7, 2021

die Narben
auf deiner Zunge
bezeugen erloschenen
Zorn

die Zähne gefletscht
folgst du den
Wutwegen

der Brand schwelt
nicht mehr in der
Asche stocherst du
wortlos

Dämmerung

Pöm
März 5, 2021

hüllst dich
in deinen Mantel
aus Eis

frierst
nicht und
zitterst doch

die Sonne
steigt

Asche

Pöm
Februar 3, 2021

Zorn auf der Zunge
brannte Narben
dir ein

deine Finger folgen
den Wutwegen

der Brand schwelt
nicht mehr in der
Asche stocherst du
wortlos

Der Stern des Anstoßes

Von der Front
Februar 1, 2021

Bei den Schriftstellern* tobt eine Diskussion um das Gendersternchen. Partiell nachvollziehbar, weil der Stern sowohl für das menschliche Auge als auch für maschinelle Lese- und Interpretationshilfen ein Hindernis darstellt. Allerdings sind die Schriftsteller desinteressiert an technischer Umsetzungsschwierigkeit, das Gendern selbst entzündet Herzen, Hirne und alles, was dazwischen baumelt. 

Mein einer Verein führt dieselbe Diskussion, nur in konstruktiv. Während dort nach der optimalen Form gesucht wird, möglichst viele Menschen in ihrer Individualität anzusprechen, erregt bei den Schriftstellern allein schon das Wort "Gendern" einen Furor, der mir im vergangenen Jahr lediglich bei den Janas aus Kassel aufgefallen ist. Aber klar, auch sie befinden sich im Widerstand, nicht gegen das Corona-Regime der Merkel-Diktatur, sondern gegen den Genderwahn der Sprachpolizei. Nichts dürfe man mehr sagen, alles sei verboten, vorauseilender Gehorsam sei der einzige Weg, um unbehelligt zu bleiben von den Blockwarten. Oder eigentlich ja fast ausschließlich: Blockwartinnen. 

Parallelen zum oktroyierten Sozialismussprech der DDR werden gezogen (bislang sind die Umerziehungscamps für Uiguren unerwähnt geblieben), zwischendurch gibt es Ausflüge in den (Anti-)Rassismus, das Beispiel binärer Geschlechtsanerziehung durch rosarot-himmelblaue Zielgruppenwerbung wurde angebracht, kurz auch die Bibel zitiert. Es geht aber auch um alles, nämlich darum, der angeblich von denen da oben verordneten Gehirnwäsche durch Sprachhygiene die Stirn zu bieten. Oder den Arsch, je nach Temperament.    

Alles wie immer also, könnte man denken. Alle Seiten haben ihre Kronzeugen, ihre Statistiken, ihre Wahrheiten, ihre Drohszenarien. Appelle an die Vernunft stoßen auf taube Ohren, resigniert ziehen sich einige Diskutanten zurück, nur um von frisch Entflammten ersetzt zu werden. Um meinen Vater zu zitieren (der natürlich auch nur andere zitiert hat damit): "Es ist bereits alles gesagt, nur noch nicht von jedem."

Der Göttergatte fragt zurecht: "Warum tust du dir das an? Hast du nichts Besseres zu tun?" Noch habe ich keine definitive Antwort.

Eine Stimme aus dem Forum, die glaubt, mich zu kennen, vermutet als Antrieb für meinen Einsatz pro inklusiver Sprache das mir selbst innewohnende Bedürfnis nach Anerkennung, Wahrnehmung, vielleicht auch Verbindung. Als setzte ich mich nur dafür ein, andere sprachlich nicht auszuschließen, weil ich selbst oft genug schon ausgeschlossen wurde (und das eben nicht nur sprachlich). Ob mir allerdings mein Einsatz für eine inklusive Sprache hülfe, dieses Ziel der Akzeptanz zu erreichen, das sei fraglich, sagt die Stimme.

Recht hat die Stimme damit schon. Selbst wenn alle genderten, müsste ich immer noch in mir selbst die Zufriedenheit mit meinem Werk finden, die mir das Selbstvertrauen gibt, irgendwas zu veröffentlichen. Gleichzeitig frage ich mich: Was soll diese Formulierung? Ob mir das hülfe. Als sei ich hilfsbedürftig, als sei ich kaputt, fehlerhaft. Als sei ich dadurch reparabel, dass sich alle anderen meinem Wunsch nach nicht-diskriminierender Sprache anpassten. 

Klar: so war das bestimmt nicht gemeint. Nur weil ich selbst weit vorher erwähnt hatte, mich in meinen Kindheits- und Teenagerjahren als nicht zugehörig, ausgestoßen und schlimmeres wahrgenommen zu haben, heißt das nicht, dass die Stimme darauf anspielte. Wem der Schuh passt, der zieht ihn sich an, so ist es doch. Getroffene Hunde jaulen. Nur Sensibelchen und enttäuschte Narzissten beziehen alles auf sich und machen sich gleich zum Opfer. Kann doch die Stimme aus dem Forum nix dafür, dass die Stimme in mir, die ich kaum erheben mag, gleich einen persönlichen Angriff unter der Gürtellinie vermutet, nur weil da jemand meine Position durch eine (aus einem komplett der Diskussion fernstehenden Kontext extrapolierte) Fernanalyse meiner psychischen Befind- und vielleicht Verletzlichkeit untergräbt.

Um wenigstens diese Frage zu beantworten: Nein, das hülfe mir nicht. Zumindest nicht, zufriedener oder angenommener zu empfinden. Das bleibt eine Angelegenheit meines Herzens, Hirns und von allem dazwischen. Was mir zumindest zeigt, dass es nicht um eine persönliche Grille meiner Selbst geht, sondern um etwas anderes, nämlich um die Forderung, erst zu denken (eventuell auch an andere) und dann zu sprechen (oder zu schreiben). 

Worum es nicht geht: sprachpolizeilich eine neue Weltordnung auf den Weg zu bringen, in der all jene, die ausschließend schreiben, eins mit dem Lineal auf die Finger kriegen. Nicht nur ist das absurd, es wäre auch gar nicht umzusetzen, weil nicht nachprüfbar. 

Aber das wollen die Schriftsteller nicht hören, da kann man es auch noch so oft sagen, sie picken sich nur raus, was sie in ihrer Weltsicht bestätigt, dass die da oben, die bösen Feminazis oder überhaupt die anderen gegen sie sind. Mit genüsslicher Häme pulen sie sich dann Unkrautbeispiele für schlechtes (und so nicht empfohlenes) Gendern aus den Hirnwindungen, nur um dann mit schlecht gespielter Ernsthaftigkeit zu fragen: "Wer soll diesen Unsinn denn wie aussprechen?"
Und dann klopfen sich die Schriftsteller selbst an die stolzgeschwellte Brust und einander auf die Schultern, denn man ist ja unter sich, und gleich pinkelt noch wer ins Eck (im Stehen natürlich), um mal deutlich das Revier markiert zu haben, das nun frei bleiben kann von irgendwelchen Sprachexperimenten, die das Patriarchat aufweichen könnten.

Armes Patriarchat. Ist schon sehr schwach geworden mittlerweile, dass die Aufforderung, das generische Maskulinum mal zu überdenken (nicht gleich ersatzlos in die Tonne zu kloppen), schon so die Klöten schrumpeln lässt.

Warum also tue ich mir das an? Habe ich wirklich nichts Besseres zu tun?

Wahrscheinlich schon. Das seltsame Buch über die Insel will geschrieben werden, auch wenn und gerade weil das ja auch von verletzter und verletzender Männlichkeit handelt, das andere Riesenprojekt hat sich mittlerweile in zwei Entitäten gespalten, die beide um Aufmerksamkeit betteln, meine anderen Kreativitäten buhlen um meine Zeit, und dann sind da noch zwei Vereine, deren durch Corona arg gerupfte Gestalten wieder in Form gebracht werden wollen. 

Vielleicht also doch Anerkennung? Von den Schriftstellern? Von diesen Schriftstellern? 

Eher nicht, ahne ich die Antwort. Klar, ich will schon auch irgendwie dazu gehören, und als Mensch, der seit jungen Jahren vor allem schreibend mit Anderen kommunizierte (weil Sprechen und gleichzeitig Gedanken sortieren halt echt nicht funktioniert, wenn 30 Gedanken gleichzeitig um einen einzigen Platz auf der Zungenspitze rangeln), bot sich das Schreiben halt sehr an. Wo will man da am Ende hin, wenn nicht zu den Schriftstellern?

Nicht, dass die nun die Speerspitze der Kunst wären. Oder generell in der Richtung unterwegs, die ich für mich sehe. Das zeigen mir ja die Wettbewerbe, an denen ich mit einem mich immer wieder selbst überraschenden Optimismus teilnehme, nur um dann zu sehen, dass meine in liebevoller Kleinarbeit zurechtziselierten Beiträge zwar polarisieren, aber zu meiner Enttäuschung nur im Mittelfeld landen, während meine im Frust über das Wettbewerbsfeld hingeschluderten Destruktivkommentare regelmäßig eine Begeisterung hervorrufen, die ich mir kaum erklären kann. 

Von diesen Menschen also will ich akzeptiert werden? Die Texte schreiben, die ich fragwürdig finde? Die Texte loben, die mir unverständlich bleiben? Die meine Verrisse bejubeln, die mit konstruktiver Auseinandersetzung oder gar einer Wertschätzung der Arbeit anderer wenig bis nichts zu tun haben? Will ich akzeptiert werden von Menschen, die ich im Analogen nicht als Freunde haben wollen würde?

Klar: ich habe Probleme mit meiner Selbstwahrnehmung und -akzeptanz. Immer schon gehabt, wird sich wohl auch so bald nicht legen. Das wird sich auch nicht legen, falls sich nun gendernde Sprache durchsetzt oder aber die Horde der sprachpolizeilichen Blockwarte unter den Schriftstellern, die die ganze Diskussion unter Spott, Häme und Herablassung begraben. 

Insofern: Nein. Das würde nichts helfen. Mir zumindest nicht. Denn mein Problem ist ja nicht meine Suche nach binärer Identität, sondern nach kreativer Anerkennung. Hinge mein Lebensglück davon ab, dass der Autor eines Wanderführers "Wandernde" statt "Wanderer" schreibt, ich hätte mehr gekämpft.

"Vielleicht hätten andere profitieren können", ist mein Gedanke, altruistisch will ich ihn nennen, auch wenn ich nicht sagen kann, ob er nicht doch nur egozentrisch ist. Soll ja Menschen geben, die tatsächlich darunter leiden, dass nicht-gendernde Sprache sie exkludiert. Aber die werden ihren Kampf dann wohl doch selbst führen müssen, so wie ich den meinen habe. 

___

* sic! 

Happy End

Von der Front
Dezember 30, 2020

Das Jahr neigt sich nicht nur dem Ende zu, es ist ganz und gar auf Neujahr eingestellt. Vielleicht, so hoffen alle, bringt 2021 endlich die ersehnte Wende zum Besseren nach so vielen Jahren, in denen immer wieder das Jetzt verflucht und die baldige Zukunft ersehnt wurde. Um dann wieder enttäuscht zu werden. 

So ist das nun mal. Die Zukunft bringt nur in Ausnahmefällen das Erwartete, manchmal immerhin das Erwartbare, in den seltensten Fällen aber das Erwünschte. Nun ist das natürlich auch eine Folge von Erwartungsmanagement. Wer auf nichts hofft, wird nicht enttäuscht, wer großen Träumen nachjagt, fällt hingegen schon mal von der Klippe. 

Die Ansprüche an 2021 sind daher entsprechend niedrig: wenigstens nicht so schlimm wie 2020 soll es werden. Und tatsächlich war dieses Jahr ein absoluter Tiefpunkt in der Wahrnehmung der meisten Menschen. Was noch einigermaßen begann (wenngleich mit der trüben Aussicht auf einen allseits unbeliebten Brexit), wurde rasch von Corona überrollt. 

Viele Geschichten, die in und von diesem Jahr erzählt wurden und werden, enden mit "... und dann kam Corona". Die Pandemie hat vielem ein Ende gesetzt oder zumindest ein Neudenken vieler Prozesse angeregt. Leider nicht aller, denn das Grundproblem, das zu Corona geführt hat (und zu mehreren Jahren der Verschlimmerung) bleibt ja bestehen. 

It's the structure, stupid! will ich rufen, aber hören wird mich niemand. Das strukturelle Problem einer auf Ausbeutung humaner und ökologischer Ressourcen kann nur in Kollaps münden. Krise kann nur auf Krise folgen, einzige Lösung: Ändere das System. Never change a running system, heißt es zwar. Was aber wenn das System gegen die Wand rennt?

Und da sind wir also. Gesegnet mit der Erkenntnis, dass unsere Lebensweise die Grenzen des Belastbaren erreicht haben, ungesegnet allerdings mit der Kraft und/oder Entschlossenheit, der simplen Erkenntnis, in einem geschlossenen System zu leben, auch konkrete Taten folgen zu lassen. 

Nun bin ich ja glücklicherweise weder Prophet noch Messias noch Wissenschaftler oder sonst jemand. Ich bin nur einer, der Worte in die Welt wirft in der Erwartung, dass niemand sie liest. Konsequenzlosigkeit ist meine Lebensart. Und dennoch liegt mir etwas am Planeten. Allein schon, weil ich keine Lust habe, in den nächsten 30/40 Jahren jämmerlich zu sterben. 

Klar, sterben werde ich müssen (auch wenn die Digitalisierung der Persönlichkeit sicherlich irgendwann Realität wird), weil wir alle nur über eine begrenzte Laufzeit verfügen. Aber jämmerlich sterben, das muss ja nun nicht sein. Ich mag den relativen Luxus, in dem ich lebe. Ich mag es warm und gemütlich. Ich bin gerne satt und zufrieden. 

Und mehr muss es ja auch eigentlich nicht sein. Ich brauche keine Palmfettprodukte, ich möchte keine Verbrennermotoren. Ich will keine Mastschweine oder Legebatteriehühnereier, ich verabscheue Fast Fashion. Ja, ich lebe in einer relativ großen Wohnung, aber der wichtigste Einrichtungsgegenstand darin ist leerer Raum. 

2021 ist bis jetzt auch ein leerer Raum. An seiner Schwelle stehen Erwartungen neben Enttäuschungen. Beides werden wir zur Genüge erfahren. Mit etwas Glück werden wir aber nach 2021 Geschichten erzählen, die bei "... und dann kam Corona" nicht enden, sondern die danach auf ein Happy End zusteuern. 

dir einen Altar | Triptychon der Verwehrung

Pöm
Dezember 30, 2020

I

du narbtest
mich mit
unscharfen
Worten

noch schwären
die Wutränder

ich übersehe
sie alle

II

die dünngewordene
Haut trage ich
dir nicht nach auf der Bahre
wärmt sie dich nicht

ich beuge mich
nicht über das Versagte
deiner zum Kuss
ersprödeten Lippen

III

Atem
schöpfe ich
genug
für uns beide

versiegt
ist der Quell

stille an mir
deinen Lufthunger

Lufthunger

Pöm
Dezember 16, 2020

Atem schöpfe ich
genug
für uns beide

die dünngewordene
Haut trage ich
dir nicht nach auf der Bahre
wärmt sie dich nicht

ich beuge mich
nicht über das Versagte
deiner zum Kuss
ersprödeten Lippen

der Quell ist versiegt

Angelsgeduld

Usus operi
Dezember 4, 2020

Nach Reaktionen fischen und im Trüben eines Schriftstellerforums nach Feedback stochern, das ist ein mühseliges Geschäft. Wie sollte es anders sein? Gerade im Lyrikbereich gibt es viele kleine Fische und nur wenige Hechte, die große Literatur produzieren, und jetzt tummle ich mich auch noch im ohnehin nur kleinen Becken und versuche meinen ungerechtfertigten Anteil am Plankton abzubekommen. 

Ich tauge eigentlich nicht dazu. Ich bin kein Schriftsteller, kein Autor. "Ja aber", sagt Ihr zu recht, "ist denn das hier, dieses Fortschreitungsdings, ist das denn keine Schreiberei?" Nein, das sagt Ihr nicht, und das nicht nur, weil Ihr nicht existiert, sondern auch, weil Ihr unrecht hättet. Halb zumindest. Ja, es ist Schreiberei, aber nein, es qualifiziert mich nicht dazu, Autor zu nennen oder eben Schriftsteller. Wortwerfer vielleicht, Ergußlyriker, Schwallpathetiker, aber doch kein wahrer Künstler. 

Kunst ist natürlich subjektiv, und Kunst vergleichen zu wollen wird nicht funktionieren und niemanden glücklich machen, weder die Erzeuger noch die Verbraucher von Kunst. Was der eine als Kunst sieht, ein monochromes Bild mit interessanten Strukturen beispielsweise, erscheint dem anderen nur als leere Leinwand und keineswegs als gerechtfertigte Raumnutzung. Gleichwohl rechtfertigt diese Gleichzeitigkeit, Diffusität von Kunst-oder-nicht-Kunst wahrscheinlich die Einordnung als Kunst. Öffnet das Werk einen Diskussionsraum, ist es Kunst. Erzeugt es Desinteresse, Langeweile, ödet es an, dann kann es weg. 

Natürlich ist dann auch wieder die Frage berechtigt: Was definiert den Diskussionsraum? Ist es ausreichend, dass sich die Frage stellt, ob das Kunst ist oder weg kann? Oder muss es tatsächlich auch eine inhaltliche Diskussion geben? Im Fall der weißen Leinwand könnte man eine Gesellschaftskritik hineinlesen: Wir haben so viele Leinwände und so wenig Farbe sie zu füllen. Oder: Ich bin deprimiert, mag es mir aber nicht ansehen lassen und darum male ich meine Angst in Weiß auf und über meine Narben. Oder: Der Weiße Mann als Tonangeber hat ausgedient, das einzig Weiße, von dem ich mich dominiert sehen will, ist ein weißes Bild. 

Sei es, wie es sei: Kunst entsteht im Auge des Betrachters. Problematisch nur, wenn es keinen Betrachter gibt, wenn das Kunstwerk allein in der Weite steht und niemand sieht es. Wenn ein Baum fällt, und niemand ist dabei, fällt er dann wirklich? Wenn ein Stern implodiert, und niemand sieht es, ist es dann wirklich eine Nova? Arbeitet, um mich selbst von anderswo zu zitieren, die Milz nur dann, wenn man sie betrachtet?

Auf das Schriftstellerforum bezogen: ich brauche diese unmögliche Geduld. Die wenigsten der eingestellten Gedichte dort werden ausführlich besprochen, und wenn, dann in der Regel von Leuten, die sich nicht wirklich kritisch oder hilfreich damit auseinandersetzen wollen. Ich habe damit meine Probleme, weiß aber, dass sie inhärent der Internetkultur des Austausches geschuldet sind: nur wer gibt, dem wird (vielleicht) gegeben. 

Bleibt mir also nur weiterzuschwimmen durch den Schlick und Schlamm des lyrischen Tümpels, in den ich mich da begeben habe, in der Hoffnung, das zu finden, was ich vermutlich suche: Anerkennung. Albern ist das, denn welche Form von Anerkennung will ich da haben? "Oha, dichten kann er ja doch" ist ja nun auch nicht, was ich hören will. Oder eigentlich schon, aber es bringt mich wahrscheinlich nicht weiter. Denn selbst wenn ich das zu hören bekäme: es lehrt mich nichts. Und auch wenn ich mich nicht immer in der Rezeption von Feedback so anstelle, als würde ich daraus lernen wollen, so bleibt mir doch kein anderer Ansporn als der, immer besser zu werden.

Mein Talent (es sei mal angenommen, ich hätte welches) reicht nämlich nicht aus, um meinen Roman oder die fünf Kurzgeschichten zu vermarkten. Und damit meine ich: mich will niemand lesen. Ich schreibe nicht interessant oder nahbar genug. Vielleicht habe ich auch die falschen Themen (wenn ich überhaupt welche habe). Mitunter fesseln mich meine Texte ja selbst nicht genug, dass ich sie zuende bringen will. Sonst hätte ich ja nicht so unfassbar viele Fragmente gehortet in der Hoffnung, dass sie irgendwann einmal ein zusammenhängendes Bild ergeben. 

Auch da hilft wahrscheinlich nur: Geduld. Und: Weitermachen.  

dir einen altar

Pöm
Dezember 3, 2020

die dünngewordene
Haut trage ich
dir nicht nach auf der Bahre
wärmt sie dich nicht

ich beuge mich
nicht über das Versagte
deiner zum Kuss
ersprödeten Lippen

noch schwären die Wutränder
deiner narbenden Worte

das Sakrament
des zehrenden Laibs deiner Liebe
und deiner Tränen bitternden Weins
fürchte ich
doch

der Quell ist versiegt

ich schöpfe
Atem genug
für uns beide

Schattengäste

Pöm
November 30, 2020

Ich öffne die Tür und trete ein
in dies alte Haus der Stille,
und mich umfängt und mich verschlingt
gleich einer großen Welle,
gleich einem schwarzen Loch
das Auge im tosenden Sturm und doch
ersticke ich und sterbe fast
in dieser Nacht voll totem Grau
als mein eigner Schattengast.

Du öffnest und du suchest mich
in meinem kalten Herz voll Qual;
ich fasse und ergreife dich
und ziehe dich mit Donnerhall
in meine Tiefe ohne Ende.

Oh! würden diese Wände,
die einst ein Haus gewesen,
keine Stimmen, keine Namen,
keine Erinnerung mehr tragen!
Oh! hätte doch ein jeder Traum sein Ende!

Einst majestätisch das Portal,
doch jetzt gespalten voller Qual,
birgt nur noch Schatten voller Pein:
Arme Schatten, die mein Herz
erfüllen nur mit scharfem Schmerz
und die mit kalten Stimmen schrei’n.

Schatten der Vergangenheit
raunen meine Namen
mit leisen, rauen Klagen
und stehen nur und schauen nur
von Ewigkeit zu Ewigkeit
mit ihren Augen voller Fragen.

Der Morgen graut
nah dieser stillen Nacht
und langsam leert sich die Ruine.
Schattengast um Schattengast
verliert von seiner Schattenmacht,
bis er sich auflöst und verblasst.

Is this the real life?

Usus operi
November 27, 2020

Schattengäste bei den Schriftstellern vorgestellt. Krass, wie alt das Gedicht ist, wie jung ich damals war. So anders. 

Manchmal versuche ich mich an mein damaliges Selbst zu erinnern, an den scheuen, aber extrovertierten jungen Mann, der Angst hatte gesehen zu werden, den es aber dennoch so deutlich ins Rampenlicht trieb, dass er keine Scheu kannte, ein selbstgeschriebenes Gedicht auf der Bühne vorzulesen, aber Angst hatte, in einem Theaterstück mitzuspielen. Vielleicht weil er nicht wusste, wie anders tatsächliche Furchtlosigkeit sein könnte. 

Später, als ich schon ein anderer war, besaß ich diesen Mut, der kein Gegenteil kannte. Und das war nicht nur das Fehlen von Sorge, sondern ein komplettes Ausblenden möglicher negativer Konsequenzen meines Tuns. Ich war frei, im besten Sinn dieses Wortes. Ohne mir Gedanken machen zu müssen über das Morgen, das Später, das Gleich. 

Ich erkenne diesen Menschen mittlerweile kaum noch wieder. Klar, ich bin knapp 20 Jahre entfernt von ihm, und es ist viel passiert in diesen zwei Jahrzehnten, aber dennoch ist mir diese Zeit auf ähnliche Art verschlossen wie meine Jugend und Kindheit. Manchmal kommt es mir vor, als wäre ich schon immer Ende 30 / Anfang 40 gewesen, hätte in dieser Wohnung gelebt, wäre von einem Zimmer zum anderen gegangen und hätte mal hier und da aus dem Fenster gesehen, während draußen die Welt und das Leben vorbeirasen wie Kometen. 

Wie läuft das mit den Tagen, Wochen, Monaten, Jahren? Wieso kann ich nicht einfach zurückblicken in einen anderen Moment, als erlebte ich ihn gerade neu? Wieso fallen mir die Namen meiner Mitschüler nicht mehr ein, obwohl ich mir in der Schule sogar ihre Geburtstage eingeprägt hatte, als hätte mir das einen Nutzen gebracht. Wieso habe ich nur so diffuse Erinnerungen an die Urlaube mit meinen Großeltern, weiß nur lose, dass wir durch das damalige Jugoslawien gefahren sind, um mit meinen Eltern Urlaub in Griechenland zu machen? Wieso erinnere ich mich lebhaft an die Alpträume, die ich als Kind hatte, aber nicht daran, wie es in der Schule war? Wie lange hebt das Gehirn Erinnerungen auf, bis es sie zugunsten neuer Erfahrungen entsorgt? 

Natürlich weiß ich, dass das Gehirn anders funktioniert, sich anders organisiert. Dass Sinneseindrücke über synaptische Verbindungen abgebildet werden und wiederholte Muster stärker sind als einmalige Erlebnisse, sofern diese Einzelerlebnisse nicht besonders einprägsam, sprich traumatisch sind. An den Unfall auf dem Rollsplit erinnere ich mich - und doch nicht, denn dazu ging alles zu schnell. Eine andere Autofahrt, sehr langsam durch dicht und dick fallenden Schnee, kommt mir in den Sinn - welche Assoziationskette liegt da in meinem Gehirn vergraben? 

Wer bin ich in diesem Sammelsurium aus Erinnerungen, Anekdoten und Scheinwirklichkeiten. Is this the real life? Or is it just Fantasy? sangen Queen, und ich habe aus meiner Perspektive keine Antwort darauf. Bin ich echt oder ein Konstrukt meiner in die Zukunft reichenden Erinnerungen? Ist meine Persönlichkeit eine retrospektiv eingefangene, aber prospektiv aufgefächerte Extrapolation? Wo ist mein ich verwurzelt, in welchem Haus wohnt mein Geist? Bin ich oder bin ich nicht -  und da, das gebe ich zu, endet mein Text etwas gewollt pathetisch - mein eigener Schattengast? 

Corona-Poem

Pöm
November 26, 2020

Corona an Weihnachten
schenke ich mir
drum treff ich dich nicht
sonst schenkst du es mir.

Der andere Wettbewerb

Von der Front
November 25, 2020

Dieser andere Wettbewerb, bei dem ich mich seit Wochen um eine Teilnahme drücke, feiert das WIR in all seinen Facetten. Wegen Corona und so. Weil in den letzten Monaten wir als Gesellschaft, als Gemeinschaft, ja, als gesamte Menschheit mal wieder gezeigt haben, wie wichtig Zusammenhalt und Solidarität doch sind. 

Und alles, woran ich denken kann, sind die vielen Konflikte zwischen den Menschen und den Menschen und der Natur und den Menschen und dem Planeten und überhaupt. Religion, Klima, Ausbeutung, Rassismus, der ständige Drang der Menschen, sich auf Kosten anderer zu bereichern, Macht auszuüben oder gar zu töten. Selbst der Applaus von den Balkonen fühlt sich mittlerweile nicht mehr an wie Wertschätzung, sondern mehr wie abschätzige slow claps

Menschen sind nicht gut. Manche, wie ich, sind einfach nur zu faul, um anderen ihren Willen aufzwingen zu wollen. Oder zu unfähig, wobei auch das eher eine Frage des Willens ist. Wenn ich wirklich wollte, könnte ich alle Fertigkeiten entwickeln, die für Weltdominanz notwendig sind. Ich will halt nur nicht. Was habe ich davon? Ja, wahrscheinlich wäre die Erde ein besserer Ort, wenn ich allen befehlen könnte, einander zu lieben. Aber würde mich jeder lieben? Wahrscheinlich nicht. Irgendwer würde sagen: Dieser Liebestyrann muss weg. Und schwupps, war's das auch schon wieder mit meiner Herrschaft. Alternativ müsste ich ihn beseitigen lassen, und das verstieße gegen meinen zentralen Glaubenssatz, dass niemand jemandem Schaden zufügen sollte. Blöd gelaufen dann.

Vielleicht, dachte ich, könnte ich mit einem gesellschaftskritischen Gedicht, vielleicht einem Pamphlet, einer Deklamation dem Thema und gleichzeitig meinen Bedenken gerecht werden, aber meine kleine Menschheitsgeschichte in Wir-Form ist einfach nur strunzlangweilig, hat zwischendurch Logik- und Vollständigkeitslöcher, und ganz im Wesentlichen weiß ich einfach nicht, was ich sagen will. Oder besser: ich traue meiner Message nicht, den Text zu tragen. Oder umgekehrt. 

Nun habe ich in dem Lyrikbuch gelesen, das ich nebenbei konsultiere, dass man sich genau davon verabschieden muss, gerade wenn man Lyrik schreibt, aber eben auch für ganz prosaische Prosa: einfach laufen lassen, aufwischen kann man später immer noch. Natürlich formuliert der Ratgeber das subtil anders, aber im Wesentlichen ähnlich: Wer beim Schreiben zu sehr das Hirn anhat, hat am Ende nichts anderes als Hirn auf dem Papier. Und wer will das schon? Lesen soll Spaß machen, und so sehr Schreiben auch harte Arbeit ist: auch Schreiben soll Spaß machen. 

Lasse ich dann also den Wettbewerb ausfallen? Keine Ahnung. Ich habe noch fünf Tage, um eine Einsendung vorzunehmen. Vielleicht küsst mich ja doch noch eine Muse.

Einsam ohne

Usus operi
November 23, 2020

Seit Wochen sitze ich am Fenster, sehe sie draußen, diese Menschen. Sollten die nicht zuhause sein, am Fenster sitzen und die leere Straße beäugen? Das Fallen der Blätter, das langsame Ziehen der Wolken, ach was, keine Wolken: Hochnebel. So hoch, ich kann ihn kaum mehr erkennen, nur Hellgrau, fast Weiß über dem Blau. Neulich noch Kraniche oder Reiher oder Gänse, nachschauen hätte ich können, habe doch bestimmt ein Buch, im Zweifel das Internet, doch eigentlich ist es egal. Sie ziehen fort, und ich bleibe am Fenster und beschaue die Wolken, den Hochnebel, und unten die Menschen. 

Seit Monaten sitze ich am Fenster, und immer noch wehen Menschen wie fallende Blätter durch die Straßen, droben die Wolken, mehr Blau als Hellgrau oder Weiß, bald wird Schnee fallen, und ich sitze dann am Fenster, lasse den Blick steigen in die Wolken, presse mir die Nase platt an der Scheibe. Kalt ist die, kann der Schnee kälter sein? Ich lege eine Hand auf das Glas, fühle nichts von den Menschen, wie auch. Sind zwar da, aber fern. Ich will sie nicht mehr sehen, warte auf den Schnee, der alles zudeckt, das Laub, die Straßen, die Menschen, die Welt. 

Im Sommer habe ich vom Balkon aus in die Sonne geblinzelt, spürte die Hitze bis tief unter die Haut. Hummeln besuchten den Lavendel. Ab und zu ein Vogel auf dem Geländer, ein überraschtes Pfeifen dann, doch das vertrieb mich nicht. Auf meinem Balkon war ich König, nur die Wolken über mir, am herrlich aufgespannten Himmel. Unter mir das Meer, murmelnd, fast wie Stimmen. Hätte es Menschen gegeben, ich hätte sie lachend begrüßt. 

Vielleicht gab es sie.
Weiß nicht. 
Egal auch. 
Habe niemanden vermisst. 

Ab und zu verlasse ich die Wohnung. Hülle mich dann in meinen Panzer aus Mütze, Maske, Schal, Mantel, Stiefel. Erkennt mich niemand so, und ich schleiche vorbei an allen, die mir ein Gespräch aufdrängen wollen wie Ware, die sich nicht verkauft. Die sind sicher auch viel daheim, denke ich, falls mich doch wer erwischt. Spüre den zähen Nebel in ihren Worten. Auch sie haben vergessen, wie man spricht. Sprach. Früher. Vorher. Smalltalk, so hieß das. Wie schmeckt dir das Wetter, gefällt dir die Uhrzeit; solche Sätze müssen das gewesen sein. Heute immer gleich zur Sache: Wie geht es, kennst du wen, wie lange wohl noch, diese Spinner (droben wie drunten). 

Verabschiede mich dann - ein Relikt aus alter Zeit - höflich, bevor ich gehe. Muss einkaufen gehen, obwohl der Kühlschrank überquillt und aus den Schubladen die Dosen zu mir aufblinzeln. Werden wir heute geöffnet, wenigstens morgen? Hier ist es so voll, hol uns raus. Iss uns, alles ist besser, als hier eingezwängt zu sein.

Hunger habe ich keinen mehr, mich dürstet nach einer erträglichen Einsamkeit. 

Am Fenster stehe ich später wieder und blinzle hinauf in den Himmel, Wolken ziehen mit den Kranich-Reiher-Gänsen um die Wette. Bald ist wieder Sonne, wo Schnee sein sollte. Viel zu warm alles, die Sonne, die Wolken, der Nebel, und trotzdem sind mir die Finger kalt. 

Eine Freundin ruft an, ich sehe sie auf dem Display, sie klingelt in einem Ton, der vorwurfsvoll klingt. Ich sehe sie läuten, und ich freue mich, ihr Gesicht zu sehen. Dann bricht es ab. Das Display wird wieder schwarz. Ich hoffe, sie versucht es wieder. Gerne würde ich sie wieder sehen. 

Das Schloss

Morpheon
November 20, 2020

Im Traum durch eine obskure und trotzdem bekannte Landschaft gelaufen, Wege hinab und hinauf, die ich kenne und eben doch nicht. Zuletzt befand ich mich in Ruinen eines Schlosses, das mir vertraut vorkam - in früheren Träumen hatte ich hier Zeit verbracht. Die Wände waren damals fein verputzt gewesen, vielleicht auch aus Sandstein. Dieses Mal fehlte das Dach und dennoch war der Blick zum Himmel versperrt, die Wände nur noch unverputzte Ziegelsteine. Größer wirkte das alles, luftiger, und doch, weil ich über bemoosten Boden ging, seltsam gemütlich. 

Ich war zuhause und wusste doch: Ich durfte hier nicht sein. Und tatsächlich kam nicht lang danach der Denkmalschutz, der mich aus dem Dunkel herausholte mit den Worten: Das Eindringen dort sei verboten. 

Dass ich einen Schlüssel hatte, dass dies mein Heim war, dass ich der einzig wahre Berechtigte für diesen Ort sei, sagte ich nicht, denn die Worte leuchteten mir ein: Niemand sollte an einem solchen Ort leben, in einem leeren Museum, einem verfallenen Schloss, einem Nichtort wie diesem. 

Draußen war wieder der lichte Birkenwald, durch den ich vorher gerannt war, bevor ich mich unversehens im Schloss wiedergefunden hatte. Und noch jemand war dort: Jemma Simmons, Agentin bei S.H.I.E.L.D., vielleicht aber auch Elizabeth Henstridge, von der ich neulich erst ein Vlog gesehen hatte. Sie erinnerte mich an jemanden oder eigentlich daran, wie ich einmal gewesen war: Neugierig, fröhlich, nicht so down wie in den letzten Wochen, Monaten, Jahren. 

Wobei ich nicht weiß, ob ich so war. Ich will so gewesen sein, doch ich habe das Gefühl, dass ich so lange schon so bin, wie ich jetzt bin, so ausgeglichen dumpf. So desinteressiert an so vielem.
Und auch hier weiß ich nicht, ob das zutrifft, denn ich bin ja interessiert an Dingen, nur eben in der Regel nicht an denen, die meinen Alltag füllen, was natürlich einigermaßen ungünstig für meine geistige Gesundheit ist.

Nach dem Aufwachen den Nachgeschmack von Verlorenem gespürt, und auch jetzt, einige Stunden und einiges Nachdenken später, weiß ich noch nicht: Trauere ich dem Traum nach oder dem, was ich vielleicht oder vielleicht auch nicht einmal war. 

Alles nichts

Usus operi
November 19, 2020

Natürlich ärgere ich mich immer noch über den Wettbewerb. Komplett sinnbefreit. Ein Leser der Geschichte fand sie doof, monierte meinen offensichtlich nicht wissenschaftlich akkuraten Umgang mit einer Singularität: Die Geschichte wäre ok, wenn sich das schwarze Loch als Konzept zumindestens in grober Annäherung mit dem deckt, was ein populärwissenschaftlich interessierter Laie darunter versteht. 

Das ist jetzt zwei Wochen her, und natürlich ärgert es mich immer noch. 

Klar, rückblickend weiß ich auch, dass ein Astrophysiker einiges zu monieren gehabt hätte an der Geschichte, aber der Wettbewerb war erstens in der Sparte Phantastische Literatur angesiedelt und zweitens findet die ganze Handlung ohnehin nur in der Vorstellung des Protagonisten statt, der ebenso wenig wie sein Autor Ahnung von Astrophysik hat. 

Wobei mich wahrscheinlich eigentlich nur ärgert, dass mir nicht selbst die Unzulänglichkeit meiner Vorstellung eines schwarzen Lochs aufgefallen ist. Natürlich hat nicht geholfen, dass der Kommentator im gleichen Beitrag auf andere Autoren verwiesen hat, die seiner Ansicht nach komplexe Geschichten unnachahmlich schreiben können, implizierend, dass die sich nicht so daneben benommen hätten im Umgang mit Singularitäten. 
Bei mir blieb im Endeffekt nur hängen: Lass das mit dem Schreiben. Du bist nicht begabt genug, um einen Blumentopf zu gewinnen. Entmutigung deluxe halt. 

Auch nicht hilfreich die Erkenntnis, wie sehr sich seine Sicht auf Phantastik mit der meines Vaters deckt. Anfangs konnte ich noch darüber witzeln, letztendlich aber war es genau wie damals, als mein Vater sagte: Phantastik ist billig, man kann sich ja einfach alles ausdenken. Für jemanden wie mich, der seit fast 15 Jahren daran arbeitet, sich etwas auszudenken - eine Geschichte, die sich mittlerweile schon drei- bis achtmal gehäutet hat und die immer mehr Anleihen an real existierender Mythologie nimmt - ist das natürlich ein Schlag unter die Gürtellinie. Wie gesagt: Entmutigung. 

Im Grunde könnte mir das egal sein - wie mir alle Tiefschläge eigentlich egal sein könnten. Sei es die Abmahnung, sei es der Spott von Freunden über meine Entscheidungen, sei es das eine oder andere Trauma aus der Schulzeit; immer wieder gab es Momente, in denen ich meine kreative Ader auch nur ein Stückchen präsentieren wollte, und immer habe ich eins auf den Deckel bekommen. 

So oft, wie ich darüber schon lamentiert habe, sollte man meinen, das ginge eloquenter. Geht es nicht. Wozu sollte ich denn verblümen, wie sehr mich das trifft? Ist ja nicht so, dass mir Eloquenz hier hülfe. Zurücksetzung empfinde ich ja trotzdem. 

Was hülfe, wäre, es nicht zu ernst zu nehmen. Denn im Grunde nutzt mir die Anerkennung anderer nicht. Ja, es wäre schön, wenn sich jemand für die Kunst, die ich mache oder machen will, interessiert und mich irgendwie auch fördern will, aber wenn ich auf eine Aufforderung oder Erlaubnis Kunst zu machen warte, dann kann ich auch vergessen kreativ zu sein. Niemand wartet auf mich, der einzige, den ich glücklich machen muss, bin ich selbst. Alles andere ist nichts wert.

Corona, immer noch

Von der Front
November 17, 2020

Kann mich gar nicht mehr erinnern, wie das mal war, damals. Vorher. In den anderen Zeiten. Wird ja aber irgendwie gewesen sein, kann ja gar nicht anders. Damals. Muss ja irgendwie.

Muss ja, das sage ich jetzt dauernd, wenn mich wer fragt. 

Wie geht's, sagen sie, und ich weiß so gut wie sie, was sie meinen. Hältst du es noch aus, wenn ja wie? Bis du noch psychisch gesund, wenn ja, wie lange noch? Hattest du schon deinen Nervenzusammenbruch oder kommt der bald?

Wie geht's, fragen sie also, und alles, was mir einfällt, ist: Muss ja. 

Anders geht's halt auch nicht mehr. Muss ja. Kann ja eh nix ändern dran. Die Welt geht auch ohne mich unter, ob ich nun was an der Gesamtsituation auszusetzen habe oder nicht, weiter abwärts geht's immer. 

Am vorvorigen Wochenende war in Leipzig Demo. Erst gegen Corona, dann gegen die Corona-Gegner. Wasserwerfer haben nur die letzteren bekommen, weil die Dinge angezündet haben. Die ersten haben nur ihr Hirn verbrannt. Die Gesellschaft bekommt gezeigt: Wer gegen Corona demonstriert, bekommt keinen Wasserstrahl ab und keine Polizeigewalt. Wer jedoch gegen die bei den Querdenkern mitlaufenden Nazis demonstriert, bekommt auf's Maul. Gerade in Sachsen ein schlechtes Signal. 

Überhaupt die Querdenker. Was ist los bei denen? Wie sind die so geworden? Wie kann man abdriften in eine Welt, in einen Denkraum, wo es nicht komplett absurd ist zu glauben, Bill Gates habe nichts Besseres zu tun als die Weltbevölkerung zu chippen? Wo es plausibel erscheint, dass ein international agierendes Konsortium Kinder entführt, um ihr Adrenochrom in unterirdischen Kellern abzuzapfen, damit ... äh ... irgendwas mit Unsterblichkeit. 

Wie geht das? Wie kann jemand da einfach das Gehirn ausschalten und sagen: Das glaube ich jetzt mal. Wie stellt man sich denn die Logistik vor? Wer zapft das Zeug denn da ab, wie wird es abgefüllt? Wie transportiert man das und wie wird es konsumiert? Wenn da weltumspannend dran gearbeitet wird: wer arbeitet da dran? Das müssten ja Unmengen von Menschen sein, die nichts anderes machen als Adrenochrom abzuzapfen. Wo soll das stattfinden? 

Wie geht das, frage ich, und die Corona-Leugner, Impfgegner, Querdenker, Verschwörungstheoretiker, Gesellschaftsfeinde, Merkelhasser sagen: muss ja. Muss ja irgendwie gehen. Bin ich Logistiker? Muss ich das sein? Nein, ich bin doch nur der Wahrheit verpflichtet, nicht der Aufklärung. 

Ungläubig sitze ich da vor dem Fernseher oder eigentlich nicht mehr, denn ich ertrage es nicht mehr, mit welcher Vehemenz die Medien ihre Kameras da draufhalten, als könne man die Stupidität aus den Menschen herausfilmen und sie genesen lassen. Dabei bedienen alle, die den Skeptikern eine Plattform bieten, doch nur das Dopamin-High der Lügenjunkies. Filme mich, ich erzähle dir all die Lügen, die du dir selbst nicht ausdenken kannst. Ich sehe was, das habe ich selbst noch nicht gesehen. 

Hätten wir uns im Sommer vielleicht mal lieber um wirksame Therapie-Ansätze gekümmert, um Strategien zu Eindämmung, um Aufrüstung der Schulen mit Digital- und Lüftungstechnik. Oder vielleicht wenigstens mal einen Plan erarbeitet mit dem Parlament, um auf die von allen halbwegs seriösen Unkern zu Recht vorhergesagte zweite Infektionswelle akzeptabel zu reagieren. Oder um wenigstens dafür zu sorgen, dass die versprochenen Hilfsgelder wenigstens in absehbarer Zeit bei denjenigen ankommen, die sie spätestens jetzt dringend brauchen: Soloselbständige, Alleinerziehende, Pflegekräfte, was weiß ich. Bin ich verantwortlich? Muss ich das wissen, wer alles Geld bekommen sollte, aber mittlerweile die Altersversorgung aufgebraucht hat und statt eines heimeligen Weihnachtsfestes heuer halt mal nur die alten Lebkuchen vom letzten Fest aufkaut? Nein muss ich nicht, denn ich bin ja nicht verantwortlich. 

In meiner Verantwortung liegt wenig. Bin ich froh drum. Ich kann einfach hier auf meinem Stuhl sitzen und ab und zu ans Fenster treten, die Menschen anschauen, die unten durch die Straße laufen, schon wieder Klopapier aus der Drogerie schleppen, als wollten sie ...
Ach, die Art von Witzen waren halt auch nur in der ersten Welle scherzig, und das auch nur für ein paar Sekunden. 

Muss ja, so kommt man da durch. Man schaut die Menschen nicht mehr an, man setzt die Maske auf und hofft darauf, dass einen niemand mehr erkennt und am Ende fragt: Na, wie geht's?

Nichts. Alles.

Bewerbe
Oktober 18, 2020

Auf der Innenseite des Spiegels starrte Franz Kalo reglos in die Finsternis. In seiner Laufbahn als Anomalist des Amts zur Holistischen Erforschung Unbekannter Länder und Erden hatte er ja schon viele Verstecke, Gefängnisse und Müllhalden hinter Spiegeln gefunden, aber noch nie …
Ein Schwarzes Loch?
Das HEULE-Team hatte bei den Tests keine Surrealitäten entdeckt. Allerdings verwendete die Analyse nur magische und unmagische Objekte belebter und unbelebter Art. Womöglich reagierte der Spiegel nur auf bewusste Subjekte. Um wenigstens irgendwas zu tun, prüfte er den Schutzschleier – natürlich intakt, sonst wäre Franz längst tot – und den Ariadnefaden, seine Verbindung zum Labor.
„Franz? Ich empfange dich nur dunkel. Siehst du was?“
„Ein Schwarzes Loch.“
„Bist du dir sicher?“
„Rotierendes Zeug um einen Haufen Nichts. Ich bin kein Experte, aber das entspricht meiner Vorstellung von einem Schwarzem Loch.“
„Könnte es eine Illusion sein?“
„Wollte ich eben checken.“
„Gut. Ich geb’s der Chefin weiter.“
Franz schloss die Augen, öffnete seinen Geist und griff mit seinem Bewusstsein aus. Viel Leere, dazwischen Materie, darunter das vertikale Ziehen eines wirbelnden Abgrunds. Überwältigende Grundstrahlung, die künstlich nicht zu erzeugen war. Außer man kompilierte die Energie des Schwarzen Lochs selbst in die zu erzeugende Illusion, was allerdings nur mit umgestülptem Gehirn funktionierte.
Mit einem Komprimierungsgedanken schuf Franz einen kleinen Nimbusköder, den der unterschwellige Sog sofort mit sich riss. Franz spürte dem Köder nach auf seinem weiten Bogen um das Gravitationszentrum herum und in einer rasant enger werdenden Spirale weiter hinab, bis …
„Wer? Ach, verdammt!“
Überrascht ließ Franz den Köder los.
„Sandra?“
„Ja? Die Chefin sagt, wir holen dich raus, wenn es keine Illusion ist.“
„Keine Illusion, aber da ist einer drin.“
„Mist.“
„Großer Mist. Ich werde ihn retten müssen.“
„Nix musst du!“
„Irgendwer muss aber doch.“
„Franz, das ist Selbstmord.“
„Wenn ich ihn nicht rette, ist es Mord. Womit kann ich wohl besser leben?“
„Warte, die Chefin …“
„Keine Zeit, der ist zu weit drin. Außerdem könnt Ihr mich mit dem Faden jederzeit zurückholen.“
„Franz, du bleibst, wo du bist. Das ist ein Befehl.“
Doch Franz hatte schon einen Schritt voran gemacht. Kaum hatte er den stabilisierenden Portalnimbus des Spiegels verlassen, wurde er mitgerissen. Die Gravitation zog stärker an ihm als gedacht, die Sorge, einen suizidalen Fehler begangen zu haben, verblasste aber angesichts des Panoramas, das sich vor ihm entfaltete: ein halbes Universum vollgestopft mit irisierenden Gasnebeln, zwinkernden Sternenhaufen und schimmernden Galaxien. Franz hatte natürlich schon oft von der Erde und auch von Planeten mit geringerer Lichtverschmutzung aus in den Himmel geblickt, aber selbst restlichtverstärkende Magie oder Astralprojektion hatten nie die gleiche Ehrfurcht in ihm entfachen können. Franz würde womöglich von einem Abgrund aus Lichtlosigkeit zermahlt werden, vorher allerdings hatte er das leuchtende Antlitz des Unendlichen geschaut.
Eine ferne Stimme schrie in seinen Geist: „Franz, du … Ariadnefaden hat gleich maximale … noch weiter … wir dich!“
Ein Ruck, den Franz seltsam zeitverzögert vom Knöchel bis in den Atlas in allen Gelenken spürte, und ein Ende des Sturzes.
„Franz rede mit mir du warst plötzlich weg der Faden ist komplett gespannt was ist passiert?!“
„Ich bin näher ran.“
„Wir holen dich raus. Sofort. Keinen Unfug mehr.“
„Aber der Typ stirbt!“
„Nix, der Ereignishorizont bremst ihn aus, wir können ihn mit ein bisschen Zeitmagie jederzeit einholen.“
„Oh.“
„Fühlst du dich jetzt so dumm, wie du dich fühlen solltest?“
„Ja.“
„Gut. Jetzt halt still, wir … oh. Was …“
Einen Augenblick, bevor die telepathische Berührung abbrach, spürte Franz die Splitterwellen des implodierenden Spiegels. Ein Unruck, eine Welle aus Sturzgefühl und ein Vorbeiwischen roten Leuchtens, das sich in die Länge und wieder zusammenzog, schlenkerte, schlaufte und sich schließlich an Franzens Wade, Oberschenkel und Hüfte aufwickelte. Der Ariadnefaden war gerissen, der Spiegel zerstört, Franz Kalo verloren.
Einige Sekunden lang fiel Franz ohne Gedanken dem Nichts entgegen.
Dann einige weitere Sekunden.
Hier ein zerborstener Planet, dessen Bruchstücke ebenfalls auf das Loch in der Realität zusteuerten.
Und weiter fiel Franz, ohne dass ein Gedanke zu ihm aufzuschließen vermocht hätte.
Hier eine Sonne, deren Plasma wie Dotter aus einem pochierten und angegabelten Ei auslief.
Franz fiel, fiel, fiel.
Verloren.
Fallend.
Fort.
Wäre er gefragt worden, hätte Franz behauptet: Die Panik hielt nur kurz.
Niemand da, der hätte fragen können.
Franz fiel.
Der Blick ins All ermüdete.
Das Starren auf den zerwürgten Sternenmüll wurde lästig.
Franz, fallend, schloss die Augen, fiel weiter.
Öffnete die Augen wieder, sah einen Mann fallen.
Oh.
Er selbst mochte verloren sein, doch es gab einen Menschen zu retten, und wer wäre besser dafür geeignet gewesen als Franz Kalo, Top-Anomalist und mehrfach ausgezeichneter HEULEr.
Mit arkanem Schub warf Franz sich voran, erhöhte seine Sturzfallfluggeschwindigkeit und überholte dabei Asteroiden, Kometen und mindestens zwei Dutzend Satelliten verschiedener Komplexität. Kurz streifte er auch den Gedanken, wer wohl zu welchem Zweck den Spiegel erschaffen haben könnte. Wozu diente ein Direktzugang zu einem Schwarzen Loch außer zur Entsorgung größerer Mengen Atommülls?
Durch absolute Stille und Kälte raste Franz auf langer Bogenbahn. Den Anderen hatte er aus den Augen verloren, also weitete er wieder seine Wahrnehmung und fühlte ihre Bugwelle vor ihm gegen das Aufwirbeln des Schwarzen Lochs branden. Ihm antwortete ein lebendiges Dunkel, eine Energie, seiner eigenen ähnlich und doch nicht gleich, archaisch, unüberwindlich, unbeherrschbar und doch ohne Bewusstsein, Willen oder Absicht. Was immer er da berührt hatte, fasste ihn an, zog rücksichtslos an seiner Essenz und ließ genauso schnell, wie es ihn durchstoben hatte, wieder von ihm ab. Im Zurückweichen zog die Entität Franz‘ Geist mit sich, so dass er für einen Moment den anderen magisch umhüllten Fremdkörper im Gewirbel erkennen konnte: näher am Ereignishorizont, der ihn töten oder nur für immer aufhalten würde.
Franz gab sich einen Schubs gegen die Trägheit der herumströmenden Masse und steuerte, als er freie Sicht hatte, quer zum Wirbel direkt ins Zentrum und auf den Anderen zu.
Voran, voran und schneller voran. Bald war Franz nur noch einige Sturzminuten von dem Fremden entfernt, der eben den Kopf zur Seite drehte. Auch Franz sah hinauf in den Himmel über dem Schwarzen Loch und war erneut ergriffen: So viele Sterne, und er, Franz Kalo, dagegen so klein.
Immerhin nicht allein. Bald könnte er Ehrfurcht und Sterbensangst mit jemandem teilen, und vielleicht könnten sie gemeinsam einen Ausweg aus diesem Desaster finden. Vielleicht wusste der Fremde mehr, verfügte über Antworten, verstand, was das überhaupt alles sollte.
Franz konnte ihn nun besser erkennen, seine Rückseite zumindest, fiel er doch mit dem Gesicht voran, den Blick wieder gerichtet auf die Unausweichlichkeit des Ereignishorizonts. Tatsächlich handelte es sich um einen Mann, ähnlich seiner eigenen Statur, mit einem Anzug, der wie Franzens maßgeschneidert wirkte, in einem ebenfalls abendgrauen Stoff mit morgensterniger Durchwirkung. Rettete er hier etwa einen Kollegen? Hatte die Chefin ihn deswegen …
Etwas berührte ihn. Ein kleines Ding komprimierter Magie.
„Wer?“ telepathierte er instinktiv, bevor er den Nimbusköder erkannte. „Ach, verdammt!“
Nein, so dumm konnte er nicht sein.
Ein Spiegel, verdammt noch mal.
Ein verdammter Spiegel!
Wie hatte er so dumm sein können?
Der Mann vor ihm in dem HEULEr-Anzug mit einer Spur von Rot, die sich wie eine gezwirnte Narbe vom rechten Knöchel über das Knie hinauf zur Hüfte zog, dieser Mann …
Franz Kalo verfolgte sich selbst.
„Fühlst du dich jetzt noch dümmer, als du dich fühlen solltest?“ telepathierte er nach vorne und erschrak, als er denselben Gedanken von hinter sich empfing. Seine eigene Stimme echote ihm über das schweigende Weltall hinweg zu. Natürlich befand er sich nicht nur vor, sondern auch hinter sich, als wäre er zwischen zwei Spiegel getreten, die einander und auch alles zwischen ihnen ungezählt und unzählbar wiederholten.
Dem Impuls, sich selbst an der Schulter zu berühren, folgte eine schwindelnde Synchronizität, die ihn an Berichte Zeitreisender erinnerte, die eine Begegnung mit sich selbst im Glücksfall mit einer mehrwöchigen Migräne bezahlt hatten. Berichte über glücklose Zeitreisende wurden in der Regel von anderen verfasst, und deren Ausführungen ließen Franz das Schlimmste fürchten für die Zweidimensionalität des Ereignishorizonts, die ihn in sich selbst pressen würde. Um der Aussicht auf seinen Hinterkopf und den anstehenden Schmerz zu entgehen, wandte er den Blick ab.
Natürlich.
Natürlich stand er auch neben sich. Und auch über und unter sich, auf allen Seiten und in alle Richtungen rund um das Allverschlingende, in gruseliger Gleichzeitigkeit den Kopf mal in die eine, mal die andere Richtung drehend, auf allen Gesichtern den gleichen Ausdruck von Entsetzen und Resignation.
Franz schloss die Augen und hielt die Luft an, um nicht länger seinen Atem im Nacken zu spüren.
Ihm fiel nichts ein.
Nicht zu atmen war auch keine Lösung.
Was hatte er der Anziehungskraft des Abgrundes entgegenzusetzen?
Zu atmen allein würde auch nicht ausreichen.
Gab es keinen Ausweg?
Gab es einen Ausweg?
Vielleicht nur kleine Atemzüge?
Musste er kapitulieren?
Wenn er so weitermachte, würde er hyperventilieren.
War das die gleiche Panik, die ihn schon vorher befallen hatte?
War das ein Echo der Panik, die ihn vorher befallen hatte?
Was hatte er da getan?
Oh.
Ja.
Nichts.
Es gab nichts zu tun.
Franz Kalo würde sterben.
Er holte tief Luft und atmete langsam wieder aus.
Als Franz die Augen wieder öffnete, war er allein vor dem Schwarzen Loch, dessen Mahlstrom weniger sicht- als spürbar ein Lichtstrom fassungsloser Kraft entsprang, ein weltenzerfetzendes Monstrum purer Schönheit, durchwoben von Funken und Strahlen, umwabert von Halos und Aureolen. Die flammende Säule war bislang unerkennbar gewesen, überstrahlt von den Sternennebeln und Sonnenklumpen, doch jetzt, am Ende des Seins gab es nur Finsternis und darin einen wirbelnden Strahl aus eiskaltem Feuer. Was immer den Ereignishorizont überschritten hatte in den letzten Milliarden Jahren, war zermahlen worden und wurde als reine Energie wieder hinausgespien ins Universum. Irgendwann, irgendwo würde das Rasen enden, der Strom sich auffächern und neue Sonnen und Planeten gebären. Das war nicht Nichts, das war Alles.
Nun, was blieb?
Teleportation sicher nicht. Die Distanz zum nächsten Planeten überschritt garantiert seine Reserven. Außerdem hatte ihn seine letzte Transmaterialisation zu einer viertägigen Existenz als Essenzwolke verdammt. Impulsschübe fort vom Ereignishorizont wurden gierig aus ihm herausgezogen, mit einem Zupfen, Ziehen, Saugen, einer aufdringlichen Berührung wie jener, als er nach sich selbst ausgegriffen hatte.
„Per aspera ad astra”, sagte seine Chefin gerne.
Kassandras Version davon war: „Wenn’s nicht vorangeht, geh voran.“
Was hatte Franz schon zu verlieren?
Nichts.
Alles.
Er gab sich einen Schubs. Und einen zweiten, dritten, er kämpfte an gegen die Unruhelosigkeit, Trägheit, Unbeweglichkeit. Ein gedämpftes Beben nur, ein geschwächtes Echo, das in ihn hinein verhallte. Vielleicht umgekehrt, nach innen, sich nicht nichtend. Wieder eine Barriere, zugleich auch etwas wie ein Summen von außerhalb. Das große Leuchten antwortete ihm, reagierte auf seinen Wunsch nach Freiheit. Vielleicht barg es doch eine Art Bewusstsein, ein Mehr, vielleicht lag unter der reinen Kraft der Schöpfung ein Wille.
Erneut konzentrierte Franz seine Magie und spürte das Tasten eines Fühlers aus Sehnsucht. Franz streckte sich nach diesem Unwesen und verband sich mit dem sanften Schnurren, das sich sofort in das orgiastische Jubeln eines milchstraßengroßen Drachens exponenzierte.
Franz begriff einen Augenblick zu spät.
Franz Kalo war nicht mehr.
Als er sich mit dem träge ausgreifenden Plasma verbunden hatte, war sein Schutzschleier zerborsten. Alle Gase seinen Lungenbläschen entzogen, das Restlicht seinen Pupillen entflohen, alle Bindungen seiner Molekülstruktur aufgelöst. Haare, Haut, Fett, Sehnen, Muskeln, Organe, Knochen, alles, was Franz Kalo ausgemacht hatte: im Bruchteil eines Augenblicks zerstoben. Im Sonnenkernfeuer des Stroms zerbrannte sein Selbst, das wie flüssiges Gas splitterig durch die Aggregationszustände seines Nichtvorhandenseins hindurchsublimierte, nirgends mehr war und überall, zerstrichen auf der Leinwand eines gleichgültigen Universums, kollabiert in der einen, extrapoliert in der anderen unzeitlichen Sekunde.
Zurück blieb nur ein aschegrauer Anzug mit einer Spur mattroter Fadigkeit.
Mehr nicht war Kalo Franz.
„Franz?“
Franz blinzelte sich zurück ins Licht.
„Franz, alles startklar. Sobald du bereit bist, kann's losgehen.“
Franz Kalo starrte reglos in die Finsternis auf der Innenseite des Spiegels.

[Fortsetzung: Der Fall Franz Kalo]

Herausforderungen, my ass

Usus operi
September 16, 2020

Ich weiß gar nicht, wo anfangen. Theoretisch schreibe ich gerade an einem Newsletter für den Verein, tatsächlich jedoch bleibe ich an irgendwelchem nöligen Zeug hängen. Und an reddit, weil sich ja sonst nix ergibt. Der Newsletter jedenfalls beginnt mehr oder weniger damit, dass die letzten sechs Monate eine Zeit voller Herausforderungen waren, und ich denke nur: Herausforderungen! Natürlich, was sonst? Als ob das Leben nicht immer herausfordernd wäre. 

Ganz ehrlich: die letzten 40,25 Jahre meines Lebens waren herausfordernd. Die letzten zehn- bis vierzigtausend Jahre der Menschheit waren herausfordernd. Die letzten Jahrmillionen hier auf der Erde waren herausfordernd. Die Jahrmilliarden seit dem Urknall waren herausfordernd. Alles war und wird immer sein: herausfordernd! 

Ich habe keine Toleranz mehr für dieses Wort. Für dieses Gefühl. Für diesen Zustand. So wenig wie ich in meiner täglichen Yoga-Praxis das Kamel länger als einige Sekunden halten kann (wenn überhaupt länger als eine Sekunde), so wenig ertrage ich dieses Herausforderungsmantra: Dieser Weg wird kein leichter sein.

Gleichzeitig weiß ich nicht, wie ich damit umgehen soll. Denn nur dadurch, dass ich mich dem Wort verweigere oder den Dauerzustand emotionaler Anspannung vermeiden will, wandelt sich ja nicht gleich alles zum Besseren. Jetzt brennen auf Samos statt in Moria die Zelte, Donald Trump könnte immer noch wiedergewählt werden, die Deutsche Bahn bekommt es immer noch nicht auf die Kette, die richtige Wagenreihung ihrer Züge anzuzeigen, und ich, ja ich höchstpersönlich scheitere ja auch an der Herausforderung, einen Text über Herausforderungen zu schreiben, ohne das Wort "Herausforderung" zu benutzen.

Was also tun? Vielleicht nicht so sehr auf die Anstrengung und das implizierte Scheitern konzentrieren, sondern eher auf die Chance zum Wachstum.

Pfft.

Klassischer Selbsthilfe-Ratgeber-Sprech. Willkommen in der Neufassung des Gelassenheitsgebets. Nicht hilfreich, wenn man eigentlich einen Newsletter schreiben will. Oder sich zumindest selbst vergeben, dass man die Zeit der Corona-Herausforderungen nicht genutzt hat, um das Herausforderungsmanagement zu verbessern oder aber sich aus dem Würgegriff der akuten Perspektivlosigkeit zu befreien. 

Denn darum geht es ja eigentlich: nicht so sehr darum, Herausforderungen zu meistern, sondern wieder eine Perspektive zu bekommen, die einen konstruktiven Blick in die Zukunft erlaubt. Momentan gibt es das für mich nicht. Natürlich ist jede Kontrolle Illusion, das hat uns ja das letzte halbe Jahr noch deutlicher gezeigt als alle Jahre zuvor. Natürlich hatte ich auch schon vorher nur begrenzte Kontrolle über mein Leben. Aber jetzt bin ich so sehr von außen gesteuert, dass ich mich gar nicht mehr in irgendeine Richtung bewegen kann.

Und auch das ist Illusion. Eine wunderbare kleine Selbstlüge, die es mir erlaubt, die Verantwortung für meine Tätigkeiten und mehr noch Untätigkeiten einfach abzugeben. Als hätte ich so viel Zeit auf reddit verbracht, weil das Leben plötzlich zu unberechenbar geworden wäre, um einfach an meinen Geschichten zu arbeiten. Oder mir irgendwie einfallen zu lassen, wie ich wieder Theater machen kann in einer Zeit, da Theatermachen einfach nur nicht geht. Oder eben nur nicht einfach geht. 

Und da kann ich mich also jetzt über das Wort aufregen oder über die Daueranspannung, letztlich konzentriere ich mich dabei doch nur auf einen Nebenschauplatz. Die Herausforderung stellt sich mir ja bloß, weil ich nicht aktiv an die Dinge herangehe. Das Hindernis muss ich ja nur überwinden, weil ich meinen Weg nicht sorgfältig genug geplant habe. Und ja, Pläne gehören in das gleiche Reich der Legenden, wo Kontrolle über die Zeitläufte möglich ist, aber zumindest kann man sich ja mal in eine Richtung bewegen statt einfach nur liegenzubleiben, wenn man beim Üben des Kamels einfach umgefallen ist. 

Was also tun? Nicht nachdenken und einfach den Newsletter schreiben. Und dann einfach weitermachen, einfach immer weiterschreiben und weiterhin nicht nachdenken, denn wozu muss ich denn nachdenken, wohin mein Leben gehen soll? Ich weiß es ja im Grunde schon: ich will - immer noch - Autor sein, Bücher schreiben, Geschichten erfinden und vielleicht ein bisschen was über die Welt erzählen. Denn auch wenn meine Sicht der Dinge vielleicht nicht spektakulär ist oder aber irgendwen aufrüttelt: mir ist es wichtig, mich in dieser Welt zu verorten und zu verstehen, warum die Dinge so sind wie sie sind. Und auch wenn niemand außer mir selbst je lesen sollte, was ich hier schreibe, ist es doch immerhin für mich relevant zu wissen, wie ich irgendwann einmal gedacht habe über die Welt und die Herausforderungen, denen ich mich stellen muss. 

Naya

Von der Front
Juli 15, 2020

Der Gedanke, ich führte ein falsches Leben, ist natürlich falsch. Oder: unzureichend beschrieben. Was ich meinte: Ich drifte durch meinen Alltag, geführt und gelenkt nur von den Wogen und Wellen der Leben Anderer. Meine eigenen Ziele und Absichten sind irgendwo verschüttet worden, in den Unterströmungen der Zeitläufte verloren gegangen. 

Naja. Ich habe sie untergehen lassen. 

Geschmacklos ist diese Beschreibung fast, denn eben erst ist Naya Rivera ertrunken. Tragischer Fall von Selbstüberschätzung in Kombination mit behördlicher Tatenlosigkeit. Die 33jährige hat mit ihrem 4jährigen Sohn ein Boot zur Fahrt auf einem Stausee gemietet. Natürlich sind sie auch schwimmen gegangen, was laut Kennern des Sees eine dumme Idee war, da tückische Unterströmungen immer mal wieder auch erfahrene Schwimmer das Leben gekostet oder zumindest einen großen Schrecken eingejagt haben. Etwas in dieser Richtung scheint auch Naya Rivera geschehen zu sein. Sie hat noch ihrem Sohn zurück ins Boot helfen können, doch um sich selbst zu retten, hatte sie schon zu wenig Kraft. Und so wurde der Junge allein im Boot schlafend gefunden, der Leichnam seiner Mutter wurde erst Tage später aus dem See geborgen. 

Nun hätte das alles gar keine Relevanz für mich oder irgendwen, wenn Naya Rivera nicht in Glee die großartige Santana Lopez gespielt hätte. Santana Lopez war in der Serie über einen Schulchor lediglich als Nebencharakter geplant, als Sidekick der ewig bissigen Sue Sylvester, doch Naya Rivera hat alles gegeben, um dieser Rolle einen unvergleichlichen Charakter zu geben: schlagfertig und scharfzüngig, rücksichtslos und taktlos, authentisch und ehrlich. Santana hatte niemals Angst, ging keiner Konfrontation aus dem Weg, und wer sie auf seiner Seite hatte, brauchte nichts und niemanden zu fürchten. Wie sehr diese Eigenschaften ihren Charakter ausmachten, zeigte sich in dem Moment, da ihr Selbstverständnis auf der Kippe stand: bei ihrem Coming Out. Doch als sie diese Hürde genommen hatte, war sie ein leuchtendes Beispiel für owning everything. 

Zusammen mit ihrer Freundin Brittany S. Pearce war sie vielen jungen lesbischen oder bisexuellen Mädchen eine Inspiration. Ein Rollenmodell, das zeigte, dass nichts falsches oder verwerfliches daran sei, zu lieben, wen man will. Als Gegenpart gewissermaßen zu Kurt Hummel und Blaine Anderson öffneten sie den Zuschauern der Serie die Augen darüber, was es heißt oder heißen kann, nicht heterosexuell zu sein, und während es anfangs natürlich um das Coming Out und den Beginn einer Partnerschaft ging, rückte die Sexualität der Charaktere in den Hintergrund und normalisierte dadurch für Millionen von Menschen gleichgeschlechtliche Partnerschaften, die nicht anders sind als heterosexuelle. 

Glee lief von 2009 bis 2015, und ich war sicherlich nicht die beabsichtigte Zielgruppe mit meinen 29 bis 35 Jahren. Und doch haben mich diese und andere Geschichten, die jede Woche wieder verhandelt wurden, doch beeinflusst und geprägt. Einem Menschen, der sich seiner Wandlung über die Jahre mehr oder weniger bewusst ist, der fast absichtlich Dinge und Personen der eigenen Vergangenheit verschwinden lässt, weil die Zukunft ja ohnehin viele neue Möglichkeiten und Erlebnisse bereithält, Erfahrungen, die Bisheriges relativieren.

Glee selbst ist eine Serie, die so heute nicht mehr produziert werden würde, weil die Konfliktlinien in der Gesellschaft anders verlaufen. Zwei Lieder der Serie können die grundsätzliche Ausrichtung vielleicht zusammenfassen: Journeys "Don't stop believing" und das angeblich von den Chormitgliedern selbst geschriebene "Loser like me". Glee beschrieb die Konflikte von Außenseitern, die unter Mobbing und Ausgrenzung litten, sich davon aber niemals wirklich unterkriegen ließen. Glee war eine dauerhafte Erinnerung daran, dass Träume wahr werden können, dass selbst die scheinbar Schwächsten in einer Gesellschaft einen Beitrag leisten können, wenn man sie nur lässt. Und während die (un)heimliche Hauptdarstellerin von Glee Lea Michelle alias Rachel Barry war, verkörperte doch niemand so sehr das eigentliche Thema wie Naya Rivera, die es eben schaffte, aus der Irrelevanz der Seitenlinie direkt ins Zentrum der Besetzung vorzustoßen und dabei trotzdem niemanden vor den Kopf zu stoßen, sondern ganz im Gegenteil von allen geliebt zu werden. 

Und das zeigte sich eben jetzt wieder: In den Tagen ihres Verschwindens wurde deutlich, wie wichtig Naya Rivera ihren ehemaligen Kollegen und Weggefährten war, welch positiven Eindruck sie bei allen hinterlassen hatte, denen sie begegnet war. Vor allem in Kontrast zu der knapp zurückliegenden Kontroverse um Lea Michelle der Mobbing, Rassismus und Arroganz von ehemaligen Kollegen vorgeworfen worden war. Eine Kontroverse im Übrigen, die die Möglichkeit komplett ausschloss, dass Menschen lernen und sich ändern können. Und die ihren sehr hässlichen Höhepunkt darin fand, dass Fans Lea Michelle angriffen, weil sie nicht öffentlich genug Anteilnahme am Verschwinden von Naya Rivera gezeigt hatte. 

Das Internet ist ein grauenvoller Ort manchmal. Wie der tödliche Lake Piru, der Ortsansässigen zufolge schon längst für Schwimmer hätte gesperrt werden müssen. Oder wenigstens hätten Schilder, die vor den gefährlichen Unterströmungen warnen, aufgestellt werden sollen. Aber auch dann bleibt der Mensch frei in seinen Wünschen, seinen Absichten, seinem Tun. Wer weiß, ob Mutter und Sohn sich nicht einfach über das Verbot hinweggesetzt hätten, wer weiß, ob sie vielleicht vorsichtiger gewesen wären. 

Mich erinnert nun der Tod von Naya Rivera daran, wie unmutig ich bin, und wie furchtlos ich doch sein wollte. Durch Glee habe ich damals gelernt, wie selbstschädigend es ist, sich für seine Sexualität zu schämen, zu verheimlichen, wer man ist und wen man liebt. Und das, obwohl ich zu Beginn der Serie schon ein Jahrzehnt offen schwul gelebt habe. Obwohl ich schon sieben Jahre lang mit meinem jetzigen Mann liiert war. Gleichzeitig war das die Zeit, in der ich aus der relativen Unbeschwertheit meines Studiums erst in die düstere Arbeitslosigkeit, dann in den tristen Arbeitsalltag, in eine zweite Arbeitslosigkeit und schließlich in den noch tristeren Arbeitsalltag einer besseren Hilfskraft gegangen bin, um schließlich eine Karriere als Hausmann und Autor anzutreten, was beides immer noch ausbaufähig ist. 

Vor allem aber habe ich immer wieder mit meiner Identität zu kämpfen gehabt, habe mich verbogen und ein Bild von mir nach außen gezeigt, das meinem Inneren nicht entsprach. Ich war nie so mutig oder so authentisch in diesen Jahren, wie ich es hätte sein können und vor allem auch hätte sein wollen. 

Und jetzt bin ich 40 Jahre alt, versuche mal wieder, mich neu zu erfinden, und stelle fest: Ich weiß nicht, wohin mit mir. Ich habe mich in den letzten Jahren so sehr treiben lassen, habe nicht ansatzweise versucht, meinem Leben eine Richtung zu geben, einen Ort, auf den ich zusteuere. Das muss sich ändern, denn wenn ich nicht aufpasse, vergeude ich all meine Kraft und gehe unter, bevor ich etwas von mir weitergeben kann. 

Fremdleben

Usus operi
Juli 2, 2020

Liegt vielleicht an diesem Noch-nicht-wieder-ganz-da, vielleicht an dem Zwischendurch-mal-raus, vielleicht an dem Sowieso-immer-alles-anders: fühle mich fremd in meinem Leben. Was auch immer das ist, mein Leben. 

Klingt natürlich pathetisch, auch im englischen Sinn des Wortes. Meint aber ganz eindeutig, dass ich es einfach nicht weiß. Weder wer ich bin, noch wer zu sein ich mir wünsche. Oder, vielleicht zutreffender bislang: wer ich mir erlaube zu sein im Rahmen meiner eng gesteckten Grenzen des für andere Zumutbaren. 

Zu oft, denke ich, ich mache mich klein. Klar, ich vergeude, verspiele, verkenne mein Potential. Sage ich seit Jahren, ohne dass sich etwas ändert. Wie auch, wäre ich doch derjenige, der umsteuern müsste, das Schiff aus dem Trockendock hinaus in die offene See, wo es etwas zu riskieren, vielleicht etwas zu verlieren, garantiert aber etwas zu gewinnen gäbe. Erfahrung zum Beispiel. 

Stattdessen betrachte ich nur meinen eigenen Verfall, untersuche meine Langeweile, sehe mir beim Prokrastinieren zu. Aufbruchsimpulse zu setzen, wie mir das früher ab und zu gelang; mich zu motivieren, aus meiner Komfortzone auszubrechen und Neues zu wagen; mich mir abzustreifen und eine neue Identität anzulegen; alles schwieriger geworden. 

Ich stecke fest in dem Kokon, von dem ich letztes Jahr schrieb, ein Schmetterling auf der Suche nach der Freiheit, nach der Unbeschwertheit, vielleicht auch auf dem Weg in den ewig blauen Himmel unbegrenzter Möglichkeiten. Noch arbeite ich daran, der zu werden, der ich sein soll, doch ohne ein klares Bild, ohne einen überzeugenden Willen, ohne das Ablegen der ewigen Angst vor dem, was ich werden, was ich erreichen könnte, will ich mich nicht an die Enthüllung wagen. 

Der Künstler, das habe ich irgendwann in den letzten Tagen gelesen, muss loslassen können. Wer sich mit dem Gedanken arrangieren kann, das eigene Werk irgendwann anderen zur Rezeption, aber auch zur Interpretation überlassen zu können, wird erst richtig produktiv. Vielleicht trifft das auch auf alle schaffenden Menschen zu, die ein Stück ihrer Seele fixieren wollen, vielleicht auch sich selbst in einer Welt verankern wollen, die sie nicht gänzlich verstehen. Und die sie durch ihre Kunst bereichern und damit sich selbst ein Stück weit einverleiben. 

Vielleicht ist das aber auch etwas, das ich nun, da ich mich so fremd fühle in mir selbst und in dem Alltag, den ich kenne, aber irgendwie nicht so recht mag, auch übernehmen kann. Auf meine innere Stimme hören (statt auf Podcasts zu Fernsehserien) und mit der Welt in Kontakt treten. Wieder einmal fühlen, wer ich bin inmitten all der Fremde. 

In Zeiten von Corona und empfohlenem Rückzug ist das natürlich ein absonderlicher Spagat: mit Abstand Anderen näher zu kommen. 

Vielleicht ist Franz-Thomas doch auf dem richtigen Weg gewesen, vielleicht war seine Geschichte doch das, was ich erzählen wollte, ausformulieren muss, damit ich mich selbst wieder neu erfinden kann. Franz-Thomas ist dieser seltsame Typ, über den ich dauernd schreibe in den Wettbewerben. Der so phlegmatisch, so selbstmitleidig, so fernab von allen Menschen ist, die ihn lieben können wollen. Wenngleich Liebe vielleicht ein zu großes Wort dafür ist, was Franz-Thomas fehlt; Heimat reichte schon, Wurzeln zum Anankern an die Welt, damit das Wachsen in den Himmel nicht zum Verlust der Bodenhaftung führt. Damit die Seele nicht zu dünn wird, wenn man sich ausstreckt, um Andere zu berühren. 

Flurry Rush

Usus operi
Juli 1, 2020

Nach dem Urlaub ist vor dem Urlaub. Kaum wieder daheim falle ich zurück in meine schlechten Angewohnheiten. Ich nenne sie schlecht, weil es schwerfällt, sie vor mir selbst zu rechtfertigen. Nicht zu schreiben beispielsweise und statt dessen Breath of the Wild zu spielen. Geht nach zweiwöchiger Videospiel-Abstinenz übrigens deutlich besser als vorher. Gleichzeitig nagt an mir der Gedanke, dass ich vielleicht lieber Fortschritte beim Yoga machen sollte statt bei Links Flurry Rush.
Man kann nun aber nicht überall sein. Alles machen. Jeden zufriedenstellen, vor allem nicht mich und meine Ambitionen. Von denen es im Übrigen so viele gibt, dass ich nicht weiß, wo anzufangen und was zu streichen wäre. 

Die einfache,
hedonistische Lösung wäre zu tun, was gerade in den Sinn kommt,
doch instant gratification ist tückisch.
Gefährlich fast.

Was bleibt, ist die traurige Gewissheit, viel gewollt und wenig geschafft zu haben.
Wie jetzt beispielsweise. Schlafen könnte ich, nachts um halb eins. Statt dessen arrangiere ich hohle Worte, die an ein nicht existentes Publikum gerichtet sind und selbst mich nur in dem Moment erreichen, da sie vom Gehirn über die Finger digitalisiert werden.

Was witzig ist, weil digitus
das lateinische Wort für Finger ist.
Wobei
...
witzig?

Und dann ist das Denken einfach aus. Weggeknipst wie ein erlöschendes Display, das Bewusstsein einfach erloschen, verloren für die Lichthungrigen, Erleuchtungssüchtigen. Für diejenigen, die sich Tiefe erhofft haben, vielleicht auch eine Meta-Ebene. Vor allem für mich. Die Bedeutung verschwimmt, verschwindet, war vielleicht niemals wirklich da.

Der Flurry Rush ist eine Attacke nach Ausweichen. Aufs Timing kommt es an, auf das Drücken von Knöpfen, vor allem aber auf die Reaktion auf einen gegnerischen Angriff. Es ist kein eigenständiges Handeln, kein Agieren, kein richtungsgebendes Verfahren. Es geschieht, weil etwas anderes vorher geschieht. Actio - Reactio.

Vielleicht doch ins Bett.
Tiefsinniger nämlich
wird's nicht.

Die Welt im Übrigen

Von der Front
Juni 10, 2020

Auszublenden, wo es derzeit überall brennt, ist natürlich keine Option, so gerne ich auch ausschließlich mit mir beschäftigt wäre. Die Proteste nach dem Morde an George Floyd sind beängstigend: so notwendig es ist, den strukturellen Rassismus der USA zu überkommen, so gruselig ist die Vorstellung, mit welchen Mitteln der Präsident eine Veränderung, die nicht in seinem Sinne geschieht, kommentieren wird. Dass die Drohung, das Militär gegen die Demonstranten einzusetzen, zunächst eine Drohung geblieben ist, beruhigt natürlich. Allerdings hat Trump schon viel zu häufig seine Drohungen doch noch wahrgemacht, es steht zu befürchten, dass das auch diesmal nicht anders sein wird. Dann bleibt nur zu hoffen, dass in den Reihen von Militär und Polizei genügend deeskalierende Kräfte übrig sind, um das Blutbad zu verhindern, das dann unweigerlich folgen dürfte. 

Aber auch anderswo flirrt die Luft: im Jemen wächst sich der Stellvertreter-Bürgerkrieg zu einer humanitären Katastrophe aus, im Libanon hat die Pandemie das Fass der sozialen Spannungen zum Überlaufen gebracht, von der Situation der Geflüchteten in Griechenland (und anderswo) hört man verdächtig wenig, Hongkong kämpft um ihre Freiheit, Brasilien wird von einer demaskierten Junta regiert, die nur deswegen nicht gestürzt wurde, weil dort Covid-19 grassiert. Es ist ganz allgemein zum Wegschauen. 

Wenngleich das natürlich nicht hilft. Wegschauen nicht, sich gepflegt in den Urlaub verziehen nicht, einfach noch mal 18 Wochen in soziale Distanz und absolute Isolierung; nichts davon hilft. Andererseits ist auch mein Anschreiben gegen das Aufwallen meiner Panik sinnlos. Nicht nur, dass meine Stimme ungehört in den Bits und Bytes der Datosphäre verhallt: selbst wenn ich jemanden erreichte, würde doch mein kleines Licht die Dunkelheit dort draußen nie ausreichend erhellen. Wie eine Sternschnuppe am Firmament verglühte ich, und die Welt sähe hinterher kein bisschen anders aus. 

Krasser Scheiß

Aus dem Maschinenraum
Juni 8, 2020

Nach einem Wochenende, das mich fast zu Wordpress zurückgetrieben hätte, und nach zehnstündiger Reaktivierung des alten CSS-Wissens plötzlich doch in meine neue Seite verliebt. 

Die wichtigste Erkenntnis: Ich kann es doch noch, das Reinarbeiten und Durchfuchsen und vor allem Gestalten von Webseiten. Zumindest in Grundzügen. Und ja, es erinnert stark an das letzte neolog-Design, bevor alles den Bach runterging. Aber erstens ist mir das egal und zweitens war das nicht das schlechteste Design.

Jetzt Hunger. 

Das Auge liest mit

Aus dem Maschinenraum
Juni 2, 2020

Schwierig zu ignorieren, dass Bloggen früher auch Designen war. Das perfekte Layout war nie zu finden, die relative Leichtigkeit, mit der ich bei twoday via CSS eine komplett neue Seite geschaffen habe, wich bei Wordpress einer bleiernen Fessel, die keine Beweglichkeit zuließ. 

Und jetzt hänge ich wieder im Source Code rum statt wertvollen Content zu verfassen. Klar, ist ja auch einfacher, sich oberflächliches Programmieren beizubringen als die schönen, erzählenden Worte zu jagen. Ein bisschen wie Schatzsuche, ein bisschen Mustererkennung. 

Irgendwann, denke ich, irgendwann wird alles wieder sein, wie es einmal war. Denkste, werde ich irgendwann sagen: Denkste!

Kein Hilferuf, ein Hallo

Aus dem Maschinenraum
Mai 28, 2020

Kein Neuanfang, nur Versuch einer Rückkehr. Der Versuch, nach Jahren anzuknüpfen an zuletzt Unbestimmtes in Form und Ausdruck, in Absicht und Richtung. Klar immer nur: ohne Worte ist alles nichts.

Neuland sieht anders aus und fühlt sich anders an, doch Heimat schmeckt nicht so sehr nach der Angst eines Aufbruchs mit ungewissem Ziel. Vielleicht irgendwas dazwischen: Neumat? Heiland?

Vielleicht das: eine Möglichkeit zur Selbsterrettung durch Wortfindungsentstörung. 

Kokon

Bewerbe
Januar 1, 2019

dem Horizont entgegen stürzt die Sonne
verblüht ist der Blauregen
ein Riss durchzieht dein Haus
Flieg, Bläuling,
oder stirb.

Mittags schon verkürzen sich die Tage des noch hohen Sommers, und du schläfst hoch oben in deinem Kokon. Raupe bist du nicht mehr, diese Haut ist abgestreift, doch Schmetterling bist du auch noch nicht. Träumst du vom Fliegen unter klarem Himmel? Ich muss dich enttäuschen: Wolken beschatten die Pergola.
Könnten wir Menschen unsere Haut doch auch einfach ablegen. Alle sieben Jahre, heißt es, erneuerten sich alle Zellen des Körpers, alle sieben Jahre stünden wir da als neuer Mensch. Narben aber bleiben, ein Korsett, das wir nicht aufschnüren können.
Als hätte ich nichts Besseres zu tun, liege ich auf der heißen Terracotta, starre durch das Blättermeer hinauf in den Azur. Du, Bläuling, wirst bald wohl schlüpfen. Nektar des Blauregens soll deine Nahrung sein, seine Knospen künden zweite Blüte. Tagsüber wirst du Spielball der Winde sein, nachts schlafen zwischen den Ästen, und am Ende des Sommers bist du tot.
Dann, spätestens, werde ich mich in die steinerne Hülle zurückziehen, in der ich geboren wurde.

ich singe das Lied der Wilden Jagd
Vater stanzt seine Tränen mir ein
bitter die Frucht dieses eisigen Leibes
Nichts trifft härter
als der Verlust einer Hoffnung.

Vater hat dieses Haus gebaut. Die Robinie in der Mitte des Gartens hat Vater gepflanzt. Den Sohn aber glaubte Vater nicht von seinem Samen. In Raunächten sandte später eine Frau, die ich nicht kennengelernt, aber gemordet hatte, ihren Geist über Vater aus, hieß mich mit seiner Stimme Wechselbalg, Bastard, Dämonenbrut. Das crescendo der Raketen hätte mich aus der Welt treiben müssen und nicht hinein in einen menschlichen Leib. Wie ein Parasit hätte das kindgewordene Übel sie ausgezehrt und nach dem Schlupf nur eine wächserne Hülle zurückgelassen. Mit meinem ersten Schrei sei ihr Lebenslicht erloschen.
Woraus, Bläuling, besteht dein Kokon? Schmetterlingsspucke und Raupenhaut? Das Netz um mein Herz ist gewoben aus Tränen und Blut, Brüchen und Schlägen und Schmerz. Manchmal zieht es sich auch heute noch zusammen, raubt mir Atem und Sinne, und lange dauert es dann, bis ich wieder stehen kann. Als hätte ich nichts Besseres zu tun.

ich habe Eisblumen geschnitten
in Scherben liegen alle Vasen
Sonne unter dem Horizont
Der abgebrochene Zweig
treibt wieder aus.

Die ersten Jahre meines Lebens gingen über mich hinweg wie eines dieser Gewitter, die kurz vor dem Frühjahr noch einmal den Winter über das Land legen. Ich finde keine Erinnerung daran. Dann ein Foto von meiner Einschulung: ganz rechts in der hintersten Reihe ein dürres Kind, schwarzhaarig, hohläugig, in abgetragener Kleidung, das einzige ohne Schultüte.
Regst du dich im Kokon, schaukelt deine Hülle in der windlosen Welt. Willst du am Ende doch heute noch schlüpfen? Wirst wie die Seele eines Toten dich deinem Sarkophag entwinden? Lass dir Zeit, ich werde, als hätte ich nichts Besseres zu tun, hier auf dich warten.
Ab der zweiten Klasse neben mir, rotwangig, blauäugig, flachsblond: Mat. Von Jahr zu Jahr wechseln wir die Position im Bild, doch immer wieder: Mat an meiner Seite. In der fünften Klasse legen wir einander die Arme um die Schultern, wie wir es von den Halbstarken aus dem Fernsehen kennen. In der sechsten Klasse wachse ich Mat davon, in der siebten hat er mich wieder eingeholt. In der achten Klasse trennt uns ein Mädchen. Alle drei sehen wir unglücklich aus.

es waren zwei Königskinder
eine Fackel entzündet Hekatē
Irrfeuer über dem Moor
Du bist das Licht,
ich bin dein Schatten.

Noch bevor ich ihn kannte, habe ich Mat verletzt. Wir wurden dennoch Freunde, vielleicht gerade deswegen. Mat besaß liebende Eltern und Großeltern, Spielzeug, Freiheiten und, nachdem ich einer Nichtigkeit wegen sein Blut vergossen hatte, mich. Wir wuchsen zusammen auf und wie nahstehende Bäume ineinander. Und dann, als späte Strafe für die Affekte eines Siebenjährigen, war ich wieder allein.
Öffnete ich, als hätte ich nichts Besseres zu tun, deinen Kokon vor der Zeit, was geschähe? Allein die Vorstellung lässt dich unruhig werden, ich sehe das. Keine Angst, Bläuling, ich werde dir nichts tun. Vielleicht aber verstehst du, was mir geschah, als ich aus Mats Leben fiel.
Vorsichtig ausgedrückt: Ich verlor die Balance. Wechsel vom Gymnasium auf die Realschule mitten im Schuljahr. Abschluss mit inakzeptablen Noten. Beginn einer Schreinerlehre dank Vaters Beziehungen. Alkohol und andere Drogen, Streit mit dem Chef und dem Vater, Schulden und schlechte Gesellschaft. Schließlich eine kuriose Erkenntnis: Vater mochte sich weigern, mir Geld zu geben, andere Männer in seinem Alter bezahlten mich gern.

Kind eines Kaltschmieds
der Gefallenen Kamerad
höllisch Gefrorener
All diese Orden haben mir
Haut und Seele zerfetzt.

Mit 21 trotz allem Zeitsoldat, Vater stolz: „Habe ich doch einen Sohn gezeugt!“ Kosovo, Mazedonien, Dschibuti, Kongo, Kuwait, Sudan und immer wieder Afghanistan, vor jedem Einsatz ein Hieb auf die Schulter: „Guter Mann!“ Was Vater nicht hat zerschlagen können, hielt er für unzerstörbar.
Der Krieg, Bläuling, der war nix. Nirgendwo. Da magst du noch so kaputt sein vorher, die Mahlsteine der Gewalt kriegen dich noch kleiner. Die Nacht kriecht auch tags in deine Gedanken, klebt rote Farbe an alles, was du anlangst. Wenn du den ersten Kameraden sterben siehst, kotzt du. Beim zweiten zitterst du nur noch. Den dritten hast du vergessen, kaum dass ihm eine Sprengfalle den Oberkörper aufgebrochen hat.
Aufbruch auch bei dir, Bläuling? Aufwerfen, Ausstülpen, Ausziehen, Wiedergeburt in Zeitlupe, schrecklich langsam, unerträglich spannend. Ich könnte aufstehen, hineingehen, ein Glas mit Eiswürfeln und Wasser füllen, einen Spritzer Zitronensaft dazu. Selbst die Neige könnte ich schon geleert und mich wieder in die verblassende Mittagshitze gelegt haben, du wärst immer noch gefangen. Als hätte ich nichts Besseres zu tun, bleibe ich aber, blinzle nicht, starre dir zu. Deine Anstrengung ist genug für uns beide.

Augenweide im Blauregen
himmelfarbener Tagtraumtaumler
zu Kostbarkeit erschliffener Saphir
Kein Gefängnis kann dich halten
und keine Hand.

Nun sitzt du da, Bläuling, pumpst Blut in Leib und Flügeladern. Erschöpft bist Du, stilles Entknittern nur, gemächliches Auffalten. Hielte ich mein Ohr an deinen Leib, was hörte ich? Ein Knistern wie von Flammen in sternkalter Wüste? Das dunkle Dröhnen explodierender Bomben am Stadtrand? Oder ein zufriedenes Summen, weil du deine harmlose Zukunft ahnst: Augenblicksblinken von Glück im Vorüberwehn.
Ich kehrte heim in Vaters Haus. Beendete die Schreinerlehre. Baute die Pergola. Vater war dagegen, wagte aber nicht die Konfrontation mit dem Fremden, das mich in meinen Blutjahren durchwuchert hatte. Gemeinsam setzten wir den Blauregen. Während die Pflanzen wuchsen, zerwelkte der Vater. Drei Jahre pflegte ich seinen Körper aus Spinnweb und Asche, als hätte ich nichts Besseres zu tun, dann legte ich ihn ins Grab neben die mir unbekannte Frau. Mir kondolierten Weggefährten des Vaters und am Ende ein Mann meines Alters, blauäugig, flachshaarig, blass, nervös. Ich wusste selbst nicht, was sagen. So schwiegen wir eine Weile vor dem Loch in der Erde. Als Mat seine Hand in meine legte, weinte ich das erste Mal seit Jahren.

gesellig wachsen die Maiglöckchen
wir verlassen die Umlaufbahn
das Herz eine heilende Wunde
Die Götter kannten einen,
Ikarus nannten sie ihn.

Man kann nicht 20 Jahre ungeschehen machen. Wie also findet man zurück? Tastend. Mat war vor allem: fad. Ungebrochener Lebenslauf, Jurist einer Mittelstandsbank, kein Privatleben. Der strahlende Halbgott entpuppte sich als Gipsfigur mit Rauschgoldbesatz. Mat war aber auch: neugierig. Wie ein Forscher kartografierte er meine Abgründe. Er unterschätzte den Preis einer Finsternis, meine Schattengeschichten erregten ihn. Mat war: hungrig. Gemeinsam feierten und tanzten wir, flogen mit Gleitschirmen, ritten durch Island, wanderten im Atlas, umsegelten Feuerland. Schließlich zog Mat zu mir, erst in ein eigenes Zimmer, bald in mein Bett. Mat war vieles, aber nicht: prüde.
Die Sonne hat die Wolken überwunden, und im Gegenlicht habe ich dich aus den Augen verloren. Als hätte ich nichts Besseres zu tun, suche ich dich. Das Gefängnis deiner Jugend hängt sturznah am Ast, doch du? Sitzt du noch im Blauregen, trocknest deine Flügel, freust dich auf den Jungfernflug? Wohin bist du gewandert? Da, eine blauschillernde Bewegung, aufwärts kletterst du, dem Locken des Lichtes folgend.

Sonne unter dem Horizont
verblassen die Sterne
du bist das Licht
Ich bin der Schatten,
den in die Welt du wirfst.

Die Triebe des Blauregens blockieren Wasserrohre, zerbrechen Dachziegel, verbiegen Gerüste. Hegt man ihn nicht, vernichtet der Blauregen, was ihn hält.
Nun ist Mat nicht mehr. Alle Abenteuer dieser Welt konnten seine Lebensgier nicht befrieden und – so sehr mich das schmerzt – auch ich nicht. Habe ich dieses Verlangen in ihn hingeschlagen damals, als wir Kinder waren? Oder wurzelte seine Adrenalinsucht tiefer? Feigling hieß er mich für meine Angst vor dem Absturz, Narr nannte ich ihn, diese Angst nicht zu kennen. Er lief ins Dunkel, zog nicht einmal die Tür hinter sich ins Schloss. Keine drei Stunden später erstickte er in einem schmierigen Club an seinem Erbrochenen.
Bläuling, ich neide dir die selbstvergessene Schwerelosigkeit. Den Tod, dem du entgegenflatterst, ahnst du nicht, nur die Freiheit einer sich dir öffnenden Welt. Flieg, Bläuling, fürchte nicht das Leben.
Wir werden gezeugt und geboren, wir wachsen auf und heran, wir lernen sprechen, wir krabbeln und gehen, wir springen und rennen und tanzen, wir fallen hin und stehen wieder auf, bis wir, als hätten wir nichts Besseres zu tun, für immer liegen bleiben und verstummen.

ich stürze aus dem Zenit
Bläuling reitet den Wind
Risse durchziehen mein Haus
In der Dämmerung
brechen die Knospen auf.

Auf der anderen Seite des Ganges | Remix

Textualitäten
September 21, 2018

Eine Zugfahrt. Draußen die Welt in flirrender Hitze und drinnen ebenso, als gäbe es nichts Trennendes dazwischen. Die Fahrgäste machen sich in ihren Sitzen klein, um einander nicht zu berühren. Mit unseren Blicken aber, die von Mensch zu Mensch springen, betasten wir uns doch. Jene zumindest, die nicht digital versunken sind.

Einer jener, die in ihr Smartphone und nicht aus dem Fenster blicken, ist der junge Mann auf der anderen Seite des Ganges. Wischt über den Bildschirm, tippt auf das Glas, verschlingt, was an Futter sich ihm bietet. Einer jener, denke ich, die nachmittags von der Stadt ausgespuckt, am nächsten Morgen aber wieder geschluckt werden. Tag für Tag, Sommer für Sommer, stets unverdaut.

Eine jener, die mit mir beobachten – die Welt draußen, die Menschen drinnen -, ist die junge Frau mir gegenüber. Wie ich ist sie Reisende, Wandernde, Wundernde. Vermute ich, weil ich nicht den Mut oder den Mund aufbringe, sie zu fragen. Als ob es so schwer wäre, ein Gespräch zu beginnen. Da sind wir uns so nah, und doch so fern, weil mir kein Thema greifbar scheint.

Dann steckt der junge Mann sich die Hand in den Mund.

Zuerst ist es nur der kleine Finger, dessen äußerstes Glied zwischen den Zähnen liegt, dann fährt die Fingerspitze ganz in den Raum zwischen Zähnen und Wangen, wandert über das Zahnfleisch erst der rechten, dann der linken Gesichtshälfte. Dem kleinen Finger folgt der Ringfinger, der über die Innenseite der Zähne streicht. Der Mittelfinger schiebt sich über die ganze Länge und Breite der Zunge, der Zeigefinger tastet den Gaumen ab. Als solle auch noch die Beschaffenheit der Speiseröhre untersucht werden, steckt schließlich die ganze Hand bis über das Daumengrundgelenk im Mund des jungen Mannes, der – wie von seiner Hand getrennt – gänzlich ungerührt erscheint.

Die Iatmul am mittleren Sepik glauben, ein Krokodil habe alles Leben in seinem Rachen erschaffen. Im Himmel erkennen die Iatmul seinen Oberkiefer, seinem Unterkiefer entstammen Berge und Erde. Ein Junge – glauben die Iatmul – werde von einem Krokodil gefressen und als Mann wieder hervorgewürgt. Als Zeichen der Reife schneiden sie sich rituelle Wunden in den Körper, Narben wie von Zähnen.

Die Miene der jungen Frau mir gegenüber ist verzerrt von Entsetzen, ich erkenne das Weiße rund um ihre Pupillen, hinter ihren Lippen sehe ich Zähne und Zunge. Ihr Atem geht flach und schnell, ein Keuchen weicht Schlucken und Würgen. Dann reißt sie sich los, wendet sich ab, presst das Gesicht ans Glas, die Augen hält sie geschlossen.

Ich hefte ich den Blick auf den Boden. Ich fühle den Schweiß auf meiner Haut. Ich atme Hitze ein. Ich atme Hitze aus. Ich denke nicht nach über einen Menschen, der sich so sehr selbst berührt, dass andere Menschen davon würgen müssen. Ich denke an die Narben, die wir auf unserer Haut und unerreichbar in unserer Seele tragen. Dann – irgendwann – hält der Zug.

Auf der anderen Seite des Ganges

Von der Front
August 15, 2018

Es war der 3. Juli, zu Beginn dieses großen und langen Sommers, als man noch dachte, die sonnigen Tage würden rasch wieder Regen und Kälte weichen. Noch schwitzte man heimlich, Flüssigkeit drang literweise aus allen Poren, sollte aber nur die eigene Haut berühren. Noch versuchte man, die thermale Überforderung vor Anderen zu verbergen, niemand sollte sich ekelbedingt abwenden müssen. Erst später, als der Sommer kein Ende und die Hitze alltäglich neue Höhen finden würde, wurden alle Hemmungen fortgeschwemmt.
An jenem 3. Juli schwitzte ich in Hanau wartend auf den Zug, der mich nach Hause bringen sollte. In Frankfurt hätte ich in einer klimatisierten Bahnhofsbuchhandlung warten können. Da eine Baustelle aber die Strecke nach Norden blockierte, wurden alle Züge über Hanau umgeleitet und schufen ein Nadelöhr, das sämtliche Ankünfte und Umstiege, Ab- und Durchfahrten verzögerte. So stand ich nicht nur die 13 angekündigten Minuten auf einem schattenlosen Bahnsteig, sondern dreimal so lang, während die Sonne die Gleise summen, die Sitzmulden aus Gitterdraht glühen und vor allem alle Reisenden unaufhörlich schwitzen ließ.

Im Zug, der schließlich hielt, saßen auf allen Plätzen Pendler, die in Frankfurt arbeiteten, nicht aber dort lebten: vor allem Menschen in den farblosen Uniformen der Wichtigen, aber auch jene bunt gekleideten Dienstleister, die den Bankern und IT-lerinnen in Vormittags- und Mittagspausen Getränke verkauften und Essen bereiteten. Ihre gesellschaftliche Position mochte sie trennen, in der Hitze des Zuges aber litten sie gleich unter dem Schweiß, der auf allen Stirnen stand, der Hemden und Blusen auf Oberkörper klebte und Achseln dunkel färbte. Gleich ihrer Herkunft schwitzten sie, denn die Klimaanlage des Zuges hatte versagt. Gleich ihrer Ziele schwitzten sie und machten sich klein und eng auf ihren Sitzen, um nicht den eigenen mit dem Schweiß des Nachbarn zu vermischen.
Das würde nicht glücken. Den ohnehin gut gefüllten Zug bestiegen in Hanau Dutzende Reisende, teils führten sie noch Koffer und Fahrräder mit sich. Mein Gepäck bestand aus einer schweren Tasche, die ich, kaum dass ich mich in die letzte Lücke im Eingangsbereich des Wagens gequetscht hatte, zwischen meine Füße auf den Boden stellte. Wieder aufblickend erkannte ich, neben wem ich stand: Rechterhand ein Bilderbuch-Punker mit rot-orange gefärbtem Irokesenschnitt und Sicherheitsnadeln in den Ohren, schwarzem Netzhemd über rotkarierter Hose, die in schwarzen Stiefeln steckte. Links von mir eine Nonne in schwarzem Habit mit weißem Schleier.
Vielleicht, dachte ich, hat mir die Sonne einen Stich verpasst. Weder mit dem einen noch mit dem anderen Menschen kann ich etwas anfangen, wie wahrscheinlich ist es da, dass ich zwischen ihnen stehe? Vielleicht, vermutete ich, habe ich sie nicht nur beim Einsteigen nicht gesehen, sondern sehe sie auch jetzt nicht. Vielleicht sind sie eine Gaukelei meines überhitzten Gehirns. Was aber mochte dann die Wahrheit sein? Zwischen Menschen stand ich doch, mit jedem Ruckeln und Schaukeln des Zuges stießen meine Ellbogen gegen groben Stoff einerseits und bloße Arme andererseits. So verband ich ungewollt zwei Menschen, die so unterschiedlich waren und doch nur zwei von vielen, die schwitzten wie ich. Ob wir, grübelte ich, wohl in einer anderen Situation vielleicht ins Gespräch gekommen wären? Ob wir wohl unsere verschiedene Sicht auf die Welt hätten diskutieren wollen, gar Gemeinsamkeiten gefunden hätten jenseits unserer Fähigkeit zur Transpiration und diesseits unserer Vorstellung von Transzendenz?

Der Zug hielt, wie ich fand, unvermittelt, doch als die Türen sich öffneten, erkannte ich die Realität eines Bahnsteigs. Frische Luft zog über meine Haut, und instinktiv trat ich einen Schritt hinaus. Erst als zu meinen Seiten Menschen mich passierten, wurde mir bewusst, was ich getan hatte: viel zu früh aus vollem Zug gestiegen, noch dazu die Tasche drin vergessen! Die Hitze, der Mangel an Sauerstoff, die Müdigkeit vom langen Warten in der Sonne. Vielleicht doch ein Sonnenstich.
Die Tasche stand, wie ich sie verlassen hatte. Beim Wiedereinstieg zog ich mir den Gurt wieder über den Kopf, das Gewicht belastend und beruhigend an Schulter und Hüfte. Im Zug war nun mehr Platz, auch die Nonne und der Punker hatten den Zug verlassen. Ob ich sie mir doch nur eingebildet hatte? Sitzplätze waren noch nicht freigegeben worden, rechts und links standen Menschen, blickten aus Fenstern, starrten in Handys. Sie sprachen nicht, noch nicht einmal über das Wetter, zu dem doch alle eine Meinung haben mussten. Die Menschen schwitzten nur in den Gängen und wünschten sich wohl wie ich, endlich daheim zu sein.
Und dann entdeckte ich einen jungen Mann, der nicht etwa im Gang stand, sondern im Fußraum eines Vierersitzes. Egoistisch, dachte ich, aber auch schlau, wie er sich an der Reling der Gepäckablage festhält, die schweißdurchtränkte Achsel seines Hemdes den übrigen Passagieren zugewandt, gleichzeitig die Ohren mit Kopfhörern verschlossen. Niemand würde auf den Gedanken kommen, sich setzen zu wollen, so deutlich war doch, dass dieser Raum nicht zu teilen war. Ein junger Banker musste das sein angesichts der schwarzweißen Kluft und der von aller Verantwortung schwer hängenden Schultern.  

Wieder hielt der Zug, wieder öffneten sich Türen, wieder strömten Menschen hinaus. Gänge und Plätze leerten sich. Auch der junge Mann war verschwunden, sein Vierersitz verlassen. Dorthin aber setzte ich mich nicht, sondern auf die andere Seite des Ganges, wo eine junge Frau abwechselnd aus dem Fenster und in ihr Smartphone blickte. Die Leere war verdächtig. Vielleicht waren die Plätze vollgesogen mit Schweiß, vielleicht verflucht, vielleicht nur ungewöhnlich unbequem.
Die junge Dame starrte mich an, die Augen verkniffen, die Brauen zusammengezogen, die Lippen aufeinandergepresst. Ich sollte nicht so nahe bei ihr sitzen, vermutete ich, schwer, ihr das übelzunehmen. Mir lief Schweiß über Arme und Gesicht, sie hingegen schien trocken, ihre Haut ohne jeden Glanz. Doch so sehr mir meine Schwitzigkeit unangenehm war, so wenig konnte ich dagegen tun. Als sie mein aufmunterndes Lächeln mit noch mehr Eisigkeit konterte, schlug ich meine Beine wenigstens so übereinander, dass sie möglichst wenig Raum einnahmen.
Diese Haltung öffnete meinen Blick in den Gang, in dem soeben der junge Banker wiedererschien. Er war doch nicht ausgestiegen, hatte sich nur in die Toiletteneinheit zurückgezogen. Seine Rückkehr wird das Geheimnis des Vierersitzes klären, dachte ich, sein Anblick jedoch gab mir nur mehr Rätsel auf: Ein Banker war er offensichtlich nicht, denn seine fadenscheinige Hose zierten handtellergroße Löcher, das knitterige Hemd steckte nur teilweise in einem Bund, der keinen Gürtel hielt. Noch immer trug er die Kopfhörer, und beim Schlurfen durch den Gang klebte sein Blick auf dem Display seines Smartphones. Ohne Zögern setzte er sich auf einen der freien Sitze.
Für einen Moment überlegte ich, ihn anzusprechen, wollte mich aber nicht aufdrängen. Den Wunsch, in seinen Kopf blicken zu können, verwarf ich: Hitze und Schweiß waren eklig genug. Immerhin schien auch die junge Dame einzusehen, warum ich mich zu ihr gesetzt hatte, ihr Blick, mit dem sie abwechselnd mich und den jungen Mann betrachtete, hatte seine Kälte verloren. Fast einträchtig beobachteten wir den jungen Mann, der lesend mit seiner Linken auf seinem Handy herumdrückte. Mit dem Mittelfinger der Rechten kratzte er sich an der Nase, mit dem Ringfinger am Ohr, zupfte mit Zeigefinger und Daumen an den Bartstoppeln, steckte den kleinen Finger in den Mund. Zunächst biss er nur auf das vorderste Glied, wie man das manchmal macht, denkt man nach. Dann schob er den Finger bis zum zweiten, bis zum dritten Glied in den Raum zwischen Zähnen und Wangen, fuhr sich deutlich sichtbar über das Zahnfleisch erst der rechten, dann der linken Gesichtshälfte. Dem kleinen Finger folgte der Ringfinger, der über die Innenseite der Zähne strich. Was tut er da? Ich starrte, blinzelte nicht, atmete kaum. Schweiß und Hitze waren vergessen, nur die wandernden Finger zählten, die Lippen und Zähne, Zunge und Gaumen erforschten. Der Mittelfinger schob sich über die ganze Länge und Breite der Zunge, der Zeigefinger tastete den Gaumen ab.
Hand und Mund schienen wie abgetrennt vom restlichen Körper zu sein. Hätte der junge Mann nicht einen, zwei, nein, vier Finger gleichzeitig in seinen weit aufgesperrten Rachen gesteckt, den Daumen unter dem Kinn verhakt, er wäre ein zwar nachlässig gekleideter, aber doch unauffälliger Mensch gewesen.

Ich blinzelte. Wandte den Blick ab. Dieser intime Moment eines Menschen, der sich selbst berührt, war obszön, nicht für den Anblick durch Andere gemacht, obschon dieser Exhibitionismus sich den Voyeuren ja doch aufzwang. Zugleich zweifelte ich, je länger ich in den Gang, auf den Boden, meine Füße, meine Hände blickte, umso mehr an der Erinnerung an die absonderliche Kosung. Hatte die Exploration wirklich stattgefunden oder war sie – wie Nonne und Punker – nur eine Irritation meines erhitzten Geistes, der den Selbstekel vor dem eigenen schwitzenden Leib in das Missverhalten eines anderen Menschen übertrug? Wenn ja: welche Gedanken und Sehnsüchte hatte ich unterdrückt, dass sie sich nun so Bahn brachen? Sehnte ich mich nach der Fähigkeit absoluten Glaubens an etwas Höheres und gleichzeitig nach der maximalen Freiheit eines die Gesellschaft herausfordernden Individuums? Verstand ich mich als Mittler zwischen jenen Außenstehenden und jenen in der Mitte der Gesellschaft, wo ich mich doch in keiner dieser Welten wirklich verwurzelt sah? Wie ich es drehte und wendete: Der junge Mann passte so wenig in diese Erklärung wie eine Faust in einen Mund.
Um nicht wieder starren zu müssen, zwang ich meinen Blick nach rechts, Richtung Fenster. Da saß die junge Frau, Augen und Mund geöffnet, auch sie schien zu sehen, was ich gesehen hatte, auch sie zweifelte vielleicht an ihrer Wahrnehmung, denn nun suchte ihr Blick bei mir die Bestätigung, dass auch ich gesehen hatte, was sie sah. In unserem Entsetzen waren wir unerwartete Verbündete geworden, Zeugen einer Anomalie, die wir uns alleine nicht erklären konnten. Hatte sie mich vor Minuten noch abgelehnt und fortgewünscht, gaben ihr meine Anwesenheit und mein Nicken die Sicherheit, dass sie nicht fehlsah.
Ein Kichern stieg in ihr auf, ein Glucksen, das, je länger es dauerte, immer weniger Komplizenschaft und immer mehr Irrnis lautmalte. Meine Bestätigung war nicht beruhigend genug gewesen, und ein Blick zurück zu dem jungen Mann zeigte, dass meine Annahme, eine Faust passe nicht in einen Mund, naiv gewesen war. Als wolle er auch noch die Beschaffenheit seiner Speiseröhre untersuchen, hatte der junge Mann seine Hand bis über das Daumengrundgelenk in seinen Mund gezwängt, während er, als läse er ein Handbuch für orale Penetration, seinen Blick nicht vom Bildschirm seines Smartphones genommen hatte.
Das Lachen der jungen Frau war einem gutturalen Jammern gewichen. Sie würgte, als wolle sie sich übergeben. Sie schluckte hörbar, doch das Schlucken schien nur zu verschlimmern, was sie zu vermindern gehofft hatte. Ihr Atem beschleunigte, verflachte, ihre Pupillen verengten sich, auf ihre Stirn traten nun doch noch Schweißperlen. Und dann zog sie sich ihre Handtasche heran, steckte ihre Hände hinein und zog ein Fläschchen hervor, aus dem sie eine stark nach Eukalyptus riechende Flüssigkeit in ihre Handfläche goss, in ihren Händen verrieb, die Unterarme hinauf bis zu den Ellenbeugen. Dann schloss sie die Augen, lehnte sich zurück, atmete tief ein und langsam wieder aus.

Der Zug hielt überraschend an meiner Station. Rasch griff ich nach meiner Tasche, eilte zur Tür und trat aus dem überhitzten Zug in erfreuliche Kühle. In der letzten halben Stunde war die Temperatur gefallen. Mein T-Shirt, das im Zug nicht getrocknet war, hing mir klamm am Oberkörper. Bis ich zuhause ankäme, würde mich diese Kühle bestimmt wieder freuen.
Auf dem Heimweg dachte ich nach über Menschen, die so gleich und doch so anders waren, dass Gegensätze nebeneinanderstehen und sich doch nicht wahrnehmen mochten wegen all der kleinen Sphären aus Musik, Glauben oder Technologie. Sphären, die einander so wenig berührten wie Menschen an einem schweißtreibenden Tag. Gleichzeitig konnten diese Menschen sich so fern sein, als seien sie wie durch einen breiten Fluss getrennt, und sich doch so intim berühren, dass der Eine sich die Finger in den Hals stecken kann und der Andere davon würgen muss.

Der Beginn des Endes

Usus operi
Mai 18, 2018

So also beginnt es. Fällst durch die Wolken, weiß und schwerelos, eine Feder im Regen. So beginnt und endet es auch. Schwerelose Wolke, nasse Federn, ein Schwingen hinauf und hinab, ein Schwan, ein Adler, eine Elster, ein Spatz, auf einem Zweig, der bricht, splittert, fällt, und doch: kein Geräusch, denn so endet es: eine Wolke auf und hinab von Regen und Wind, eine Sonne, die untergeht, ein Spatz, der nicht mehr singt.

So also beginnt es, die Dunkelheit bräst über dich hinweg, die Klischees essen Dich auf, die Sprache gehorcht nicht mehr den Bildern, die du malen willst, sondern ist nur noch hohles Weben. So endet es also ohne Worte, das Gefühl allein, Deine Zeit wäre in Worte zu fassen, doch nicht mehr von dir, denn der Spatz singt nicht mehr, der Adler fliegt nicht mehr, die Wolke ist über der Wüste vergangen, unwiederbringlich, aber doch: widerstandslos.

So also beginnt es, eine Parabel nach dem Geschmack der Kinder, erzählt eine Geschichte ohne den Grund des Ozeans zu berühren, ein Bild ohne Leinwand, nur Schatten in flirrender Luft, ein Geräusch nur aus Echos. So endet es, ein im Flug zerfallener Schall, ein im Fallen zerbrochener Krug, eine Welt ohne Sauerstoff, ohne Luft zum Singen, Atmen, Tanzen und Fliegen. Nichts ist mehr, nur noch du in deiner Weite, deiner endlosen Wüste aus Wortbrüchen.

So also beginnt es, die letzte Schlacht geschlagen, ein Donner über der Welt, ein Sturm auf  blitzenden Flügeln, ein leeres Bild in einem leeren Rahmen, weiß in Schwarz, Platitüden über dem Meer, stimmloses Singen im Schatten. So endet es also in ewigem Chorus aus Maximalismen, Kunst ohne Inhalt, nur noch Bocksgesang auf Schwanenstelzen. Ein Crescendo der Langeweile umtost dich, du fällst, stürzt, taumelst und stehst doch, und alle sehen zu.

Papa

Bewerbe
Dezember 27, 2017

Last Christmas I gave you my von wegen George last Christmas bist Du einfach so gestorben ohne Vorwarnung und Dein Herz schenkst Du auch keinem mehr außer Du bist Organspender gar nicht schlecht vielleicht wird das ja heute doch da wären wir Motor aus Radio aus. Angenehm die Ruhe könnte man sich fast dran gewöhnen. Nix da kannst ja nicht ewig hier hocken und hoffen dass Dich wer rettet Sebastian vielleicht guckt aus dem Fenster und sagt die können mich mal lass uns abhauen egal wohin mit Dir fahre ich überall hin von wegen der Schnaps klemmt natürlich unterm Sitz hab Dich verdammt dieses Schloss muss echt in die Werkstatt irgendwann geht die Karre sonst gar nicht mehr auf die Zentralverriegelung funktioniert immerhin noch. Ist die Tür so schwergängig damit keiner abhaut und dieser Geruch nehmen die einen Reiniger der noch schlimmer stinkt als die Alten schau sie Dir an wie in die Gegend tapeziert nix mehr mitbekommen von der Welt die der Fernseher gegen die leeren Köpfe brüllt bestimmt wollten die auch lieber sterben bevor sie hier zum Abtropfen geparkt wurden. Na aber hallo Sebastian selbst in der Schlabberuniform sieht der noch gut aus geht bestimmt zum Fitness ob wir doch mal auf ein Date könnte mein Sohn sein vielleicht steht er aber auch auf Waschbärbauch solls ja geben immerhin flirtet ja er mit mir vielleicht freut er sich aber auch nur über jeden der noch selbst läuft.

Reiß Dich zusammen falscher Ort falsche Zeit und falsche Tür ob Papas Zimmer so weit hinten ist weil er eh nicht mehr wenigstens riechts hier anders wie angebrannt erst mal das Fenster auf diese Scheiß-Kindersicherung als ob der Alte noch irgendwohin mit Gewalt gehts leichter wie die Raben schrein und kalt ist es gut tut die frische Luft aber schon. Hallo Papa ich bins Florian wer auch sonst kümmert ja keinen mehr selbst wenn er kriegt es ja eh nicht mehr mit gut siehst Du aus Lügner was soll denn daran gut sein nur Haut und Knochen und schütteres Haar das hätten sie ihm ja mal kämmen können so viel wie das hier kostet wobei er geht ja eh nirgendwo mehr hin da braucht er auch keine schnieke Frisur mehr gell Papa den Schleim hätten sie Dir wenigstens absaugen können klingst ja wieder grauenvoll. Frohe Weihnachten Papa schau mal Schnaps für Dich als ob wir nicht alle wüssten dass der für mich ist die Zeit muss man doch irgendwie rumbringen hier auf dem Nachttisch kannst Du ihn gut sehen wo ist denn das Bild Papa wo haben sie denn das Bild hin den Rahmen wenigstens haben sie stehenlassen wer klaut denn Familienfotos im Altenheim wie muss man denn drauf sein andererseits auch kein Verlust war eh kein gutes Bild halt das einzige mit ihm drauf. Papa ich probier mal den Schnaps ob er gut ist Du hast doch nix dagegen wusst ichs doch die Marille ist gut ich bring Dir echt nur gutes Zeug mit.  

Kärnten war das Klagenfurter Hütte Alte-Leute-Urlaub während alle anderen in den Ferien nach Spanien oder Italien ans Meer halt aber wir habens nur nach Kärnten geschafft abwechselnd Badesee und Berge schwimmen und wandern nicht aufregend aber genug für den jährlichen Sonnenbrand und für sowas wie heile Welt gell Papa heile Welt in Kärnten war das Papa mit seiner Schreierei und Mama mit ihrer Flirterei mit den Bademeistern und wir Kinder mittendrin kein Wunder dass wir alle so neurotisch ob wir überhaupt von Dir waren weißt Du auch nicht gell Papa hättest es eh nie aus ihr rausbekommen. Ich probier nochmal den Schnaps für Dich Papa ob er auch echt gut ist der wird nicht besser aber die Marille ist der Knaller wirklich das einzig Gute an Kärnten die Marille.
Die Klagenfurter Hütte war schon schön das eine Jahr wo ausnahmsweise alles friedlich war Papa mal fidel und Mama mal nicht so gesehen schon schade dass das Bild weg ist wenigstens dieses eine Mal schön so hättest Du immer sein sollen Papa so lustig wobei das in echt bestimmt ganz anders war das sieht ja nur auf dem Bild so aus in echt haben wir gefühlte zehn Stunden vor der Hütte gestanden während Papa sich am Selbstauslöser abarbeitet und die Kamera nicht stabil auf dem Zaunpfosten balanciert hätt ja mal um Hilfe fragen können einen von den Wanderern oder den Toni der da natürlich auch dabei war und das bestimmt zum Schießen gefunden hat und dann als wir schon alle die Lust verloren haben und schauen wie siebzehn Tage Regenwetter kriegt er es doch noch auf die Reihe der Papa wie immer zu spät gell Papa wie immer zu spät darauf noch einen Schnaps Papa gute Marille Du hast doch nix dagegen auf Dich Papa und dann sagt er noch jetzt alle mal recht freundlich bitte denn da kommt das Vögelchen selbst damals hat das keiner mehr gesagt so seltsam war das dass wir alle angefangen haben zu lachen zuerst die Katrin dann der Peter und schließlich auch Mama nur darum lachen wir alle auf dem Bild bei Dir sieht mans halt nicht Papa weil Du im entscheidenden Moment den Kopf drehst darum bist Du so verwaschen auf dem einzigen Bild von Dir ist wirklich ganz schön traurig.

Und jetzt ist es fort das Bild passt aber bis auf Papa und mich sind ja auch alle fort Mama mit Toni abgehauen irgendwohin kein Schwein weiß wo interessiert aber auch keinen mehr sind wahrscheinlich eh beide schon tot Papa ist ja auch kein Springinsfeld das kommt auch vom Papa Springinsfeld sagt doch heute keiner mehr der Sebastian bestimmt nicht die Alten nennen ihn vielleicht Hüpfer da kommt unser junger Hüpfer wieder um uns nicht dran denken was bei den Schabracken abgeht wenn der Sebastian denen beim Waschen die Brüste lupft danke für die Vorstellung. Darauf einen Schnaps Papa Du hast Doch nix dagegen wenn ich Dir den leermache Du verträgst ja eh nix mehr in Deinem Alter.
Wer wird denn gleich rumgurgeln vor Neid die Flasche kann bestimmt einfach hier in den Mülleimer glaubt ja eh niemand dass der Papa die ausgetrunken hat was liegt denn hier drin ist das das Foto vielmehr der Rest vom Bild der nicht so eine Sauerei wer macht denn sowas ist das jetzt schlimmer als Diebstahl von Familienfotos wenn man sie an Ort und Stelle oder warst Du das Papa der war gut als ob der dazu noch in der Lage schau Dir das an Mama und Peter komplett weggebrannt von Katrin nur noch die Schulter von Papa und mir noch die Köpfe von Papa eigentlich nur ein verschwommenes Gesicht wie im richtigen Leben eigentlich. Da hat er auch nicht gesehen dass Mama in dem Jahr nur auf heile Welt gemacht hat weil der Toni überall dabei war Schwimmen im See beim Wandern in der Tscheppaschlucht im Minimundus auch ohne die Ida oder die Blagen waren das vielleicht Arschlöcher ist zwar egal jetzt aber Riesenarschlöcher waren das jedes Jahr wieder Flori-Tunken Flori-Schlagen Flori-Jagen hätten die mal Krebs bekommen sollen nicht der Papa hätten die mal hier liegen sollen krampfatmend halb aber doch nicht ganz erstickend.

Papa Du hast doch bestimmt nix dagegen wenn ich noch eine rauche wusst ichs doch wenn die das brennende Bild nicht bemerkt haben kriegt die Zigarette garantiert auch keiner mit danach können wir das Fenster auch wieder langsam wirds nämlich schon kalt wo ist denn mein Feuerzeug Papa hast Du vielleicht eins im Nachttisch Papa wer hat Dir das denn in die Hand wollten die das aussehen lassen als hättest Du das Foto selbst der Sebastian wird was von mir zu hören bekommen erst mal die Zigarette an das tut gut gell Papa das gefällt Dir bestimmt hat immer so gerne geraucht früher obwohl er wusste dass es ihn umbringt vielleicht hat er sogar drauf gehofft weil für alles andere war er zu feige dafür liegst Du jetzt da gell Papa.
Scheißleben wenn Du so elendig vor Dich hinstirbst weil Du ahnst dass danach auch nix Besseres mehr kommt nicht loslassen kannst weil Du zu doof warst rechtzeitig alles abzuschließen nicht mehr rauskommst weil Du nicht weggegangen bist wie Mama die einfach alles hat fallen lassen können als es ihr zu viel wir ihr zu viel waren vielleicht auch nur Du Papa vielleicht warst nur Du zu viel oder vielleicht nur ich der Problem-Flori der Sorgen-Flori der Sei-doch-mal-mehr-wie-Peter-Flori die Mistkuh ist doch wahr nicht flennen jetzt wegen ihr die Marille ist auch schon leer wenigstens atmet Papa nicht mehr so laut alle sind weg Mama und Toni Peter und Katrin Ida und die Arschlöcher selbst die Raben selbst der George nur noch Papa und ich sind da gell Papa Du und ich wir beide.
Papa?

Wie das Meer indes ist die Zeit

Von der Front
Februar 26, 2017

Seit Stunden rauschen die Wellen gegen die fünfzig Meter tiefer liegenden Felsen an, der Strand zieht sich endlos, wird verschluckt vom blendenden Licht des Spätnachmittags. Unten johlt eine Gruppe junger Männer, die Oberkörper frei ringen sie einander im Sand nieder, jubeln dem Gewinner zu, während der nächste Herausforderer schon wartet. Bald wird die Ebbe einsetzen, das Meer verschlucktes Land und überspülte Steine freigeben, und ich wünsche mir, für immer und nicht nur noch heute Abend hier bleiben zu dürfen. Wie das Meer indes ist die Zeit unerbittlich, unaufhörlich nimmt sie mir Tag um Tag, Stunde um Stunde. Fern, so fern ist die Heimat, unvorstellbar, sie jemals wieder zu begehen, wenn es doch das Sonnendeck gibt, wo alle Sorgen mit den Flügelschlägen der Möwen verschwinden.

Der Herr schweigt

Von der Front
Januar 24, 2017

In der Bahn, es ist spät, der Tag war lang und ich bin müde. Vor dem Fenster schwach beleuchtete Landschaft, im Fenster kaum zu erkennen. Meine eigene Reflektion kann ich sehen und eine melierte Reisegruppe: zwei Damen in Tweed und ein zerknautschter Herr. Während der Herr schweigt, erzählt eine der Damen der anderen eine Anekdote. "Bei den ganzen Ausländern heutzutage muss man doch mit allem rechnen. Wenn man denen nichts zu tun gibt, machen die doch nur wer-weiß-was." Im Garten der Dame war ein Fremder. "In meinen Rosen! Da habe ich natürlich die Polizei gerufen." Stellt sich raus, es war weder ein Asylsuchender noch ein Wirtschaftsflüchtling, sondern ein zugezogener Student mit Migrationshintergrund aus Essen-Altenhofen, Innenarchitektur, spielt in seiner Freizeit Discgolf, hat sich beim Training im benachbarten Park verworfen. Stellt sich später raus, als die Polizei den Eindringling schon wegen Hausfriedensbruchs verhaftet hat. Nochmal hat sie die Polizei gerufen, als der Fremde später am Tag vor ihrer Haustür stand. "Der hatte ein so grimmiges Gesicht, dass ich dachte: der will Rache an mir nehmen." Dann lacht sie. "Stellt sich raus, dass er nur um Verzeihung bitten wollte." Stellte sich aber erst nach dem zweiten Eintreffen der Polizei raus. Die zweite Dame zeigt sich amüsiert über das Missverständnis. Der zerknautschte Herr hebt kurz den Kopf: "Und? Hast Du in deinem engen Herz Gnade für den armen Sünder gefunden? Oder ist das so vertrocknet wie Dein Hirn?" Dann fällt sein Kinn zurück auf die Brust, und auch die Damen schweigen. Draußen kommen die ersten Gebäude im Industriegebiet der Kleinstadt in Sicht, dann sind wir auch schon im Bahnhof, der Zug hält, ich steige aus.

Da sitzen sie dann

Von der Front
Januar 23, 2017

Wie sie aufsteigen mit schnell schlagenden Flügeln, der ganze Schwarm, aufgeschreckt durch das Knallen und Knattern eines Motorrads, wie sie vor dem Auspuff-Stakkato fliehen, dann nach einer rauschenden Kehre fast fallend herabsinken in die Apfelbäume, knapp vor dem Aufprall auf den Ästen doch noch abbremsen. Da sitzen sie dann, melancholisch einander zuflötend, bis einige, die vielleicht mutiger oder nur vergesslicher sind als die übrigen, wieder hinab auf den Boden fliegen, wo halb verfaultes Streuobst mit der Wiese verfroren liegt. Während ich am Zaun mit dem Wasserschutzgebiet-Schild stehe und die Vögel betrachte, ihrem Lied lausche, das meine Nachdenklichkeit umspielt, wird mir plötzlich bewusst, wie lange ich das schon nicht mehr gehört habe. In den Geräuschen der Kleinstadt, zwischen all den Autos und Menschen, den lebensfeindlichen Fassaden der Straßenzügen, ist kein Raum für Singvögel. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, wo nicht nur das Lied von Amsel, Drossel, Fink und Star, sondern auch ihr Gesang eher zum Alltag gehört als das Hupen von Autos, die abrupt an Zebrastreifen bremsen müssen. Dass ich ihr Fehlen erst in dem Moment bemerke, da ich es nicht mehr vermissen muss, wundert mich, dachte ich doch immer, dass man wahre Schätze erst erkennt in dem Moment, da man nicht mehr über sie verfügt. Vielleicht bin ich aber auch einfach ein anderer geworden, bin nicht mehr der Junge vom Land, sondern ein an moderne Technik gewohnter Bursche, der mehr Zeit am Schreibtisch verbringt als in der freien Natur. Daher vielleicht meine eigene Melancholie, die sich aus dem Vermissen eines Menschen speist, der ich nicht mehr bin. Ein ferner Knall kündigt die Rückkehr des Motorrads an, der Schwarm fliegt wieder auf, ein Schlagen schneller Flügel, dann sind sie fort, die Bäume leer. Ich warte nicht auf ihre Rückkehr.

Zwischen ihnen Nichts

Von der Front
Januar 22, 2017

So viel Nichts zwischen Allem. Wie Atome überwiegend aus leerem Raum bestehen, gibt es zwischen Menschen und ihrer Umgebung immer eine Distanz, die niemals, so sehr man sich auch bemühen mag, überbrückt werden kann. Und doch ist der Park so voll, dass ich am liebsten gleich wieder nach Hause gehen will. "Die Einheimischen", klärt eine Dame vor mir ihre beiden Begleiterinnen auf, "kommen nie hierher. Die wissen gar nicht, wie schön sie es hier haben." Um mir ihrer vermeintlichen Ortskenntnis zu entgehen, verlasse ich den Weg und stelle mich ans Ufer des Teichs, um den alle Spaziergänger dieses Nachmittags kreisen wie Elektronen um das Zentralatom. Seit fast elf Jahren lebe ich in der Kleinstadt, fünf Minuten von der Stelle entfernt, an der ich jetzt stehe. Dennoch habe ich keine Erinnerung daran, den Teich schon mal zugefroren gesehen zu haben. Dass das absurd ist, denke ich mir, aber auch, dass mein Gedächtnis ohnehin unzuverlässig arbeitet. Ich beschließe, mir den dünnen Schleier aus Schnee, der auf dem Eis liegt, besonders gut einzuprägen und mich an die goldene Sonne zu erinnern, die nicht viel mehr als meinen Geist wärmt. Zurück auf dem Weg nähere ich mich einer langsamen Frau mit schnaufendem Hund, die zwar in meiner Richtung unterwegs ist, aber auf der anderen Wegseite geht. Ich habe sie fast erreicht, als uns ein Mann entgegenkommt, der im Passieren der Dame sagt: "Falsche Richtung." Doch bevor sie etwas erwidern kann, ist er auch schon zu weit fort. Sie müsste rufen, schüttelt aber nur den Kopf. Woher nimmt der Herr seine Gewissheit, frage ich mich, dass er sich auf der richtigen Seite der Dinge befindet, dass nicht etwa er im Irrtum ist? Es gibt keine Schilder, keine Rechtsprechung, die ihn bestätigten, nur Menschen, die ihre Bahnen um einen Teich ziehen, die Einen mit dem Strom, die Anderen dagegen, zwischen ihnen Nichts.

Azur wird Eisenblau

Von der Front
Januar 21, 2017

Nun da die Sonne hinter den Horizont sinkt und den erlöschenden Tag mit sich zieht, stehen die Bäume schwarz und scharf vor dem Azur eines heraufziehenden Winternachthimmels. Einzelne Flugzeuge ziehen noch rostrote Streifen auf diese Leinwand, einsam sind sie dort in der Weite. Unserer Wohnung bin ich entflohen, in der Stille der zu großen Räume schwillt jedes noch so kleine Geräusch zu seelenbetäubendem Lärm an. Hier draußen, wo es keine Wände, nur Gegend gibt, die sich nun rasch entfärbt, bin ich zwar nicht weniger allein, doch ich spüre die kalte Luft an meiner Haut, die Unebene unter meinen Schritten, eine ganze Welt, mit der ich verbunden bin. Hier draußen bin ich nicht nur ein weiteres Exponat in einem Museum. Hier erst nehme ich mich wieder selbst wahr, das erste Mal, seit Du fehlst, um mich zu sehen. Vielleicht hat Dich diese Selbstbezogenheit vertrieben, vielleicht war es unerträglich für Dich, dass Du manchmal nur ein Spiegel meines Selbst schienst. Wenn wir sprachen, dann meistens über mich, meine Projekte, meinen Tag, mein Unverständnis der Welt, während Du meist geschwiegen hast, genickt oder - selten - mir widersprochen. Ich dachte immer, wir wären uns vor allem ähnlich, doch jetzt, da ich weniger als halb bin, sehe ich, dass wir uns nicht ähnelten, sondern einander ergänzten. Erst in Deiner Wahrnehmung von mir erkannte ich mich selbst. Azur wird Eisenblau. Vor dem Horizont sind die Silhouetten der Bäume gerade noch zu erkennen. Bald schon wird mich Dunkel umfangen: eine ausgebrannte Sonne inmitten von Milliarden von Sternen.

Das plötzlich aufblendende Licht

Von der Front
Januar 20, 2017

Dann das Dunkel. 70 Minuten auf der Bühne, ich war Königin und Sklave, habe geplaudert, gelacht und geweint, süße Lügen und bittere Wahrheiten erzählt. Im Splitter eines Augenblicks bricht eine Nacht herein, und mit dem Licht erlischt mein Geist. Bis eben noch spürte ich Zukunft, sah Sicherheit in meiner Sprache, nun versinkt vor mir jeder Weg in sattem Schwarz. Angst habe ich nach der Premiere. Das erste Mal hat echtes Publikum mein Stück gesehen, ein Stück, das nicht nur meine Handschrift, sondern Spuren meiner Seele trägt. Ich fürchte, dass sich in der Kleinstadt niemand für das Schicksal Homosexueller in einer Diktatur erwärmen kann. All die Granden ergrauter Gesellschaft wollen nicht gefordert werden, sondern ihr Weltbild bestätigt wissen. Sie zu erreichen ist unmöglich, während des Spielens war das so klar wie nie zuvor in den Monaten des Planens, Schreibens, Probens. Zwischendurch, in einer scheinbaren Sekunde des Stillstands habe ich aus der Rolle heraus ins Publikum geblickt, erahnte durch die Augen der Figur Menschen, die mir zusahen beim vergeblichen Ringen um verlorene Fassung. Zu erkennen, ob ich sie erreiche, war mir nicht vergönnt. Nun also Dunkel, 70 Minuten Herzblut vorbei, mein Atem schwer von der Anstrengung, andere Menschen zu tragen. Ich atme ein und ich atme aus, der schleifende Atem in meinen Lungen, der klebrige Schweiß auf der Haut, Staub, der langsam sich setzt. Das Dunkel ist dichter noch als zuvor, dann blinzle ich in das plötzlich aufblendende Licht.

An der Wand

Von der Front
Januar 19, 2017

"Und jetzt presst den Fuß gegen die Wand." Sagt sie so einfach, aber als sie es vorgemacht hat, wäre sie doch auch beinahe umgefallen, wie soll ich denn dann ... "Oh", sage ich, "das ist ja einfach." Strecke dann beide Beine, sowohl das an der Wand als auch das andere, auf dem ich gerade stehe. Und wie gerade ich stehe! So gerade, dass meiner Übungspartnerin, die meine Hände hält, damit ich nicht umfalle, auch ein "Oh!" entschlüpft. Dann lasse ich ihre Hände los, denn wer sich sicher fühle, hat die Kursleiterin gesagt, dürfe das tun. Bringe dann die Arme nach hinten, lege sie auf meinem Steiß ab und denke: Wow, ich hab's echt drauf. Was ich wirklich drauf habe, zeigt sich, als ich meinen Fuß wieder auf den Boden stelle und einen lose fußförmigen Blutabdruck an der Wand entdecke. "Oh", sagen meine Partnerin und ich gleichzeitig. Dann schaue ich meinen Fuß an und die wachsende Blutlache darum und erinnere mich an den kurzen Schmerz von vorhin, als ich mir beim hektischen auf-Socken-von-der-Umkleide-in-den-Übungsraum-Rutschen einen Spreißel in den Zehenballen gerammt habe. "Oh", höre ich die Kursleiterin hinter mir sagen. "Ich befürchte ...", fange ich an, sie aber unterbricht mich: "Brauchst Du einen Verband?" Ich begucke weiter meinen Fuß und denke: Ein Loch im Boden zum Versinken wäre jetzt ganz fein. "Ja gerne", sage ich also, bin mir aber schon nicht mehr sicher, ob ich nicht gerade ihren Vorschlag akzeptiert habe, mein Kursabo aus Schamgründen zu kündigen. Den Rest der Stunde verbringe ich in der Umkleide, ein Taschentuch an meinen Fuß gepresst, mit dem Rücken an der Wand.

Why am I so gay?

Usus operi
Januar 19, 2017

Ich rede mir ein, ich hätte kein Problem mit meiner Homosexualität. Tatsächlich denke ich, dass eine ideale Gesellschaft sich nicht mit dem Thema Homosexualität auseinandersetzen müsste, weil niemand anhand von seiner sexuellen Identität beschrieben werden sollte. Mir ist es egal, wen jemand liebt, solange alle beteiligten Personen einverstanden sind. Diesen Gedanken hege sicherlich nicht nur ich. Zu hoffen ist das zumindest. Mich verblüfft, wie wichtig mir das Thema momentan ist, wie lange vor allem ich mich einer Konfrontation mit dem Umstand verweigert habe, dass eine solche ideale Gesellschaft sich nicht von alleine erschafft. Auch wenn ich freier leben kann als die Menschen, deren Kämpfen und Opfer ich eben diese Freiheit verdanke, ist doch noch nicht alles gut. In meinen Recherchen für ein aktuelles Theaterprojekt bin ich auf dieses Video gestoßen, das mich zutiefst berührt und beschämt hat. Thomas Lloyd von der Georgetown University berichtet darin von seiner Erkenntnis, warum er für die Gleichberechtigung der nicht-heterosexuellen Minderheiten kämpft. Wichtiger aber vor allem aber ist, wie er das macht: Indem er sichtbar ist. Indem er sich nicht versteckt, sondern der heterosexuellen Mehrheit immer wieder bewusst macht, dass es außerhalb der patriarchalen Familienstruktur auch noch andere, nicht weniger schlechte Lebenswege gibt. Beschämt hat mich Thomas' Vortrag vor allem darum, weil ich nicht so handle, weil ich nicht auffalle, im Gegenteil empfand ich in der Vergangenheit sogar einen heute nicht mehr nachvollziehbaren Stolz, dass man mir meine Homosexualität nicht ansieht. Wie er aber sehr deutlich ausführt: Es ist nicht genug, die Schultern der Riesen, auf denen wir stehen, als natürlichen Grund anzusehen. Wir müssen darum kämpfen, dass uns diese scheinbare Normalität nicht abhanden kommt.

Die müßige Arbeit

Von der Front
Januar 18, 2017

"Wieviel ist genug?" - "Naja, definitiv nicht zu wenig. Dann ist nicht genügend Platz. Aber auch nicht zu viel. Nicht dass er platzt, bevor Du ihn zugeknotet hast." Wir basteln eine Piñata, was natürlich eine müßige Arbeit ist. Aus meiner Grundschulzeit habe ich ein Schwein aus Pappmaché bis in mein Studium gerettet. Bei einer Party in meiner ersten WG wurde es dann von Bekannten eines Mitbewohners auf der trunkenen Suche nach Drogen zerstört. Gemessen an der allgemeinen Überraschung über meinen darauf folgenden Nervenzusammenbruch hatten alle den sentimentalen Wert eines Luftballons im gefärbten Zeitungsmantel unterschätzt. Wie man sich irren kann. Auch über die eigenen Vorstellungen von der Welt, die man immer als sicher gefügt sich denkt, bis man ihre Fragilität erkennt. Übliche Piñatas werden mit Süßigkeiten (oder offenbar Drogen) gefüllt, was das Draufhauen zu einem großen Partyspaß macht. Wir dagegen werden all unsere Sorgen die Zukunft betreffend auf Zettel schreiben, die wir dann in die Pappmaché-Kugel stecken. 'Trump' steht da und 'Höcke', aber auch 'Brexit' und 'Gesellschaftsversagen'. Ich schreibe 'Bauschaumbaguette' auf einen Zettel, weil ich mich nicht mehr mit der Realität befassen will. Am liebsten würde ich mich selbst in das Dunkel der Piñata setzen, wüsste ich nicht, dass ihr einziges Schicksal das einer Zerstörung ist. "Das ist eine blöde Idee", sage ich, "sollten wir nicht viel lieber unsere Wünsche an die Zukunft aufschreiben, damit wir uns freuen, wenn wir die Piñata zerschlagen?" Du lächelst mich an, als hätte ich endlich ein besonders schweres Rätsel gelöst. "Wir werden sie so bauen, dass nichts sie zerstören kann. Dann werden wir sicher vor allem sein, was uns Angst macht." - "Oh", sage ich, und dann schreibe ich schnell noch ein paar schlimme Worte auf Zettel und falte sie klitzeklein.

Das nicht alltägliche Brot

Von der Front
Januar 17, 2017

"Ich habe Sie vermisst!" Meine Baguettefrau ist wieder da, und ich bin ernsthaft erleichtert, dass die Zeit des mediokren Brotes endlich ein Ende hat. Vor fast einem Monat habe ich das letzte Baguette bei ihr gekauft, und seither habe ich mich mit Bauschaumbaguette, vollgekörntem Sprossenbrot, alltäglicher Aufbackware und überraschend enttäuschendem Selbstgebackenem über Wasser gehalten. Natürlich ist es ein ausschließliches Problem der in saturierten Gesellschaften lebenden Menschen, dass sie ihr Glück teils von der Verfügbarkeit eines handwerklich gut gemachten Backstücks abhängig machen, während im Nahen Osten immer noch täglich Dutzende Menschen bei Bombardements sterben und auch die Mittelmeerroute allen Toten zum Trotz noch immer befahren wird. Andererseits zieht jede meiner Kaufentscheidungen Folgen nach sich, die im Fall der Baguettefrau heißen: solides Handwerk, nachhaltig angebautes Getreide in demeter-Qualität, ergo fair bezahlte Bauern und schonend bearbeiteter Boden, Artenvielfalt, vor allem aber auch regionale Produktion, was wiederum mein Abendbrot von der Zerstörung unregionaler Märkte durch Überflutung mit subventionierter Massenproduktion abkoppelt. Tatsächlich hat sie mir auch gefehlt, weil mein spätmittäglicher Spaziergang zu ihrem Eckladen auch immer einen kurzweiligen Schwatz über arrogante Kunden, die Anforderungen des Einzelhandels an den Einzelhändler, vor allem aber über die Probleme des ambitionierten Hobbybäckers beinhaltet. Für jemanden, der nicht nur entsetzt ist über die mittelmäßigen Ergebnisse der eingerosteten Backfertigkeiten, sondern vor allem fast den ganzen Tag alleine am Schreibtisch sitzt, ist dieses kurze Gespräch fast so wichtig wie das tägliche Brot. "Schön, dass Sie wieder da sind", sage ich also, und sie erwidert: "Ja, gell?"

Der nicht so steile Hang

Von der Front
Januar 16, 2017

Da liegt ein Kind von wohl drei Jahren im Schnee, der blaue Schneeanzug ist weißpaniert, der Hang ist definitiv nicht steil genug, um dort hinabzurollen. Mehr also eine Böschung, und das Kind liegt quer zum nicht so starken Gefälle auf dem Rücken, die Arme neben dem Körper, doch nicht nahe genug, um tatsächlich über den rechten, also abwärts liegenden Arm hinweg kippen zu können. Es holt Schwung, indem es den linken Arm nach rechts wirft, die Schulter hinterherzieht, fast nach oben wirft, dann kippt auch endlich die Hüfte, doch der rechte Arm ist zu weit vom Körper fort, das Kind kippt immer noch nicht über den Arm, sondern nur darauf, so dass es nun mit dem Gesicht im Schnee und nicht nur auf dem rechten, sondern jetzt auch auf dem linken Arm liegt, der beim Abstoßen mit der Schulter lediglich nach rechts gefallen war. Da liegt also ein Kind von wohl drei Jahren im Schnee, der blaue Schneeanzug ist weißpaniert, Gesicht und Arme auf dem Boden, der Rücken dem Himmel zu, der sich kalt und fern über den nicht so steilen Hang spannt. Mehr also eine Böschung, an deren oberen Ende ein Mann steht und ruft: "Theo!" Ich ahne, dass er der Vater ist, denn außer uns dreien ist niemand hier. So also ruft der Mann: "Theo! Ich will heim! Kommst Du bitte!" Das Kind aber liegt nur rum, das Gesicht im Schnee, verblüffend regungslos. Und als ich eben noch schwanke zwischen dem Impuls, das Kind zum Atmen umzudrehen, und der Erinnerung daran, wie es sich anfühlt, das Gesicht in Schnee zu drücken, das leichte Brennen des Eises auf der Haut zu spüren und die knisternde Schärfe kristallisierten Frosts und die feuchte Wärme des eigenen Atems ... Als ich also noch schwanke, da ruft der Vater wieder "Theo!" und das Kind explodiert in einer kleinen Wolke aus Schnee, wirft die Arme in die Luft, der kleine Körper hebt sich und kippt ein Stück weiter den Hang hinab und bleibt wieder auf dem Rücken liegen, den Blick auf das weite Blau geheftet, Schneeflocken an den Wimpern, das Gesicht gerötet. Und während Theo in ein Kichern ausbricht, das selbst mein gefrorenes Herz erwärmt, geht der Vater ein paar Schritte von der Kante fort und setzt sich auf die Bank, die dort steht. Als er mich grinsen sieht, guckt er bös.

Wieder die Windlosigkeit

Von der Front
Januar 13, 2017

Jahre her, da gab es in Deutschland einen Sturm, Kyrill genannt, der die Wälder und Felder mit Regen und Hagel verwüstete und alle irr und ängstlich machte, lange schon vor seinem eigentlichen Eintreffen. Damals stand ich auf dem Balkon, bebend weniger aus Sorge vor dem, was kommen mochte, denn aus einer voyeuristischen Lust heraus: den Sturm die Straßen durchtoben sehen wollte ich. Wie damals irritiert heute wieder die Windlosigkeit. Während Egon die halbe Republik umpflügt mit Regen und Schnee, Gewitter und Sturm, scheint in der Kleinstadt die Sonne auf trockene Straßen, nur eine leise Brise durchweht mir die Haare, denn für eine Mütze ist es zu warm. Unterhalten habe ich mich gestern mit einer ehemaligen Kollegin. Hier sei es wie auf einer Insel, so fernab von allen Aufregungen lebe man hier. Hoffentlich treffe das auch auf alle anderen Besorgnisse zu, die man jetzt schon vorhersehen könne. Gerne wollte ich ihr rechtgeben, insgeheim aber dachte ich, ein bisschen mehr Aufregung könnte der Kleinstadt nicht schaden. Andererseits: Die Zeit dafür habe ich nicht. 

Wodka Martini

Bewerbe
Dezember 1, 2016

Zurück an der Bar bestelle ich: „Noch einen Wodka Martini!“ Beobachte den Barkeeper bei der Arbeit. Da überschwemmen mich Moschus und Salz, modernde Blumen: Ich rieche den Typ, der sich neben mich stellt, bevor er mir, um die Musik zu übertönen, ins Ohr brüllt: „Den kriegst Du nicht!“ Meint den Barkeeper, einen durchtrainierten Burschen, den alle anstarren, während sie auf ihre Getränke warten. „Niemand kriegt den!“ - „Das trifft sich!“, brülle ich zurück. „Ich bin niemand!“ Dass ich ihn noch nicht angesehen habe, scheint den Typ zu motivieren. „Niemand also. Ich bin Jörg.“ Hält mir die Hand hin, ich nehme sie nicht. An Händen bin ich nicht interessiert. An Jörg bin ich nicht interessiert, an allen mehr als an Jörg, der hoffentlich gleich wieder tanzen geht. Von der anderen Seite des Tresens grinst mich ein Kerl an. Sein Shirt spannt über der breiten Brust, ein Nippelpiercing drückt sich durch den petrolfarbenen Stoff. Ich grinse zurück, nicke, als er mit dem Kopf zur Tanzfläche zeigt oder zu den Toiletten, die dahinter sind. „Ich bin gleich wieder da“, sage ich, ohne Jörg anzusehen.

Zurück an der Bar wartet mein Wodka Martini. Daneben ein Typ, der mich ansieht, als müsste ich ihn kennen. Greife nach dem Glas, setze es an die Lippen. „Bist Du sicher? Vielleicht habe ich was reingetan.“ Trinke trotzdem, trinke erst recht, trinke gierig, um mir den Geschmack von Sperma aus Mund und Kehle zu spülen. Leere das Glas, stelle es ab. Der Typ beobachtet mich, und jetzt rieche ich ihn: Amber, Flieder, Meer. „Ich bin Jurek!“ brüllt er und hält mir die Hand hin. „Noch einen Wodka Martini!“ rufe ich dem Barkeeper zu. Ich lege Geld auf den Tresen, wende mich dann der Tanzfläche zu. Die Musik greift nach mir, zieht mich zwischen die Menschen. Die Bässe tragen mich zu einem Kerl, der mit seinen hellblauen Shorts aus dem Schwarm der Tänzer heraussticht. Er grinst mich an, ich grinse ihn an, lege meine Hand auf seinen Hintern, ziehe ihn zu mir. Er küsst mich, ich küsse ihn, wir rauben einander den Atem, lösen uns inmitten der Namenlosen auf in Nebel und Schweiß.

Zurück an der Bar wartet mein Wodka Martini. Daneben ein Typ, der mich ansieht, als schuldete ich ihm Geld. Ich nicke dem Barkeeper zu, der mir, um die Musik zu übertönen, zubrüllt: „Noch einen Wodka Martini?“ Ich nicke, sehe ihm nach. Der Typ beobachtet mich. „Kennen wir uns?“ Er drängt sich mir auf, sein Geruch nach wildem Tier und Blut erzeugt mir Übelkeit. Ich leere mein Glas, um ihn auszublenden, was nur kurz gelingt. „Jürgen!“ Er hält mir die Hand hin, doch der Barkeeper rettet mich. Ersetzt das leere Glas durch ein volles. Ich grinse ihn an, er grinst mich an. Von der Seite brüllt mir der Typ wieder ins Ohr. „Und Du bist?“ Für einen Moment bin ich versucht, ihm „Niemand!“ zu antworten. Spüre da eine Hand auf meinem Hintern, einen Körper, der sich an mich drückt, sich an mir vorbeidrückt, dann neben mir steht, auf der Seite, die nicht durch Jürgen blockiert wird. Bestellt ein Bier beim Barkeeper, und dreht sich, während er wartet, zu mir um. Ich erwidere seinen Blick. Er küsst mich, ich küsse ihn. Als sein Bier kommt, greift er nach der Flasche und geht. Als ich ihn fast aus den Augen verloren habe, dreht er sich nach mir um. Ohne Zögern folge ich ihm.

Zurück an der Bar wartet mein Wodka Martini. Daneben ein Typ, der mich ansieht, als hätte ich ihn geschlagen. Ich greife nach dem Glas, nehme einen Schluck. „Ist was?“ Er schüttelt den Kopf. Wie in Wellen verströmt er den Geruch nach Ozean, unterspült von etwas Herbem, Holzigen. Der Barkeeper nimmt auf der anderen Seite des Tresens Bestellungen auf. Für einen Moment verliere ich mich im Anblick seines Körpers: die muskulösen Beine, von den hellblauen Shorts mehr ausgestellt als verhüllt, die kraftvollen Stränge seines Rückens, umspannt von einem petrolfarbenen Shirt, das auf der Wirbelsäule und unter den Achseln vom Schweiß dunkel verfärbt ist, seine kurzrasierten Haare, seine prachtvollen Schultern, seine starken Arme. Für einen Moment stelle ich mir vor, von ihm umfangen zu werden, seinen Duft einzuatmen. Für einen Moment ist alles still, der Raum außer uns leer. „Den kriegst Du nicht!“ brüllt mir eine Stimme ins Ohr, und die Bässe schwappen wieder über mich hinweg, dass ich mich festhalten muss am Tresen, an meinem Glas. „Den kriegt niemand!“ brüllt der Typ weiter. „Jørn!“ Hält mir die Hand hin, für einen Moment bin ich versucht, mich daran festzuhalten. Stelle dann das Glas ab. Fliehe über die Tanzfläche.

Zurück an der Bar wartet mein Wodka Martini. Nur halb voll. Daneben ein Typ, der wahrscheinlich die andere Hälfte intus hat. Ich schiebe beide beiseite und winke dem Barkeeper. „Noch einen Wodka Martini!“ Der Typ hält mir das halbvolle Glas hin, doch ich brülle über die Bässe dem Barkeeper zu: „Noch einen Wodka Martini.“ Er grinst mich an, ich versuche, ihn anzugrinsen. Scheitere. In mir tobt ein Meer, keine Ahnung, wo das jetzt herkommt, die Wellen schlagen im Takt der Musik gegen die Innenseite meiner Haut. Von der anderen Seite des Tresens grinst mich ein Typ an. Aus der Menge der Tanzenden grinst mich ein Typ an. Eine Hand auf meinen Hintern gelegt, seinen an meinen Körper geschmiegt, grinst mich ein Typ an. Neben mir steht Göran, er riecht nach verschwitztem Mann und ein bisschen nach Bier, über das Dröhnen des Ozeans und der Bässe höre ich ihn nicht, aber ich lese von seinen Lippen: „Ist Dir nicht gut?“ Doch, versuche ich zu sagen, doch mein Mund ist von einem anderen verschlossen. Ein Typ küsst mich, ich erwidere seinen Kuss nicht. Eine Hand nimmt meine, zieht meinen Körper über die Tanzfläche zu den Toiletten.

Zurück an der Bar wartet mein Wodka Martini. Ich trinke ihn in einem Zug aus, doch der Geschmack von Galle und Salz lässt sich nicht runterspülen. „Noch einen Wodka Martini!“ brülle ich über die Bässe dem Barkeeper zu. Der zeigt mit dem Kopf auf den Typ neben mir, vor dem ein halbleeres und ein volles Glas stehen. Der Typ schiebt mir das volle Glas zu. „Der geht auf mich. Ich bin Joris.“ Streckt mir die Hand hin. Ich schaue den Barkeeper an, der mich angrinst und mit den Schultern zuckt. „Und Du bist?“ - „Niemand.“ - „Das trifft sich. Niemand ist mit mir hier.“ Er grinst mich an, seine blauen Augen leuchten im Halbdunkel. Ich nehme seine Hand, danach nehme ich das Glas. „Keine Sorge. Ich habe nichts reingetan.“ Wir prosten einander zu. Trinken. Als ich das Glas absetze, atme ich seinen Geruch ein: Tabak, Bergamotte, Rost. „Möchtest Du tanzen?“ Ich nehme noch einen Schluck, stelle dann das Glas auf den Tresen und folge ihm auf die Tanzfläche, doch schon nach einem Moment habe ich ihn verloren. Wie ein Seepferdchen im Kelpwald treibe ich zwischen den Menschen, Unbekannten, an denen mich nichts hält.

Zurück an der Bar bestelle ich noch einen Wodka Martini. Der Barkeeper nickt und macht sich an die Arbeit. Ein Typ stellt sich neben mich, verschwitzt vom Tanzen, noch außer Atem, grinst mich an. „Das war gut“, brüllt er mir, um die Musik zu übertönen, ins Ohr. Er legt seine Hand auf meinen Hintern, drückt seinen erhitzten Körper an meinen, färbt mein petrolfarbenes Shirt dunkel, wo er mich berührt. Ich drehe mich ihm zu, ertrinke fast in seinen blauen Augen. Küsse ihn, er küsst mich. Als der Barkeeper mein Glas auf die Theke stellt, greift der Typ danach und trinkt es in einem Zug leer. Küsst mich dann wieder, ich schmecke Feuer auf seiner Zunge. Er reibt seinen Körper an meinem, seine Erektion drückt durch den Stoff seiner hellblauen Shorts gegen meinen Oberschenkel. Mit der Hand, die er nicht auf meinem Hintern hat, massiert er meinen harten Schwanz. Er geht vor mir auf die Knie, öffnet meine Hose, nimmt mich in den Mund, ich atme schwer, schließe die Augen, keuche. Als ich nach seinem Kopf fassen will, ist der Typ fort, meine Hose nicht offen. Ich glaube, ihn im Gewühl der Menschen auf der Tanzfläche zu sehen, haste hinterher.

Zurück an der Bar warte ich auf meinen Wodka Martini. In meinen Ohren rauscht die Brandung des Morgengrauens. Die Bässe sind jetzt verebbt, die Menschen strömen ins Freie, wo sie Nebelwolken in den aufblühenden Tag atmen. Der Barkeeper stellt ein Glas vor mich auf den Tresen. „Der geht auf mich.“ Grinst mich dabei an. Ich nehme das Glas, proste dem Barkeeper zu, trinke einen Schluck, stelle das Glas wieder ab. Alles wie in Zeitlupe, während er mich beobachtet. Keine Gläser spült, keine Flaschen leert. Mich einfach nur beobachtet. Eine Stimme in mir brüllt: „Den kriegst Du nicht! Den kriegt niemand!“ Doch da steht er, seine blauen Augen leuchten. „Du kannst bleiben, bis ich fertig bin.“ Während er aufräumt, Kühlschränke auffüllt, Tresen und Boden wischt, sehe ich ihm zu. Leere mein Glas erst, als er schon neben mir steht. „Georg.“ Er hält mir die Hand hin.

Ein Abendland-Märchen

Von der Front
März 13, 2016

So geht das: Ein Volk, von den Göttern gesegnet, aber nicht saturiert von Reichtum und Reich, sucht nach der Quelle allen Glücks. Die Gesegneten erobern Land um Land, knechten Volk um Volk, doch vom Glück fehlt jede Spur. Sie finden es erst bei Menschen, die tagtäglich auf ihren Feldern die Früchte ihrer Arbeit ernten und sich ihrer selbst genug sind. Die Gesegneten suchen das Glück den Glücklichen zu rauben, doch alle Angriffe schlagen fehl. Und da die Götter ihren Segen einmal geben und zweimal nehmen, ist die schmachvolle Niederlage nicht die einzige Strafe des Hochmuts: Das glanzvollste Reich der Welt geht unter innerhalb eines Tages und einer unglückseligen Nacht.

Dieses Reich taucht erstmals in einer Erzählung Platons auf. Es handelt sich um die sagenhafte Insel Atlantis, deren Herrscher von Poseidon, dem Gott des Meeres selbst abstammen sollten. Der Reichtum von Atlantis ist so legendär, dass selbst Jahrtausende nach seinem Untergang noch immer Schatzsucher nach seinem Verbleib forschen. Die Gier, die diese Menschen antreibt, überdeckt symptomatisch das wichtigste Detail an Platons Geschichte: Atlantis ist untergegangen, weil die Atlantiden nicht das Glück erkannten, das sie besaßen. Die Götter, die ihren Segen gegeben hatten, nahmen ihn zurück, als klar wurde, dass die Menschen ihn nicht schätzten. So geht das.

Jetzt fragt Ihr: Wolfgang, was für ein Märchen erzählst Du uns da in einer Zeit, da man Worte wie Volk, Heimat, Vernichtung und Untergang spärlicher dosieren sollte als Tonkabohnen-Abrieb? Präziser und berechtigter müsstet Ihr fragen: Hä?

Platon berichtete von Atlantis, weil ihn das Hegemoniestreben Athens sorgte. Mich dagegen erinnert an Atlantis der vielfach (und fälschlich) beschworene Untergang des Abendlandes. Der Kern unserer Botschaft aber ist derselbe: Wer ignoriert, dass der wahre Wert einer Gesellschaft sich nicht in Land und Geld und Macht bemisst, sondern in der Stärke und dem Zusammenhalt ihrer Gemeinschaft, riskiert den Zerfall und Untergang eben jener Gesellschaft. Nach Platon nahmen die Götter ihren Segen, mir scheint wahrscheinlicher, dass jenen, die alles besaßen, alles zu wenig war. Weil sie nicht verstanden, wie gut es ihnen ging, gierten sie nach mehr und verloren alles.

Schön und gut, sagt Ihr, Atlantis ist ja nun weg und Platon tot. Was ist mit dem Abendland? Wann geht das genau unter, wir haben nämlich noch einen Friseurtermin nächste Woche. Können wir den Untergang des Abendlandes nicht timeshiften und ihn uns an Ostern ansehen statt „Stirb langsam“?

So geht das nicht. Das Abendland geht, sofern überhaupt existent, jetzt unter. Jeder Brandanschlag, jeder Hasskommentar, jeder Galgen versenkt ein Stück des Abendlands. Das Abendland geht unter, weil einigen Menschen nicht das Herz bricht angesichts von Waisen, die nach 3000 km Flucht in mazedonischem Stacheldraht sterben. Weil einigen Menschen tausende Tote im Mittelmeer nicht reichen. Weil einige Menschen aus Angst vor Terror selbst zu Terroristen werden. Sie vergessen das Fundament der freien und offenen Gesellschaft dieses Abendlands. Sie vergessen ein Gut, das so wichtig ist, dass sein Schutz im Grundgesetz verankert ist: Die unantastbare Würde des Menschen.

Was derzeit in Europa geschieht, gleicht einem Unfall in Zeitlupe. Das atlantide Europa, dem es nach blutigen Jahrhunderten gelungen ist, sich auf der Basis der Menschenwürde eine friedliche und reiche Heimat zu erbauen, zerfällt in narzisstische Nationalstaaten, die sich gegenseitig die Schuld für den Verlust des Glücks zuschieben. Als Zuschauer ist man entsetzt, seit Wochen und Monaten unfähig zu einer Reaktion, während diejenigen, die schon immer laut sein wollten, ihre Stunde für gekommen sehen. Sie aber werden weder das von ihnen verhasste Europa retten noch die darin verwurzelte Würde. Doch kein Hass der Welt wird das Abendland retten. So geht das nicht.

Was also tun, fragt Ihr? Ich weiß es noch nicht. Aber klar ist: Schweigen alleine wird die Stimmung nicht wandeln. Wir, die lange geschwiegen haben, werden wieder unsere Stimme erheben müssen, um unsere Werte, allen voran die Würde des Menschen, zu verteidigen. Anders wird es nicht gehen.

Gräber

Textualitäten
Februar 3, 2016
Wie sie da stehen in der verbrannten Ebene: mechanische Präzision vor flirrendem Horizont. Die Steuereinheiten aus den Korpora der Antriebseinheiten strebend, einander zugewandt, über die Luftschleusen verbunden. Die Grablöffel – Händen gleich – wie zur Umarmung erhoben, die Schreitausleger in den steinernen Boden gebohrt.

Adam besaß ein Buch, darin zeigen zerfallende Seiten Menschen, Tiere, Gebäude und Landschaften der Erde, nutzlose Karten und Klimatabellen, Kunst und Künste verlorener Kulturen. Adam besaß viele Bücher, gefüllt mit Erinnerungen an eine untergegangene Welt, die ihm immer unerreichbar bleiben musste. Mir, dem Konstrukt einer neueren Zeit, sollten diese Bücher noch weniger als Adam bedeuten. Dennoch steht eines davon in meiner Sammlung. Darin eines meiner Lieblingsbilder: zwei Liebende in ewiger Umarmung, die Lippen in untrennbarem Kuss verbunden.  
Das Buch erlaubt mir, einen Adam zu entdecken, den zu berühren zu seinen Lebzeiten mir niemals gelungen wäre. Allerdings verrät es mir nicht, warum Adam während des Feuers seinen Gräber verlassen hat, um in die Ebene hinabzugehen.  

Es gibt schmutzige, schmerzvolle Tode. Diese Tode, diese Toten sind lehrreich, gleichzeitig aber erschweren sie es, in den Überresten den Menschen zu erkennen. Ein anderer, sauberer Tod hat Ask gefunden: er ist erstickt. Trotz dreifacher Sicherung ist die Sauerstoffpumpe seines Schlafmoduls ausgefallen. Um ihm eine letzte Ruhestätte zu schaffen, reicht es, die Tür zu versiegeln.  
Die ungenutzten Vorräte werden die Überlebenden in der Gemeinschaftssphäre bekommen. Die Sicherungen funktionieren noch, ebenso ein Großteil der Verbinder: sie sind – wie das Energiemodul – für mich.  
In der Antriebskammer herrscht ein steter Wechsel zwischen Hell und Dunkel. Das Umwälzen der Matrix des Energiemoduls taucht den Raum in changierendes Zwischenlicht. Sobald aber die Verbindungen gekappt sind, kommt die Matrix zur Ruhe, das Rauschen der Pumpen verstummt, alles wird finster, alles Leben fern.  Diese Stille, nachdem das letzte Geräusch verklungen, alles Licht erloschen ist, und bevor das Notsignal der Lebenserhaltung einsetzt: diese Stille erst markiert den wirklichen Tod. Von nun an werden die Menschen Ask vergessen.  

Der Puls des Energiemoduls, der Wechsel von Schwärze und Licht, korrespondiert mit dem menschlichen Herzschlag. Ein Herz nannte Rangi das Energiemodul ihres Gräbers. Sie nahm an, die Ingenieure hätten sich bei der Konstruktion von der Ahnung leiten lassen, dass die Menschen in ihren Gräbern sich nach dem Anblick von etwas Lebendigem sehnen würden. Dass der stetige Rhythmus eines Herzschlags die Einsamkeit der Menschen lindern könnte. Rangi hat es nicht gerettet. Als sie starb, war ihr Körper über Kabel mit dem Maschinenherz verbunden.  
In der Antriebskammer meines Gräbers meine bisherige Beute: siebenundvierzig Energiemodule, die aufleuchten und sich wieder verschatten, stete Lichtgezeiten. Siebenundvierzig, bald achtundvierzig Herzen, die im Gleichklang schlagen. Jedes neue Herz verwirrt die Übrigen für eine Weile, jedes neue Herz bringt die Übrigen aus dem Takt. Mit der Zeit aber gewöhnen sie sich aneinander, ihr Puls gleicht sich an, Ruhe kehrt ein. Siebenundvierzig, bald achtundvierzig Energiemodule an den Wänden der Antriebskammer meines Gräbers, in der Mitte – als einziges lichtlos – das Energiemodul, das meinen Gräber antreibt.  

Menschenähnliche Figuren bevölkern Asks Wohnmodul. Ask hat sie aus jenen Steinen gearbeitet, die zu weich und damit für die Fabriken ungeeignet waren. Einige der Figuren scheinen im Tanz erstarrt, andere haben den Kopf erhoben, wie um zu singen, wieder andere umschlingen einander wie im Kampf. Alle haben sie langgezogene Gesichter und leere Augen. An manchen Stellen hat Ask den Stein poliert, an anderen sind die Bruchkanten unberührt.  
Es ist zu spät, Ask zu fragen, was bearbeitet und was erhalten werden muss. Er kann nicht mehr lehren, wie zu erkennen oder zu entscheiden ist, welche Figur aus dem Stein befreit werden will. Mit ihm ist auch seine Kunst gestorben.  
Während die Lebenserhaltung unermüdlich vor dem strukturellen Versagen der Außenhülle und dem damit verbundenen Druckabfall warnt, erschwert mir die Schönheit jeder einzelnen Figur die Entscheidung für eine einzige, obwohl Platz genug für alle in meiner Sammlung wäre. Schließlich fällt meine Wahl auf einen Sänger aus der zweiten Reihe, dessen grob gearbeiteter Oberkörper mit den erhobenen Händen und dem detailreichen Gesicht dem unbehauenen Stein zu entwachsen scheint.

Auf dem Weg zurück: noch eine Figur, menschengroß, aus hartem, schimmerndem, unbekanntem Material. Kein Tänzer, kein Sänger, die Figur steht still. Der Körper realistisch, doch der Kopf, wie eine Maske aus gebrochenem Erz, ohne Gesicht.

Zurück in meinem Gräber warte ich nicht auf das Ende der Abdocksequenz, bevor ich die Motoren starte. Dem Autopiloten nenne ich mein nächstes Ziel, die Gemeinschaftssphäre.  
In meinem Wohnmodul betrachte ich meine Sammlung: ein ausgestopfter Vogel, ein Sextant, ein Ring, ein Kistchen, verschlossen aus Holz. Ich will Asks Figur zwischen die Glocke und den Stab stellen, doch meine Hände sind leer. Auf meiner Flucht habe ich den Sänger verloren. Zurück kann ich aber nicht mehr.
 
[Neufassung von Glossar/Cavator]

Gesellschaftsversagen: Die Fehler des Präsidenten

Von der Front
November 18, 2015

In Paris wird gezündelt: François Hollande holt die große Keule raus, will Notstandsermächtigungen durchdrücken und zusätzliche Machtoptionen für Präsident und Staatsschutz. Hollande sieht Frankreich durch die Paris-Singularität im Krieg mit dem IS und begeht dabei mehrere Fehler.

Der erste Fehler: dem französischen Präsidenten mangelt es nicht an Macht, im Gegenteil erlaubt der Semipräsidentalismus auch jetzt schon eine undemokratische Staatsführung. Den mangelhaften Einfluss des Parlaments zusätzlich durch Notverordnungen auszuhebeln, erinnert an das System Brüning der Weimarer Republik, das in Verbindung mit dem Erstarken der Nationalkonservativen mit zur Entstehung des Dritten Reichs beigetragen hat. Angesichts der wachsenden Popularität von Marine Le Pen ist das mehr als nur beunruhigend.

Der zweite Fehler: zu glauben, verschärfte Regelungen zu Strafrecht und Überwachung hätten die Verbrechen von Paris verhindert, ist bestenfalls naiv. Es sollte mittlerweile jedem klar sein, dass die Einschränkung von Freiheitsrechten keinen bedeutsamen Zuwachs an Sicherheit bringt. Im Gegenteil stärkt staatliche Paranoia das Misstrauen der Menschen untereinander und trägt dadurch zum Gesellschaftsversagen bei, was letztlich ein Ziel jeden Terrorismus‘ ist.

Der dritte Fehler: durch die Kriegserklärung erlangt der IS den Stand einer Kriegspartei, es dürfte für die Verbrecherbande ein Ritterschlag sein. Als wäre die mediale Aufmerksamkeit der Vergangenheit für das Netzwerk vereinigter Fundamentalisten nicht schon genug kostenlose PR gewesen.

Der vierte Fehler: wer einen Krieg erklärt, sollte auch bereit sein ihn zu führen und die Opfer zu bringen, die er kosten wird. Vor allem im Bewusstsein, dass die Opfer keine seelenlosen Monster sein werden, sondern Menschen aus Fleisch und Blut; dass die Opfer auch Zivilisten sein werden, die mehr unter dem IS gelitten haben bislang als die Franzosen; dass unter den Opfern auch Franzosen sein werden.

Der fünfte Fehler: wer einen Krieg erklärt, sollte auch das Ziel und einen Plan haben, ihn zu beenden. Der kopflose „Krieg gegen den Terror“, den George W. Bush 2001 ausgerufen hat, ist nur auf dem Papier beendet, tatsächlich befinden wir uns immer noch mittendrin. Der Irak ist fragmentiert, Syrien faktisch zerstört, Afghanistan und Pakistan von den Taliban destabilisiert. Ein Ende des Kriegs, der Organisationen wie dem IS oder Al-Schabab erst zum Aufstieg verholfen haben, ist nicht in Sicht.

Der sechste Fehler: Feuer bekämpft man nicht mit Feuer; die letzten hundert Jahre des Nahostkonflikts lehren das sehr anschaulich. Gewalt erzeugt selten Frieden, sie erzeugt in der Regel Gegengewalt. Die Kriminellen vom IS bauen genau auf diese Mechanik, eine Kriegserklärung ist genau in ihrem Sinne.

Es bleibt zu hoffen, dass die französischen Volksvertreter weise handeln und entscheiden. In diesen Tagen zeigt sich, ob die Fundamente der Europäischen Union stark genug sind. Wir sind aufgerufen, unsere Werte zu verteidigen, doch es ist Teil dieser Werte, das nicht mit kriegerischen Mitteln zu tun. Wer den Frieden mit Krieg zu verteidigen sucht, zerstört ihn. Auch wenn es banal klingt, es muss offensichtlich so deutlich gesagt werden.

Gesellschaftsversagen: Der Französischkurs

Von der Front
November 16, 2015

Im montäglichen Französischkurs mündete die Betroffenheit über die Vorfälle von Paris rasch in eine hitzige Diskussion, in deren Verlauf die beiläufige emotional-moralische Einordnung der Teilnehmerin A. (72) als ignorante Kuh den Teilnehmer R. (63) beinahe seinen rechten Arm gekostet hätte.
Natürlich war die Thematik zu schwer für den Französischkurs. Politische Meinungen in der eigenen Sprache zu formulieren ist ja oft schon schwer genug. Soll man dann auch noch in einer Fremdsprache sachlich zu argumentieren: ein Höllenritt.

Teilnehmer W. (35) war an der Eskalation nicht unschuldig. Hätte er nicht geradebrecht, les jeunes hommes qui veulent être des terroristes sont les perdants de la mondialisation qui n’ont rien à perdre, hätte A. nicht sehr bewegt argumentiert, les hommes qui viennent maintenant de la Syrie a l’Europe ne sont pas intégrés et neuf sur dix n’ont pas de travail. Ce sont eux qui sont les terroristes de demain.
Während W. noch an les réfugiés ne sont pas les terroristes, ils fuissent à cause des terroristes bastelte, hatten sich R. und A. schon ineinander verbissen.
Nur unter Androhung einer vierseitigen Strafarbeit konnte Kursleiterin F. (46) die Streithähne das Streitgeflügel wieder voneinander trennen, die Stimmung aber war nachhaltig gestört. Während einer dreiminütigen Gruppenarbeit über die Vorteile von Leihfarrädern zerbrach A. den Lieblingsbuntstift von R., der seine Besonnenheit ausschließlich dadurch bewies, seine Rache verzögert zu servieren: unter dem Vorwand, das Fenster schließen zu wollen, erhob er sich eine Viertelstunde später und entfernte, als er A. passierte, mit raschem, aber bewundernswert präzisem Schnitt seiner Bastelschere den Dutt der Zweiundsiebzigjährigen, die sich nach einer halbe Sekunde in Schockstarre auf R. stürzte und ihm die Bastelschere entwand. Die darauffolgende Rangelei konnte nur der beherzte Einsatz eines Feuerlöschers beenden, der Kurs wurde abgebrochen, R. mit der Bastelschere im Arm ins Krankenhaus gebracht.

A. ist weiterhin auf der Flucht. Die Volkshochschule bittet um Ihre Mithilfe. Falls Sie einer mit Feuerlöschschaum besprühten älteren Dame mit amputiertem Dutt begegnen, sprechen Sie sie nicht an (vor allem nicht auf französisch), sondern wenden sich bitte an die nächste Niederlassung Ihres Bildungsinstituts.

Glossar/Cavator

Bewerbe
November 15, 2015

Kämen sie jetzt, das Projekt zu beenden und uns zu holen (nein: mich zu holen), der Anblick der beiden Cavatoren könnte die Fictoren an Rodins Kuss erinnern.

Die Erinnerung an Rodin allerdings dürfte mit der alten Erde untergegangen sein, und auch mir ist er nur bekannt durch Pavel; durch das Buch, das aus seinem in meinen Besitz wechselte. Die meisten der dünneren Seiten sind schon lange zerfallen, die übrigen (beständigeren) zeigen Menschen, Tiere, Gebäude und Landschaften der Erde, nutzlose Karten und Klimatabellen, Kunst und Künste vergangener Kulturen. Pavel fand Trost in den Bildern von Verlorenem und eine Verbindung zu einer Heimat, die ihm immer unerreichbar bleiben musste.
Was mich betrifft: dieses Buch (dessen Seiten für mich noch weniger als für Pavel bedeuten sollten: nichts, was sie abbilden, findet eine Entsprechung in meinem Glossar) erlaubt es mir, einen Pavel zu entdecken, den zu berühren mir niemals hätte gelingen können.
Seine Notizbücher (Gedanken, Erkenntnisse, Beobachtungen): ungelesen; zurückgelassen.

Mit Qwembe verbinden mich dreizehn Tage und Nächte in den Stollen unter dem Kupferberg. Während die Schaufelhände der beiden Cavatoren sich immer tiefer in die Erde gegraben, Erze gebrochen und Steine gemahlen haben, vertraute mir Qwembe seine Hoffnungen, seine Ängste, seine Träume an. Trotz des Dröhnens und Berstens draußen und des Knackens und Rauschens der Interkom rührten mich seine Verlorenheit an und seine Erleichterung darüber, wenigstens einmal nicht nur mit der Dunkelheit unter dem Berg zu sprechen, sondern mit einem denkenden Geist.
Dass seine Einsamkeit nicht singulär war, er sie vielmehr mit allen Spezialisierten teilte, bedeutete ihm nichts. Er verstand sich als Opfer eines unausrottbaren Rassismus‘: „Den Schwarzen schicken sie wie einen Sklaven in die Minen, während sich die Weißen oben sonnen.“ Bis dahin hatte sich Qwembe für mich nicht von den Übrigen unterschieden, die Metallhaut der Cavatoren zeigt keine Varianz. Erst in seiner Wohneinheit, wo er mir Timefeeds zur Geschichte der Sklaverei zeigen wollte, um mein Glossar zu erweitern, war er schwarz, ansonsten aber wie alle anderen: warm und glatt und weich und erschauernd unter meiner Berührung. Meine Hand spürte keine Dunkelheit auf seiner Haut.

Es wird keine Relevanz für das Projekt besitzen. Die Fictoren hätten mich sonst mit entsprechenden Detektoren ausgestattet.

Qwembe ist (anders als die meisten der Anderen) im Schlaf gestorben. Die Sauerstoffpumpe seines Schlafmoduls ist ausgefallen und er ohne Bewusstsein erstickt. Es gibt umständlichere, schmutzigere Tode. Diese anderen Toten sind natürlich lehrreich. Ihre Überreste aber mit den Körpern mir bekannter Menschen zu assoziieren, fällt mir oft schwer.

Meine Sensoren erfassen olfaktorisch den Fortschritt des Zerfalls. Ob es das Projekt sabotiert, diese Funktion zu deaktivieren?

Aus der Sammlung, neben Pavels Buch:
Eine Münze von Nizar, ein Ring von Corentin, eine Glocke von Soek.
Der Schlüssel gehörte Tomomi, der Sextant Noa.
Der silberne Griff eines Stocks (Celia), eine versteinerte Schnecke (Beatriz), eine Flöte (Añuli).
Kians Uhr, eine Vase von Savitri.
Und Ruben besaß ein Kistchen, verschlossen, aus Holz.

Qwembe muss nicht entsorgt werden. Es ist ausreichend, das Schlafmodul zu versiegeln.
Die Vorräte nützen mir nicht (vielleicht aber den Überlebenden in der Gemeinschaftssphäre). Die Sicherungen sind noch funktionstüchtig, ebenso ein Großteil der Verbinder. Dann das Energiemodul, das die Antriebskammer mit dem Wechsel zwischen Hell und Dunkel der Matrix in ein changierendes Zwischenlicht taucht.
Celia nannte das Energiemodul ihres Cavators ein Herz: der Rhythmus korrespondiert mit dem menschlichen Herzschlag. Sie nahm an, dass die Fictoren sich bei der Konstruktion von der Ahnung haben leiten lassen, dass die Spezialisierten in ihren Metallhäuten sich nach dem Anblick von etwas Lebendigem sehnen würden. Und selbst mein System, das die Beklemmung nicht kennt, die die Menschen unter der Sternweite bisweilen befällt, wird durch die Strömungen in der Matrix berührt.
Sobald das Energiemodul nicht mehr mit dem Cavator verbunden ist, verlangsamt sich das Rauschen der Pumpen und verstummt schließlich, in der Antriebskammer wird es ruhig, das Leuchten des Herzens versiegt. Diese Stille, nachdem das letzte Geräusch verklungen, alles Licht erloschen ist und bevor das Notsignal der Lebenserhaltung einsetzt: diese Stille erst markiert den wirklichen Tod, den eigentlichen Moment, da Qwembe kein Teil des Projekts mehr ist.

Ob meine Programmierung das Erleben einer Ergriffenheit in dieser Stille vorsah? Ob die Fictoren in mir Empathie evozieren wollten?
Auf die Frage, wie man eine emotionale Reaktion auslöst, fehlt eine Antwort in meinem Glossar.

In der Antriebskammer meines Cavators: siebenundvierzig Energiemodule, die sich aufhellen und verdunkeln, stete Lichtgezeiten. Siebenundvierzig, bald achtundvierzig Herzen, die im Gleichklang schlagen. Jedes neue Herz verwirrt die Übrigen für eine Weile, es ist unvorhersehbar für mich, welche ihre Frequenz erhöhen und welche langsamer schlagen werden. Mit der Zeit werden sie sich aneinander gewöhnen.
In der Mitte (lichtlos) das Energiemodul, das meinen Cavator antreibt.

In Qwembes Wohneinheit: Timefeeds, Bücher, ein mumifizierter Vogel. Interessanter aber die humanoiden Figuren, die Qwembe aus jenen Steinen gearbeitet hat, die zu weich und damit für die Fabriken ungeeignet waren. Einige der Steinmenschen tanzen, andere singen, alle haben sie langgezogene Gesichter und leere Augen. An manchen Stellen hat Qwembe den Stein poliert, an anderen hat er die Bruchkanten unberührt gelassen.
Es ist zu spät, Qwembe zu fragen, was bearbeitet und was erhalten werden muss. Mein Glossar verfügt dazu über keinen Eintrag.
Die Lebenserhaltung warnt vor dem strukturellen Versagen der Metallhaut und dem damit verbundenen Druckabfall. Mir fällt es schwer, mich zu entscheiden: in meiner Sammlung wäre Platz für alle. Die Wiedergabe von Qwembes Stimme hilft mir: die unterschiedlichen Grade an Stolz, mit der er die einzelnen Figuren beschrieb und ihre Entstehung. Meine Wahl fällt auf einen Sänger aus der zweiten Reihe, dessen grob gearbeiteter Oberkörper mit den erhobenen Händen und dem detailreichen Gesicht dem unbehauenen Stein entwächst.
Auf dem Weg zurück: noch eine Figur, menschengroß, aus hartem, schimmerndem, unbekanntem Material (das Glossar ist natürlich keine Hilfe). Kein Tänzer, kein Sänger, die Figur steht still. Der Körper realistisch, doch der Kopf, als trüge er eine Maske aus gebrochenem Erz, hat kein Gesicht.

Kämen sie jetzt, der Anblick der beiden Cavatoren könnte sie an Rodins Kuss erinnern: die Steuereinheiten wie die Häupter Liebender einander berührend, die Luftschleusen aneinandergedockt. Ein anderes Bild aus Pavels Buch: ein Sukkubus, der sich über einen Schlafenden beugt.
Die Fictoren aber sind Ingenieure, der Anblick der Cavatoren erinnerte sie an nichts.

Während die Abdocksequenz noch läuft, vibrieren schon die Motoren. Mein nächstes Ziel liegt jenseits der verbrannten Ebene: die Gemeinschaftssphäre.

[Neufassung: Gräber]

Gesellschaftsversagen: Paris

Von der Front
November 14, 2015

Gestern Abend ein weiteres Symptom des Gesellschaftsversagens: ein Blutbad in Paris, verursacht durch bewaffnete Kriminelle. Man nennt sie Terroristen, der selbsternannte Islamische Staat reklamiert die Taten für sich als Rache für das französische Engagement in Syrien, François Hollande überhöht die Taten zum Kriegsakt. Die internationalen Medien befinden sich wieder im reflexhaften Rausch der Eventberichterstattung.

Mein Mitgefühl gilt jetzt den Angehörigen der Opfer, aller Opfer. All jene, die in der Nacht von gestern auf heute Angehörige und Freunde verloren haben. Und ja, es gilt auch den Angehörigen der Täter. Auch sie sind Opfer des Gesellschaftsversagens, einer seit dem Ende des Kalten Krieges in den 1990ern beobachtbaren Nebenwirkung der Globalisierung. Aber auch die Kriminellen, die überzeugt davon sind, man könne mit Gewalt eine neue, bessere Gesellschaft auf den blutgetränkte Ruinen einer alten errichten, auch sie sind nichts anderes als Opfer.

Was sie nicht sind, sind Terroristen. Sie sind Kriminelle, sie sind Mörder, sie haben ein kaum zu verzeihendes Unrecht verübt. Aber sie sind keine Terroristen, solange die angegriffene Gesellschaft ihnen nicht diesen Gefallen tut. Sobald die freiheitliche Gesellschaft sich von ihnen einschüchtern lässt und die Kriminellen Terroristen nennt, schenkt sie ihnen einen Sieg. In ihnen nicht auch Verlierer des globalen Gesellschaftsversagens zu sehen, heißt eine Chance auf ein Ende dieses asymmetrischen Dritten Weltkrieges zu vergeben.

Die sozialen Medien verbreiten in Deutschland derzeit neben der Solidarität für Paris vor allem zwei Botschaften. Die eine, die beängstigende ist der Ruf der Reaktionären nach Waffen, Vergeltung, Abschottung. Man müsse genau wegen solcher Vorkommnisse die Grenzen schließen, die Fliehenden aller Länder wieder zurückschicken, bevor man sich noch weiter ausliefere. Die andere, beruhigendere Botschaft ist eine reflektierte: es seien genau diese Taten, vor denen die Menschen, die jetzt zu uns kommen, geflohen sind. Die singulären Vorfälle von Paris sind Alltag in Damaskus, Bagdad, Asmara.

Jetzt Grenzen zu schließen, Überwachung und Bewaffnung auszubauen, Misstrauen und Abschottung zwischen den Menschen zu fördern, hieße nicht nur, die Kriminellen siegen zu lassen, sondern vor allem das Gesellschaftsversagen zu beschleunigen. Und damit vor allem: die Zahl der Opfer dieses Gesellschaftsversagens zu erhöhen. Dabei müsste die Reaktion vor allem aus weniger Abgeschlossenheit, weniger Parallelität, weniger Voneinander-Abrücken bestehen. Im verstärkten Miteinander und Füreinander, in Solidarität, Gemeinschaft, Mitmenschlichkeit stecken Lösungsansätze, die zu Frieden führen.

Europa droht in diesen Tagen zu zerfallen. Die Herausforderungen der Wirtschaftskrise, die täglich zu Tausenden in der EU strandenden Menschen, die Abspaltungsbestrebungen einzelner Länder (Ungarn, Großbritannien) und Landesteile (Schottland, Katalonien), das Erstarken extremistischer Parteien. Das Schengen-Abkommen wird ausgesetzt. Die Paris-Singularität verstärkt diese Bedrohung. Ihr nachzugeben, löst das Problem ebenso gut, wie Waffenlieferungen in autokratische Länder die Demokratie befördern.

Wir müssen erkennen, dass wir, um uns und unser Europa, unseren Frieden und ja, auch unseren Wohlstand zu retten, Opfer bringen, vor allem aber ein klares, ernstgemeintes Bekenntnis ablegen müssen zu den europäischen Werten von Freiheit, Demokratie und Gleichheit. Wir dürfen nicht zulassen, dass das Fortschreiten einer seelenlosen Globalisierung den Schutz der Menschenrechte aufweicht. Wir müssen vielmehr die Globalisierung so gestalten, dass sie den Schutz der Menschenrechte garantiert. Und zwar für alle. Nur so kann das zunehmende Gesellschaftsversagen verhindert werden: durch den gemeinsamen Willen zum Aufbau einer solidarischen Gesellschaft.

Verantwortung und Macht

Usus operi
Juli 14, 2015

Soeben ist mir klargeworden: ich habe versagt, meiner Verantwortung der Welt gegenüber gerecht zu werden. Ob das nicht ein bisschen zu viel Pathos ist? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Urteilt selbst.

Doch zunächst muss ich ausgreifen und zwei Menschen zitieren: Joss Whedon und Yanis Varoufakis. Beide haben auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun, tatsächlich aber haben beide etwas über Macht und Machtlosigkeit zu sagen.

Auf der San Diego Comic Con hat Whedon auf die Frage nach dem Sinn des Lebens geantwortet:

You think I’m not going to, but I’m going to answer that. The world is a random and meaningless terrifying place and then we all — spoiler alert — die. Most critters are designed not to know that. We are designed, uniquely, to transcend that, and to understand that — I can quote myself — a thing isn’t beautiful because it lasts.
 The main function of the human brain, the primary instinct, is storytelling. Memory is storytelling. If we all remembered everything, we would be Rain Man, and would not be socially active at all. We learn to forget and to distort, but we [also] learn to tell a story about ourselves.
I keep hoping to be the hero of my story, [but] I’m the annoying sidekick. I’m kind of like Rosie O’Donnell in that Tarzan movie. I keep hoping to be Tarzan, but keep finding to be that weird monkey that nobody can tell if it’s a girl or a boy.
My idea is that stories that we then hear and see and internalize — and wear hats from and come to conventions about… We all come here to celebrate only exactly that: storytelling, and the shared experience of what that gives us.
The shared experience of storytelling gives us strength and peace. You understand your story and everyone else’s story, and that it can be controlled by us. This is something we can survive, because unlike me, you all are the hero of your story.

Varoufakis dagegen erklärt im Guardian nach seinem Ausscheiden aus der griechischen Regierung, warum die Verhandlungen mit den Institutionen von vorneherein zum Scheitern verurteilt waren:

This weekend brings the climax of the talks as Euclid Tsakalotos, my successor, strives, again, to put the horse before the cart – to convince a hostile Eurogroup that debt restructuring is a prerequisite of success for reforming Greece, not an ex-post reward for it. Why is this so hard to get across? I see three reasons.
One is that institutional inertia is hard to beat. A second, that unsustainable debt gives creditors immense power over debtors – and power, as we know, corrupts even the finest. But it is the third which seems to me more pertinent and, indeed, more interesting.
The euro is a hybrid of a fixed exchange-rate regime, like the 1980s ERM, or the 1930s gold standard, and a state currency. The former relies on the fear of expulsion to hold together, while state money involves mechanisms for recycling surpluses between member states (for instance, a federal budget, common bonds). The eurozone falls between these stools – it is more than an exchange-rate regime and less than a state.
And there’s the rub. After the crisis of 2008/9, Europe didn’t know how to respond. Should it prepare the ground for at least one expulsion (that is, Grexit) to strengthen discipline? Or move to a federation? So far it has done neither, its existentialist angst forever rising. Schäuble is convinced that as things stand, he needs a Grexit to clear the air, one way or another. Suddenly, a permanently unsustainable Greek public debt, without which the risk of Grexit would fade, has acquired a new usefulness for Schauble.
What do I mean by that? Based on months of negotiation, my conviction is that the German finance minister wants Greece to be pushed out of the single currency to put the fear of God into the French and have them accept his model of a disciplinarian eurozone.

Durch das Erzählen von Geschichten verarbeiten, was wir erleben, durch das Erleben von Geschichten aber erkennen wir die Beschaffenheit der Welt. Aus Geschichten können wir lernen und Fehler vermeiden. Ich arbeite seit Jahren an einer Geschichte, die nicht besonders kurz ist, und darum auch noch kein Ende hat. Doch es geht darum, wie man mit Macht umgeht und ob man sich von ihr korrumpieren lässt, was auch den besten widerfährt. Das nämlich sagt Varoufakis: dass Wolfgang Schäuble – trunken von der Macht, die er als Finanzminister der größten Wirtschaftsmacht Europas hat – den Grexit mit dem Zweck heiligt, die restliche Eurozone zu erziehen.

Vielleicht hat Schäuble Recht. Vielleicht Varoufakis. Vielleicht keiner von beiden. Die Wahrheit ist häufig komplizierter. Wahr aber bleibt, dass Macht verführt. Hätte ich nun mein Buch geschrieben, das von der Korruptionsfähigkeit der Macht handelt, hätte ich eine Geschichte erzählt, deren Protagonisten den beiden Finanzministern nicht so unähnlich sind in ihrer Grundanlage. Sie repräsentieren Archetypen des Erzählens, Eremit und Narr, deren Konflikt eine ganze Welt in den Niedergang zwingen kann, deren Kooperation aber eine Krise in eine Chance auf einen Neuanfang wandelt. Man hätte aus meiner Geschichte erfahren können, wie verheerend es ist, der Verlockung der Macht nachzugeben, welch erstaunliche Dinge aber passieren können, wenn man ihr widersteht.

Nun aber habe ich das Buch nicht geschrieben, befindet sich noch in Fragmenten auf meiner Festplatte, meinen Notizbüchern und in meinem Kopf. Ich bin meiner Verantwortung nicht nachgekommen, die Geschichte zu erzählen, die Europa hätte retten können. Das tut mir leid, und ich bitte um Verzeihung und Nachsicht.

Schwarzer Merkur

Bewerbe
Mai 27, 2015

Der Wind, der über die Felder des Westens weht,
erzählt vom Ende des Sommers vor seiner Zeit.
Blitzschlag über dem Horizont spaltet das Dunkel des Sturms,
Donner schlägt Krähen in ziellose Flucht.
Mit Gewitterschritten naht der Herbst,
und Dir,
Schwarzer Merkur,
Weber des ersten Zaubers und Wächter des letzten Tors,
weihe erneut ich meine unsterbliche Seele.
Deinen Schutz und Segen erbitt ich
vor der Stille des Winters und der Leere seines weiten Azurs.

Führe mich,
Schwarzer Merkur,
Öffner der Wege und Hüter des verborgenen Lichts,
über das Eis, das die Meere versiegelt,
durch den gläsernen Berg und die Wüste aus blauem Sand.

Dreimal schon schlug ich die tonlose Glocke und opferte Dir,
Schwarzer Merkur,
Bote der Finsternis und Träger des blutigen Schleiers,
den Hahn, der den Morgen begrüßt,
das Vlies der goldenen Ziege,
den weißen Stier Deines Vaters.
Dreimal schon erhörtest Du mich,
schältest die Seele mir aus dem faulenden Fleisch,
doch tilgtest mir nicht die Erinnerung
an den geborstenen Tempel und die Maske in Scherben,
das Schwert, das die Liebenden blutig vereint,
die Schreie, die hallten über den rostroten Fluss.
Ich erinnere mich
an den stürzenden Turm und Könige unter den Sklaven,
Sterne auf dem Spiegel des windstillen Meers.
Wie die Träume der Traumlosen sehe ich vor meinen Augen
verlorene Koffer neben Gleisen vergessener Züge,
zerknitterte Laken, darauf Knoten in lindgrüner Schnur.
Ich sehe den Dämon mit Engelsflügeln,
den Heiland des Untergangs,
Flammen in seinen Worten und Knochen in jeder Hand,
Gift auf der Zunge und Verderben auf allem, was er berührt.

Der Wind weht Rauch über die Felder des Westens,
schmeckt nach Asche und Tod.
Ein viertes Mal also stehe ich vor Dir,
Schwarzer Merkur,
Pfeil, der den Schützen trifft, und Werwolf unter den Schäfern,
hebe den Kelch, der kein Wasser hält, und den zerbrochenen Stab.
bitte Dich, nimm ein anderes als mein Leben,
nimm das Kind mit den blicklosen Augen,
das Blut dieses ruhenden Engels,
den Atem der Unschuld von seinen Lippen.

Ich flehe Dich an,
Schwarzer Merkur,
Eremit auf dem Berg und schlafender Avatar,
fange den durch die Finsternis fallenden Stein,
heile den zerbrochenen Spiegel,
binde den Schatten, den niemand wirft,
halte den Geist, der durch Menschen geht,
führe mich durch das Dunkel des Winters,
schenke meiner Seele das wiederkehrende Licht.

ESC me baby one more time

Von der Front
Mai 19, 2015

Huch! Bing präsentiert mir eine Vorhersage, wer beim ESC gewinnen wird. Schweden, Russland und Italien belegen demnach die ersten drei Plätze. Albanien, Australien, Estland, Griechenland, Rumänien, Belgien und Finnland schließen die Top Ten. Das kann ich ja fast nicht glauben. Aber schauen wir erst mal, was heute Abend passiert, da ist nämlich das erste Halbfinale, vielleicht fliegen da Griechenland und Russland schon gleich wieder raus.

Die Kandidaten des ersten Halbfinales in meiner Bewertung:

Eduard Romanyuta mit I want your Love für Moldau
Schon die ersten Sekunden sind erschreckend generisch, die elektronische Thin Whistle lässt Schlimmes erwarten. Und tatsächlich, musikalisch kommt I want your Love nicht über Waterline von Jedward hinaus. Ansonsten lassen die Beats schlimme Tanzeinlagen erwarten, und noch vor der Hälfte des Liedes hat man schon zuviel gehört. Die Bridge zu Beginn der dritten Minute kann es dann auch nicht mehr retten, weil viel zu konstruiert.
Null Punkte.

Genealogy mit Face the Shadow für Armenien
Ja, der Massenmord an den Armeniern ist ein Thema, das nicht unadressiert bleiben sollte. Vielleicht aber nicht beim ESC und vor allem nicht mit dieser schmalzigen Melange aus Rock-Gitarre, Operetten-Sopran, A-Capella-Chor und großem Geläut. Honni soit qui mal y pense: wer jetzt keine Punkte für Armenien gibt, könnte man denken wollen, leugnet auch den Massenmord. Dass man dieses Lied aber kein zweites Mal hören will, hat gänzlich andere Gründe. Das Schluss-Crescendo beispielsweise.
Null Punkte.

Loïc Nottet mit Rhythm Inside für Belgien
Optisch ein Zielgruppenkandidat, akustisch eher was für Feinschmecker. Rhythm Inside geht nicht leicht ins Ohr, hat man sich aber erst mal eingehört, geht es nicht mehr im Kopf, sondern breitet sich mit seinem Herzschlagrhythmus im ganzen Körper aus, dass man sich rasch beim Mitschnippen ertappt. Ansonsten spannende Komposition mit eher flachem Höhepunkt, dafür stimmlich originellem Sänger.
Punkte.

Trijntje Oosterhuis mit Walk Along für die Niederlande
Nanü? Anouk schon wieder? Fast, denn diesmal hat sie das Lied nur geschrieben, nicht auch gesungen, auch wenn es so klingt. Und vielleicht wäre es besser gewesen, hätte die rauchigere Stimme Anouks Walk along interpretiert, denn so schleppt sich das Lied an einem träge fließenden Fluß entlang, unentschieden, ob es doch noch in Fahrt kommen will oder dann einfach den Geist aufgibt. Am Ende bleibt nur das ewig wiederkehrende Ayayayayay, das man leider nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Gut, dass gleich die Finnen kommen.
Punkte.

Pertti Kurikan Nimipäivät mit Aina mun pitää für Finnland
Gut, dass das Lied so kurz ist. Trotz der herzigen Inklusions-Geschichte und der Erfahrung, dass auch Lordi einmal gewonnen hat, hört man hier keinen Favoriten. Und wäre die ESC-Gemeinde nicht grundsätzlich inklusionsfreundlich, gäbe es hier sicherlich auch Mitleidspunkte. So gibt es zwar Sympathien, aber keinen Grund, Punkte zu vergeben. Passiert natürlich trotzdem.
Punkte.

Maria Elena Kiriakou mit One Last Breath für Griechenland
Ach herrjeh. Die Arme ist am Ende ihres Atems. Vielleicht sollte sie sich den auch noch sparen. Das Lied ist zwar ganz übervoll von Emotionen zunächst, dann aber wechselt es ESC-gehörig Tonart und Geschwindigkeit, Kyriakou kommt aber leider nicht mehr mit, atemlos geht das Lied in die Verlängerung und man ahnt schon, am Ende bricht sie inmitten des Kunstnebels zusammen.
Null Punkte.

Elina Bron und Stig Rästa mit Goodbye to Yesterday für Estland
Süß. Der Erfolg der Common Linnets letztes Jahr hat diesem Duo den Weg geebnet, die musikalische Attraktivität des letztjährigen Zweiten erreicht Goodbye to Yesterday allerdings nicht. Dazu klingt das Lied zu sehr nach Summerwine und eben doch dem ewig alten Gestern, das ja irgendwie keiner haben will. Aber das Lied tut nicht weh, ist gemütlich, aber mehr wie ein Nierentisch: kann man sich hinstellen, muss man aber nicht.
Punkte.

Daniel Kajmakoski mit Autumn Leaves für Mazedonien
Klarer Punkte-Kandidat. Der Mash-Up aus One Republics Apologize und Sashas If you believe weiß mitsamt den E-Fideln zu begeistern, Zusatzauftritte haben Only Teardrops, Fairytale und noch irgedwas Zirpendes, das aber bis zum plötzlichen Schluss nicht ganz zu deuten ist. Vielleicht eine Grille. Geht ins Ohr, bleibt drin und lässt sich auch vom Geschrei Serbiens nicht vertreiben.
Punkte.

Bijana Stamenov mit Beauty Never Lies für Serbien
Du meine Güte. Ein Lied mit so viel Potential, einer so großartigen Sängerin und einem wunderbar epischen Einstieg. Über den Text kann man natürlich streiten, der ist ein bisschen platt und sehr an der Botschaft von Rise Like a Phoenix orientiert. Leider explodiert das Lied dann in einer elektrifizierten Marusha-Orgie, an deren Ende man glaubt, die Sängerin hätte mit einer Trägerrakete das Studio verlassen.
Keine Punkte.

Boggie mit Wars for Nothing für Ungarn
Schade, dass Boggie nicht mit dem unglaublich tollen Nouveau Parfum auftreten konnte. Wars for Nothing reiht sich ein in die lange Reihe von Liedern mit Botschaft. Das geht alle paar Jahre mal gut, aber meistens hat das Lied dann immer noch ein bisschen mehr zu bieten als eine blutarme Melodie. Nur über eine außerordentliche Performance könnte es diese dürre Ballade in die Punktränge schaffen. Ansonsten ist es nichts, was man zweimal hören will.
Keine Punkte.

Uzari und Maimuna mit Time für Weißrussland
Ah-ah! Ah-ah! Man muss willkürlich an die Paula und Ovis brennende Klaviere denken, an den fiedelnden Rybak und an nochmals One Republic, diesmal mit Stars. Irgendwie geht das ins Ohr und in die Füße, man will mitwippen, und an sich hat das schon Partypotential. Und dann kommt das aber aus Weißrussland. Man kann mir über den ESC viel erzählen, aber das Lukaschenko den ESC austrägt, wird keiner verantworten wollen. Darum wahrscheinlich nur wenige Punkte, wenn überhaupt.
Punkte.

Polina Gagrina mit A Million Voices für Russland
Eine, wie der Titel schon verspricht, stimmgewaltige Ballade mit seltsam kalter Konstruktion, die wie Shine der Tolmatschowa-Schwestern eine klare Botschaft sendet: wir Russen sind nicht so schlimm, wie die westlichen Medien dauernd behaupten, tatsächlich sind wir wie Ihr, manchmal verletzlich, manchmal stark, aber wir sind doch alle nur Menschen. Und wenn wir mit einer Stimme sprechen, dann sind wir stark. Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube, sagt Faust da. Tatsächlich berührt selbst der Chor, berühren die Streicher, berührt nichts. Wird trotzdem Punkte und Buhrufe bekommen.
Punkte.

Anti Social Media mit The Way You Are für Dänemark
Festival-Musik! Weichspül-Beatles! Gummibärchen, Lollipops. Da ist Sasha wieder, diesmal in der Form einer dänischen „Rockband“, deren The Way You Are auch auf der Common-Linnets-Welle mitschwimmt. DA kommt gute Laune auf, auch wenn man das Liedchen direkt nach dem Hören schon wieder vergessen hat. Der Schlagzeugwirbel am Ende klingt in der Radioversion so, als würde jemand einen Karton kleinknüllen.
Punkte.

Elhaida Dani mit I am Alive für Albanien
Das, was Russland und Armenien versucht haben, schafft Elhaida Dani hier: ein Gefühl zu transportieren, das man festhalten, spüren, liebhaben will. Da sind Sommergitarren und schwere Drums, eine zerbrechliche Stimme, ein harmonischer Chor, ein ESC-typischer Spannungsbogen mit Konterstreichern noch ein bisschen Gesäusel am Ende, das das Abbrummen der Windmaschine noch übertönt. Punktekandidat für den Mainstream.
Punkte.

Voltaj mit De la Capat für Rumänien
Voltaj sind jetzt die dritten, die nach One Republic klingen, entweder hat Ryan Tedder da überall seine Finger im Spiel oder er ist sehr wandelbar in seinen Liedern. Vielleicht habe ich aber auch was am Ohr, ist nicht auszuschließen. De la Capat ist eine unaufgeregte Midtempo-Elektroballade, in der die Singstimmen so nachjustiert klingen, dass ich auf die Live-Übertragung gespannt bin. Aber viel öfter muss ich das Lied dann doch nicht hören, dazu ist es nicht besonders genug.
Keine Punkte.

Nina Sublatti mit Warrior für Georgien
Das gruselige Englisch von Nina Sublatti kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier eine Kampfansage gemacht wird. Also eigentlich zwei, die kolportierte nämlich und die eigentliche. Angeblich warnt Sublatti die herrschenden Männer, dass die Frauen nicht länger unterdrückt werden dürfen. Tatsächlich aber tritt Sublatti für Georgien an, und da bekommt die Zeile „I’ve been in danger for too long“ einen ganz anderen Beigeschmack. Mal schauen, wie sich Sublatti mit Gagarina verträgt. Ansonsten hört man hier einen großtrommelnden Mix aus dem Lied, das Cascadas Glorious gerne gewesen wäre, und Woodkids atemberaubenden Iron.
Punkte.

Und müsste ich jetzt nicht weg, würde ich auch sagen, wie viele Punkte. Aber so bleibt alles vage und unbestimmt.
Wie unangenehm.

Nachtrag: Kinder, ich hatte ja keine Ahnung, wie das werden würde. Die Show war ja grauenvoll. Die Live-Performance der meisten Künstler war unerträglich. Insbesondere Mazedonien hat mir fast einen Hörsturz beschert. Positiv dagegen war ich von Boggie überrascht, die mit ihrem sehr ruhigen Lied eine willkommene Abwechslung war in einem Wettbewerb, der sich im Titel um den schrillsten Titel zu einer Kakophonie auswuchs, wie sie hoffentlich beim zweiten Halbfinale nicht mehr vorkommt.

Moldau war wie erwartet furchtbar, das Gehopse war abzusehen, das Ausscheiden im Halbfinale ebenso.
Armenien hat mich überrascht, der Kitsch hat sich unerwartet positiv vom restlichen Geschrei abgehoben.
Belgien war auch in der Bühnendarbietung grenzgängig, hat sich aber ausreichend vom Schrei-Brei der Konkurrenz abgesetzt.
Die Niederlande waren schlimm, Trijntjes Stimme war komplett verrutscht, so dass man sich selbst fragte: Why-ayayayay?
Finnland ist nicht weiter, obwohl sie noch mehr Lärm als alle anderen gemacht haben und auf Inklusionspunkte hätten hoffen können.
Griechenland? Warum? Weil der anfängliche Asthmaanfall nicht inszeniert genug aussah?
Estland ist wie erwartet im Finale, ich kann mich aber nicht mehr daran erinnern.
Mazedonien, ach Mazedonien…
Serbien ist überraschend weiter, obwohl die Choreographie noch absurder als das gesamte Lied war.
Ungarn hatte ich schon erwähnt, Boggie war einfach angenehm.
Russland war irgendwie stimmlich noch am sichersten von den Kreischerinnen, außerdem hatte sie den Trick-Chor.
Dänemaaaaaaaaak, oh Dänemaaaaak! Mehr singen, weniger blöken.
Albanien hat mich sehr enttäuscht, denn die brüchige Stimme, die ich auf der Studioaufnahme noch gut fand, war gestern komplett in Scherben.
Rumänien, bei denen ich als einziges Stimmschwächen prophezeit hatte, waren irritierenderweise komplett solide.
Georgien haben die Rabenschwingen und die Windmaschine gerettet. Anders kann ich es mir nicht erklären.

Warum die Menschen so gerne unfrei sind

Usus operi
Mai 15, 2015

Maximale Freiheit erfordert maximale Verantwortung.

Oder in den Worten von George Bernard Shaw:
Freiheit bedeutet Verantwortlichkeit. Das ist der Grund, weshalb die meisten Menschen sich vor ihr fürchten.

Über Ernährungswissenschaften

Usus operi
Mai 5, 2015

Wer mich noch nicht kennt, sondern gerade erst kennenlernt, erfährt rasch, dass ich von dem Fach, das ich studiert habe, wenig halte. Warum ist das so?

Einerseits kann ich mich so rechtfertigen, warum ich kaum etwas mit dem Wissen anfange, das ich im Studium erworben habe. Mich schützt Abrede vor Anwendung. Andererseits bin ich da nicht alleine. Kaum jemand aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis, der nicht ein berufsspezifisches Studium wie Lehramt, Jura oder Medizin abgeschlossen hat, arbeitet in einem fachlich assoziierbaren Bereich. Natürlich ist das Lernen, nicht das Gelernte das Wichtigste am Studium. Tatsächlich wird uns aber fast täglich das Trockenbrot des Fachkräftemangels vorgekaut. Vielleicht könnte eine umfassende Ausbildungsberatung vor Studienbeginn da Abhilfe schaffen.

Tatsächlich sind Ernährungswissenschaftler gleichzeitig über- und unterqualifiziert. Als Spezialisten sind sie Lebensmittelwissenschaftlern, Chemikern, Verfahrenstechnikern, Agrarwissenschaftlern, Soziologen, Betriebswirtschaftlern, ja selbst Umweltmanagern unterlegen. Als Generalisten wiederum können sie sich gegen ausgewiesene Management-Absolventen nicht durchsetzen. Vielleicht wollen sie das auch nicht, denn wer studiert schon Ernährungswissenschaften, um im mittleren oder höheren Management einer Schraubenfirma zu arbeiten?

Gleichzeitig steigen die Neu-Immatrikulationen für Ökotrophologie. Nicht zuletzt wegen der Lebensmittelindustrie. Nicht, weil der Bedarf an Ernährungswissenschaftlern bei Nestlé oder Kraft Mondelez so hoch wäre, im Gegenteil ist das die Domäne der Lebensmittelchemiker, Prozesstechniker und Ingenieure. Sondern weil mittlerweile wirklich ein Studium notwendig ist, um zu verstehen, was auf der Verpackung eines hochgradig verarbeiteten Lebensmittels steht. Alternativ könnte man auch einfach auf den gesunden Menschenverstand hören und nicht alles blindlings in den Mund nehmen, was einem angeboten wird.

Spätestens hier kommt der Einwand mit den dicken Eltern und den noch dickeren Kindern. „Ernährungsberatung ist doch so notwendig! Schon in den Schulen müsste…“ Klar, es wäre schön, wenn alle wüssten, wie man sich ernährt, ohne sich oder der Umwelt zu schaden. Das Problem in die Schulen zu verlagern, ist aber zu kurz gegriffen. Die Ernährungsaufklärung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und sie verlangt das Engagement aller Beteiligten. Was nützt es, wenn das Kind schulseitig mit der Theorie von der gesunden Ernährung konfrontiert wird, zuhause aber mit Fertigpizza? Eltern haben nämlich keine Zeit für mehr, alle müssen vollzeitarbeiten, damit sie sich die Pizza überhaupt leisten können (und die XBox und die zwei Autos und die Urlaube und die neuen Jeans und die Handys für alle Familienmitglieder und das Futter für den Hund und die Spielsachen und das Bier und die Zigaretten). Wer also soll die Verantwortung für die ausgewogene Ernährung der Familie übernehmen? Der Hund etwa?

Ist das dicke Kind erst in den Brunnen gefallen, soll es die Ernährungsberatung richten. Hier und gerade in Reha-Maßnahmen lernt man viele Menschen kennen, die Beratung brauchen, aber nicht zuhören und schon gar nichts ändern wollen. Die wenigen Motivierten dagegen brauchen keine Beratung, weil sie bereits genug wissen. Wozu braucht es hier also den Ernährungswissenschaftler? Gar nicht, denn eine Diätassistenz hätte da von vorneherein mehr erreicht. Das ist nämlich die eigentliche Anlaufstelle für Ernährungsberatung, noch dazu, weil sie von Krankenkassen lieber, weil niedriger bezahlt wird.

Vor allem wird der Einfluss von Ernährung auf die Gesundheit weit überschätzt. Es gibt keine seriöse Langzeitstudie, die eine greifbare Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen Ernährung und Gesundheitszustand herstellen konnte. Das liegt nicht daran, dass es nicht versucht wurde, sondern am komplexen Untersuchungsgegenstand selbst. Wie soll man die individuelle und inkonstante Lebensmittelzufuhr, die individuelle und inkonstante Nährstoffausbeute, die individuelle und inkonstante körperliche Zusammensetzung und das individuelle und inkonstante Maß an Bewegung (und andere Faktoren wie Tagesform, Stressresistenz, Gesundheitszustand etc.) in eine einzige, seriös verallgemeinernde Form gießen? Und dabei ist noch nicht berücksichtigt, dass etwa die Hälfte aller Ernährungsprotokolle absichtlich gefälscht oder nur nachlässig geführt oder schlicht wertlos sind, weil die Angabe „Zwei Teller Kartoffelsuppe“ ziemlich viel Interpretationsspielraum lässt. Der einzige Sinn von Ernährungsprotokollen ist, dass sich der Protokollant seiner Ernährung überhaupt mal bewusst wird. Das aber Wissenschaft zu nennen, wäre weit verfehlt.

Ernährungswissenschaftler dagegen haben den Glauben an den Einfluss von Nahrungscholesterin auf die Entwicklung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen gepredigt. Jahrzehnte später stellt sich raus: die Zufuhr von Cholesterin über die Nahrung bestimmt lediglich das Maß der Cholesterin-Eigensynthese des Körpers. Größeren Einfluss als die Ernährung auf das Risiko zur Erkrankung an Herz-Kreislauf-Krankheiten hat die allgemeine Lebensführung. Von allen Herzinfakt-Patienten, die mir in meiner Zeit als Ernährungsberater begegnet sind, haben nur zwei niemals geraucht. Kaum mehr haben jemals aktiv versucht, ihren Stress-Level durch Entspannungstechniken zu senken. Der einzige halbwegs sportliche Herzinfarktler hatte eine genetisch bedingte Herzschwäche. Ansonsten hatte ich ausgewiesene Fleischfresser genauso wie spätbekehrte Vegetarier vor mir, in der Regel aber hauptsächlich in ihren Ernährungsentscheidungen verunsicherte Menschen.

Die größte Erkenntnis der Ernährungswissenschaften in den letzten zehn Jahren war, dass sie sich hier geirrt haben. Nach und nach sind weitere „Wahrheiten“ dem aktuellen Wissensstand angepasst worden: erst kürzlich wurden die DGE-Empfehlungen zur Energiezufuhr als zu hoch erkannt, letztes Jahr kam man zur Erkenntnis, dass die gepredigten fünf Portionen Obst und Gemüse am Tag nicht nur kaum erreicht werden, sondern auch kaum etwas erreichen. Seit geraumer Zeit ist bekannt, dass der Einfluss von Kochsalz auf den Blutdruck so individuell ausfällt, dass er nahezu irrelevant ist. Und die Erkenntnis, dass Diabetiker-Lebensmittel das Leben von Diabetikern nicht vereinfachen, sondern gefährden, hat immerhin zu einem Verbot dieser Diätprodukte geführt. Seit Jahren wird Ernährungswissenschaftlern der BMI als objektives Entscheidungskriterium über die Notwendigkeit einer Interventionsberatung nahegelegt, obwohl er weder etwas über den Gesundheitszustand einer Person aussagt, noch überhaupt zur Beurteilung von Individuen geeignet ist. Der BMI, der vielen als handliche Rechtfertigung für Diskriminierung gilt, ist eigentlich ein statistisches Werkzeug, das größere Bevölkerungsgruppen vergleichbar machen soll. Dass Versicherungskonzerne den BMI benutzt haben, um die Höhe von Risikoaufschlägen bei Übergewichtigen zu klassifizieren, kann man dann auch gerade noch unter den Tisch fallen lassen.

Da liegt übigens schon die Tatsache, dass der Kalorienverbrauch und nicht etwa die Kalorienzufuhr den größeren Einfluss auf unseren Gesundheitszustand hat. Wer abnehmen will, muss sich bewegen. Natürlich kann man sich auch einfach runterhungern, dass das aber nicht besonders schlau ist, sollte sich mittlerweile rumgesprochen haben. Bewegung hält Gelenke geschmeidig, verhindert die Verkürzung von Sehnen, beugt Haltungsschäden und Schmerzen vor, regt die Ausschüttung von Glückshormonen an, verbessert die Nährstoff- und Sauerstoffversorgung aller Zellen und kurbelt ganz allgemein den Stoffwechsel an, um nur ein paar Effekte von Bewegung aufzuzählen. Eine Fixierung auf richtige oder falsche Lebensmittel allein kann das nicht. Für diese Erkenntnis und die daraus folgenden Konsequenzen braucht es aber auch keinen Ernährungs-, sondern einen Sportwissenschaftler.

Trotz allem bereue ich es nicht vollends, Ernährungswissenschaften studiert zu haben. Immerhin weiß ich dadurch, was ich von Ernährungsempfehlungen, von Diäten oder von den Segnungen der Lebensmittelindustrie zu halten habe. Andererseits ist dieses Wissen etwas überdimensioniert für die Beantwortung der Frage: „Soll ich die Chipstüte wirklich auf einmal leer essen?“
Ich habe den Vorteil zu wissen, was ich meinem Körper damit antue, wenn ich mir gesättigte Fettsäuren, Unmengen von Salz und Aromen sowie Kartoffelbestandteile fragwürdiger Herkunft reinpfeife. Aber sonst kann ich mit meinem Wissen niemanden retten. Keine Form von Ernährung kann uns vor dem Tod schützen, und viele Menschen sehen diese ihre Sterblichkeit als Entschuldigung dafür, ihre Ernährung eben nicht zu hinterfragen, um sich nicht den Tag zu vermiesen. Was soll man als Ernährungswissenschaftler da antworten?

Vielleicht, dass Essen auch immer eine psychologische Komponente und einen sozialen Anteil hat. Dass Essen, gerade gutes Essen, eine kulturelle Errungenschaft ist, und Genuss ein Grundbedürfnis des Menschen, dass aber die Dosis das Gift macht. Dass man im Grunde alles essen kann, wenn man sich gut fühlt dabei. Dass man sich vor allem aber nicht schlecht fühlen soll, wenn man mal eine Tüte Chips auf einmal leert oder eine ganze Tafel Schokolade verputzt. Nur wenn man einen Kontrollverlust feststellt, sollte man sich fragen, was man da offensichtlich kompensiert. Aber sich hier auf die Ernährung zu konzentrieren, hilft nicht weiter. Denn ein schlechtes Gewissen verursacht nur noch mehr Stress, den ja irgendwie auch keiner will.

Insofern rate ich jedem, der es hören will, und jedem, der es nicht hören will: Entspannen, nachdenken, weiterleben. Und sich lieber eine eigene Meinung bilden, als auf Experten hören. Auch nicht auf Experten wie mich.

Nächtens

Usus operi
April 23, 2015

Vielleicht nächtens wieder. Früher war das einfacher, da gab es kein Leben in Verpflichtungen, in Normen, in Regeln, auch nicht in selbstgemachten. Früher, da war eine andere Nacht, ein anderer Tag. Früher, das war eine andere Stadt, ein anderes Jahrzehnt, wahrscheinlich war ich ein anderer Mensch. Traurig sei ich geworden, sagte mir neulich der Freund, nein, mittlerweile der Mann. Traurig, so finde ich mich auch, und das hat nichts zu tun mit der anderen Stadt, mit der anderen Zeit, nichts mit dem Mann, weder mit dem, der nebenan schläft, während ich das hier tippe, noch mit dem Mann, der das hier tippt und gleichzeitig an den denkt, der er nicht mehr ist. Traurig, das bin ich vor allem, weil mir alle Koordinaten verloren gegangen sind, alle Richtungen, die ich einst kannte.

Als ich anfing, der traurige Mann zu werden, der ich jetzt bin, war alles so neu und aufregend, und ich so neugierig und aufgeregt. Jetzt, das ist dann eben doch über ein Jahrzehnt später, hat mich aus der Welt heraus eine Hoffnungslosigkeit ergriffen, die ich nur mit dem allgemeinen Übel erklären kann. Es Weltschmerz zu nennen, wäre zu kurz gefasst; ist Weltschmerz doch eine Traurigkeit über die eigene Fremdheit in der Welt, die eigene Entfernung zu allen anderen Lebenden, Fühlenden. Was mich aber ergriffen hat, ist ein Entsetzen darüber, was diese Welt, diese Zeit befallen hat, diese Entfremdung aller Menschen voneinander, ein Fehlen guten Willens und rechten Wollens. Was mich gefangen hält, ist Angst, unbegreifbare, unbenennbare, unauslöschliche Angst vor dem, was ist, was kommt, was bleibt.

Wovor, das hat der Freund, nein, der Mann vorhin gefragt, als ich sagte, ich wolle wieder bloggen, könne aber nicht vor lauter Angst; wovor also fürchte ich mich? Ich hätte doch nichts zu verlieren, ihn schon gar nicht.
Ich konnte es nicht erklären, kann es immer noch nicht richtig spüren, was wirklich der Grund für die Angst ist. Vielleicht, das ist ein Teil davon, erkenne ich über das erneute Bloggen, dass ich mich tatsächlich selbst verloren habe, dass ich all meine Ziele, all meine Träume verloren habe. Oder, das ist eine anderer Teil der Angst, muss ich zugeben, dass ich doch nicht schreiben kann, doch nicht talentiert bin, doch nicht geduldig genug, doch nicht geeignet für das letzte, was mir noch bleibt. Denn alles andere habe ich aufgegeben, um nur noch das zu tun: Schreiben.

Und so kann ich nicht schreiben, weil ich Angst habe, nicht mehr schreiben zu können. Ich kann nichts mehr sagen, weil ich Angst habe, nichts mehr sagen zu können. Nichts mehr zu sagen zu haben. Als sei alles, was ich einmal war, verloren und vergessen.
Oder ersoffen in meinem Selbstmitleid. Das ist das letzte meiner Hindernisse. Ich will nicht mein Selbstmitleid, meine Betroffenheit auswalzen vor Menschen, die ihr eigenes Leid, ihre eigenen Probleme, ihre eigenen enttäuschten Hoffnungen und geplatzten Träume haben. Meine Egozentrik ist nicht das, was ihnen fehlt. Vor allem aber ist es nichts, was irgendwen weiterbringt, vor allem nicht, denke ich dann reflexhaft, mich. Ich am wenigsten von allen Menschen will Mitleid haben, am wenigsten mein eigenes. Dabei ist das das einzige, was ich im Überfluss habe.

Wohin also wenden in dieser Nacht, die nicht die erste von vielen ähnlichen wird, sondern die einzige zwischen vielen, die anders sind, wohin wenden, wenn alles dunkel und weglos scheint. Vielleicht nirgendwohin, vielleicht ist das das Wunder, das ich erhofft habe: zu erkennen, dass nicht irgendwo mein Glück wartet, meine Erlösung und mein Frieden mit mir selbst, sondern, dass ich es dann erreiche, wenn ich aufhöre, dem Schatten nachzujagen, den es wirft. In mir selbst liegen meine Wahrheiten, meine Hoffnungen, meine Träume, vor allem aber meine Rettung. Erst dann, wenn ich anerkenne, vielleicht wieder erkenne, dass ich allein mich davon abhalte glücklich zu sein, kann ich mir auch wieder erlauben, ohne Angst zu sein. Und dann nicht mehr nächtens und in Erinnerung an das Früher zu schreiben, sondern im Licht eines neuen Tages.

Sturmauge

Bewerbe
März 8, 2015

Die Pfade in meiner Haut sind
Arme eines ausgreifenden Sturms.
In sich neigender Bahn zeichnen sie
meinen Sturz aus kreißender Zeit.

Zwischen den Horizonten
führen sie mich durch die Fremde
sich verschattender Tage
dem Ursprung der Stille entgegen.

Der unsichtbare Mensch

Pöm
Januar 21, 2015

Deiner angesichts
werde ich
lautlos, fühllos, körperlos

Im Auge meines Schweigens
verberge ich mich
angst- und zweifelvoll

Über meine Lippen
kommt kein Wort
aus meinen Augen
kein Gedanke

Eine Berührung nur
eine Umarmung

Ich falle
in Deine Arme
bin daheim
bin da.

Das Arrangement

Bewerbe
November 2, 2014

Wie immer ging ich hin, als sie mich riefen. Ich verteidige das nicht. Ich verteidige mich nicht. Ich hatte keine klare Vorstellung davon, was ich wirklich wollte. Vielleicht war es ein Impuls unbewusster Loyalität oder die Konsequenz eines dieser ironischen Zwänge, die in den Gegebenheiten der menschlichen Existenz lauern. Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht sagen. Aber ich ging hin. Ich ging hin, wie immer, wenn sie gerufen hatten. Nur dieses eine, dieses letzte Mal ging ich hin, um zu sterben.

Das erste Mal war ich sechzehn gewesen, mittelmäßiger Schüler, mittelmäßige Ziele, mittelmäßiges Leben. Ich war unauffällig, ein Niemand. Dass genau dieser Zug sie an mir reizte, erkannte ich erst Jahre später in der mittelmäßigen Frau. Auch in diesem Punkt verteidige ich mich nicht. Vielleicht verbot mir ein Impuls unbewusster Loyalität, das Arrangement je zu hinterfragen. Vielleicht verbot die Angst vor den Antworten alle Zweifel. Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht sagen.
„Komm mit uns“, sagten sie und natürlich ging ich mit. Sie drohten nicht, baten nicht, sie versprachen nichts. Wie der Herbst dem Sommer folgt, ging ich mit ihnen, weil es mir unmöglich war, nicht mit ihnen zu gehen.

Die Erinnerung an das Danach ist zerfallen in Fragmente: fremde Worte rauer Stimmen, metallene Kälte unter meinem nackten Körper, steife Finger auf meiner Haut, Stechen von Nadeln in meinem Fleisch. Darüber Dunkelheit, so dicht, so allverschlingend, so durchdringend, dass sie bis in mein Gehirn reichte. Ich erinnere mich an das endlose Schwarz und an das dann so plötzlich aufflammende Licht, das rotgoldene Leuchten eines Sonnenaufgangs, das mich und meinen Geist aufbrach und alle Dunkelheit vertrieb. Ich erwachte in meinem Zimmer, in meinem Bett, in meinen Kleidern, doch nicht mehr in meinem Körper. Der Körper, den ich trug, gehörte mir nicht mehr, ich hatte ihn verkauft.

Seit diesem Erwachen habe ich nicht mehr geschlafen. Manchmal nur überfällt für wenige Sekunden eine Dunkelheit meinen Geist, die eine Erinnerung an jenes erste Schwarz ist, und ich höre die Stimmen, spüre die Hände, fühle die Nadeln. Dann aber kehrt die Welt zurück, für Augenblicke noch überzogen mit dem Rotgold des Sonnenaufgangs.
Der weitaus größere Lohn für meinen Leib aber war das Wissen. Der mittelmäßige Schüler, der lieber aus dem Fenster als zur Tafel sah, kannte nun alle Antworten. Da niemand Verdacht schöpfen sollte, gab ich vor, mich langsam und durch Fleiß zu verbessern, bis ich schließlich als Jahrgangsbester die Schule abschloss, mit dem Angebot eines Stipendiums und eines Studienplatzes an einer amerikanischen Eliteuniversität in der Tasche. Natürlich lehnte ich beides ab, weder brauchte ich das Geld, noch sollte sich eine Universität mit mir schmücken. Zudem war kurz zuvor der zweite Teil des Arrangements in Kraft getreten. Sie hatten mich zu sich gerufen und ich war hingegangen.

„Wir haben einen Auftrag für Dich.“
Ich erinnere mich an meine Auftraggeber nicht. Ich könnte weder ihre Körper noch ihre Stimmen beschreiben. Ich kenne nicht einmal ihre Zahl. Ich weiß, dass mir alle Erinnerung an sie genommen wurde. Ich sollte nichts verraten können. Hätte ich aber jemals an meiner Loyalität gezweifelt, hätten sie es nicht zuvor getan? Ich kann es nicht sagen.
„Es geht um diesen Mann.“
Tadeusz Bobrowski. Ich erkannte ihn auf dem Bild, das sie mir zeigten. Der Spion auf der Flucht hatte eine Pressekonferenz angekündigt. Er wollte seine Kenntnisse mit der Welt teilen.
„Du weißt, was Du zu tun hast?“
Hatten sie mir nicht die Augen geöffnet, damit ich das Offensichtliche erkannte?
„Natürlich.“

Die Pressekonferenz fand nicht statt. Bobrowski war auf dem Weg dorthin in eine katatonische Starre gefallen, Hirnschlag vermuteten die Medien. Seine Bewacher, die ihn rund um die Uhr und sogar bis zur Toilette begleitet hatten, bekräftigten diesen Verdacht. Sie hatten versagt und so argumentierten sie mit den Gegebenheiten der menschlichen Existenz: „Tadeusz Bobrowski hat uns dafür bezahlt, ihn vor allen Gefahren zu schützen. Doch wie schützt man einen Menschen vor seinem eigenen Körper?“ Mich hatten sie nicht wahrgenommen, nur Bobrowskis Sturz, seine starren Augen, seinen offenen Mund. Er hatte nicht einmal mehr schreien können, so schnell war sein Geist der noch atmenden Hülle seines Körpers entrissen worden.

Bobrowski war der Erste von Vielen. Männer und Frauen, Junge und Alte. Selten waren die Menschen, in deren Weg ich gestellt wurde, prominent, die meisten wohl Kollateralschäden, zur falschen Zeit am falschen Ort. Auch das verteidige ich nicht, ich verteidige mich nicht. Ich zweifelte nicht an meinen Auftraggebern. Ich stellte das Arrangement nicht in Frage.
Denn ansonsten führte ich das, was man ein angenehmes Leben nennt. Das Wissen, das ich erhalten hatte, verhalf mir zu Wohlstand, ich war Journalist, Pressesprecher, Berater. Ich handelte mit Autos, Kunst, Immobilien, wahrscheinlich auch mit Menschen. Ich gebe zu, irgendwann entglitt mir die Übersicht, verlor ich die Lust daran. Besitz relativiert sich. Mit jedem Auftrag wurde mir deutlicher, dass nichts, was man besitzen oder lieben kann, davor bewahrt, mir zu begegnen.

„Wir haben einen Auftrag für Dich.“
„Es geht um diese Frau.“
„Du weißt, was Du zu tun hast?“
Nadja. Ein Sommer am See. Wasserperlen auf der Haut. Ihr silbriges Lachen. Unser erster Kuss. Die Nacht unter den Sternen. Wir waren sechzehn gewesen.
„Natürlich.“

Natürlich log ich.

Nadja zu finden, war nicht schwer. Sie hatte das kleine Haus und das enge Leben ihrer Eltern übernommen. Sie arbeitete in der Stadtverwaltung, ging einkaufen, spielte mit ihrer Tochter, liebte ihren Mann, fütterte den Hund. Ich folgte ihr mehrere Tage lang, beobachtete sie aus der Ferne, versuchte zu verstehen. Warum gerade sie?
Bei keinem Auftrag zuvor hatte ich mir diese Frage gestellt. Konnte es wirklich sein, dass meine Auftraggeber nicht von Nadja und mir wussten? Es gab nur eine Erklärung: sie wollten mich und meine Loyalität auf die Probe stellen. Sie wollten das Werkzeug prüfen, das sie erschaffen hatten. Allerdings würden sie feststellen müssen, dass das Werkzeug nicht ohne Fehler war. Dieses Mal würde ich versagen.
Ich saß in meinem Wagen gegenüber von Nadjas Haus, als ein Auto vorfuhr. Ihm entstieg eine mittelgroße Frau in einem schlichten Kostüm. Sie hatte keine auffälligen Gesichtszüge, trug keinen Schmuck, war dezent geschminkt. Bis auf den Koffer in ihrer Hand, der sie als Vertreterin einer Kosmetikfirma auswies, war ihre gesamte Erscheinung so unspektakulär und mittelmäßig, dass mir zweierlei bewusst wurde. Erstens erkannte ich, wie sehr diese Mittelmäßigkeit bei der Ausführung der Aufträge half. Darum also war ich ausgewählt worden. Zweitens erkannte ich, dass ich zu lange gezögert hatte. Nach mir war nun auch diese mittelmäßige Frau beauftragt worden, sich um Nadja zu kümmern.
Als die Frau das Gartentor öffnete, stieg ich aus. Als die Frau zur Haustür ging, rannte ich über die Straße. Als die Frau ihren Finger auf den Klingelknopf legte, griff ich nach ihrem Arm. Ein Glockenton. Die Frau sah mich an, in ihren Augen ein rotgoldener Schimmer und - ganz kurz nur - Neugier. Als Nadja die Tür öffnete, hielt ich noch immer den Arm der mittelmäßigen Frau umklammert, als hinge nicht das Gewicht eines leblosen Körpers daran. Dann ließ ich los und floh.

Ob ich danach eine Wahl gehabt hätte, weiß ich nicht. Ich kenne das Gefühl nicht, wählen zu müssen. Ich habe nie eine klare Vorstellung davon bekommen, was ich wirklich wollte. Seit die rotgoldene Sonne in meinem Geist aufgegangen war, war mein Leben einfach passiert, und alles schien richtig gewesen zu sein. Doch jetzt war die Welt aus den Fugen und ich hatte immer noch keine Vorstellung davon, was sonst ich hätte tun können.
Wie immer also ging ich wieder hin, als sie mich das letzte Mal riefen. Ich ging hin, um zu sterben.

Loslassen

Usus operi
Oktober 22, 2014

Als ich noch Teil einer Industrie zur Erschaffung schlechten Gewissens war, betrieb ich unter anderem Ernährungsberatung. Nicht nur begleitete ich Mütter bei der Umstellung ihrer Einjährigen vom Stillen mit Beikost zur normalen Ernährung, nicht nur beriet ich Sportler in Fitnessstudios, vor allem aber klärte ich Herz- und Herzinfarktpatienten darüber auf, was sie sich und ihrem Körper alles angetan hatten. Teil meiner Aufgabe war dabei nicht nur, eine Sensibilität für Qualität und Quantität von Lebensmitteln zu schaffen, sondern auch ein Gefühl für gesunde Lebensführung zu wecken, die aus dem harmonischen Dreiklang Ernährung, Bewegung, Entspannung besteht. Während Essen keinem Patienten schwer zu fallen schien, gab es beim Sport doch einige psychische und physische Hindernisse. Entspannung dagegen? Ein Fremdwort.

Entspannung gilt nicht viel in einer Leistungsgesellschaft. Entsprechend haben die Unentspannten für sowas keine Zeit. Hier ein Meeting, da ein Termin, Pausen sind für Luschen und selbst auf dem Klo kann man noch schnell eine Whatsapp-Nachricht schreiben. Und selbst bei jenen, die Entspannung betreiben, scheint sie oft auch kompetitiven Charakter zu haben, so sehr brüsten sich viele Entspannte mit ihren Fortschritten bei Pilates, Yoga und Tai Chi.
Dabei ist richtige Entspannung nicht nur hochgradig egozentrisch in ihrer Wettbewerbsverweigerung, sondern auch essentiell für Körper und Geist. Wir brauchen Ruhephasen, um uns zu erholen, um Kraft zu schöpfen für neue Aufgaben. Oder wie ich es gerne den arbeitswütigen Patienten mit auf den Weg gegeben habe: nur wer loslassen kann, kann auch zupacken.

Warum aber schreibe ich das? Weil der schlechteste Patient der Arzt ist. Seit Wochen oder seit Monaten, vielleicht und wahrscheinlich sogar seit Jahren gönne ich mir keine richtige Pause. Ständig muss ich denken, ständig schwanke ich zwischen Input und Output. Wenn ich nicht lese oder schreibe, sondern beispielsweise staubsauge (was so selten passiert, dass ich es eigentlich angemessen zelebrieren und genießen müsste), höre ich parallel ein Hörbuch oder einen Podcast. Beim Autofahren, in Konzerten, bei Spaziergängen springt mein hyperaktives Gehirn von einer Assoziation zur nächsten, gebiert Ideen im Sekundentakt. Ich kann nachts nicht einschlafen, weil ich in Gedanken Dinge entwerfe, die niemals gebaut werden können, denn wer sollte das tun? Ich habe dafür keine Zeit. Keine sieben Stunden später sitze ich schon wieder am Schreibtisch.

Ich habe, das bemerke ich langsam, ein Problem. Ich kann mich kaum noch konzentrieren, dass ich diesen Text geschrieben habe, ohne dazwischen dreimal aufzustehen, grenzt an ein Wunder. Doch selbst während des Schreibens driften meine Gedanken ab, verlieren sich in Erinnerung und Planung, in Angst und Hoffnung. Die Selbstzensur hindere mich, schrieb ich am Freitag. Es ist immer noch wahr. Könnte ich mich genug konzentrieren, ich müsste nicht an die Angst denken, gäbe der Zensur keinen Raum.
Das, was ich den von ihren Herzen Ausgebremsten gesagt habe, gilt auch für mich: ich muss lernen, nichts zu tun. Dinge geschehen zu lassen. Ich bin zwischen all meinen Projekten so ausgebrannt, dass ich kaum noch Kraft habe, sie zu beenden, geschweige denn für einen weiteren Schritt. Natürlich komme ich also auch nicht voran. Was also tun? Nichts, wirklich einmal nichts.

Ich kann das nicht. Ich versuche es. Selbst hier, im Nichtstun entdecke ich plötzlich etwas Leistbares, das ich aber gleichzeitig nicht leisten kann.

Was also tun?

Usus operi
Oktober 17, 2014

Seit der Abmahnung wäge ich jedes Wort, und im Zweifel schweige ich. Jeden Tag schreibe ich drei Sätze, jeden Tag lösche ich drei Sätze. Ich schweige, ich zweifle, ich wäge ab. Die Abmahnung hat mich nicht nur finanziell und menschlich getroffen, sie hat mich kreativ blockiert.

Über die Abmahnung selbst will ich mich nicht auslassen. Teils natürlich, weil mich ärgert, wie leicht vermeidbar sie gewesen wäre. Vor allem aber, weil ich Angst davor habe, mich ohne anwaltliche Beratung zu äußern. Angst vor den eigenen Worten ist beim Schreiben allerdings nicht zuträglich. Angst ist der schlechteste Ratgeber des kreativen Menschen.

Was also tun? Weiter schweigen? Gegen die Angst anschreiben? Fällt man vom Pferd, soll man wieder aufsteigen, weiterreiten. Doch was, wenn das Pferd sich zum Kaktus gewandelt hat oder zum bissigen Biest? Wäre dann nicht der Abdecker die bessere Option? Und so suche ich nach einem Weg zurück, schreibe drei Sätze, lösche drei Sätze. Wäge ab, zweifle, schweige. Der Ritt auf dem Kaktus der Selbstzensur ist eine elend lange und langsame Qual.

Frühlingssturm

Pöm
Juni 23, 2014

alle Uhren
stehen still

Vogelfederschlag
Blütenblätterwirbel
Regentropfenfall
Blitznarbenfirmament

wie dramatisch
denkst du und
wendest dich
doch nicht ab

still stehen
alle Uhren 

sie geht

Pöm
Juni 14, 2014

sie geht
sagt sie

mit gefiederten Schritten
als sei sie Vogel oder Engel
sie sagt
sie gehe durch die Wolken
wie Sonnenstrahl
ein Blitz
ein Donner
der Regen

durch die Zeiten
sagt sie
gehe sie
aus deiner Erinnerung
in deine Träume heraus

hinein
sie geht
sagt sie
sie geht

Inmitten

Pöm
Juni 3, 2014

Alles in Review.
Die Zeit heilt keine Wunden.
Die Zeit frißt alle Menschen auf.


Ich.
Nein.
Aber.
Ja.

Wo kein Ende, da kein Anfang.
Dort ein Überall.

Morgen vielleicht.
Vielleicht Morgen.

Vielleicht
inmitten
nie.

Selbstinventur reloaded

Usus operi
Juni 3, 2014

Trotzdem verweise ich, werde ich nach meiner schreibenden Arbeit gefragt, immer nur auf mein offizielles Blog, das deutlich weniger Beiträge hat als dieses hier. Ich schäme mich dessen, was ich tue. Ich habe Angst davor, jemand könnte entdecken, was ich hier aufgeschrieben habe, eine Angst, die ich schon vor fast genau drei Jahren formuliert habe:

Während des letzten Absatzes ist mir klargeworden, dass es nicht die schlechten Klassenkameraden sind, nicht die alten, treuen Freunde, nicht die guten Bekannten, nicht die entfernten Verwandten sind, deren Reaktionen ich fürchte, sondern dass es die Menschen sind, die mir noch am nähesten stehen: mein Freund und meine Eltern, von denen ich offensichtlich annehme, dass sie ein falsches Bild von mir haben, von meinen guten Eigenschaften, meinen schlechten Gewohnheiten, meinen unerreichten Träumen, meinen undefinierten Zielen. Gerade jene Menschen, die Seiten von mir kennen, die kein Freund von mir kennt und nicht einmal die eigenen Geschwister, gerade jenen Menschen unterstelle ich Unkenntnis meines Charakters, meiner Hoffnungen und meiner Scham.

Je länger ich darüber nachdenke, desto dümmer komme ich mir vor.
Gewöhnlich vergessen wir die Macht der Sprache, die vielleicht nicht Berge versetzen kann, aber zumindest doch den Glauben daran wecken, dass es möglich ist. Sprache ist zu alltäglich, zu sehr Werkzeug, als dass man bemerken würde, wie umwälzend sie wirken kann. Man hat ja auch nicht jederzeit vor Augen, dass die Sonne nicht etwa nur ein Licht ist, das unseren Alltag erhellt, sondern Leben erst ermöglicht und - in noch einigermaßen weit entfernter Zukunft - auch wieder auslöschen wird. So wie die Sonne nach der Langen Nacht wieder alle Lebensgeister aus ihrem Winterschlaf zieht, kann auch ein einzelnes Wort, ein einziger Satz dem Leben einen neuen Impuls, vielleicht sogar eine neue Richtung geben.
Wir erwarten diese Macht der Sprache nicht, das heißt aber nicht, dass es nicht möglich wäre.

Mitschiffs

Textualitäten
Juni 3, 2014

Ich bin irgendwo im Irgendwo.
"Im Nirgendwo" sagt man eigentlich, tatsächlich ist das Gefühl aber anders.
Denn ich bin mitten in meiner Geschichte, in der Geschichte, an der ich jetzt seit 2006 mit Unterbrechungen bastle. Ich habe schon mehrfach versucht aufzuhören in diesen Jahren, ich habe versucht, diese Geschichte zu leugnen, deren Entstehung aus mir heraus ich teilweise distanziert betrachten konnte, als handele es sich um etwas, das einem anderen Menschen passiert. Teilweise - und so ist es auch momentan - fühle ich wieder, wie die Geschichte mir zustößt.

Die Assoziation mit einem Unfall drängt sich nicht von ungefähr auf, es ist nicht so, als hätte ich derzeit eine Wahl. Mir fehlt der Austausch mit anderen Schreibern. Ich habe das Schriftstellerforum versucht, will aber nicht übers Schreiben schreiben, sondern sprechen. Telefonieren kommt aber bei so etwas Intimem wie Schreiberei nicht infrage. Daher weiß ich nicht, ob es anderen auch so geht wie mir: dass ich die Geschichte erzähle, als hätte ich sie anderswann schon gehört, gewissermaßen erzähle ich also nach.
Nur dass dieses Anderswann Bruchteile von Sekunden vorher war, die Erinnerung an die Geschichte schält sich direkt aus meiner meiner Erinnerung an etwas, das nicht war, bevor es in Worte gefasst habe. Eine seltsame Erfahrung ist das, und ich habe eine Vermutung, wie das psychologisch zu erklären ist, dadurch fühlt es sich aber nicht weniger seltsam an.

Derweil fühle ich mich, als wäre ich auf halbem Weg zwischen Hier und Dort. Dummerweise ist die tatsächliche Geschichte noch weit entfernt, ich finde in mir nur die Hintergründe für die Geschichte, Orte, an denen ich noch sein werde, Personen, die ich noch kennenlernen werde. Kurzgeschichten, die ich geschrieben habe, eine insgesamt unabgeschlossene Reise ohne Hinweis auf eine eventuelle Ankunft. 

Der Verlag. Lebensreise.

Von der Front
Juni 3, 2014

In der Mail stand, der Verlag suche nach interessanten Biografien, die man veröffentlichen wolle. Man sei dabei auf mich gestoßen und finde mich und meine Lebensreise passend für das Verlagsprogramm. Ob ich wohl Interesse hätte?
Was für eine dämliche Frage. Natürlich habe ich Interesse, mich veröffentlicht zu sehen. Welcher Autor will das nicht?
Allerdings bin ich skeptisch. Wieso sollten sich Texte, die elektronisch und kostenlos kaum Leserschaft haben, in Buchform verkaufen lassen? Warum sollte sich ein Verlag , warum ein Autor sich darauf einlassen?

Wie jeder, der sich nach einer Veröffentlichung sehnt, habe auch ich schon die Warnungen vor Zuschussverlagen und dubiosen Rechteverwertern zur Kenntnis genommen. Darf ich mich jetzt toll fühlen, weil ich endlich ins Visier der Kaltaquise eines zweifelhaften Unternehmens geraten bin?
Tatsächlich gehört der Verlag zur Omniscriptum GmbH & Co. KG und damit zur VDM Publishing Group, die laut Wikipedia nicht gerade das sympathischste Geschäftsmodell betreibt: die Print-on-Demand-Veröffentlichung von im Internet kostenlos verfügbaren Texten. Dazu zählen Wikipedia-Artikel ebenso wie Dissertationen. Mittlerweile hat man das Geschäftsmodell auch auf Blogs und Foren ausgeweitet, was praktisch ist, da dort Menschen angesprochen werden, die ohnehin Veröffentlichungsdrang besitzen. Und die dann auch mal gerne darüber hinwegsehen, dass ein Verlag sich üblicherweise den Regeln des Buchmarktes unterwirft und nicht allein Eitelkeit und kreativen Drang des Autors ausnutzt.
Denn für den Verlag erstellt der Autor Manuskript, Klappentexte und Cover, bevor er seine Veröffentlichungsrechte abgibt. Der Verlag listet dann im Gegenzug das Buch bei allen üblichen Großhändlern ein, was sicherlich eine nicht zu unterschätzende Arbeit ist.
Dann beginnt die Vermarktungsphase, die wohl vor allem daraus besteht, dass der Autor allen Freunden und Verwandten a) mitteilt, dass er ein Buch veröffentlicht hat, und b) erklärt, wie es zu dem relativ hohen Preis von beispielsweise 24,80 € für 116 Seiten über den Umgang mit der schweren Krebserkrankung kommt. Die Freunde und Verwandte werden dann das flüchtig redigierte Buch trotzdem kaufen, sich dann, wenn sie es gelesen haben, darüber ärgern, aber dem Autor niemals verraten, dass sie sein Buch für minderwertig und ihn selbst für leichtgläubig halten.
Oder schlimmer: dass sie Mitleid mit ihm haben, dass seine Leidensgeschichte ausgenutzt wurde.

Die Entscheidung gegen den Verlag fiel schon im zweiten Satz der ersten Mail, insofern laufe ich hier ausnahmsweise mal nicht Gefahr, Opfer zu werden. Was mich tatsächlich an der ganzen Geschichte so stutzig macht, ist der Umstand, dass die Texte aus diesem Weblog tatsächlich das Einzige sind, was auch nur annähernd veröffentlichungsfähig ist.
All meine anderen Projekte befinden sich in einem so miserablen Zustand, dass ich von Manuskripten nicht sprechen kann, ohne das Gefühl zu haben, dass ich sogar mich selbst belüge.
Was also will ich mit dem Schreiben tatsächlich erreichen?
Regelmäßige Blogbeiträge?
Eigentlich ja nicht.
Trotzdem habe ich nichts anderes vorzuweisen, nichts was widerspiegelt, was ich eigentlich schreiben wollte. Vielleicht habe ich deswegen meine Blockade und meine Unzufriedenheit mit meinem Schreiben, vielleicht komme ich deswegen nicht voran, weil die Richtung einfach nicht stimmt.
Mancher wie beispielsweise ein bauchpinselnder Verlag sieht das als interessante Biografie, ja als Lebensreise, dieses Straucheln und Stolpern durch den Dschungel der Prokrastination. Ich kann mich dem nicht anschließen. Ich finde das weder interessant noch betrachtenswert.
Am liebsten würde ich mich, wäre es nicht mein Leben und nur Tourist auf dieser Reise, abwenden und mein Geld zurückverlangen. So aber bin ich wohl selbst in der Pflicht, mein Leben aufzuräumen und mir endlich die interessante Biografie zu verschaffen, die ich auch selbst gerne veröffentlichen würde.

Ewigkeiten

Pöm
April 14, 2014

wie lang
denkst du
ist lang
genug

Und noch ein wenig später

Von der Front
Januar 9, 2014

Seit ich gekündigt habe, seit ich dieses neue Kapitel in meinem Leben aufgeschlagen habe, das da nicht einfach nur zermürbende Arbeitslosigkeit sein soll, strebe ich mehr als bisher auch eine bewusste Neuorientierung an. Also versuche ich aus der vermeintlich arbeitslosen Zeit einen aufgabenerfüllten Alltag zu stricken, mit dem ich zufrieden sein kann, wenn ich abends ins Bett gehe. Eines habe ich im Unterschied zu meinen vorigen Zeiten der Arbeitslosigkeit dabei schon erkannt: dass ich keinem sozialversicherungspflichtigen Job nachgehe, heißt nicht, dass ich keine Aufgabe im Leben hätte.

Tatsächlich habe ich mich mittlerweile schon so weit geordnet, dass ich das, was ich früher nur insgeheim lieber als alles andere gemacht hätte, auch tatsächlich vor alles andere stelle. Nach einer überraschend kurzen Umgewöhnungsphase, die ich (ungewöhnlich offen für meine früheren Verhältnisse) Anderen gegenüber als "mittlere Lebenskrise" vorstelle, habe ich mich in einen neuen Trott eingeordnet: Ich stehe um 6 Uhr 30 auf, sitze ab 7 Uhr am Schreibtisch und werkele bis 18 Uhr 30 vor mich hin.
Bis Mitte Dezember bestand das Werkeln überwiegend aus Mikroblogging bei tumblr, bis die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens selbst mir klar wurde. Seither konzentriere ich mich wieder zunehmend auf die Geschichte, die ich rund um den Jungen am Abgrund einmal entwickelt habe. Und obwohl ich immer noch keine richtigen Ergebnisse habe, keinen neuen zusammenhängenden Text, habe ich mittlerweile vieles Neue entdeckt, habe Hintergründe ausgearbeitet, die mir gefehlt haben, habe dem Plot Raum zur Entwicklung gegeben. Und doch bin ich nicht zufrieden mit meinem Fortschritt. Und dank Günter weiß ich auch wieso. Günter hat in den verlorenen Kommentaren zu Noch später gefragt, was ich erfahren möchte, was ich für mich mit "Was will ich erreichen?" übersetze.
Wahrscheinlich hat er nicht bezweckt, mich mit seiner Frage zu verunsichern. Tatsächlich aber habe ich die letzten Tage kaum ein Wort zu Papier gebracht, weil an der Frage, wozu ich das eigentlich mache, kein Weg vorbeiführte. Es ist die Frage nach dem Sinn meines Tuns. Also nicht die Frage, die bisher meine war: Was will ich?
Denn was ich will, ist mir schon lange genug klar: Schreiben.
Nicht mehr, nicht weniger.
Wenn ich den ganzen Tag Wort an Wort gereiht habe, bin ich glücklicher als bei so ziemlich allen anderen Tätigkeiten, die ich im Leben ausprobiert habe. Das erklärt eine Menge, auch die Zweck- und Ziellosigkeit, mit der meine Texte in meine verschiedenen Blogs geflossen sind. Es wird auf Dauer aber nicht genug sein, denn die Frage, was ich will, verknüpft sich, wenn ich mal über den engen Radius dieses einen Wortes "Schreiben" hinausgehe, schnell mit der Frage, warum ich das will.

Was also will ich mit dem Schreiben erreichen?
Spontan habe ich geantwortet, ich wolle mich selbst (und vielleicht die Welt) verstehen. Doch die Frage und meine unzureichende Antwort haben mich nicht in Ruhe gelassen. Denn im Grunde müsste ich, um zu schreiben, nicht veröffentlichen. Ich hätte keines meiner Blogs beginnen müssen, ich hätte weiterhin Ordner um Ordner mit ungelesenen Texten füllen können. Und doch habe ich mich anders entschieden.
Tatsächlich will ich veröffentlichen, tatsächlich will ich gelesen werden und natürlich will ich auch Zuspruch und Aufmunterung erfahren. Dafür reicht aber das stiefmütterlich behandelte Blog nicht aus, dafür braucht es größere Anstrengungen und vor allem eine neue Form des Schreibens und Veröffentlichens.

Darum beende ich meine Selbsterkundungsreise an einem Punkt, von dem ich eine gute Aussicht habe auf das, was ich kann und bin. Ich kündige hiermit etwas an, auf dessen Einlösung wir alle wahrscheinlich einige Zeit warten müssen: die Umstrukturierung dieser Seite weg von einer pseudo-literarischen Konkurrenzveranstaltung hin zu einem Werkzeug für die Erstellung des Buchs. Wie das konkret aussehen kann und wird, weiß ich noch nicht, vielleicht führt die Konzentration auf die Geschichte auch zu einem kompletten Verzicht auf diesen Schauplatz.
Wenn ich dadurch das Buch fertig bekomme, ist es das wert.
Falls ich an mir scheitern sollte, kehre ich zurück.

Gesellschaft, Gewalt, Hölle, Hoffnung

Von der Front
Januar 8, 2014

Heute ist in der ZEIT ein Interview mit dem einstigen Nationalspieler Thomas Hitzlsperger erschienen, in dem er sich als homosexuell outet. Zwar erst knapp nach dem Ende seiner Zeit als Profi-Fußballer, aber immerhin. Dass er es überhaupt tut, ist begrüßenswert und ermutigt vielleicht auch Andere, die fälschlicherweise der Ansicht sind, im Profisport müsse man seine sexuelle Orientierung verstecken. Denn diese Menschen, die sich ständig im Wettstreit mit anderen befinden, fechten damit noch einen Kampf mit sich selbst aus. Einen Kampf, der so viele Kräfte bindet, dass man sich kaum vorstellen mag, was diese Menschen erreichen könnten, wenn sie nicht ständig Kraft dabei vergeudeten, nicht sie selbst zu sein.
Leider sind einige der Sorgen homosexueller Profisportler berechtigt. Es gibt immer noch körperliche und verbale Gewalt, die sich gegen nicht-heterosexuelle Menschen richtet und die ein Ausreißen aus einer Norm bestraft, die willkürlich geschaffen wurde. Es gibt diese Gewalt ebenso wie die Überzeugung, Schwule und Lesben kämen in die Hölle.

Diese Hölle gibt es wirklich, doch ist sie kein jenseitiger Ort der Qual, sondern ein Ort zwischen den Menschen. Wer Glück hat, geht hindurch und erstarkt. Wer Pech hat, verliert sich und trägt die Narben für immer in sich. Jeder, der einmal sein Selbst- und Weltbild verloren hat, kennt diese Hölle und weiß, welch schmerzhafter und qualvoller Prozess Selbsterforschung sein kann.
Oft kommt diese Qual von innen, von der Schwierigkeit, sich selbst wiederzufinden in einer Welt, deren willkürlicher Norm man nicht mehr entspricht. Plötzlich werde ich, der ich mich immer als Teil der Gesellschaft sah, zum Außenseiter gemacht. Wohlgemerkt: ich werde zum Außenseiter gemacht, ich wähle diesen Zustand nicht selbst oder bewusst. Ich trage in den Augen der Gesellschaft plötzlich eine Andersartigkeit an mir, die es abzulehnen gilt und mit der ich mich auseinandersetzen muss. Im günstigen, also seltensten Fall kann ich sie akzeptieren, kann mich also selbst annehmen und sagen “Ist eben so” und unbesorgt weiterleben.
Im ungünstigsten, weit häufigeren Fall kann ich mich nicht akzeptieren, kann nicht ertragen, dass ich nicht mehr der Norm entspreche oder der Gesellschaft angehöre. Wie könnte ich dann anders als mich und meine offensichtliche Fehlerhaftigkeit zu hassen? Wie könnte ich dann anders als gegen mich zu kämpfen, mich zu zerreißen, im schlimmsten Fall: mich zu zerstören?
Das ist die Hölle, in die Homosexuelle kommen, und diese Mischung aus Unsicherheit, Angst, Selbsthass, und Hoffnungslosigkeit ist weit schlimmer als alle körperliche Gewalt. Es wäre Aufgabe der Gesellschaft zu verhindern, dass diese Hölle sich in einer Seele auftut. Tatsächlich aber weitet sie sich jedes Mal, wenn beispielsweise Politiker (wie kürzlich Norbert Blüm) von “traditionellen Werten” und damit gegen eine Gleichstellung sprechen. Jedes Mal, wenn sich ein Mensch aus Angst vor Entdeckung seiner Geheimnisse für ein Leben in Angst entscheidet, wird die Hölle stärker. Jedes Mal, wenn ein schwuler Jugendlicher keinen anderen Ausweg aus seiner Hoffnungslosigkeit sieht als den Freitod, hat die Hölle gewonnen.

Was diese “traditionellen Werte” angeht: die Keimzelle der Gesellschaft ist nicht die Familie. Die Keimzelle jeder Gesellschaft ist Mitgefühl und das Anerkennen, dass alle Teilnehmer der Gesellschaft unabhängig von Geschlecht, Sexualität, Glaube, Hautfarbe oder Alter Menschen sind und dass sie alle die gleichen Rechte haben. Der amerikanische Autor und Regisseur Joss Whedon gilt vielen als Feminist, weil er anders als andere Autoren und Regisseure in seinen Serien Frauen nicht nur nicht schwächer, sondern im Gegenteil oft stärker als Männer porträtiert. Tatsächlich lehnt er diese Einstufung als Feminist für sich selbst ab, denn er sagt: “Entweder glaubt man daran, dass Frauen Menschen sind, oder man glaubt es nicht.” Und so ist es auch bei der Inklusion von Andersheiten. Entweder glaubt man, dass Homosexuelle Menschen sind, oder man glaubt es nicht. Es gibt keinen Mittelweg, keinen “fuzzy middle ground”, wie Joss Whedon es nennt.
Jeder Politiker, der sich der kompletten Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften mit ungleichgeschlechtlichen verweigert, verweigert Homosexuellen das Recht, Mensch zu sein. Oder, allgemeiner: Jeder, der sich der Gleichstellung von Andersheiten mit der Mehrheit verweigert, verweigert Menschen das Recht, Mensch zu sein. Jeder, der von “traditionellen Werten” spricht und die Bevorzugung der heterosexuellen weißen männlichen Oberschicht meint, befördert Diskriminierung, Gewalt und Unmenschlichkeit. Jeder Mensch, der anderen Menschen die Anerkennung ihrer Menschlichkeit verweigert, befördert den Zerfall der Gesellschaft und die Bildung von Parallel- und Schattengemeinschaften.

Das können wir uns aber nicht mehr leisten. Wir stehen als Weltgesellschaft vor ungeheuren Aufgaben. Der Klimawandel, die Endlichkeit der Rohstoffe, das Feuer im Nahen Osten, die wachsende Ungerechtigkeit innerhalb und zwischen Gesellschaften, Staaten und Kontinenten: das sind die wahren Herausforderungen, dafür brauchen wir unsere Kraft. Wir können es uns nicht leisten, auch nur einen einzigen Menschen zu verlieren an den Hass und die Hölle.

Ich setze Hoffnung auf Menschen wie Thomas Hitzlsperger oder Tom Daley, der neulich sagte, dass er seit geraumer Zeit eine Beziehung mit einem Mann führe. Ich hoffe auf Menschen wie Lily Tomlin, die kürzlich ihre Partnerin geheiratet hat, und auf die neue Umweltministerin Barbara Hendricks. Ich hoffe auf Menschen, die offen schwul, lesbisch, bi, trans oder asexuell sind, und ich hoffe, dass es irgendwann überflüssig ist, sich für irgendein Label entscheiden zu müssen. Ich hoffe auf Menschen, die es sich nicht nehmen lassen wollen, Mensch zu sein.

Noch später

Von der Front
Dezember 9, 2013

Das dritte Mal seit meinem Studium bin ich arbeitslos. Ich habe nach dreieinhalb Jahren als Käseverkäufer im Biomarkt gekündigt.

Wenn ich das erzähle, schwanken die Menschen zwischen zwei Fragen: Warum? Was jetzt?
Gekündigt habe ich, weil ich weder die Kundschaft noch die Geschäftsführung länger ertragen habe. Kunden, die immer wieder komplexe Beratung wünschen, aber dann doch nur jungen Gouda kaufen, sind nicht das Zielpublikum für einen Ernährungswissenschaftler. Und eine Geschäftsführung, die so lange bremst und blockiert, bis man selbst die Lust auf Veränderung verloren hat, bekommt sicherlich auch nicht den Preis für den Arbeitgeber des Jahres.
Gekündigt habe ich vor allem aber, weil ich mich über mich selbst geärgert habe. Über mich und meinen Masochismus, dieses Spiel, immer mal wieder mit einem Versprechen auf Änderung hingehalten zu werden, nur um dann doch wieder enttäuscht zu werden, so lange mitzumachen. Als sich die Zeichen meines Unmuts selbst von der Geschäftsführung nicht mehr ignorieren ließen, gaben sie endlich nach. Aber zu spät: ich hatte keinen Funken Motivation mehr übrig.
Ich habe versucht, mich irgendwie einzubringen, aber wusste nicht mehr, wozu das überhaupt gut sein sollte.
Also habe ich gekündigt, wenngleich ich mich sicherlich auch wegen Burnouts hätte krank schreiben lassen können. Gekündigt habe ich natürlich auch, damit ich mich wieder mehr um meine Projekte kümmern kann. Doch seit ich nicht mehr zur Arbeit gehen muss, sitze ich hier und denke: gleich fange ich an.
Gleich, nachdem ich das Bett bezogen habe.
Gleich, nachdem ich dieses Musikvideo gesehen habe.
Gleich, nachdem ich alle Harry-Potter-Hörbücher gehört habe.
Gleich, nachdem ich den ganzen November lang aus dem Fenster gesehen habe.

Glücklicherweise muss ich nichts tun. Der Freund und ich haben geheiratet, ich bin über ihn familienversichert, und er sagt: "Solange du glücklich bist, musst du nicht arbeiten. Wenn du aber das Gefühl hast, dass dir arbeiten besser bekommt als Arbeitslosigkeit, dann geh arbeiten."
Aber was ist Glück? Ich weiß, dass ich es im Sommer hatte, ich habe darüber geschrieben, also muss es wahr sein. Ist Glück, den ganzen Tag zuhause zu sitzen, auf tumblr Bilder an sich vorbeiziehen zu sehen und zu denken: gleich werde ich kreativ? Ist Glück, am Fenster zu stehen und auf die hektischen Menschen zu schauen, die alle noch unglücklicher aussehen als mein Spiegelbild? Ist Glück, alte Texte als Beweis von Kreativität zu lesen?
Ich habe eine Ahnung davon, was ich tun will, aber ich bekomme keine Priorität hin, ich finde nicht einmal mehr meinen alten pathetischen Tonfall wieder. Selbst eine Geschichte wie Später könnte ich derweil nicht schreiben. Ich bin vollkommen unkonzentriert, unpriorisiert, getrieben allein von dem Verlangen, am Ende eines Tages nicht einfach nur nichts getan zu haben. Ich versuche derweil zurückzukommen in einen Trott, der mich zum Schreiben bringt, der mir meine Stimme wiedergibt, der mich die Geschichte wieder fühlen lässt.
Wie lange das dauert?
Wir werden sehen.

Später

Bewerbe
Dezember 4, 2013

Später, einen Tag, einen Monat, ein Jahr später. Die Zeit verliert sich im Starren aus Fenstern, im Hoffen auf Wunder. Die Zeit ist vergangen vor Langeweile. Sie wartet nicht mehr darauf, dass Du erwachst, die Augen öffnest, siehst, was vor Dir liegt. Die Zeit ist fort. Zurück bleibst Du mit leeren Händen, leerem Herzen. Nichts kehrt je zurück, denkst Du und weißt, dass es stimmt und doch nicht stimmt. Wie alles eine Wahrheit ist und gleichzeitig eine Lüge. Deine Wahrheiten sind Nebel, der aus fernen Bäumen steigt. Deine Lügen sind sinnloses Paddeln in der Mitte des Meeres. Der nächste feste Boden, die einzig erreichbare Wahrheit ist der Grund unter Dir und den wirst Du nicht lebend erreichen. Verloren bist Du. Schlägst nur aus Trotz noch mit den Beinen. Gib auf, lass Dich sinken, atme aus, sieh den Luftblasen zu, die von Dir fort, von der Dunkelheit fort aufsteigen ins ferner werdende Licht. Nichts kehrt zurück, ist der vorletzte Gedanke. Der Schmerz in den Lungen überwältigt Dich, und dann ist da - ganz kurz, zu spät - die alte Angst, die Dich am Leben halten will. Du öffnest den Mund. Wasser, salziges, kaltes Wasser füllt Deinen Rachen, Deine Lungen. Das letzte, woran Du denkst, ist der Geschmack von Tränen.

Du hast wieder geweint im Schlaf. Die Kissen aus dem Bett geworfen. Dein Körper verfangen in der Decke. Alles tut weh. Jede Bewegung. Das Licht. Die Laute der Straße, Autos, Menschen, Baustellenlärm. Alles beißt sich in Deinen Körper. Schließt Du die Augen, spürst Du noch die Wellen wogen in Deinen Lungen. Spürst das lichtlose Dunkel, in dem irgendwo richtiger, fester Grund sein muss, unzählige Faden tief. Du kannst nur liegen, an das Wasser denken und an die Angst, niemals mehr irgendwo anzukommen, da Du atmen kannst, leben kannst ohne den Geschmack von Salz auf den Lippen. Dann steigt erneut alles empor in Dir. Die Wellen werden wütender Sturm und ziehen Dich wieder hinab. Du kannst nicht anders als versinken.

Später, Jahre später, Tage später, immer noch tanzen Flecken vor Deinen Augen, wenn Du den Kopf zu schnell drehst. Jemand spricht. Du stehst Du am Fenster. Siehst hinaus. Willst das Dunkel nicht mehr spüren, auch wenn es Dich Deinen Grund kostet. Die Narben auf Deinen Armen, wo das Meer herausbrach, sind noch nicht verheilt. Die Stimme sagt wieder etwas. Du siehst aus dem Fenster. Legst Deine Stirn an das Glas. Kaltes Glas, das unter Deiner Berührung langsam warm wird. Nicht unangenehm ist das, aber kalt war besser. Kalt ist immer besser.
„Was sehen Sie?“ Die Stimme gibt nicht auf. „Menschen. Meer. Autos.“ Vor dem Fenster ist leerer Park. Herbst hat die Blätter von den Bäumen genommen. Du siehst nicht hin. Schließt Deine Augen. Versuchst irgendetwas zu fühlen, das nicht Glas ist, aber da ist nichts. „Was sehen Sie wirklich?“ Als ob das jemanden interessierte. Als ob das wichtig sei, als ob irgendetwas wirklich sei. „Ich weiß, Sie glauben, ich wäre hier, um Sie zu quälen, zu überwachen oder um herauszufinden, ob Sie verrückt sind. Ob wir Sie hierbehalten sollen.“ Die Stimme wird leiser, geht im anschwellenden Rauschen des Meeres unter. Du spürst das Ziehen Deiner Fingerspitzen am Schorf der Wunden. „Ich bin hier, um Ihnen zu helfen.“ Wo ist der tiefe, dunkle Grund? Du fällst. Das Meer ist dunkler diesmal, nicht graugrünes Blau, sondern rostiges Braun. Herbst, denkst Du noch, dann fließt wieder Schwärze über Deine Augen und trägt Dich fort.

„Wie geht es Ihnen heute?“ Es ist ein Mann. Jetzt erst, Wochen später siehst Du, es ist ein Mann. Er hat kurzes braunes Haar, an den Schläfen leicht grau. Falten um die Augen, die er sich ins Gesicht gegraben hat, damit Du denkst, er lache viel und sei freundlich. „Sie sind ein Mann.“ Er lächelt nicht, sagt nichts,  wahrscheinlich wusste er es schon. Er schreibt etwas auf. „Beantworten Sie bitte die Frage. Wie geht es Ihnen heute?“ Er schreibt alles auf. Wenn Du nichts sagst, schreibt er eben das auf. Um sich nicht zu langweilen vielleicht. Um das Kratzen des Stiftes auf dem Papier zu hören und nicht das Brüllen des Sturms in seinem Kopf. „Hören Sie das auch?“ Er antwortet nicht. Vielleicht hört er den Sturm nicht, nicht Deine Frage. Vielleicht ist das Kratzen des Stiftes lauter als Deine Stimme. Vielleicht interessiert er sich auch nicht für Dich. „Wie geht es Ihnen heute?“ Seit Wochen geht das so. Du legst Dein Gesicht in Deine Hände. Kalt sind sie. Eiskalt wie das Meer. Bevor die Handflächen Deine Augen bedecken, fangen die Narben Deinen Blick. Rote lange Striemen. Du hältst die Luft an. Spürst, wie Übelkeit in Dir aufsteigt bei der Erinnerung an das Weiß der Knochen unter der Haut. Das Weiß, das so lange zu sehen war, bevor Blut floß, Minuten, Stunden, Jahre vielleicht. Das Weiß hat sich in Deine Netzhaut gebrannt. Selbst jetzt, da Du die Handflächen gegen die Augen drückst, siehst Du es vor Dir, bar allen Fleisches. Das Weiß vor dunklem Grund. Dann wirst Du ohnmächtig.

Später lassen sie Dich gehen. Das Rot der Narben ist ausgeblichen. Das Tosen der Brandung ist dem Schlagen Deines Herzens gewichen. Du hast ihnen von Deiner Leere erzählt. Vom Dunkel, das in Dir schläft. Du hast behauptet, das Meer zähmen zu können. Hast gesagt: „Ich will leben.“ Hast gespürt, dass es eine Wahrheit ist, vielleicht Deine. Sie haben Dir geglaubt. Der Mann mit den grauen Schläfen hat es aufgeschrieben.
Irgendwann glaubst auch Du die Lüge. Willst sie glauben. So wie die Menschen an dem Ort sie glauben wollen, wird Dir klar. Sie wollen sie wie ihre eigenen Lügen glauben, damit sie glücklich sein können. Was ist das für ein Leben, denkst Du. Zu wissen, dass nichts wiederkehrt. Trotzdem weiterzugehen, das Dunkel im ungeschützten Rücken. Zu hoffen, dass die wiederkehrende Flut Dich nicht doch noch verschlingt. Aber wenn es macht, dass sie aufhören, Dich zu fragen, wie es Dir geht, dann überzeugst Du sie davon, dass alles gut ist, dass das Meer sanfter geworden ist, dass der ferne Grund nicht mehr an Dir zieht. Eine schöne Vorstellung ist das. Eine schöne Vorstellung, die Du da gegeben hast. Fehlt nur der Applaus. Fehlt nur der sich senkende Vorhang.

Später, Sekunden oder Monate später wird es zum wiederholten Mal Herbst. Du hast eine Arbeit gefunden, die nichts in Dir berührt. Menschen sind da, die kommen und gehen, mit Dir sprechen wie mit Haustieren oder Kindern. Wie sie alle gedankenlos reden und nichts sagen. Du packst Deine Sachen. Willst fort von den Menschen, die so sehr überall sind. „Was machst Du heute abend noch?“ Die Frage erschreckt Dich, keiner der Menschen hat bislang so mit Dir gesprochen. Als ob wichtig sei, was Du antwortest. Dass Du antwortest: „Nichts. Nach Hause. Schlafen.“ Du ziehst die Jacke an. Schulterst die Tasche. Gehst, doch der Mensch kommt mit. „Ich dachte. Vielleicht möchtest Du. Könnten wir. Vielleicht. Was meinst Du?“ – „Was meinst Du?“ Es interessiert Dich nicht. Du willst nach Hause, willst das erste Mal wirklich nach Hause. Während der Mensch immer noch spricht, läufst Du schneller. Änderst die Richtung, nur fort vom Menschen, doch der Mensch folgt. „Warte, ich bringe Dich heim. Wo wohnst Du?“ Du drehst Dich nicht zum Menschen um. „Nein. Danke. Nirgends.“ Du rennst bald. Spürst Deinen Puls. Dein Herz. Deine Lungen. Du fliehst weiter. Schließlich, endlich, bist Du wieder allein, weißt nicht wo, irgendwo, auf der falschen Seite der Gleise. Du hörst das Rauschen wieder. Angst vor dem Dunkel steigt auf, doch es ist nur der Zug, der bald den Bahnhof erreicht. Dein Zug. Du fängst wieder an zu laufen. Du rennst wieder, Du rennst quer über die Gleise.

Leg noch nicht auf

Von der Front
Dezember 3, 2013

Im Februar 2012 rief sie mich an. Nachdem wir eine halbe Stunde über das letzte halbe Jahr der Funkstille zwischen uns gesprochen hatten, sagte sie: Wolfgang, leg noch nicht auf. Ich brauche Deine Hilfe.

Kennengelernt habe ich sie 2005 in einem Seminarhotel, sie arbeitete dort als Putzfrau, ich war Praktikant. Sie habe eine Tochter in meinem Alter, erzählte sie mir an einem meiner ersten Tage und, als sei auch ich ihr Kind, schloß sie mich in ihr Herz. Wenn ich ihr morgens auf dem Weg vom Hotelzimmer zu meinem Büro über den Weg lief, sprachen wir immer kurz miteinander oder winkten uns zumindest zu. Ich freute mich immer schon darauf, denn ihre gute Laune war so ansteckend, dass ich den ganzen drögen Arbeitstag davon zehren konnte. Als nach drei Monaten mein Praktikum endete, verweigerte sie mir einen Abschied, damit ich gezwungen sei, wiederzukommen.

Tatsächlich kehrte ich erst drei Jahre später zurück. Nach meinem Studium stellte mich das Seminarhotel für ein Jahr ein. Es war, als wäre ich nie fort gewesen. Da ich jetzt kein Zimmer mehr im Hotel hatte, kam sie jeden Tag zu einem kleinen Schwatz in mein Büro, bevor sie nach Hause ging.
Natürlich haben wir keine tiefschürfenden Gespräche geführt, meistens redeten wir über die Arbeit oder das Wetter. Und dann wieder gab es Momente wie diesen: Kolleginnen hatten über sie, die allen half, die für alle ein freundliches Wort und ein Lächeln hatte, gesagt, sie sei faul und nachlässig, lästere andauernd und mische sich überall ein. Als ich sie fand, kniete sie neben dem laufenden Staubsauger auf dem Boden, sie zitterte und konnte kaum aufhören zu weinen.
Ich beruhigte sie, so gut ich konnte. Doch obwohl sie bald danach wieder zu ihrer alten Fröhlichkeit und Stärke zurückgefunden zu haben schien, ahnte ich, dass ihre Kraft nur scheinbar war und die Freundlichkeit, mit der sie den Kolleginnen begegnete, nicht mehr echt. Vor allem aber und bis heute erschütterte mich ihre plötzliche Schwäche, eine so überfordernde Kraftlosigkeit, dass sie auch mich ergriff. Ich habe schon immer Angst vor der Schwäche Anderer gehabt, teils natürlich, weil sie mich zur Stärke zwingt, vor allem aber, weil sie mein naives Bild der Anderen zerstört, sie seien so eindimensional, dass sie immer freundlich, immer fröhlich, immer lustig, immer nett sein könnten. Es ist wohl eine besondere (und verbreitete) Form der Egozentrik, anderen Menschen keine Tiefe zubilligen zu wollen, um sich nicht mit ihnen oder ihren Problemen und Gedanken auseinandersetzen zu müssen. Es ist vor allem eine Egozentrik, deren Kosten sehr hoch sind, da man erst im Rückblick erkennt, wie viel man versäumt hat.

Am meinem letzten Arbeitstag habe ich sie lange gesucht. Wieder wollte sie mir den Abschied verweigern, doch ich wusste, ich würde nicht zurückkommen. Sie war gleichzeitig traurig und wütend, und obwohl ich ihr versprach, wir würden uns regelmäßig treffen, wussten wir beide, dass das den endgültigen Abschied nur hinauszögerte.
Wir gingen noch ein paar Mal zusammen essen, bevor der Kontakt abriss. Das geschieht mir manchmal, und ich schäme mich dafür. Dass ich Menschen, an denen mir liegt, nicht aus der Ferne sagen kann, wie sehr sie mir fehlen. Dass ich mir wünschte, wir könnten uns häufiger sehen. Dass ich an sie denke, selbst wenn wir uns gar nicht sehen. Dass ich darauf vertrauen muss, dass es anderen Menschen ebenso geht: dass auch sie sich nicht melden und es furchtbar finden.

Im Februar 2012 sagte sie zu mir: Wolfgang, leg noch nicht auf.
In ihrer rechten Brust war ein ungewöhnlich aggressiver Tumor gefunden worden.
Ich brauche Deine Hilfe.
Ich spürte die Angst wieder aufkommen. Die Angst davor, diese Frau, die ich kaum anders als stark und fröhlich gekannt hatte, schwach zu sehen. Ich hatte Angst vor meiner eigenen Schwäche in ihrer Gegenwart. Ohne zu zögern sagte ich: wenn ich helfen kann, helfe ich natürlich.
Was sie noch essen könne, wenn sie in die Chemotherapie ginge, wie sie sich ernähren solle. Der Arzt habe etwas gesagt, aber sie habe nicht zuhören können, nicht zuhören wollen, sie habe nur noch Krebs gehört und Tumor und Chemo und nur noch an den Tod denken können.

Ich besuchte sie kurz danach, ging mit ihr alles durch, beantwortete all ihre Fragen, redete mit ihr aber nicht nur über den Krebs. Das erste Mal, seit wir uns kannten, sprachen wir über vieles andere. Über das Buch, das ich schreiben wollte, das Restaurant, das sie einmal geleitet hatte, über ihre Töchter, die ich nie kennengelernt hatte. Ich bat sie zum Abschied, mich jederzeit anzurufen, wenn sie reden oder spazierengehen oder nur kurz fliehen wolle.
Ich habe sie danach nicht mehr gesprochen. Die Chemo zehrte sie aus, fraß sie auf, erledigte aber auch den Tumor. Kurz nach dem Ende der Therapie ging es ihr wieder besser. Sie kam wieder zu Kräften, fuhr zur Kur und in die Karibik. Ihr Haar, das immer glatt gewesen war, wuchs jetzt lockig und kraus nach. Das alles erfuhr ich durch Dritte und durch Dritte erfuhr ich auch, dass sie offiziell den Krebs besiegt hatte.

Vor vier Wochen war ich bei einer Tagung, die in Süddeutschland stattfinden sollte, dann aber aufgrund des hohen Interesses in das Seminarhotel verlegt worden war, in dem ich erst als Praktikant und dann als Angestellter gearbeitet hatte. Ich freute mich darauf, sie wiederzusehen, stellte mir ihre Überraschung vor, wenn ich plötzlich vor ihr stünde. Tatsächlich lag sie zu diesem Zeitpunkt schon im Sterben. Als Spätfolge der Chemotherapie war sie an einer nicht mehr heilbaren Leukämie erkrankt.
Ich weiß nicht, was man in so einem Moment tut. Verabschiedet man sich mit der Lüge, dass alles gut wird? Dass man sich wiedersehen wird? Was sagt man? Darf man sagen, man wird den Anderen vermissen? Wie tröstet man jemanden, der um seinen nahen Tod weiß? Ich wusste nicht, was zu tun sei. Ich habe nichts getan. Ich habe ihr keinen Brief, keine Karte, keine Blumen, keinen Gruß geschickt. Ich habe nichts getan.

Vielleicht habe ich gehofft, wenn ich ihr den Abschied verweigerte, müsste sie bleiben, müsste wieder gesund werden, um sich von mir zu verabschieden. Vielleicht habe ich gehofft, ich könnte etwas halten, das mir längst entglitten war.

Zwei Wochen später war sie tot.

Hallo Wahl

Von der Front
September 17, 2013

Ursprünglich sollte der Text so beginnen: “Ich bin konservativ.” Tatsächlich bin ich aber wohl einfach nur ein bisschen spießig, koche Marmelade und backe Torten, mag höfliche Menschen, habe hübsche Vorhänge und bin ein verkappter Hauswart, wenn es um Fahrräder im Hausflur oder ungetrennten Müll geht. Wahrscheinlich bin ich nicht wirklich konservativ, denn heute konservativ sein heißt offensichtlich, populistische Klientelpolitik zu machen, veraltete Rollen- und Familienbilder zu vertreten, den energetischen Strukturwandel Deutschlands zu verstolpern, die Weiterentwicklung Europas zu verlangsamen, vor allem aber so satt von den Früchten der vergangenen Ernte zu sein, dass man vergisst, die Saat für das nächste Wachstum auszubringen. Konservativ sein heißt nicht mehr: “Spare in der Zeit, dann hast Du in der Not.”

Deutschland geht es subjektiv und im Durchschnitt gut. Vielen Menschen geht es gut, einigen, das sagt selbst die Kanzlerin, die ja sonst lieber andere für sich sprechen lässt, geht es sogar besser als vor vier oder acht Jahren. Dass es vielen Menschen auch schlechter geht, das sagt sie nicht. Ihre Sprechpuppen verweisen, angesprochen auf die Überbelastung gerade unterer Einkommensgruppen, immer noch auf die Schröder-Regierung, die Schuld an der Misere dieser Menschen trage. Dass dazwischen zwei unionsgeführte Legislaturperioden liegen, zählt nicht. Manchmal scheint es, die Kanzlerin habe Ungerechtigkeiten, die unter Rot-Grün entstanden sind, als Drohkulisse aufrechterhalten, um zu suggerieren: mit Mutti wär das nicht passiert.

Tatsächlich dürfte das stimmen. In Zeiten, da unfundierten Annahmen Relevanz beigemessen wird wie dem Säure-Basen-Haushalt oder gefühlten Temperaturen, ist es recht und billig zu behaupten: Die Kanzlerin hat nicht regiert, nur reagiert. Das wäre in der Agenda-Zeit wahrscheinlich nicht anders gewesen. Ihre Politik der kleinen Schritte, die man anfangs noch als vorsichtiges Navigieren im Nebel interpretieren konnte, verkam immer mehr zum Trippeln eines Parkinson-Kranken. Und nicht nur medizinisch Interessierte wissen, was am Ende dieser furchtbaren Krankheit steht: Bewegungsunfähigkeit.
Aber ich will Angela Merkel gar nicht vorwerfen, dass sie den Riesen, zu dem Deutschland geworden ist, nicht mehr vorwärtsbewegen kann. Die Zeit, in der sie Kanzlerin geworden und geblieben ist, ist keine leichte. Die Menschen in Deutschland und Europa wünschen sich Stabilität und Sicherheit. Dass dabei natürlich auch sicherheitspolitische Exzesse und gesellschaftliche Betonage vorkommen, ist im Grunde erwartbar. Und von außen betrachtet ist es natürlich leicht zu sagen: “Diese visionslose Frau muss weg.”

Ob es einer der Herausforderer besser machen kann, weiß ich nicht. Ich ahne allerdings, dass irgendwer irgendwas machen muss. Das kann vielleicht auch Frau Merkel sein. Wenn sie denn mal will, denn aus ihrer Sicht muss sie ja nicht: Deutschland steht wirtschaftlich auf den ersten Blick gut da. Die Steuereinnahmen sprudeln angeblich wie blöd. Der Riese Deutschland zieht die gesamte Euro-Zone mit, wohin auch immer. Wahrscheinlich steigt sogar die Geburtenrate wieder, ein Blick in mein näheres Umfeld legt diesen Schluss zumindest nah.

Der schlimmste Feind des Erfolgs allerdings ist der Erfolg. Man tendiert dazu, sich auszuruhen nach den Strapazen, man hat sich ja eine Pause verdient. Dummerweise ist das genauso verführerisch wie falsch. Das Bergsteigen lehrt: wenn Du einen Gipfel erreicht hast, musst Du entweder oben verhungern oder aber wieder absteigen und Dir einen neuen Berg suchen. Es gibt kein Ende der Anstrengung, keine Pause. Deutschland aber sitzt seit vier Jahren rum und sieht dem Rest von Europa beim Untergang zu. Als ob der wachsende Höhenunterschied zu den Nachbarn allein schon als Aufstieg gälte.

Es ist Zeit, endlich etwas zu tun. Wenn wir momentan das Geld dazu haben, umso besser. Jetzt muss investiert werden in die Zukunft Deutschlands, der übliche Dreiklang drängt sich auf: Bildung, Infrastruktur, Energiepolitik. Man muss aber noch nicht mal lange suchen, um weitere Felder zu finden. Der Föderalismus könnte mal dringend reformiert werden, das unsinnige Ehegattensplitting, das zynische Betreuungsgeld, die Vielzahl an absurden Subventionen und Steuererleichterungen könnten alle dazu herangezogen werden, um allen Kindern eine kostenlose Ausbildung von der Kita bis zur Uni zu ermöglichen. Europa ist eine offene Wunde, die politische Union aus nationalpopulistischen Gründen zu verzögern fühlt sich an wie Verrat an den Traumatisierten zweier Kriege. Dem immer deutlicher zutage tretenden Gesellschaftsversagen muss begegnet, die systematische Dämonisierung und Demoralisierung Arbeitsloser durch gezielte Förderung ersetzt werden. Soziale Berufe brauchen bessere Entlohnung, überhaupt könnte mal eine Debatte angestoßen werden über Werte in diesem Land und darüber, welche Leistung warum wie bezahlt wird.

In Gesprächen komme ich, das ist derzeit ja nicht überraschend, gerne darauf zu sprechen, dass ja bald Wahl ist. Ab und an treffe ich auf Nichtwähler. Also nicht Menschen, die noch überlegen, was und wen sie wählen, sondern Menschen, die allen Ernstes sagen: “Ich gehe nicht wählen.” Auf die Frage nach dem Warum kommen dann Dinge wie Politikverdrossenheit oder allgemeiner gesellschaftlicher Frust zur Sprache: “Es ändert sich ja doch nichts.”
Mit dieser Einstellung ganz sicher nicht.

Das Schöne an der Demokratie ist ja, dass jeder sich einbringen darf. Das weniger Schöne ist, dass es irgendwie auch jeder muss. Demokratie heißt im Wesentlichen ja Herrschaft des Volkes, und selbst wenn wir eine repräsentative Demokratie haben, wir also Stellvertreter wählen, die für uns und über uns entscheiden, heißt das ja nicht, dass das Volk aus seiner Verantwortung entlassen ist, sich selbst zu regieren. Im Gegenteil wählen wir uns ja keine Tyrannen, sondern Bürger, gegen die wir im Zweifelsfall auch aufbegehren dürfen, wenn sie uns einen unsinnigen Durchgangsbahnhof unter eine Provinzhauptstadt setzen wollen oder den größten nachrichtendienstlichen Skandal seit der Gründung des BND durch NS-Relikte mit zwei mageren Sätzen als beendet erklären.

Wenn mir dann also jemand sagt, er gehe nicht wählen, weil alle Politiker verlogene Karrieristen seien, werde ich einigermaßen ungehalten. Nicht weil die charakterliche Beschreibung des Berufspolitikers mich echauffierte, das mag oder mag nicht zutreffen. Nein, ich rege mich auf, weil der Mensch vor mir offensichtlich nicht verstanden hat, worum es bei Wahlen geht: der Souverän entscheidet über seine Zukunft. Das Volk, dem alle Wähler (und irgendwie wohl auch Nichtwähler) angehören, entscheidet sich für einen Weg. Dass bei 80,5 Millionen Menschen Uneinigkeit über die Richtung herrscht, ist klar, deswegen wird ja abgestimmt.
Diese Uneinigkeit beruhigt mich ein bisschen, denn es beugt dem Anschein vor, die gegenwärtige Politik sei so alternativlos wie von der Kanzlerin suggeriert. Auf andere jedoch kann es beängstigend wirken oder überfordernd, wenn sie mit 38 Parteien konfrontiert werden, die sich vielleicht nur in Nuancen unterscheiden, die man aber in den 500 Seiten starken Wahlprogrammen erst mal mühsam suchen muss.

Man darf den Parteien das durchaus vorhalten, wie man ja der politischen Kaste allgemein vorwerfen kann, dass sie Unverständlichkeiten produziert. Und zwar sowohl in ihren Wünschen als auch ihren Werken. Der Bürger wird von der Politik im Unklaren darüber gehalten, wie Entscheidungen getroffen werden, komplexe Konstrukte wie der ESM werden gar nicht erst versuchsweise erklärt. Man erspart es dem dummen Bürger, der ja schon mit der Auswahl des richtigen Handytarifs überfordert ist und ohne Lebensmittelampel kein gesundes Produkt mehr findet. Oder anders und vielleicht treffender: die Politik erspart sich den dummen Bürger.

Das Drama des aktuellen Wahlkampfes ist, dass noch nie vorher in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sich Wähler und Gewählte weiter voneinander entfernt haben. Das ist ebenso traurig wie beschämend für alle Beteiligten. Doch statt auf das von allen Seiten Erkannte zu reagieren, stehen die Nasen der zur Wahl zugelassenen Parteien wieder in der Fußgängerzone und verteilen Luftballons und Kugelschreiber, als läge die parlamentarische Demokratie nicht gerade auf der Intensivstation. Oder noch schlimmer: sie kommen zum Hausbesuch, um arglosen Menschen Kuhlen ins Sofa zu sitzen. Eine für alle unangenehme Situation.

Ich gebe zu: die Bilanzen der etablierten Parteien sind alle recht mager, zumal eine neutrale Bewertung schwierig bis unmöglich ist. Wirtschaftszahlen sind statistikanfällig, gesellschaftspolitische Pläne so wenig nachvollziehbar wie mein Traum vom Bad im Eierbecher. Demokratische Politik ist konstruktionsbedingt durch Kompromisse verwässert, insofern kann man auch da nicht sagen, welche Wahl die richtige und welche Partei die rechthabende ist. Man kann höchstens versuchen, allzu auffällige Populismen und gefährliche Forderungen sowie gesellschaftliche Anachronismen als Ausschlusskriterien zu benutzen. Forderungen nach einem Austritt aus dem Euro oder einer Maut für Ausländer oder einer Ungleichbehandlung Homosexueller vor dem Gesetz zum Beispiel.

Ich würde mich immer noch gerne als konservativ bezeichnen. Konservativ in einem Sinn, der mich Vorhänge und gerahmte Bilder schön finden und auf gesellschaftliche Stabilität und Achtung universeller Werte hoffen lässt. Ich mag mein kleines spießiges Leben mit Blumen auf dem Balkon.
Trotzdem würde ich gerne sehen, dass wir endlich mal ein tragfähiges Konzept für die nachhaltige Entwicklung unseres Landes und ganz Europas finden. Eines, das über die nächsten vier Jahre und den Karrierehorizont einiger Spitzenpolitiker hinausgeht. Mir wäre auch ein bisschen mehr Transparenz und Ehrlichkeit willkommen. Nicht nur in der Politik, sondern vielleicht auch mal ganz allgemein in öffentlichen Debatten. Ich fände es ganz schön, wenn man mal über Lobbygruppen sprechen würde oder über Waffenexporte oder darüber, dass der Kampf gegen den Terrorismus nur gewonnen werden kann, indem man ihn verliert. Ich fände mal toll, wenn die Bundesländer sich nicht gegenseitig zugrunde richteten, sondern zusammen an einer Reform arbeiteten, die auch dazu führen darf, dass sie weniger wichtig werden. Ich fände ein bisschen weniger Ego in der Politik ganz gut und deutlich mehr Inhalt erstrebenswert.
Vor allem aber fände ich es gut, wenn wir alle uns deutlich weniger beschwerten und endlich mal was täten. Wählen gehen für den Anfang, damit, wer auch immer nach dem 22. September regiert, weiß, wie der Souverän eigentlich regiert werden will. Denn vielleicht ist ja auch die historisch niedrige Wahlbeteiligung 2009 ein Grund für das Zaudern der Bundeskanzlerin, weil sie nicht wusste, ob ein wahlmüdes Volk überhaupt regiert werden möchte. Dieses Jahr muss das anders werden. Jeder, der darf, sollte sagen: “Ich will regiert werden, weise, nachhaltig, verantwortungsbewusst. Ich gebe meine Stimme ab, damit jemand für mich spricht.”

Und wenn die nächste Regierung wieder so ein arbeitsverweigernder Haufen wird, werde ich selbst Politiker werden müssen.

Die Wahrheit

Von der Front
Juli 23, 2013

Ich habe dieses Projekt gestartet - oder vielmehr als Einzelprojekt aus meinem restlichen Leben herausgeschnitten - als Versuch, nichts als die Wahrheit zu sagen.

Ich habe Angst davor, immer schon habe ich Angst vor der Wahrheit gehabt, vor jeglicher Art der Konfrontation damit. Und gleichzeitig nichts so sehr gehasst wie Unehrlichkeit und Lügner. Vielleicht wurzelt darin ein Stück meines Selbsthasses, immerhin bin ich ein ganz guter Lügner.
Bilde ich mir zumindest ein.
Vielleicht belüge ich auch nur mich und merke es nicht.

Tatsächlich ist dieses Projekt zum Scheitern verurteilt. Nicht so sehr, weil ich keine Ehrlichkeit aufbringen könnte, nicht so sehr, weil ich Angst vor der Verantwortung habe, die sich aus Ehrlichkeit heraus ergibt, Verantwortung, aus der ich mich sonst durch Lügen entzogen habe. Nein, das Projekt anderswolf.de kann nicht außerhalb des Kontextes stehen, der mein restliches Leben ist. So sehr es mich Kraft gekostet hat, vor meinem Coming Out ein Doppelleben zu führen, so sehr es mich auch jetzt wieder schwächt, bestimmte Teile meines Lebens vor bestimmten Menschen zu verbergen, so sehr beeinträchtigt es meine Fähigkeit, meine Zukunft zu gestalten.
Ich habe in den letzten Monaten im Zusammenhang mit Siremon eine erstaunliche Entdeckung gemacht. Ich habe ein paar Wochen lang geschrieben wie ein Wahnsinniger, als gäbe es nur noch diese eine Chance und Gelegenheit, die Geschichte aus mir herauszubringen. Und dann, am Ende dieser paar Wochen, versiegte dieser Quell so plötzlich wie er gekommen war. Ich sehe die Geschichte auch kaum mehr in meinem Kopf. Ich weiß nicht mehr, wie es weitergehen soll. Ich hatte das alles schon mal geplant, und trotzdem ist es fort. Ich habe meine Aufzeichnungen, sicher, aber es fühlt sich an wie eine fremde Geschichte. Ich bin mit dem Abschluss des ersten Teils einfach als Autor ausgefallen, als ob es jetzt an jemand anderem wäre, Kirrens Erlebnisse weiterzuerzählen.
Ich ahne, dass dieser Andere auch ich bin, allerdings ein anderes Ich, das erst noch entstehen muss, ein Ich, das nicht mehr fragmentiert und aufgeteilt ist in verschiedene Lebensbereiche, die sorgsam voneinander getrennt werden müssen.
Denn das war mein Gefühl der letzten Jahre: dass ich nicht gleichzeitig der Autor sein konnte und der Käseverkäufer, der Webdesigner und der Koch, der Lehrer und der Ernährungsberater. Und jetzt bin ich auch noch Schauspieler und Organisator, Moderator und Promoter. Ich habe viele Facetten, die ich nicht genau zusammenbringe, und das macht mich manchmal fast wahnsinnig, denn ich kann kein Gesamtbild daraus erstellen, kein Mosaik, das mit ein bisschen Abstand ein erkennbares Motiv ergibt.
Dass ich meine Wortarbeit so säuberlich von meinem Broterwerb trenne, lässt mich fast verzweifeln.
Fast.
Denn überraschenderweise mache ich derzeit eine Erfahrung, die ich noch nie hatte. Ich plane nicht, ich ziele nicht, ich lebe einfach nur. Ein bisschen irritiert mich das, denn ich hatte immer das eine oder andere Ziel, den einen oder anderen Plan, den ich verfolgt habe. Momentan lebe ich nur im Moment, ich achte kaum auf die Zeit, sondern tue einfach die Dinge, die ich will. Das sind überraschend wenige, doch manchmal auch überraschend konkrete Aufgaben, die schon ziemlich lange herumliegen.

Manchmal habe ich das Gefühl, dass mich diese Sorglosigkeit sorgen sollte. Und dann wieder denke ich mir, dass ich mich mein ganzes Leben gesorgt habe. Als ich keine Freunde hatte, als ich keine Ziele hatte, als ich keine Arbeit hatte, als ich nichts anderes als Stress hatte. Ich habe immer Angst vor der Zukunft gehabt. Angst vor allem, was geschehen könnte, Angst vor allem, was nicht geschehen könnte. Momentan habe ich diese Angst nicht, sondern nur die Gewissheit, dass alles geschehen kann, und dass ich Teil von all diesen Geschehnissen sein werde. Und dass ich mit allem, was da kommt, umgehen können werde.
Ich ruhe momentan in mir, ich habe eine Zuversicht, die ich so nicht kenne und auch nicht auf irgendetwas zurückführen kann. Glücklicherweise auch nicht muss. Ich weiß, dass ich durch die Ergründung dieser Sorglosigkeit kein besserer, glücklicherer oder stärkerer Mensch werde. Es erscheint mir nutzlos. Noch nicht mal schädlich, einfach nur nutzlos. Warum also sollte ich das tun.
Natürlich habe ich immer noch keine Lust, länger in meinem Brotberuf zu arbeiten. Natürlich will ich da irgendwie raus. Aber ich habe Abstand dazu gewonnen. Ich rege mich nicht mehr darüber auf. Ich versuche, diese heitere Gelassenheit auch im Laden zu spüren und nicht den Stress, den ich mir sonst immer gemacht habe, an mich heranzulassen. Momentan geht das. Ich finde das gut. Was aber nun das Projekt anderswolf.de angeht, weiß ich nicht, was kommen wird. Ich weiß, dass ich irgendwas kreatives tun will und werde, ich ahne, dass das nicht alleine Worte sein können und werden. Ich bin gespannt und werde es weiterverfolgen.
Meine alternativen Kreativitätsoutlets wie tumblr oder soundcloud sind Inspirationsquellen, etwas vollkommen anderes zu machen. Ich ahne, dass etwas geschehen wird, das alles verändern kann, und dass es bald geschieht. Doch ich weiß nicht, inwieweit dieses Projekt in seiner ursprünglichen Intention als Wahrheits- und Geschichtenportal da noch seinen Zweck erfüllen kann. Ich werde sehen.

Einstellungssachen

Von der Front
Mai 11, 2013

Der Unterschied zwischen damals und heute ist, glaube ich, dass ich damals keine Entscheidungen fällen musste.
Alles fügte sich, fand seinen Platz, so wie ich dadurch meinen fand. Als ob es keine andere Möglichkeit gegeben hätte. Vielleicht aber ist das jetzt doch wieder so, vielleicht habe ich jetzt wieder keine Wahl. Außer der einen, gegen das, was kommt, anzukämpfen. Was mir ja offensichtlich nicht gut tut.

Beruflich bin ich in einer Sackgasse. Ich arbeite in einem Biomarkt, mache da alles. Ich verkaufe Käse, räume Regale ein, mache Spätdienste im Bistro, habe die Homepage entworfen, aber noch nicht umgesetzt, berate Kunden, räume das Lager auf, schule Mitarbeiter, diskutiere mit dem Chef über die Zukunft des Ladens.
In den letzten Wochen, seit eine Kollegin dauerhaft ausgefallen ist, hat sich das ausgeweitet. Eigentlich arbeite ich nur halbtags dort, den anderen halben Tag wollte ich für verschiedene Dinge in meinem Privatleben nutzen oder aber, um mir ein zweites Standbein neben dem Laden aufzubauen. Tatsächlich arbeite ich nur noch im Laden, bin deutlich mehr als nur die 20 Stunden dort, für die ich angestellt bin. Von den Stunden zu schweigen, die ich mir Gedanken über den Laden mache.
Ja, damit meine ich auch Dinge, die mich eigentlich, wenn ich nur Käseverkäufer wäre, nichts angingen, die mich aber trotzdem beschäftigen, so sehr ich auch versuche, meinen Kopf davon freizuhalten. Ich bin mir bewusst, dass ich damit, dass ich das hier aufschreibe, mein Leben weit über das hinaus preisgebe, als ich es eigentlich wollte, als ich mit dem Bloggen angefangen habe. Ich habe aber nicht das Gefühl, dass es für mich noch sinnvoll ist, mich dadurch hemmen zu lassen. Im Gegenteil ist diese Aufteilung meiner Lebensbereiche in Profession und Privates vielleicht mit ein Symptom für mein eigentliches Problem. Ich bin der letzte, der die Missbrauchsmöglichkeiten von selbstvergessen veröffentlichten Informationen über sich selbst unterschätzen würde. Der Leidensdruck aber ist so hoch momentan, dass ich mich preisgeben muss.
Und sicherlich könnte das vielleicht auch eine Therapie ermöglichen, aber nein: been there, done that. Hat auch nicht geholfen. Ich war nach meinem Studium ein Jahr lang arbeitslos und nach meiner ersten Anstellung ein weiteres halbes Jahr. Ich habe in meinen Bewerbungen, die ich seither schrieb, jene Zeiten für die Personaler aufgehübscht, natürlich habe ich das: niemand bewirbt sich mehr ernsthaft irgendwo, ohne wenigstens einen einzigen Ratgeber zum Thema Bewerbungserstellung gelesen zu haben. Ich hätte die Zeit zur Wortarbeit, Charakterbildung, Neuausrichtung genutzt, Krisenmanagement und Sinnsuche betrieben.
Vielleicht nicht die besten Umschreibungen für eine Zeit, die tiefe Wunden in eine Seele und tiefere in eine Arbeitsbiographie reißen kann, aber es war mehr oder weniger das, was ich tat. Ich habe versucht, zu schreiben, ich habe versucht, die Gräben, die sich in mir auftaten, zu schließen, ich habe an mir gearbeitet, habe meine Arroganz gezähmt und meine Bedürfnisse gekappt.
Am Ende des ersten Jahrs war ich bereit, alles zu tun, nur um nicht einen weiteren Monat ohne Arbeit und ohne Sinn zu sein. Entsprechend habe ich mich, als ich eine Stelle gefunden habe, hineingeworfen in die Arbeit, habe aus meiner 40-Stunden-Anstellung eine 50-Stunden-Woche mit Rufbereitschaft am Wochenende gemacht. Ich bin weiter gesprungen, als von mir verlangt worden war, bis ich daran zu zerbrechen drohte. Mein damaliger Chef hat mir dazu in einem Gespräch damals gesagt, was er vielen seiner Mitarbeiter gesagt hat: es liege an mir und meiner Einstellung zur Arbeit und auftauchenden Problemen. Ich solle einfach meine Einstellung ändern.
Es hat nicht geholfen, dass ich in einem Gespräch mit meinem jetzigen Chef den gleichen Satz gesagt bekommen habe. Natürlich nicht, denn wer hört schon gerne, dass es an sich kein Problem gibt, sondern nur eine falsche Einstellung zum Arbeitsalltag. Es hat vor allem nicht geholfen, weil mein alter Chef diesen Satz in jedem Fall gesagt hat, selbst bei objektiv wahrnehmbaren Missständen.
Das Angebot damals war, dass ich mich kreativer einbringen könne, dass ich freier wäre in meinen Aufgaben, wenn ich dennoch dafür garantieren könnte, dass meine Arbeit erledigt werden würde. An sich eine phantastische Lösung, die mich als Berufsanfänger tatsächlich lange genug blenden konnte, bis ich erkannte, dass es keine Lösung war, weil ich meine verhassten Aufgaben zwar abarbeiten konnte, für die Nebenprojekte allerdings weder Zeit noch Kraft übrig bleiben würde. Ich habe nach einem Dreivierteljahr aufgegeben. Meine Kraft war einigermaßen aufgebraucht. Selbst die Angst vor Arbeitslosigkeit erschien mir weniger bedrohlich als die Aussicht auf das verbrannte Land meiner Seele. Und so wurde ich beauftragt, eine Nachfolgerin zu suchen und einzuarbeiten, bevor ich zurückkehrte in das Land der Nutzlosigkeit.

Über meine Arbeitslosigkeit habe ich bereits geschrieben, auch wenn ich beim Schreiben nicht ahnte, welchen langen Schatten sie in mich geworfen, welche Wunden sie wieder aufgerissen hatte. Es ist - vorsichtig ausgedrückt - keine schöne Situation, in der gesellschaftlichen Nutzwerthierarchie ganz unten angesiedelt zu werden, und ich kann jeden verstehen, der aufgrund der Ablehnung, die einem sogar von Mitarbeitern der Agentur entgegengebracht wird, resigniert.
Ich weiß auch, dass es Menschen gibt, die sich darauf ausruhen, ohne Arbeit zu sein, doch der überwiegende Teil der Menschen will arbeiten, will zugehörig sein, will nützlich sein.

In meine zweite Arbeitslosigkeit bin ich naiver gegangen. Ich dachte, durch meine eben beendete Tätigkeit würden sich mir Perspektiven öffnen, Arbeitsmöglichkeiten, Anlaufstellen, die, wenn schon nicht schätzen, zumindest einschätzen könnten, was ich gelernt hatte in den letzten Jahren.
Tatsächlich stand ich vor nichts anderem als der Depression, der ich entkommen zu sein glaubte. In dem Moment, da ich begriff, dass ich mir selbst eine Falle gestellt hatte, getarnt als Freiheit, war ich schon verloren. Ich habe mich seither zusehends verkrochen. Noch vor meinem Abschluss bin ich in eine Kleinstadt gezogen, 30 Kilometer von der Universität entfernt. Ich hinterließ kaum Freunde, die einzigen, an denen mir gelegen war, waren vor mir fortgegangen in andere Leben. Mich hielt nichts in der Universitätsstadt außer den Erinnerungen an bessere Zeiten. Natürlich bin ich zum Freund in die Kleinstadt gezogen, wo ich immerhin ihn kannte.

Rückblickend hat das wahrscheinlich auch nicht geholfen. Eine ganze Zeitlang waren wir einander die einzigen Menschen. Manchmal, in den Wochen und Monaten, die ich an meiner Diplomarbeit schrieb, war der Freund der einzige Mensch, mit dem ich sprach. Es gab noch Menschen, mit denen ich über mein Weblog kommunizierte, aber was sind selbst die freundlichsten geschriebenen Worte im Vergleich zu einem Lächeln, einer Berührung, einer Umarmung? Ich weiß nicht, wie man Menschen kennenlernt. Ich weiß, wie man sie vermeidet, wie man Kontakt unterbricht, wie man Sympathie abblockt. Ich habe aber nie gelernt, wie man sich Freunde macht. Ich habe Vermutungen, die ich aber nicht ausprobiere, weil ich mich nicht aufdrängen möchte, ich habe die Ahnung, dass man sich öffnen muss, um Menschen an sich heranzulassen.

In den drei Jahren, die ich nun schon im Biomarkt arbeite, habe ich mich noch nicht ein einziges Mal außerhalb der Arbeit mit einer meiner Kolleginnen getroffen. Im letzten Jahr bin ich einem Theaterverein beigetreten, tatsächlich bin ich dort mit offenen Armen begrüßt worden, und ich könnte mir vorstellen, mit einigen dieser Menschen befreundet zu sein.
Ich will mich aber nicht aufdrängen.
Ich weiß, wie blöd das ist, ich weiß mittlerweile, dass ich sympathisch und lustig gefunden werde. Einer der Theatermenschen hatte Geburtstag und ich war eingeladen. Ich habe mich gefreut wie ein kleines Kind.
Im Grunde ist das wahrscheinlich traurig. Dass ich in allem, was neu ist, eine Verlängerung der schönen Momente der Vergangenheit suche. Ich vergleiche Menschen, die ich kennenlerne, mit Menschen, die ich kannte. Ich versuche, Menschen, die ich verloren habe, durch Menschen zu ersetzen, die neu in mein Leben treten.
Vielleicht ist das menschlich, ich habe da keine Ahnung.

Ich bin, was Ernährung angeht, abgeklärt und selbstsicher. Ich kann stundenlang über Gesundheit und Käse reden, referiere selbstsicher über Kundenlenkung und Verkaufspsychologie, weiß aber nicht, wie ich jemanden frage, ob wir uns mal zu Kaffee und Kuchen treffen wollen.
Als ob das ein unmoralisches Angebot sei.
Ich habe diese Angst vor der Leere in Gesprächen, die manchmal aufkommt, wenn man zu sehr in Gedanken ist, um sich für den Anderen zu interessieren. Ich habe Angst davor, mich zu wenig für andere Menschen zu interessieren, um ein guter Freund zu sein. Ich habe Angst davor, so egozentrisch zu sein, wie es meine Texte nahelegen, in denen spätestens jeder dritte Satz mit "ich" beginnt.

Am Freitag werde ich ein Gespräch mit meinem Chef führen, meine Zukunft im Laden betreffend, meine Möglichkeiten, vielleicht meine Wünsche, meine Ansprüche. Ergeben hat sich das Gespräch aus der aktuellen Lage heraus, dass ich seit Anfang März fast täglich im Laden war, deutlich Überstunden aufgebaut habe, vor allem aber nahezu täglich mit veränderten Dienstplänen konfrontiert wurde.
Ich habe eine Sonderstellung in allen Belangen. Ich kann besser mit Menschen umgehen als die meisten meiner Kolleginnen, kann in der Regel alle Fragen von Kunden und Kollegen beantworten, kann, was ebenfalls eine Ausnahme ist, an allen Positionen im Laden arbeiten. Dafür muss ich auch überall einspringen. Ich bin der Mitarbeiter, der angerufen wird, wenn jemand ausfällt. Durch meine Halbtagsanstellung erwecke ich den Anschein von zeitlicher Flexibilität, der mich nahezu in den Wahnsinn treibt. Es gibt zwar Phasen, da fühlt es sich gut an, gebraucht zu werden, ein Rettungsanker zu sein, doch in den letzten Wochen wurde die Ausnahme zur Regel.
Zugegeben: seit ich vor drei Jahren im Laden angefangen habe, hatte ich noch nie einen festen Dienstplan. Einige Kolleginnen haben feste Schichten: jeden Tag Frühdienst oder vier Tage die Woche von neun bis 16 Uhr. Ich wechsle von Frühschicht im Käse am Montag über Spätschicht im Bistro am Dienstag zum Springerdienst am Mittwoch und Donnerstag, bin zweite Kasse am Freitag und dann wieder Samstag früh Zweiter im Käse, an der Kasse und im Bistro. Das geht über Wochen wild durcheinander, bis ich dann wieder mal zwei Wochen am Stück wegen Überstundenabbaus frei habe, Freizeit, in der ich jederzeit mit einem Anruf aus dem Biomarkt rechnen kann, weil wieder jemand ausgefallen ist. Die längste Zeit, dass ich einen festen freien Tag hatte, waren sechs Wochen.
Und zwar keine gefühlten sechs Wochen, sondern geprüfte.
Ich habe meine alten Unterlagen durchgesehen.
So weit ist es schon mit mir gekommen, dass ich mich zu solchen Kleinlichkeiten genötigt fühle.
Natürlich gehören da immer zwei dazu, einer beutet den anderen aus, der sich eben ausbeuten lässt. Ich gebe zu, dass ich auch häufiger einwillige, für andere einzuspringen, als mir gut tut. Wenngleich es nicht so sehr diese Tage sind, über die ich mich aufrege. Auch, aber nicht übermäßig.
Ich unterstelle einem guten Arbeitgeber andererseits, dass er Sorge tragen muss für seine Angestellten. Er müsste Sorge tragen, dass sich seine Mitarbeiter nicht überfordern; und das weniger aus altruistischen Gründen denn aus betriebswirtschaftlichen. Ein ausgebrannter Mitarbeiter kostet mehr als doppelt so viel wie ein gut ausgelasteter.
Nun bin ich mir im Klaren darüber, dass ich nicht beim Arbeitgeber des Jahres 2013 angestellt bin; die Anzeichen sind da sehr deutlich. Umso mehr müsste ich mich selbst schützen, müsste von meiner Seite selbst eine Grenze setzen, wo aus der Sicht der Geschäftsführung offensichtlich keine vonnöten ist.
Allein, ich kann es nicht.
Ich mag meine Kolleginnen und den Biomarkt sehr. Auch mein Chef weiß, dass es sinnvoll ist, dass ich dort arbeite, tatsächlich hat er mir auf meine Forderung nach irgendeinem Art von Feedback gesagt, der Laden brauche mich. So billig das klingt, so schwer ist es wahrscheinlich für ihn gewesen, sich überhaupt zu dieser Aussage durchzuringen. Und für mich ist es das erste Zeichen einer wie auch immer gearteten Wertschätzung meiner Arbeit oder meiner Person.
In Wahrheit bringt mich das aber nicht weiter.
Nichts, was der Laden mir bieten könnte, wird das tun, da ich keine Disziplin, keine Konsequenz besitze. Ich wurde bereits einmal halbwegs freigestellt, weniger um das vorhandene Gebirge von Überstunden abzubauen, denn um administrative Aufgaben zu übernehmen, Sortimentsgestaltung, Neulistungen, Warenbestandspflege, feste Beratungstermine, Vorträge, die Homepage. Tatsächlich habe ich fast einen Monat nichts gemacht, was zumindest meine Überstunden von über 100 auf nahezu Null reduziert hat. Danach wurde ich wieder regulär eingeplant, was eine halbwegs konsequente Reaktion auf mein Nichtstun ist, andererseits aber nicht dazu führt, dass irgendwas von dem, was ich erledigen sollte, und das zu erledigen offensichtlich nur ich in der Lage bin, auch tatsächlich erledigt wird. Tatsächlich liegen all diese Aufgaben, die mir zugedacht waren, immer noch brach, seit ich wieder als Krankheits- und Urlaubsvertretung für alle anderen eingesetzt werde. Jetzt habe ich, wieder einmal, gedroht zu kündigen.
Darum am Freitag das Gespräch, und darum vor knapp zwei Wochen das andere Gespräch, in dem mir mitgeteilt wurde, dass vielleicht meine grundlegend negative Einstellung zu so vielen Dingen schuld an meinem Nörgelnwollen habe. Dass ich meine Einstellung überdenken, vielleicht ändern solle.
Ich rechne mir selbst hoch an, dass ich nicht angefangen habe zu schreien, sondern ganz sachlich dargelegt habe, warum dieser Satz scheiße ist. Weil sich manche Dinge einfach nicht mit einer veränderten Einstellung lösen lassen, es sei denn, diese neue Einstellung beinhaltet das Empathievermögen von Amöben.

Andererseits stimmt es natürlich schon, dass ich unzufrieden bin über die Nichtentwicklung meines zweiten Halbtags. Eine Zeitlang habe ich versucht, das Buch zu schreiben, ein Jahr lang habe ich regelmäßig Ernährungsberatung gegeben, ein paar Mal habe ich Ernährungsvorträge gehalten, Kochkurse veranstaltet, bis Jahresende war ich schwer mit dem Theater beschäftigt. Doch seit Januar ist alles still geworden, reglos. Statt mich kreativ auszudrücken, bin ich im Laden versunken, habe eine erkrankte Kollegin nach der anderen ersetzt, bis ich mir schließlich den Zahn zerbissen habe. Und was vorher nur doof war, wurde schlimm, was vorher schlimm war, wurde schließlich unerträglich. Die Kunden gingen mir auf die Nerven, der Chef, die Kolleginnen. Ich war froh, wenn ich mich einfach nur um den Käse kümmern konnte, der nicht muckte, nicht murrte, sondern einfach ganz selbstzufrieden in der Theke lag.

Ich weiß noch nicht, was ich am Freitag sagen werde, ich weiß nicht, was ich mir von einer Arbeit im Laden tatsächlich noch erhoffen soll. Andererseits weiß ich allgemein auch nicht, was ich mir vom Leben erhoffen soll. Nach dem langen Winter, in dem alles festgefroren war wie mein Leben, ist meine Depressionsabwehr so ziemlich auf dem Nullpunkt. Ich weiß, dass es wieder aufwärts gehen wird, allein schon die wenigen Tage seit Ostern, an denen die Sonne schien, haben mir das gezeigt.
Auch das letzte Gespräch war sinnvoll, sinnvoller wahrscheinlich als es das nächste Gespräch sein wird. Denn beim letzten Mal musste ich mich nicht für eine mögliche Zukunft einsetzen, nicht für irgendetwas entscheiden. Beim letzten Mal ergab sich alles von selbst, alles, das um mich herum in Stücke gefallen war, fiel plötzlich an seinen Platz, wodurch ich meinen fand.
Am Freitag werde ich mich für oder gegen etwas entscheiden müssen, und ich weiß nicht, ob mir das gefällt. Denn egal, wofür ich mich entscheide: ich lege damit den Grundstein für das restliche Jahr. Und alles, was danach kommen wird, egal wie sehr ich dagegen kämpfen werde.

Der dunkle Ort

Von der Front
April 9, 2013

Als Kind hatte ich einen wiederkehrenden Traum, der mich durch meine Grundschulzeit hindurch begleitete. Später, als ich das Gymnasium besuchte, war er nur noch ein Schatten seiner selbst, eine ferne Erinnerung, die mich nur streifte, wenn ich große Angst hatte.

Ich träumte, ich sei ein Baum, eine gerade verwurzelte Pflanze, ein Keimling, der sich gen Sonne und Himmel streckt. Ich weiß nicht, wann ich das erste mal davon träumte, es gehört zu den ersten und stärksten Erinnerungen, die sich nicht wie andere Erinnerungen der Kindheit mit Fotos belegen lassen. Vielleicht steckt diese Erinnerung, dieser Traum darum so tief in mir: weil es keinen anderen Beweis für seine Existenz gibt als mein Wissen, mein Fühlen, dass es wahr ist, was dieser Traum erzählt.
Der junge Baum, der ich war, steht allein auf weiter Ebene, als es anfängt zu regnen, dicke Tropfen, schwer wie Planeten und schwarz wie sternlose Nacht. Sie fallen herab aus dem lichten Himmel, ohne Vorwarnung; aus Höhen ohne Wolken, die es angekündigt hätten, geht ein Schauer aus Dunkel hernieder und reißt die Ebene um mich in Stücke, prasselt auf den Baum, der ich war, ein. Und die Tropfen, die wie Teer an mir kleben, verhöhnen mich, machen sich lustig über meine Angst, über meine Tränen, über meine Sorge, dass ich mit allem, was ich bin, untergehen könnte, vergehen könnte unter diesem Welt- und Wolkenbruch.

Den Traum konnte ich besser verkraften als die Stimmen, die mich aus dem herabstürzenden Himmel in den Tag hinein verfolgten. Auf meinem Schulweg hörte ich sie noch, spürte ihren Spott und konnte ihre Schadenfreude fühlen, wenn sie meine Gedanken echoten und ins Lächerliche verzerrten.
Es gibt sicherlich eine psychologische Bezeichnung dafür oder zumindest eine Erklärung, was mein Unterbewusstsein tat, als es all meine Gedanken mit Häme verätzte. Ich versuche heute, in dieser Vergangenheit den Beginn für die Zensur meiner Gedanken vor mir selbst zu suchen; ich hatte Angst zu denken, da alles, was ich dachte, flammenden Widerhall fand.
Die Stimmen, die ich im Traum wie im Wachen hörte, die mich nachäfften und verhöhnten, waren natürlich selbst nur Echos wie der Traum vom schwarzen Regen selbst auch.
Kein Kind kommt auf die Welt mit einer solchen Störung. Selbst wenn das Gehirn sich fern der Norm entwickelt, so gibt es doch in der Regel Auslöser, Momente, die eine erratische Wahrnehmung initiieren, und sei es bloß, dass sie dem betroffenen Kind verdeutlichen, dass es anders tickt als die Anderen.

Nicht anders war es bei mir.
Ich gebe meinen Eltern keine Schuld dafür, dass sie mit ihrer Entscheidung, aufs Land zu ziehen, wo sie bis zu ihrem Fortgang vor zehn Jahren Fremde blieben, auch mich zum Außenseiter machten; sie konnten es nicht ahnen. Sie kamen aus einer Stadt im Norden, ich wuchs auf in einem Ortsteil einer südlichen Dorfgemeinde. Weder verstanden meine Eltern in den ersten Jahren, wie die Landbevölkerung tickt, noch hatten die Ortsansässigen Interesse, die Zugezogenen näher kennenzulernen, geschweige denn zu integrieren.
Während Eltern demgegenüber eine gewisse Professionalität an den Tag legen können, sind Kinder da offener, direkter, grausamer. Ab meinem ersten Tag im Kindergarten wurde ich von den anderen Kindern, deren Mütter bereits miteinander aufgewachsen waren, kritisch beäugt, sie erkannten das Fremde an mir, das eigentlich nur ein Nichterkennen war. Wir trugen diese Stempel auf beiden Seiten, ich hatte kaum Berührungspunkte mit den anderen Kindern, die größtenteils auch noch aus einem anderen Ortsteil der Dorfgemeinde kamen.
Manches verwächst sich im Laufe der Zeit, manches wird weniger wichtig.
Dass ich der Jüngste, der Kleinste, der Stillste in der Gruppe war, wurde mit der Zeit weniger wichtig als das Eine, das immer gleich blieb: ich war anders, fremdelte selbst nach Jahren noch.
In der Grundschule wuchs die Distanz auf kognitiver Ebene. Meiner Armut an Freunden verdanke ich meine Liebe zum Wissen. Als jüngerer Bruder profitierte ich bereits im Kindergarten von den Lernerfolgen meiner Schwester, die mit mir Schule spielte. Sie brachte mir das Schreiben bei, während die anderen Jungs lernten, wie man mit einem Fußball umgeht. Ich konnte Bücher lesen, während die anderen Kinder sich gerade noch durch das Alphabet quälten. Ich wurde zum Liebling der Lehrer, während andere Schüler bereits in der ersten Klasse um ihre Versetzung fürchteten.
Meine Gene taten das Übrige: ich bekam eine Brille. Was wird aus dem Kind, das ohne Freunde zuhause sitzt und Bücher liest, wenn es schlechte Augen bekommt? Der kleine dicke Junge mit der Brille. Der "Herr der Fliegen" kennt ihn als Piggy und sieht ihn aus seinen madenzerfressenen Augenhöhlen im Kampf der Stärkeren alles verlieren, was er hat, sein Leben inklusive.
Der Archetyp des Außenseiters hat es nicht leicht; manchmal, wenn aus genügend großer Angst Aggressivität erwächst, kann er sich zum Anführer der Unterdrücker emporschwingen, doch meistens bleibt er allein.
Kinder sind grausam, und sie wissen nicht, dass es anders sein könnte. Sie geben dem andersartigen Kind bösartige Namen, jagen es schreiend über den Schulhof, schneiden es aus Bosheit oder Angst vor Ansteckung, weiden sich an seinen Tränen, die es zu verbergen sucht, um nicht zu zeigen, wie viel Macht die Gruppe hat und wie wenig das andersartige Kind.

Ich erinnere mich an wenig aus meiner Schulzeit, teilweise sind absurde Erinnerungen darunter, die schöneren haben meistens mit Lehrern oder anderen Erwachsenen zu tun. Doch auch eine besonders dunkle ist darunter, die aus dem Keller der Schule einen weiteren schwarzen Ort macht.
Die Erinnerung daran ist allerdings verschwommen und unvollständig, und ich weiß nicht, was ich von ihr halten soll, da ich nicht weiß, wo sie endet.
Ob das Ende meiner Erinnerung das Ende dessen ist, woran ich mich erinnern könnte.
Als der Lehrer verhaftet wurde, weil er Schulkinder mit in sein Haus genommen hat, um sie dort sexuell zu belästigen, waren alle Eltern beunruhigt.
Obwohl ich ihn nur ein Jahr lang im Kunstraum im Keller gesehen hatte, fragten mich meine Eltern aus.
Wie kann dieses Gespräch stattgefunden haben? Ich erinnere mich nicht gut.
Hat er etwas gemacht, fragten sie, und ich weiß nicht, ob ich als Achtjähriger verstand, was diese Etwas hätte sein können. Was ich wusste: der Lehrer mochte mich. Ich war das Kind, das den gleichen Vornamen hatte. Eventuell erkannte er die künstlerische Ader, die in meiner Familie vererbt wird wie die Kurzsichtigkeit. Vielleicht erkannte er, dass der Außenseiter niemanden hatte, um zu verraten, wenn der Lehrer etwas  tun würde. Ich erinnere mich daran, während einer Stunde auf seinem Schoß gesessen zu haben, und ich erinnere mich daran, dass er mich sein Lieblingskind nannte. Und während allein dass schon Grund genug für die anderen Kinder gewesen wäre, mich noch mehr zu hänseln, weil ein Lehrer mich anderen Schülern offensichtlich vorzog, kann ich nicht ermessen, welchen Einfluss dieser Mann tatsächlich auf mein Leben hatte. Ich weiß schlicht nicht, ob und wenn, in welchem Maß ich vom Kunstlehrer missbraucht worden bin.
Ich sehe das auch nicht als den dunkelsten Ort, an dem ich je war.
Jahre später, Konfirmandenunterricht: derselbe Raum, dieselbe Schülergruppe, jetzt 13 bis 14 Jahre alt. Der Raum selbst weckt keine bösen Erinnerungen, die Menschen darin auch nicht. Wir haben keinen Umgang miteinander, meine Arroganz als einziger Gymnasiast unter Hauptschülern verbietet es mir. Ich bin besser, das spüre ich und lasse es die anderen wissen. Habe das vielleicht damals schon gemacht. Vielleicht, das argwöhne ich lange nach der Konfirmation, wiederum Jahre später, habe ich damit mein Außenseitertum befeuert, vielleicht, wenn schon nicht hervorgerufen, dann doch kultiviert.
Die Wiederbegegnung mit dem Raum, in dem Kinder missbraucht wurden, löst nichts aus, vielleicht saß ich tatsächlich nur auf dem Schoß, bis ich zu schwer wurde. Ich hatte damals schon einen Panzer um mich gelegt, der mich nicht leicht zu ertragen machte.

Dunkler als die Träume, dunkler als die ätzenden Stimmen, dunkler als der Kunstraum, dunkler als alle Nächte, die ich mich in den Schlaf weinte aus Angst vor dem nächsten Morgen in der Schule, dunkler als all das war meine Seele.
Ich hasste mich dafür, was ich anderen erlaubte, mir anzutun.
Ich hasste mich dafür, dass ich mich nicht wehrte.
Ich hasste mich dafür, lieber wegzulaufen als mich meinen Verfolgern entgegenzustellen.
Ich hasste mich dafür, der Angsthase zu sein, den alle anderen in mir sahen.
Ich hasste mich dafür, dass ich mich auch Jahre später, als ich schon nicht mehr das Kind der Zugezogenen im Dorf, sondern ein fremder Schüler unter vielen einander fremden Schülern im städtischen Gymnasium war, abgrenzte, meine Arroganz kultivierte, mich immer tiefer in mich zurückzog, um meine Opferrolle behalten zu können.
Ich hasste mich dafür, dass ich selbst dann schwach sein wollte, als ich mich anstrengen musste, schwach zu sein.
Ich hasste mich dafür, dass ich mich nicht einfach nur zuhause, sondern tief in Büchern versteckte.
Ich hasste mich dafür, dass ich meine gesamte Jugend an mir vorbeiziehen ließ, nur um weiterhin zu erleben, was ich kannte: Alleinsein, Einsamsein.
Ich hasste mich dafür, dass ich mir selbst meine Kindheit und Jugend stahl, dass ich mich selbst dadurch missbrauchte.

Erst als ich 17 war, zehn Jahre Einsamkeit später, erkannte ich das. Erst damals, als ich von Freunden, über deren Herkunft ich mir bis heute Umklaren bin, angenommen wurde, wie ich war, entkam ich meiner inneren Hölle.
Dafür musste ich nicht kämpfen. Ich musste einfach nur loslassen, nicht mehr daran denken.
Ich ging aus, ich nahm ab, ich wurde ein anderer Mensch, aus heutiger Sicht fast über Nacht.

Ich kann nicht sagen, was geschah, es wurde plötzlich alles leichter, alles, was mich vorher ausgemacht hatte, brach auseinander, und es war mir egal. Ich sah nicht mehr zurück, ich nahm mit mir, was mit mir gehen wollte. Ich erkannte das, was meine Freunde in mir sehen konnten, lernte mich ebenso einfach anzunehmen mit allen Fehlern, vor allem aber mit allen Stärken.
Ich lernte mich lieben.
Das war das schwerste, aber auch das Schönste. Die Liebe und die Leichtigkeit, mit der ich mein Leben lebte. Die Angst vor dem Dunkel hat mich nicht verlassen. Auch die Sehnsucht danach nicht.
Über Jahre hinweg hat es keine Rolle gespielt. Erst gegen Ende meines Studiums, weitere zehn Jahre danach, als ich in mein Jahr der Arbeitslosigkeit fiel wie in eines der Löcher, das der schwarze Regen in die weite Ebene gerissen hatte, spürte ich das Dunkel wieder in mir, erkannte die Narbe, die auf meiner Seele geblieben war. Ein Jahr ist viel Zeit, um eine Narbe wieder zu einer blutende Wunde zu öffnen.
Manchmal kann das sinnvoll sein.
Manchmal kann man, gräbt man nur tief genug, Splitter und Scherben aus dem Gewebe ziehen, die auf lange Sicht die Gesundheit gefährdet hätten.
Manchmal kann man unter großen Schmerzen die Beweglichkeit von Gelenken wiederherstellen.
Manchmal ist es das Opfer wert, den Schmerz, das scheinbar endlos fließende dunkle Blut.
Manchmal.
Nicht immer.
Seit bald sechs Jahren laboriere ich an dieser Wunde wie an einer Kriegsverletzung. Posttraumatische Belastungsstörung nennt man das wohl. Und es wird nicht besser. Oder vielleicht doch, immerhin erkenne ich langsam Muster in meinen Alpträumen, weiß mittlerweile, dass ich mich von meinen Freunden bewusst abschotte, statt immer noch zu vermuten, dass sie still an jenen unbekannten Ort zurückkehren, aus dem sie einst hervortraten. Ich akzeptiere, was ich in den Folgejahren von 17 intuitiv begriff: dass ich verantwortlich bin für mein Glück wie für mein Unglück. Ich begreife, dass meine Sucht nach intellektueller Betäubung und strategischer Selbstunterforderung einen ebenso primitiven wie effektiven Selbstschutz davor darstellt, mich mit mir selbst auseinanderzusetzen.

Ich bin an einem Grenzpunkt angekommen. Ich kann nicht weitermachen wie bisher, das ist die beste Erkenntnis. Ich kann nicht weiter ignorieren, was alles in meinem Leben nicht funktioniert und nicht passiert. Wichtiger: ich will es nicht. Meine Gesundheit leidet massiv. Alle subtilen Zeichen konnte ich ignorieren, die Unzufriedenheit, die eingeklemmten Nerven, die Rücken- und Schulterschmerzen, der unregelmäßige Herzschlag, der niedrige Puls, die Schlaflosigkeit, die Schlafattacken, die Erschöpfung.
Letztlich habe ich mir einfach die Zähne an mir selbst ausgebissen. Mein Zahnarzt sagt, die Zahnfüllungen, die er letzten Herbst erneuert hat, sähen aus, als wären sie fünf Jahre im Krieg gewesen. Fast sechs, könnte ich ihn korrigieren. Einer meiner Zähne ist jetzt gesplittert, von der Krone bis zur Wurzel aufgerissen wie ein Baum nach einem Blitzschlag. Er wird gezogen werden, ich bekomme ein Implantat, über das ich Witze mache, weil es aus der Schweiz kommt: ich hoffe, dass es so viele Funktionen haben wird wie ein Taschenmesser. Als ob es nicht eigentlich tragisch wäre, was mir anzutun ich offensichtlich bereit bin, nur um zu verdrängen, wie hoffnungs- und vor allem orientierungslos ich durch mein Leben wanke.
Statt mich konstruktiv damit auseinanderzusetzen, was ich wirklich kann und will, strenge ich mich an, schwächer zu sein, als ich es bin.
Statt das Buch zu schreiben, das davon handelt, wie Kirren seine Angst und sein prophezeites Schicksal überwindet, vergrabe ich mich in Büchern und Coming-of-Age-Blogs.
Statt mir zu gestatten, mich und andere zu lieben, betäube ich mich mit Pornographie.
Statt stolz auf meine über elf Jahre Beziehung zum Freund zu sein, bin ich schon gehemmt, meinen Kolleginnen gegenüber zu erwähnen, dass ich überhaupt eine habe, geschweige denn eine schwule Beziehung.
Statt meine Ideen und Fähigkeiten sinnvoll auf die Erfüllung wenigstens eines meiner vielen Träume zu konzentrieren, verschwende ich Kraft dabei, auf vielen Baustellen Stückwerk abzuliefern.

Und ich trauere. Vor allem um die Zeit, die vergangen ist. Als ob sie dadurch wiederkäme oder anders verbracht worden wäre. Auch schöne Momente bekommen den Anstrich des Selbstmitleids, dass all das Schöne nicht von Dauer ist, sondern verloren sein wird, weil ich es nicht halten kann. Statt in irgendwas eine Chance zu sehen, erkenne ich in allem nur die Mangelhaftigkeit, die Imperfektion. Und mich regt alles auf, nicht weil alles aufregend wäre, sondern weil ich mich aufregen will. Dass die Nachbarn den Müll nicht trennen, dass der Chef kein Chef ist, dass die Freunde ihre Mails auch nicht häufiger beantworten als ich meine. Dass nichts besser ist als das Mittelmaß, zu dem ich selbst auch fähig bin. Ich habe mich lange geweigert, mich mit all dem auseinanderzusetzen.
Mit all dem, was ich aufgeschrieben habe, um die Frage zu beantworten, was mich immer wieder einhole, und mit all dem, was ich noch nicht aufgeschrieben habe. Ich habe lange Zeit keinen Sinn darin gesehen und vor allem keine Hoffnung. Vielleicht hatte ich auch einfach Angst, dass das Teilen dieser Dunkelheit zu etwas führen würde, was ich mir schon einmal vorgeworfen habe: dass ich meine Geschichte missbrauchte, um andere durch Mitleid an mich zu binden. Das habe ich früher getan, oder zumindest unterstelle ich mir das. Dass ich durch das Erzählen meiner Außenseitergeschichte Gefühle bei Anderen hervorgerufen hätte, die nichts mit der Person zu tun haben, die ich zum Zeitpunkt des Erzählens war. Und dass die Anderen nur deshalb bei mir blieben und mich nur deshalb mochten, weil ich diese traurige Geschichte erzählt hätte.

Jetzt, wo ich das so aufschreibe, fällt mir erst auf, wie bescheuert es ist. Als ob andere Menschen nicht selbst entscheiden könnten, wem sie ihre Zuneigung, ihr Vertrauen, ihre Liebe schenken. Wie anmaßend auch, dass ich glaube, meine Vergangenheit könnte stärker sein als der Wunsch anderer Menschen. Und wie naiv vor allem anzunehmen, ich wäre der einzige Mensch, der Leid erfahren hätte in seinem Leben.
Ich habe aus Angst geschwiegen, aus der Angst heraus, mich selbst zum Opfer zu machen. Statt zu erkennen, dass ich mich dadurch tatsächlich zum Opfer meiner selbst mache, habe ich mir verweigert, mir selbst zu helfen, indem ich mich mit meiner Vergangenheit auseinandersetze. In meinem Wunsch nach Leid habe ich die unglückliche Einsamkeit heilsamem Schmerz vorgezogen.

Jetzt, da ich an diesem Punkt, in diesem Absatz bin, wird mir erst klar, was ich da eigentlich getan habe, und wieviel mehr dysfunktional das ist im Vergleich zum Panzer, den ich in meiner Pubertät trug. Ich hatte gedacht, es besser zu wissen, dabei wollte ich nur blind und arrogant und alleine und einsam bleiben. Und ich habe all jene Menschen weit von mir gestoßen, die mir hätten helfen können, die mich kannten, als ich klein war, als ich Jugendlicher war, als ich anfing zu heilen.
Als es dunkel wurde, 2007, da habe ich Stück für Stück abgeblockt, habe jede Nachfrage, jedes Wissenwollen ignoriert, habe bewusst Geburtstage, Verabredungen, Telefonate vorbeiziehen lassen, weil ich Angst vor den Antworten hatte, die mir die Menschen, die mich lieben, hätten geben können. Und der einzige Mensch, der nicht von meiner Seite wich, weil seine Liebe alle meine Versuche überwanden, ihn zu ignorieren oder fortzustoßen: ihn habe ich mit Schweigen und Aggression bestraft, mit Enttäuschungen und bissigen Seitenhieben. Ich verdanke ihm so viel und ich behandle ihn dafür so schlecht. Ich kämpfe immer wieder mit mir, ich bin mir immer wieder meiner Beziehung unsicher, weil ich ahne, dass er zu viel von mir weiß, als mir nicht helfen zu können, wenn ich ihn um Hilfe bäte. Aber er will nicht gehen, und ich könnte so ein glücklicher Mensch deswegen sein, wenn ich das nur sehen wollte.

Als der Freund vor eineinhalb Stunden schlafen ging, sagte er, ich solle noch aufbleiben und weiterschreiben. Es sähe aus, als hätte ich mir da was von der Seele zu schreiben.
Ich glaube nicht, dass er den halben Nervenzusammenbruch meinte, in dem ich den letzten Absatz verfasst habe; aber er kennt mich wirklich so gut, dass er mir ansieht, wenn ich schreiben muss.
Das ist eines der Dinge, die ich an ihm liebe. Ich neige dazu zu glauben, dass ich ihn nicht verdiene. Dass ich zu selbstsüchtig, arrogant, destruktiv bin.
Und auch hier überschreite ich meine Kompetenzen schon wieder. Es ist nicht meine Aufgabe, seine Gefühle zu interpretieren oder gar hervorzurufen. Auch wenn ich das offensichtlich als mein Lebensmotto sehe: Anderen die Art des Umgangs mit mir möglichst weit vorzugeben. Als ob sie dazu nicht selbst in der Lage seien.

Ich verstehe, dass ich beschädigt bin. Dass meine Wurzeln vernarbtem Grund entwachsen. Und jetzt, in diesem lichten Moment nach dem emotionalen Sturm, der meine Krone durchgerüttelt und einige knorrige Zweige herausgebrochen hat, weiß ich, dass ich dadurch stärker sein kann als ohne den erlebten Schmerz. Vorausgesetzt, ich kann den Schmerz, die Erinnerung, die Sehnsucht nach dem dunklen Ort loslassen.
Dass es geht, weiß ich.
Dass ich mich selbst lieben kann, weiß ich.
Dass ich mir selbst vergeben kann, weiß ich.
Ich muss es nur noch wollen.
Die Entscheidung sollte nicht schwer fallen.
Es kostet so viel Kraft, nicht zu wollen.
Es kostet so viel mehr Kraft, mich immer noch klein zu halten, mir selbst alles zu versagen, mir keine Liebe zu gönnen.
Ich habe diese Kraft nicht mehr, ich gehe auf dem Zahnfleisch.

Aber ich gehe voran. Den Grenzpunkt habe ich hinter mir gelassen, ich will nicht mehr zurück. Natürlich sieht das dunkle Land vertraut aus, aber das heißt nicht, dass es im Licht nicht auch schön sein könnte. Im Gegenteil dürfte die Sonne dort öfter scheinen.

Re: Gejaule um Vergangenes

Usus operi
April 8, 2013

Jedes Jahr aufs Neue mache ich das, glaube ich.
Ich will aufbrechen, ausbrechen aus meinem alten Leben, doch je älter ich werde, desto mehr Vergangenheit zerrt an mir, Vergangenheit, die sich je nach Tagesform mal als Ballast, mal als Basis anfühlt. Ich vergesse dabei (oder versuche es zumindest), dass ich ohne meine Vergangenheit nirgendwohin kann.

Nicht nur, weil mich alle meine Erfahrungen begleiten, sondern weil ich ohne all diese Erfahrungen auch nicht an dem Ort wäre, von dem aus ich wieder aufbrechen will.
Was mich formt und geformt hat, das ist vieles, das ich nicht wieder aufrollen will, weil ich spüre, dass es weder mir gut tut noch den Menschen, denen ich es erzähle. Es schafft eine ungesunde Bindung, weil ich mir meiner traurigen Geschichte, die ja nicht mein gesamtes Leben ausmacht, sondern nur eben den traurigen Teil, Mitleid heische, das ich so oft bekommen habe, dass ich es als lohnenswerten Anreiz dafür gesehen habe, mich durch meine traurige Geschichte zu definieren.
Statt die lustigen Geschichten auszubreiten, die mir passiert sind, hänge ich den dunklen Dingen nach, als gäben sie mir mehr Kraft als sie mir nehmen.

Wahrscheinlich habe ich immer noch Angst davor, in diese Muster zurückzufallen und komme deswegen nicht von ihnen los. Was wir denken, bestimmt unseren Weg. Wenn ich mich von Angst leiten lasse, werde ich ihr immer folgen.
Ein NLP-Mensch, mit dem ich mich mal unterhalten habe, hat mir das so erklärt: Angst ist eine große Triebkraft und seltener treibt sie uns an einen Ort, wo wir sicher vor ihr sind, sondern meistens direkt auf sie zu. Und so trifft meistens das ein, was wir fürchten. Vielleicht ist das so, weil man die Angst kennt und die Situation, in der man sie empfindet.
Die bekannte Angst ist offenbar immer noch besser für den Kontrollmenschen als jede unbekannte Situation, die im besten Fall zwar positiv überraschend sein könnte, aber eben genau das: überraschend.
Vielleicht muss ich doch noch einmal durch die dunklen Dinge hindurch, um mir darüber klar zu werden, wie albern meine Angst ist, das selbe noch einmal zu erleben. Oder wie grausam mir selbst gegenüber. 

Gejaule um Vergangenes

Usus operi
April 5, 2013

Die Vergangenheit frisst an mir wie ein wildes Tier. Und ich gebe mich dem hin, heiße das Alte willkommen, sich an meinem Leben zu laben, ich brauche es ja offensichtlich nicht.

Meine Tage sind gefüllt mit Sinnlosigkeiten und Nichtstun. Da kann mich die Vergangenheit ruhig einholen, locker überrunden, ohne sich anstrengen zu müssen. Verlockend ist das ja schon, wenn das, was eigentlich vergangen ist, wieder vor einem liegt, einstellen muss man sich da auf nichts Neues, Unbekanntes, vielleicht Unbequemes.
Ich habe Angst vor dem, was andernfalls kommt.
So sehr ich mich grundsätzlich nach Veränderung sehne, so sehr fürchte ich mich vor dem Blindsein für das, was kommen könnte. Und blind werde ich sein, ist ja jeder gezwungenermaßen.
Ich fürchte diesen Kontrollverlust, so dumm das vielleicht auch ist. Denn wann habe ich jemals irgendwas in meinem Leben kontrolliert? Wann hätte das jemals in meiner Macht gestanden oder in der irgendeines Anderen?

Die Menschen sind da nicht alle gleich, habe ich gemerkt, ja selbst ich bin meinem Phlegma da nicht immer treu. Manchen Tages bin ich so aufbruchsfreudig, ja fast schon umtriebig, dass ich achtzig Dinge gleichzeitig anfange, anderntags schaffe ich es gerade mal aus dem Bett unter die Dusche, wo ich anscheinend Stunden verbringe, denn obwohl ich weit vor Mittag aufgestanden bin, geht die Sonne schon fast wieder unter, wenn ich mich abgetrocknet habe.
Und dann wieder mag die Zeit manchmal nicht vergehen, egal wie sehr oder wie böse ich sie anstarre.

Überlegt habe ich, die alten Texte aus dem ersten Blog von vor über zehn Jahren hierher zu importieren. Nicht dass das technisch ohne Weiteres möglich wäre, im Gegenteil. Vorausschauend, wie ich war damals, habe ich keine Worpress-gängigen Dateien gespeichert, sondern reines HTML. Offensichtlich wusste ich damals schon, dass ich mich irgendwann mit Unnötigkeiten beschäftigen wollen würde. Und ich ahne jetzt schon, dass das Ausschneiden, Überarbeiten und Anpassen alter Texte an mein heutiges Wort- und Lebensgefühl nicht etwa nur wenige Wochen in Anspruch nähme, sondern eher Monate.
Monate, die ich so schon mal semikonstruktiv verplant hätte mit einem Projekt, das mich effizient von allem anderen abhält, was mich tatsächlich voranbringen könnte. Ich habe mich letztlich doch dagegen entschlossen. Wenn ich die Vergangenheit so toll gefunden hätte, dann hätte ich sie wohl gleich behalten. Durch ein Wiedererleben des Vergangenen ist mir nicht geholfen, ein anderer wird es nicht lesen und (im Fall, dass ich mich da irre) schon gar nicht davon profitieren.
Das Jaulen der Vergangenheit ergibt selbst mit Nostalgiefilter keine Harmonie. Und so lange ich die alten Geschichten an mir nagen lasse, werde ich nie erreichen, was ich mir trotz vorgeblicher Ehrgeizlosigkeit zum Ziel gesetzt habe.

Insofern: Neues schreiben, Neues machen, nur trauern, wenn es sinnvoll ist. Alles andere hinter sich lassen, was belastet. Was wir hinter uns gelassen haben, ist aus guten Gründen auf der Strecke geblieben.

Die Tage sind gezählt, ich höre nur nicht den Countdown

Von der Front
März 21, 2013

Glaubste doch nicht, dass das einfach so weiter geht.
Glaubste nicht und willste auch nicht glauben.
Wem denn, was denn, wozu denn?

Die Zeit läuft und ich bin noch nicht am Start, nicht mal nahe dran bin ich.
Wenn ich drüber nachdenke - was ich nicht tun sollte -, dann deprimiert mich das natürlich.
Was sonst auch, ginge anderen nicht anders: Mistleben bleibt Mistleben, egal wessen Selbstmitleid da jault.
Bekomm mal den Arsch hoch, denke ich mir und lasse mich dann doch wieder fallen.
Setze mich an den Copmuter, um angeblich Bewerbungen zu schreiben, statt dessen lese ich seit Wochen ein Blog, dessen Fiktionalität offensichtlich ist, vom Autor aber als Dokumentation eigener Erlebnisse verkauft wird.

Mir ist das egal, es geht mir beim Lesen nicht um Inhalte, nicht so sehr jedenfalls, Coming-of-Age eben, was halt hip ist derzeit (also die letzten dreißig Jahre). Auch der schwule Sex, der da beschrieben wird, hält mich nicht bei der Stange, so iterativ ist er. Da wird geblasen und gefickt und dann nackt rumgehangen. Passiert. Wenn man will, kann man Sexszenen auch schöner schreiben. Tatsächlich aber berührt mich die Entwicklung der Figuren über ihre Grenzen hinaus, Pushing the envelope nennt der Autor das, dieses leichte Vortasten über den Rand der Komfortzone hinweg.
Ich mache das schon lange nicht mehr. Ich habe mich eingeigelt, mich wieder zurückgezogen. Nach all den Fortschritten im letzten Jahr, nach all der Energie, die ich mobilisiert habe, bin ich wieder in meinem Trott gefangen, in meiner Miesepetrigkeit, in meiner Kraftlosigkeit.
So sehr, dass ich da echt keinen Bock mehr drauf habe.
Gutes Zeichen, sagt der Bock in mir, aufwärts gehts.
Mit jedem Tag, da nicht mehr Selbstmitleid rumhampelt und alle Energie verbraucht, kann vielleicht ein Tag für Konstruktives genutzt werden.

Vielleicht doch endlich mal das erste Video machen, das ich jetzt seit Monaten vor mir herschiebe.
Vielleicht endlich mal die Homepage erneuern.
Vielleicht, vielleicht.
Die Liste ist lang.
Freunde anrufen, steht ganz oben.
Was soll ich da sagen: Hallo, ich bin immer noch nicht weiter, aufwiederhören?

Ich spreche ja doch nur wieder über mich und die beschissene Arbeit, die mir das Letzte abverlangt.
Leider nur meinen letzten Nerv, nicht meine Aufopferung oder die Grenzen meiner Kenntnisse.
Mich hält nichts mehr außer der Wut.
Vielleicht bleibe ich darum im Laden, vielleicht kommt mir der Leidensdruck darum noch nicht hoch genug vor.
Weil ich dort wütend sein darf, rasend vor Emotion.
Weil ich mich sonst immer beherrsche, ja sogar den dümmsten Kunden gegenüber.
Über die ich mich dann natürlich wieder aufrege.
Meine Frustgrenze reicht bis 12 Uhr mittags.
Vielleicht ist das natürlich.
Vielleicht haben sich die Kerle im Alten Wilden Westen deswegen immer mittags gegenseitig erschossen: zu Beginn des Leistungstiefs geht zuerst die Laune runter und das Aggressionspotential hoch.

Die Zeit läuft, die Winterpause ist vorbei. Lange kann ich nicht mehr jammern, bevor ich wieder einen gutgemeinten Rat bekomme, der heißt: ändern oder Maul halten.
Am besten beides.

Wachstumsschmerzen

Von der Front
Oktober 17, 2012

Was alles andere betrifft, bin ich nicht sicher.
Wie sollte ich auch, denn mal wieder bricht alles um mich auseinander, alle meine Wahrheiten entpuppen sich als potemkinsche Dörfer, alle Fassade platzt ab, während ich zusehe und zusehends erstarre. Denn meine Wahrheiten, stelle ich fest, sind nicht mehr als Pappmaché und Holzverschalung, Schmuckdekor und Realitätsimitat. Mein Leben ist irgendwas künstliches, stelle ich fest, und unter dieser Lackschicht, stelle ich weiter fest, ist irgendwas, das ich nicht anfassen, geschweige denn sehen will.

Ich habe zu kämpfen damit, dass ich erwachsen werden muss, seit zehn Jahren, vielleicht schon länger habe ich mit dieser Adoleszensierung zu tun, die ich nicht hinter mir lassen kann, egal, wie wenig ich mich auch rasiere. Mir wird zwar gesagt, dass mir Kundinnen hinterherschauen, als hätten sie schmutzige Gedanken bei meinem Anblick, zuhause bin ich aber immer noch das gleiche unsichere Kind, das sich von seinen Geburtstraumata immer noch abnabeln muss.
In der Hoffnung, dass irgendwann doch noch jemand kommt und meine Unordnung für mich aufräumt wie meine Mutter früher mein Zimmer, wenn sie vermutete, dass ich irgendwo unter dem Gerümpel verschüttet worden sei, schiebe ich immer noch alles auf die lange Bank, die nicht etwa länger, sondern einfach nur voller wird. Ich habe Angst vor diesem Stapel an Dingen, die sich da auftürmen, Angst vor dem, was ganz unten begraben sein mag, Angst davor, dass alles über mir zusammenstürzt.

Und dann wieder habe ich wieder so einen Abend, an dem ich aus Versehen entgrenzt bin, zuviel Alkohol ist im Spiel, das kenne ich, da mache ich dumme Sachen. In einem anderen Leben war ich auf einem Rosenmontagsball, ich habe getanzt und getrunken und gelacht und noch mehr getrunken und noch mehr gelacht, anschließend saßen wir mit einer Hummel im Taxi und mir war so schlecht, dass ich fast ins Treppenhaus gebrochen hätte.
An diesem Abend war da Felix. Ich erinnere mich nicht mehr anders an ihn als den schönsten Mann, den ich bis dahin gesehen hatte (was er nicht war); als einen Mann, der mit mir, dem deutlich älteren, geflirtet hat (was er nicht tat); als einen Mann, der mich, hätte ich mich nicht trotz (oder angesichts) meiner drohenden Alkoholvergiftung an meine Prinzipien geklammert, vor den Augen seiner Freundin geküsst hätte (was er nicht gemacht hätte). Dass ich die nächsten Tage im Bett lag, rührte nicht allein vom Alkohol und nicht von der Erkältung her, die ich mir aus all den fremden Bechern ertrunken hatte. Ich kämpfte mit mir, mit meinen Prinzipien, mit meinem Entsetzen darüber, dass ich meine Beziehung beinahe im Vollrausch über Bord geworfen hatte. Ich haderte mit mir, denn ich verstand nicht (weder tat ich es damals, noch verstehe ich heute), woher diese Anziehung kam, die sich selbst in der Nüchternheit noch als eine Sehnsucht in den Vordergrund all meines Denkens spielte, die mit der Geborgenheit meiner Beziehung nichts zu tun haben schien, denn sie war bloße Begierde nach diesen Lippen, diesem Körper, ein Verlangen nach einem Verlangen.

"Siehst du," das habe ich letzte Woche nach meiner letzten alkoholinduzierten Entgrenzung gesagt, "da ist keine Emotion, das ist keine Liebe, keine Herzensangelegenheit, das ist rein körperlich."
Und da erschrak ich nicht, haderte nicht, trennte nicht zwischen dem betrunkenen und dem nüchternen Ich. Mein Verstand, mein alles ausbremsender Verstand hatte sich verabschiedet, war mit den anderen Theaterleuten gegangen, die mich, ihn und sie mit vielen halbleeren Rotweinflaschen zurückließen.

Ich habe versucht, diese Geschichte anders und anderen zu erzählen.
Dem Freund, der Verständnis und Besorgnis in einer heiteren Gelassenheit vermischte, weil er mich kennt und den Alkohol und die Beziehung, die ich zum Freund und zum Alkohol pflege; weil er da differenziert, wo ich es nicht will.
Der Arbeitskollegin, die ich am nächsten Nachmittag ablösen sollte, die mich aber statt dessen noch zwei Stunden vertrat, während ich leichenblass und mit einem kühlen Tuch auf der Stirn im Lager zwischen den Regalen lag.
Weder ihr noch der Sportfreundin konnte ich sagen, was ich herausschreien wollte, und immer noch sind meine Lippen versiegelt, ich kann nicht aussprechen, was ich fühle: diese Angst, mein Selbst unter meinen Händen zersplittern zu spüren.
Zumindest konnte ich den Wein erwähnen, diese Unmengen an Wein, die ich in mich hineingeschüttet haben muss. Als sie, die Sportfreundin, diesen, genau diesen Wein getrunken habe, habe sie aus Spaß einen in einer Buntglasscheibe eingebrachten Frosch geküsst.
So absurd das schien, und so absurd es auch jetzt noch klingt, so gut kann ich es mir vorstellen, sowohl bei ihr als auch bei dem Wein.

Protokollieren muss ich, soweit ich es noch im Gedächtnis habe, was geschah.
Wir trinken Wein, viel und zuviel Wein, er, sie und ich. Auf der Bühne sitzen wir, nur dort ist Licht, der Zuschauerraum liegt im Dunkeln. Es könnte ein Stück sein, denke ich heute, es ist eine Szene, in der Konflikte aufgedeckt werden, eine Szene, in der ein ganzes Leben auf den Prüfstand gestellt wird und nicht besteht.
Er, sie und ich, wir sitzen beleuchtet im Dunkel der Welt und trinken Wein. Über Fremd- und Selbstwahrnehmung sprechen wir, über genutztes und vergeudetes Potential, über Intelligenz und Lebenstauglichkeit. Er macht mir leider Komplimente, weil ich ihr meine Erkenntnissplitter als Weisheiten unterjubeln kann, und Komplimenten kann ich nicht widerstehen, wenn ich angeschlagen bin.
"Wie machst du das", fragt er, "dass du gleichzeitig so betrunken bist und doch so klar denken kannst?"
Ich weiß es nicht, sage aber trotzdem etwas, das er mir als weitere Weisheit abnimmt. Ich kann mich nicht daran erinnern, was es war, heute bin ich gewillt, an die Relativität von Klarheit zu glauben. Die letzte Flasche ist plötzlich leer, es sind nur noch zwei Gläser Wein übrig, ihres und meins. Er hat die Wahl und nimmt mein Glas, ob ich etwas dagegen hätte, interessiert ihn nicht, er trinkt. Stunden vorher haben wir über Homosexualität gesprochen. Über meine, denn er hat eine Freundin. Nicht anwesend, aber immerhin. Jetzt sprechen wir wieder über Homosexualität.
Erst hier unter den Theatermenschen mache ich das wieder. Nirgendwo sonst mache ich das, und ich merke, wie lange ich mich doch schon wieder versteckt habe, nicht absichtlich verstellt, aber die Wahrheit anderen Menschen vorenthalten durch Schweigen, durch Aggression, durch Ablenken. Es sei kein Thema, das relevant wäre, war meine andauernde Selbstrechtfertigung, und doch ist es relevant, denn so wenig ich ausschließlich schwul und erst weit später alles andere sein wollte, kann ich ausschließlich alles andere sein und nur ganz am Rande schwul. So lange ich mit einem Mann zusammenlebe, kann ich nicht so tun, als wäre meine Homosexualität nichts, was mich nicht beträfe.
In meiner Erinnerung, die jetzt schon durch Rechtfertigung gefärbt ist, fragt er mich, wie das ist, wenn zwei Männer sich küssen. Ich ahne heute, dass diese Frage nicht ursächlich von ihm kam, sondern dass das eine Pornophantasie ist, dass ein angetrunkener Hetero-Mann plötzlich und unmotiviert Interesse an Gleichgeschlechtlichkeit äußert. Ich befürchte, dass er die Frage zwar gestellt hat, aber eher als Reaktion auf etwas, das ich sagte: "Ich fände jetzt Rumknutschen super."

Beim Rosenmontagsball habe ich das auch gesagt, doch dann kam das Taxi und die Hummel und die Übelkeit. Beim Rosenmontagsball war alles Spaß und gute Laune und die Zukunft noch tierisch weit weg.

Letzte Woche dagegen ist fast zehn Jahre später. Ich bin fast zehn Jahre älter, die Zukunft hat längst ohne mich begonnen und ich habe nicht vor lauter Spaß an der Freude getrunken. Es kamen kein Taxi und keine Hummel, wir waren immer noch zu dritt auf der Bühne, sie und er und ich. Irgendwann vorher hatten wir einen versehentlich handgreiflichen Streit, aus trivialen Gründen, sie hat ihn angeschrien und er hat mich gewürgt, woraufhin ich zurückschlug. Irgendwann vorher simulierte er eine sexuelle Belästigung an ihr, die sie nicht mitbekam, aber die Obszönität der Geste galt auch nicht ihr, dem vermeintlichen Opfer, sondern mir, dem angewiderten Beobachter. Irgendwann vorher saßen wir auf der Bühne und sprachen über die Freiheit des Geistes.
Meine Erinnerung verlangt, dass er mich geküsst hat, mein schlechtes Gewissen sagt mir, dass ich ihn geküsst habe. Wahrscheinlich waren wir beide betrunken und neugierig genug, um einander gleichermaßen küssen zu wollen. Er war überrascht und fühlbar angesprochen, sagte, dass er selten so gut geküsst worden sei. Ich war überrascht und schockiert und gleichzeitig begierig nach mehr.
"Siehst du," sage ich zu ihr, wie als Antwort auf eine Frage, die sie gestellt haben könnte und die doch nur meine aufbrechenden Selbstzweifel sind, die ich da adressiere, "da ist keine Emotion, das ist keine Liebe, keine Herzensangelegenheit, das ist rein körperlich."
Und ich will es glauben, und doch ziehe ich ihn wieder an mich und er zieht mich an sich und wir küssen uns.

Das Verlangen nach dem Verlangen hält an. Auch eine Woche später kann ich es nicht vergessen, auch wenn ich weiß, dass es mit ihm nichts zu tun hat. Es ist etwas, das allein mit mir zu tun hat, mit dem Vermissen von etwas, das in langjährigen Beziehungen verloren gehen kann. Dem Freund habe ich von dem Kuss erzählt, es war das Erste, was ich ihm sagte und sagen wollte am nächsten Tag.
Hatte ich ihn geküsst, weil ich unglücklich in meiner Beziehung oder nur betrunken war?
Sollte ich, wenn es keine Rolle für unsere Beziehung spielte, es überhaupt ansprechen, denn zeigte die Erwähnung eines unwichtigen Themas nicht, dass es eben doch relevant sei?
Sollte ich den Freund überhaupt mit möglichen Zweifeln an unserer Beziehung belasten, sollte ich diese schlafenden Hunde wecken?
Die Arbeitskollegin hatte ich vorher um Rat fragen wollen, um eine Antwort auf meine Zweifel, doch zwischen den Regalen liegend kamen mir keine Worte über die Lippen. Und so schleppte ich meine Zweifel mit nach Hause und ließ sie dann doch fahren.
Ich erzählte ihm von dem Kuss, von dem Wein, von meinen Zweifeln. Und der Freund fragte nur, ob er sich Sorgen machen müsse, um mich oder um uns oder um ihn. Und in dem Moment, da ich antwortete, wusste ich, dass ich die Wahrheit sprach: "Das einzige, weswegen wir uns sorgen müssten, ist mein Problem mit Alkohol."

Ich liebe den Freund, das tue ich wirklich, egal, wie piefig unser Alltag oft ist. Aber das ist eben Alltag, und dieser Alltag hat auch etwas Beruhigendes angesichts meines eher fragmentarischen Restlebens. Ich versuche, mich seit Jahren neu zu erfinden; und auch wenn der Gedanke verlockend scheint, noch einmal ganz von Neuem zu beginnen, bin ich doch klug genug zu wissen, dass alles, was mich jetzt in meinem Leben beschwert, auch Ballast nach einem Neuanfang wäre.
Meiner Angst und meinen Sorgen kann ich nicht davonlaufen, wenn sie Selbstzweifel und Missmut heißen. Der Freund dagegen liebt mich bedingungslos, er verhindert nicht meine Wendungen, meine Häutungen, Wandlungen; im Gegenteil gibt er mir den Freiraum, all das auszuprobieren, ohne mich unter Erwartungsdruck zu setzen.
Das ist nicht selbstverständlich, das weiß ich.
Trotzdem habe ich das Gefühl, wieder einmal, dass alles falsch ist, was mein Leben ausmacht. Ich kann nicht erkennen, was andere in mir sehen, fühle nur die Erwartungen, den Druck, der auf mir lastet. Mein Rat wird gesucht, meine Hilfe gebraucht, meine Expertise erwartet, meine Anwesenheit angefordert. Ohne mich ginge nichts, wird mir gesagt, und doch kann ich das nicht glauben, denn es ging doch schon immer ohne mich, noch nie war ich wirklich nötig, damit die Welt sich drehte.
Und doch scheinen sich in letzter Zeit die Vorfälle zu mehren, dass sich da jemand für mich und für kompetent ausgegeben hat. Diese Fußstapfen kann ich nicht ausfüllen, diese Lücke ist zu groß für mich. Habe ich irgendwann angefangen zu lügen über meine Fähigkeiten? Habe ich behauptet, all das zu sein, was andere in mir sehen? Ich muss ein Lügner sein, ein Hochstapler.
Dass ich das kann, weiß ich, das ist eines meiner wenigen Talente: ich bin überzeugend, wenn ich es sein muss, die Angst macht mich zum besten Erfinder der Welt. Doch der einzige, den ich überzeugen möchte, der glaubt mir nicht. Ich kenne mich zu gut, um auf meine Lügen hereinzufallen; ich kann meine Wahrheiten nicht so sehr verbiegen, dass ich sie selbst nicht mehr erkenne. Alle Fassaden bekommen Risse und darunter erkenne ich das Flickwerk meines Kulissenbaus.

Vielleicht ist das Erwachsenwerden; das Anerkennen, dass man größer geworden ist; dass einem die Kindheit nicht mehr passt. Vielleicht ist es auch das: Fehler zu machen und anzuerkennen, dass sie auch nur Erfahrungen sind; und dass es auf den Umgang mit ihnen ankommt und nicht auf sie selbst. Vielleicht ist es auch das: nicht mehr sentimental werden, wenn idealisierte oder übertriebene Erinnerungen an die Oberfläche des Bewusstseins treiben. Vielleicht ist es auch das: mehr machen als machen wollen. 

Restposten

Textualitäten
Oktober 7, 2012

Ganz vorbei ist es ja dann doch nicht. Nichts ist das bei mir jemals. Gedanken hören ja nicht einfach auf, und auch das Siremon-Projekt hat also nicht einfach aufgehört. Im Gegenteil erlebe ich gerade wieder eine überraschende Entdeckungslust, eine Tendenz, doch herausfinden zu wollen, was wirklich passierte in jenen letzten Tagen und Monaten auf Siremon, bevor die Welt in Flammen aufging.
Vielleicht ist das die wichtigste und womöglich letzte Aufgabe von anderswolf.de: endlich diese Krankheit von einer Geschichte zu dokumentieren, an der ich nun schon über ein halbes Jahrzehnt laboriere. Diese Geschichte von einem Jungen, der seiner eigenen Bestimmung misstraut und schließlich doch nicht anders kann, als ihr zu folgen, auch wenn sie ihn dazu bringen wird, seine Kindheit, seine Unbeschwertheit, seine Unbefangenheit für immer hinter sich zu lassen.

Das ist ja auch, ohne dass ich absichtlich der Geschichte einen psychologischen Unterbau geben wollte, des Pudels Kern: dass man sich seinen Herausforderungen stellen muss, dass man irgendwann nicht mehr an der Verantwortung, die man trägt, nicht mehr vorbeischielen darf. Irgendwann nicht mehr kann.
Und auch wenn die Angst noch so groß sein sollte, hilft sie nicht.
Glück im Leben erreicht man nicht durch Hadern und Zweifeln und Wegsehen.

Irgendwann dachte ich, dieses Blog, das ich schon so oft und immer wieder beenden wollte, sei um meiner Selbstfindung willen zu schreiben, und um zu mir selbst zu finden. Tatsächlich ist das nicht abwegig, denn das regelmäßige Schreiben ist etwas, das ich üben und tun muss, das strukturierte Textarbeiten ist etwas, das ich lernen und vielleicht irgendwann einmal meistern muss. Doch diese Texte müssen keine Bauchnabelschau mehr sein, mussten sie noch nie. Waren sie dennoch viel zu oft.
Bloggen ist ja auch Eitelkeitspflege. Über die Jahre habe ich auch immer einen schleichenden Qualitätsverlust bei meinen Texten ausgemacht, eine Verflachung der Sprache, eine wachsende Beliebigkeit des Stils. So sehr das vielleicht auch objektiv stimmen mag, dokumentiert diese Entwicklung für mich vor allem eine abnehmende Selbstüberschätzung meinerseits bis hin zur Respektlosigkeit mir selbst und meinen Worten gegenüber. Das erleichtert positiv gesehen meine Neuerfindung und säkularisiert den Prozess des Schreibens an sich auch.

Die negativen Folgen wiegen leider schwerer: durch zunehmenden Selbsthass erlegte ich mir ein Rede- und Schreibverbot auf, das letztlich zu meiner aktuellen Kreativitätsverweigerung führte. Für jemanden, der von nichts anderem als Worten leben wollte, dramatisch.
Das Siremon-Projekt unter diesen Vorraussetzungen irgendwie einzuschieben, abzuarbeiten gar, erscheint da nahe an unmöglich. Das macht es mir neben all den Plotlöchern und arbeitsunwilligen Protagonisten natürlich nicht leichter. Und dennoch kann ich es nicht vollkommen ablegen; egal wie oft ich das auch schon behauptet und versucht habe. Die Geschichte verlässt meinen Kopf nicht, so sehr ich auch versuche, nicht daran zu denken. Früher oder später kommt dann wieder ein Gedanke, der alles wieder an die Oberfläche meines Bewusstseins spült, so dass ich endlich wieder weiß, wie es weiter geht, ja weiter gehen muss.
Siremon erschafft sich selbst aus mir, und ich wünschte, es schriebe sich auch so selbsttätig auf, wie es sich manchmal mitten in mein Blickfeld schiebt.
Was also bleibt, sind diese Restposten, die keine Restposten sind, sondern lange ruhende Saat, die aufgeht wie Unkraut auf einem verlassenen, nicht mehr bestellten Feld.
Meine einzige Hoffnung ist die auf eine unerhoffte Ernte.

Bio oder nicht bio?

Trophisches
September 27, 2012

Die neulich mit einer Talkrunde bei Günther Jauch vorzeitig beerdigte Diskussion um eine jüngst erschienene Studie über Bio-Lebensmittel ist noch nicht abschließend kommentiert. Darum hier eine verspätete Wortmeldung zu einem Thema, das eigentlich logisch, aber dennoch diskussionswürdig ist.

Was war los?
Zur Erinnerung: In der September-Ausgabe der Annals of Internal Medicine erschien ein Bericht, der 17 Humanstudien und 223 Lebensmitteluntersuchungen aus den Jahren von 1966 bis 2011 auf die Frage hin auswertete, ob denn Bio-Lebensmittel einen signifikanten Vorzug gegenüber konventionell angebauten hätten. Das Ergebnis überraschte einige, bestätigte andererseits viele Vorurteile: Bio-Lebensmittel sind nicht gesünder als konventionell angebaute*.
Die Überraschung ist allerdings nur scheinbar angebracht. Denn eine grundsätzlich ungesunde Lebensführung kann nicht durch den Verzehr von ein paar Bio-Äpfeln aufgewogen werden. Eine Umstellung der Lebensführung braucht Zeit, Zeit, die sich keine der untersuchten Humanstudien genommen hat: die am längsten durchgeführte Studie lief über zwei Jahre**.
Die Autoren des aktuellen Berichts bestreiten das nicht, im Gegenteil weisen sie darauf hin, dass die Datenlage dürftig ist. Die allgemeine Schlussfolgerung, bio sei nicht besser, basierte dennoch auf den Humanstudien, und auch ein Großteil der Diskussion wurde auf dieser Grundlage geführt. Wichtiger, aber weniger polarisierend (und daher weniger diskussionsgeeignet) ist der Nähr- und Fremdstoffgehalt von Lebensmitteln.

Was ist drin?
Konventionell und biologisch erzeugte Lebensmittel unterscheiden sich kaum hinsichtlich ihrer Nährstoffzusammensetzung. Die Erklärung dafür ist einfach: jedes Lebewesen (und dazu gehören auch Pflanzen) akkumuliert, wenn es sich natürlich ernährt, in einem art- oder sortenspezifischen Muster Nährstoffe. Wäre das nicht so, gäbe es keine Arten oder Sorten. Insofern überrascht nicht, dass eine Bio-Möhre gleich viel Wasser, Kohlenhydrate, Fett oder Eiweiß enthält wie eine konventionell angebaute. Interessanter wäre der Gehalt an nicht-nutritiven*** Pflanzeninhaltsstoffen wie z. B. Polyphenolen gewesen. Deutschsprachige Studien sind schon vor Längerem zu der Erkenntnis gekommen, dass Bio-Gemüse in der Regel einen höheren Gehalt Polyphenolen, Saponinen oder anderen sekundären Pflanzenstoffen aufweisen.
Da Funktionen und Wirkungen sekundärer Pflanzenstoffe immer noch nicht aufgeklärt sind, werden sie bei Diskussionen über Nährstoffe gerne ausgeklammert. So auch geschehen beim vorliegenden Bericht. Das ist aber verschmerzbar.

Denn wirklich relevant ist die unterschiedliche Belastung mit Rückständen und Kontaminanten. Der Verzicht auf Kunstdünger und die streng eingegrenzte Verwendung von Pflanzenschutzmitteln sowie das Verbot von Antibiotika in der Tiermast führen bei Produkten aus dem Bio-Anbau zu einer deutlich niedrigeren Konzentration dieser Stoffe im Vergleich zu konventionellen Produkten. Den Autoren des Berichts zufolge habe die Zufuhr dieser unerwünschten Pflanzeninhaltsstoffe durch konventionell erzeugte Lebensmittel zwar erhöht, aber die gesetzlich festgelegten Grenzwerte nicht überstiegen. Also alles in Ordnung?
Tatsächlich gäbe es an diesem Ergebnis nichts auszusetzen, hätten Industrie und Regierung bei der Festlegung der Grenzwerte miteinrechnen können, wie sich eine jahrzehntelange Exposition mit Kontaminanten auf den menschlichen Organismus auswirkt. Bislang ist außerdem noch ungeklärt, inwiefern sich verschiedene Rückstände in ihrer Wirkung verstärken können, und welchen Einfluss diese Gesamtmengen auf das Entstehen von Zivilisationskrankheiten haben. Entsprechende Untersuchungen wären finanziell und organisatorisch zu aufwendig.
So tappt man also als Verbraucher im Dunkeln, welche Mengen an Pestiziden, Düngerrückständen und Antibiotika man wirklich aufnimmt. Sicher und von den Autoren des Berichts bestätigt ist nur: ernährt man sich mit Bioprodukten, sind diese Mengen geringer.

Was ist dran?
Wozu also die Aufregung? Warum fühlen sich Bio-Gegner dadurch in ihrer Meinung bestärkt, wieso fühlen sich Bio-Befürworter in eine argumentative Ecke gedrängt? Vielleicht, weil alle ahnen, dass es doch einen deutlichen, bisher noch nicht messbaren Unterschied gibt. Vielleicht auch, weil viele Menschen Bio-Produkte zwar konsumieren, aber nicht bezahlen wollen, und daher nach Gründen suchen, sie ablehnen zu dürfen. Vielleicht aber vor allem, weil alle, die sich in dieser Diskussion zu Wort melden, eine grundlegende Erkenntnis und eine einfache Antwort auf die Frage vermissen, wie man sich denn nun ernähren soll, um möglichst lange möglichst gesund zu bleiben.
Diese Antwort bleibt auch der vorliegende Bericht schuldig, auch wenn die Interpretation der meisten Medien das anders, fast gefährlich verfälscht nahelegt. Denn die eigentliche Quintessenz des Berichtes lautete nicht, eine weitere Erforschung des Themas könne man sich angesichts der mangelnden Wirksamkeit von Bio-Lebensmitteln sparen, sondern: man habe zu wenige Daten, um eine belastbare Aussage zum Einfluss von Bio-Lebensmitteln auf die Gesundheit zu treffen. Und das ist angesichts eines knappen Jahrhunderts an Erforschung dieses Themas der eigentliche Skandal.

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* Aus semantischen Gründen hätte man die Diskussion auch hier schon abwürgen können. Gesunde Lebensmittel gibt es im gleichen Maß, wie es kranke Lebensmittel gibt. Entsprechend gibt es nur dann gesunde Ernährung, wenn es auch kranke Ernährung gibt.

** Zum Vergleich: in der Alpha-Tocopherol Beta-Carotene Cancer Prevention Study (ATBC) trat erst nach fünf Jahren der schockierende Effekt auf, der zum Abbruch und einer großen (und sehr emotional geführten) Diskussion über Sinn und Gefahr einer Vitamin-Supplementierung führte. Es hatte sich gezeigt, dass Vitamin E und Provitamin A das Risiko für Arteriosklerose und Krebs bei Rauchern nicht nur nicht verhindern können, sondern sogar erhöhen.

*** Ist ein Pflanzeninhaltsstoff nicht nutritiv, trägt er nicht offensichtlich zur Bedarfsdeckung des Menschen bei. Das bedeutet nicht, dass diese Stoffe keine Wirkung auf den menschlichen Organismus haben, im Gegenteil sind viele Wirkungen schon so weit erforscht, dass es Industriezweige gibt, die sich auf die Vermarktung isolierter nicht-nutritiver Pflanzeninhaltsstoffe spezialisiert haben.

Aus alt mach neu (oder anders)

Aus dem Maschinenraum
September 20, 2012

In Kürze gibt es hier wieder was zu lesen. Die alten Beiträge werden überarbeitet, neue Inhalte werden vorbereitet. Ich habe lange mit mir gerungen, ob das eine gute Idee ist oder nicht. Eine Antwort habe ich noch nicht gefunden, werde aber die Zwischenzeit konstruktiv mit dem ProjektLog ausfüllen. Die Inhalte werden wie gehabt ohne bestimmte Zielsetzung sein, thematisch an allem herumkratzen, was mich anspringt und sind ansonsten natürlich zum Mitmachen oder Mitdenken konzipiert.

Und natürlich gilt: Vorfreude ist die schönste Freude.

Aus!

Usus operi
August 28, 2012

Dieses Gesülze, dass ich ja noch gut dran bin, so lange ich meine Niederlagen als Erfahrungen verbuchen kann, habe ich ja schon so sehr verinnerlicht, dass ich gar nicht mehr merke, wie sehr es mir eigentlich auf den Sack geht, keine Ahnung zu haben, was ich eigentlich mit meinem Leben tun will.
Immer noch.
Immer noch ist es dieses "Was will ich denn mal tun?", als ob es nicht schon so weit wäre, dass ich etwas mit meinem Leben angefangen hätte.

Ich bin in mir selbst so blockiert, dass ich es gar nicht mitbekomme, wie ich mein Leben Tag für Tag damit vergeude, herauszufinden, was ich denn mal mit mir mache, wenn ich endlich aufhöre, mich zu vergeuden.

Alles geht an mir vorbei, und ich bemerke es nicht, spiele mein ignorantes "zu gut für die Welt"-Spiel einfach weiter, während draußen die Sonne scheint oder der Regen alles überspült.
Mir kann es ja gleichgültig sein, ich habe mich ja hier mit meinen Depressionen eingerichtet, als ob es kein Morgen, keinen Tag, überhaupt nichts mehr geben müsste.

Wieder habe ich in meinen alten Texten rumgekramt, habe mich leichtfüßig und witzig und pointiert gefunden, nicht so deprimierend schwafelhaft wie mittlerweile, wo ich nur noch Worthülsen und stakkative Pleonasmen hochwürge, die halbverdaut in meinem von allem brauchbarem Vokabular befreitem Hirn rumdümpeln.
Ich hatte schon alles gesagt und konnte nicht loslassen.
Kann es immer noch nicht, denn was ist das denn hier schon wieder, wenn nicht der verzweifelte Versuch, eine Normalität aufrecht zu erhalten, die vor zehn Jahren noch angebracht gewesen wäre, nun aber vollkommen obsolet, weil uninteressant ist?
Es geht nicht länger, ich kann mich damit auch nicht länger belügen. Dieses Kapitel, und sei es noch so lang und langatmig, ist einfach nichts mehr für mich.
Wir sind so sehr auseinandergewachsen, die Wortwerdung und ich, dass es nichts als Überdruß bringt.

Der Berg wird nicht kleiner, nur weil du oben stehst

Von der Front
August 24, 2012

Vielleicht könnte ich das endlich mal zugeben. Dass es mir bei aller Kokettiererei mit dem Leid und Selbstmitleid, bei aller Schaumschlägerei um fatalistische Abschiede und reuige Neubeginne, bei aller Lust am Dokumentieren des vermeintlichen eigenen Untergangs auch ein kleines bisschen darum geht: oben zu stehen.

Eigentlich schließe ich das ja für mich kategorisch aus, den Erfolgswillen, den Ehrgeiz, eine materielle Motivation. Und doch will ich es fühlen, sehen, begreifen: das Oben-sein.
Der Weg, das lernt man beim Wandern (selbst wenn man es schon zu wissen glaubte), der Weg also ist das Ziel.
Es geht nicht um einen Endspurt, nicht um das Ankommen, das Überschreiten einer imaginierten Ziellinie, es geht einzig ums Gehen. Einen Fuß vor den anderen zu setzen, auch wenn der Oberschenkel vor Erschöpfung brennt, weil er die letzten Stunden nichts anderes getan hat, als einen Fuß vor den anderen zu setzen. Den Körper einen Schritt nach dem nächsten tun zu lassen, auch wenn das Gewicht des Rucksacks zum Stehenbleiben, zum Pausieren, zum Verharren auffordert. Gegen das Selbstmitleid, gegen den Selbsthass, gegen das Unverständnis anlaufen, was man sich eigentlich dabei gedacht habe, eine Zehntagestour laufen zu wollen, so untrainiert, so unvorbereitet, so naiv, wie man war.
Und doch ist da dieser Weg, der nicht kürzer wird. Der Berg, der nicht kleiner wird und nicht näher kommt.
Es sind einzig und allein die Schritte, die man macht, die noch zählen. Und ein einziger Schritt geht auch noch, dann vielleicht noch ein weiterer, und dann irgendwann, wenn man nicht mehr auf seinen Atem achtet und nicht auf das viel zu hohe Gewicht auf dem Rücken, dann ist man irgendwo anders. Auf einem Grat, einem Gipfel, an einem vermeintlichen Ziel, das doch nur ein Zwischenhalt ist, ein Ort für eine Pause, vielleicht ein Ort zum Übernachten, auf jeden Fall aber ein Ort, der wieder nur einen Punkt für einen neuerlichen Aufbruch darstellt.

Darum zählt auch ein Gipfel nichts.
Auch wenn es der vierte Gipfel der Tour und der höchste ist, vielleicht auch der mit der besten Aussicht auf den Bodensee. Auch das erste Kreuz, der letzte Grat, sie alle zählen nicht, denn vor mir liegt nach einem Aufstieg immer wieder nur ein Abstieg.

Zum Beispiel: der Hohe Freschen und der davor liegende Binnelgrat. Zu Beginn des Binnelgrats steht ein Schild vor dem Wanderer, das über den vorausliegenden Weg sagt, man solle ihn möglichst nicht gehen. Man könne passieren, wenn man erfahren, schwindelfrei, trittsicher sei. Solle es aber eigentlich nicht, gefährlich bleibe es allzumal.
Eine Wahl haben wir aber nicht, denn es ist nun schon 15 Uhr, die einzige Unterkunft, die wir in den nächsten drei Stunden erreichen können, liegt am Ende des Weges, den wir noch zu gehen haben, eine Umkehr kommt also nicht in Frage.
Hinter dem Schild allerdings liegt ein Weg, der schmal ist, an beiden Seiten schroff ein- oder zweihundert Meter abfällt, und in sich selbst auch leicht schief verläuft. Später führt er durch ein auch nicht viel breiteres, dafür aber krautig überwachsenes Hochplateau, dann an einem Steilhang empor, in engen, stahlseilgesicherten Serpentinen an den Berg gepresst, bevor jäh das Kreuz in Sicht kommt, dann eine letzte Kehre, bevor ich mich über den Rand nach oben ziehe.
Und an der Südkante einer riesigen, nach Norden hin sanft abfallenden Ebene stehe, wo irgendwo in der grasigen Weite das Freschenhaus steht, unsere Unterkunft für die folgende Nacht. Unfassbar finde ich das, und gleichzeitig überschwemmen mich zweierlei Emotionen: das Glücksgefühl des Aufgestiegenen, Emporgekommenen, der eine Leistung erbracht hat, die weit jenseits seiner Vorstellungskraft stand; und die Enttäuschung über einen so scheinbaren Triumph, der nur die unnötige Mutprobe ist, an einer Abbruchkante entlang einen motorisiert gut erfahrbaren Berg zu erklettern.

Eitel finde ich mich da und eitel auch mein Streben, nach oben zu kommen, zu einem Oben, einem Gipfel hin, der keiner ist, sondern nur erhöhte Landschaft. Eitel finde ich mich und auch ein bisschen dämlich, dass ich einem Aufstieg, den schon so viele andere vor mir gemeistert haben, so viel Bedeutung beimesse.
Und dann wieder - nicht aus der Distanz der Heimat und auch nicht aus der Entfernung der vergangenen Tage aus besehen, sondern einzig und allein aus einer größeren Nähe bei sich selbst heraus - ist die Bedeutung gerechtfertigt, die Euphorie angemessen, ist die Leistung - so selbstmörderisch, selbstvergessen, selbstüberschätzend sie war - eine beachtenswerte Leistung. Vielleicht nicht für das olympische Kommitee oder die milchschnitteverliebten Huber-Buam. Vielleicht nicht für den Rest der Welt, aber beachtenswert doch für mich. Denn ich habe mich auf den Weg gemacht und ich bin die Schritte gegangen, die nötig waren, und ich habe die Kraft aufgebracht, zu tun, was notwendig war, um mein Ziel zu erreichen, das ich nicht definieren konnte, bevor ich es erreicht hatte.
Es war meine Leistung, und ich finde sie beachtenswert, denn sie zeigt mir vor allem eines: dass ich trotz allen diesgerichteten Behauptens nicht verlernt habe, ein Ziel zu haben und zu verfolgen, und sei es nur aus einem Mangel an Alternativen heraus. Dass es sinnvoll ist, mich anzustrengen, mich zu fordern. Dass es aber vor allem aber nicht sinnvoll ist, so zu tun, als wüsste ich mehr als eine grobe Richtung, wenn ich irgendwohin aufbreche.
Ich kenne das Ziel nicht, ich kenne nicht den Ausgang eines Plans, ich weiß nur den Weg dorthin, auf dem es keine Abkürzung gibt: einen Fuß vor dem anderen, einen Schritt nach dem vorigen, immer voran auf dem Weg, der mal aufwärts, mal abwärts führt, immer mal wieder auch Pausen erfordert, um mich zu orientieren, und vielleicht auch mal erlaubt, die Aussicht zu genießen.

Vielleicht muss ich dies eine aber tatsächlich zugeben, diese Erkenntnis, die ich in den Bergen hatte, und die mir vielleicht auch in meiner bergelosen Heimat helfen kann. Ein Weg ist vielleicht nur ein Weg, ein Gipfel nur ein Gipfel, ein Tal eben ein Tal. Doch alles, was ich erlebt habe, der gesamte bisherige Weg, ist notwendig gewesen, um mich zu dem vor mir liegenden Weg zu bringen. Und auch wenn ich mir selbst immer wieder Erfolge madig mache und behaupte, weder Selbstbewusstsein noch Ehrgeiz zu besitzen, so ist doch der gegenteilige Fall die Wahrheit: selbstverständlich will ich nach oben und höher hinaus, selbstverständlich will ich wahrgenommen werden als Einzelstimme in der Kakophonie aller, selbstverständlich will ich etwas erreichen.

Das am schwersten zu Erkennende dabei aber ist: ich habe keinen anderen Weg dazu als zu schreiben. Ich kann noch so sehr behaupten, ich lebte meine Kreativität jetzt anders aus, im Theater, in meinem Brotberuf, in den Lügen, die ich erzähle; ich kann nicht anders, ich fühle mich niemals wirklich ausgefüllt, wenn ich nicht schreibe, wenn ich nicht Wort an Wort, Satz an Satz reihe und eine Geschichte erzähle, die mehr oder weniger wahr ist, und sei sie es nur für die Zeit, in der sie sich in meinen Worten formt.
Und das noch Schlimmere ist: jene eine Geschichte, die ich nun schon zum hundertsten, vielleicht tausendsten Mal für erledigt erklärt habe, jene Geschichte von dem Jungen voller Angst, der keine andere Wahl hat, als sich in dem Moment in den Abgrund zu stürzen, da er ihn zu verschlingen droht, sie hat mich auf der Wanderung hinauf und hinab begleitet. Diese Geschichte kann ich nicht einfach hinter mir lassen, nicht vergessen oder ignorieren. Ich muss sie erzählen, Wort für Wort, Schritt für Schritt.

Kurz vor dem freien Fall

Von der Front
August 10, 2012

In letzter Zeit - das geht nun schon seit ein paar Wochen, also ist es nicht nur in letzter Zeit, sondern eher ein chronischer oder sich chronifizierender Zustand - liegen meine Nerven knapp außerhalb meines Körpers. Es "blankliegen" zu nennen wäre untertrieben.

Ich habe ernsthafte Probleme, mein Privatleben - also alles, was nicht mit einem meiner drei Berufe zu tun hat - zu regeln, vor allem eben diesen Urlaub, der übermorgen beginnt. Der Freund macht sich Sorgen, ich weiß nicht, wie lange schon. Dass er es tut, weiß ich seit heute.
Naja.
Zugegeben: eigentlich weiß ich es schon länger, aber gesagt hat er es erst heute.
Der Stress, sage ich mir, und eben jenen Stress werde ich jetzt aber auch mal endlich abbauen in unserer zweiwöchigen Wandertour. Nur laufen und nicht denken, sage ich mir, wird mir vielleicht endlich wieder die Ruhe zurückbringen, die ich an mir kannte, die ich aber momentan, also seit eben jenen paar Wochen, nicht mehr finden kann.

Zahnarzttermine, an zwei aufeinanderfolgenden Tagen. Kein Problem, denke ich letzte Woche noch, denke ich vorgestern noch, 9.8. und 10.8., jeweils um 10 Uhr. Stelle ich letzte Woche fest, stelle ich diese Woche fest, gestern noch bestätigt mir ein Blick: Donnerstag zehn Uhr, Freitag zehn Uhr. Jemand muss den Zettel ausgetauscht haben, denn als ich heute überpünktlich (das kennt man von mir ja nicht, es hätte mich also schon stutzig machen müssen) der Sprechstundenhilfe meine Anwesenheit bekanntgebe, bremst sie mich aus: "Ihr Termin war um neun Uhr."

Ich verstehe mich derzeit nicht. Ich weiß nicht, was mit mir los ist, denn so kenne ich mich nicht. Als einzige Erklärung habe ich meine fünf Parallel-Leben, die mich langsam überfordern: Käseverkäufer, Ernährungsberater, Kochlehrer, Schriftsteller, Hausmann; fünf Leben, die mir vor allem auch keinen Atem lassen, mich auf das zu konzentrieren, was ich als dringlichstes Ziel meines aktuellen Lebensjahres sehe: mich selbst zu sortieren und endlich all das auszugeizen, was mich aufhält, was mich desinteressiert, was mich an Verwachsungen in meinem Leben begleitet.
Fünf Leben, die nichts oder nur wenig mit dem einen Leben zu tun haben, das ich eigentlich führen wollte.

Ich schlafe auch nicht mehr durch.
Vielleicht liegt es daran.
Vielleicht.
Vielleicht auch nicht, denn vielleicht schlafe ich auch nicht mehr durch, weil ich so dünnhäutig geworden bin. Habe ich in meiner letzten WG selbst dann noch bei offenem Fenster durchgeschlafen, wenn die Notarztwagen nachts um drei mit Martinshorn am Haus vorbeirasten, wache ich jetzt schon auf, wenn die ersten Hummeln den Lavendel auf dem Balkon anbrummen. Und dann wieder ertappe ich mich dabei, im Laden vor einem Regal zu stehen, Marmeladengläser oder Fleischkonserven oder Vollkornmehl oder die Myriaden von subtil unterschiedlichen Nudelsorten anzustarren und mich zu fragen, warum ich schon fast zweieinhalb Jahre in einem Laden arbeite, in dem ich von Anfang an zur Stagnation, wenn nicht Regression verdammt war, in dem ich nichts lernen konnte, nichts lernen wollte, in dem ich allein gelernt habe, meine Arroganz wenn schon nicht abzulegen, dann doch wenigstens zu erkennen.

Das ist meine letzte Ausrede: dass ich Demut lernen musste, dass ich meine Arroganz verlieren musste, dass ich an zu überwindender Hybris litt. Und doch habe ich das Gefühl, es sei immer noch arrogant zu denken, zweieinhalb Jahre in einem Dienstleistungsberuf könnten aus mir einen besseren, angenehmeren, weniger arroganten Menschen machen, als könne mich das bewusste Arbeiten unterhalb meines Ausbildungsniveaus zum Salz der Erde machen.

Zu viele Gedanken sind es, die ich habe, die mich umtreiben, und keinen davon kann ich recht in Worte fassen. Alles mäandert in mir, alle Impulse meiner offen liegenden Nerven überreizen mich, versengen meine Synapsen und zerstören langsam meinen Sinn für Ordnung und Orientierung.
Ich weiß nicht mehr wohin, alles was ich will, alles was ich weiß, ist: fort.

Die Wolken ziehen nicht weiter

Morpheon
August 9, 2012

Alles ist erstarrt, die Zeit, die Wolken, die Sonne, das Bild bleibt ewig das selbe.

Ich stehe auf, ich gehe zu Bett, ich laufe durch stumme Straßen, durch den Park, wo die ersten Blätter im Fall gefangen sind, unfähig, je den Boden zu erreichen. Die Menschen um mich dagegen sind so schnell, so viel schneller als ich, ich nehme nur Schatten und Schemen wahr, ihre Stimmen so leise, dass ich sie nicht mehr höre, alles rast und rennt, nur ich verharre in jener Zwischenzeit, die nicht natürlich und nicht menschlich ist.
Die Tage dehnen und strecken sich, ohne Horizont gähnen sie mich morgens an, nur um Sekunden später das Nachglühen des Sonnenuntergangs verbrennen lassen. Die Sterne stehen still, doch der Mond wandelt seine Phasen innerhalb von Stunden.
Ich stehe auf, ich gehe zu Bett, es ändert nichts, unterscheidet nichts, ich bin wie einzementiert in mein Leben, das sich nicht verändern will. Und doch ist da kein Zement, ist da nur die Angst vor dem Unbekannten, vor dem Nicht-mehr-ich-selbst-sein, vor der großen Veränderung, die ich doch so sehr erhoffe.

Im Gespräch mit Kunden spreche ich rasch über Politik, denn das ist ein Feld, das ich kenne: die Aufregung, den Willen selbst des konservativen Bio-Bürgertums zur Revolte, zum Umsturz. Wie sie alle darauf warten, dass endlich ein Retter kommt, einer, der endlich mal sagt, was passiert, egal wie unangenehm diese Wahrheit sei, die aber wenigstens ein einziges Mal die Wahrheit ist.
Sie alle sehnen sich danach, dass es uns endlich schlecht genug geht, dass wir nicht mehr mit Scheindebatten die Symptomatik verkleistern, sondern endlich an der Wurzel des Problems arbeiten: dem Verlust an Gemeinschaft, der Vereinzelung des Menschen im Staat, der Entfernung von Regierung und Regierten, dem ewigen Ich-Primat in Zeiten des verblassenden Gemeinsinns.
Sie alle sehnen sich danach, durch die Wahrheit von ihren Lügen, auch von ihren Selbstlügen erlöst zu werden.
Sie alle, denke ich, sage ich, schreibe ich, und meine doch nur mich.
Ich habe es satt, mich selbst mit Vorwürfen und Entschuldigungen zu überhäufen, ich habe es so satt, meinen Mund zu halten aus Sorge, irgendjemand könnte meinen wahren Gedanken zu nahe kommen. Und das nicht einmal aus Sorge, dafür abgelehnt zu werden, nein, viel schlimmer: ich habe Angst, jemand könnte auf den Gedanken kommen, mich meiner Gedanken wegen zu mögen.

"Es ging immer nur um Dich, Kirren! All die Spiele, die Marathorn trieb, alle Fäden, die er zog, alles tat er immer nur für Dich!"
"Arket, das ist doch lächerlich. Was ist an mir so Besonderes, dass er..."
"Nichts! Du bist Nichts! Du bist ein unfähiger Magier, ein ängstlicher Mensch, ein Nichtsnutz. Und doch hat Marathorn in Dir etwas gesehen, das niemand sehen konnte."
"Du täuschst Dich, das kann nicht sein."
"Weißt Du, weswegen ich mit Dir gegangen bin? Warum ich Dich beschützt habe, als die Soldaten uns angegriffen haben?"
"Weil Du mein Freund bist?" Kirren sprach das so leise aus, als ahnte er, dass dies nicht Arkets Antwort sein würde.
"Weil Marathorn es mir befohlen hat. Weil Marathorn schon seit Jahren ahnte, dass etwas geschehen sollte, habe ich immer zu Dir gehalten. Er hat mir Versprechungen gemacht dafür, er hat geschworen, es gelte, nicht nur Dich zu beschützen, sondern uns alle, doch ich glaube das nicht mehr." Arkets Stimme wurde plötzlich ruhiger, doch sein Atem verriet, dass seine Wut nicht geringer geworden war, im Gegenteil konnte Kirren die Hitze, die langsam in Arket aufstieg fast schon selbst spüren.

Die Worte fließen nicht mehr, ich muss sie mir mühsam aus der Haut schneiden, die Stimme in meinem Kopf erzählt nicht mehr, spricht nicht mehr. Ich dachte, ich hätte den Zensor, der mich schweigen lässt, schon vor langer Zeit überwunden, dass all die Wahrheiten, die ich schon für Andere aufschrieb, ihn endlich hätten machtlos werden lassen, doch ich habe mich getäuscht. Tatsächlich bin ich in noch tieferes Schweigen verfallen, habe ich mich noch mehr in meiner Wortlosigkeit vergraben, habe nach all den offensichtlichen Wahrheiten aufgehört, irgendetwas zu erzählen, als gäbe es nichts mehr zu sagen.
Doch nur, weil ich keine Worte dafür habe, heißt es nicht, dass ich nicht sprechen muss.

Die Wolken stehen wie gemalt an einem stetig sich wandelnden Himmel, die Sonne zieht rückwärts ihre Bahn zwischen Sternen, die schon verloschen waren, bevor ich erstmals meine Augen öffnete. Ich gehe zu Bett, ich stehe morgens auf, neue Tage beginnen, alte vergehen mit dem Abendrot zu Nichts als einer weiteren Erinnerung, die ich nicht haben werde.
Ich bin allein mit meinen verrinnenden Worten, mit meinen verblassenden Träumen, mit meinen Wahrheiten und meiner Angst.
Ich bin allein in einem Leben voller Menschen, ich sehe sie sich verändern, wachsen und sterben, doch nehme ich keinen Anteil, interessiere ich mich nicht. Sie alle sind wie ich, wir sind alle eins, alle sind wir allein, einsam.

Die Wolken ziehen nicht weiter, der Tag wird nicht enden, keine Nacht wird mehr kommen. 

Zur Umkehr

Von der Front
Juli 31, 2012

Und dann kommt doch wieder der Moment, da man nicht länger still sein kann; da alles Blut in den Ohren so laut rauscht, dass man es nicht mehr ertragen kann, nicht zu sprechen; da jeder Versuch, nicht aufzufallen, schon fast auffällig hinfällig ist. Anders kann ich nicht mehr, ich will und darf nicht mehr nicht sein, nicht mehr mich einhüllen in jenes Selbstmitleid, dass da Kann-Nicht, Soll-Nicht, Geht-Nicht heißt und mich noch stärker paralysiert als alles Will-Nicht vorher.

Ich komme also zurück in mein Leben, das nicht auf mich gewartet hat, ich sehe das Chaos, das Wind und Wetter, Angst und Zeit in meiner Abwesenheit angerichtet haben, und ich verliere, obwohl mehr Arbeit auf mich wartet, als wohl in einem Menschenleben erledigt werden kann, doch nicht den Mut, nicht die Hoffnung. Ich komme zurück, denn ein anderer tut es nicht.
Ich habe diese eine Chance, ich werde sie - wieder einmal - nutzen. Denn es ist nie zu spät, seine Meinung zu ändern und seine Angst zu bekämpfen.

Alle Uhren stehen still

Usus operi
Juli 31, 2012

Nichts sagen, nicht aus dem eigenen Kopf heraussehen. Die Augen bleiben geschlossen, nur diesen einen unendlich langen Moment noch. Kein Geräusch zu hören, keine Stimmen, keine tickenden Uhren, nicht einmal das Schlagen des Herzens, das Rauschen des Blutes in den Adern. Wie lange kann ein Moment dauern, denke ich, wie lange kann die Welt, wie lange können die Menschen, wie lange kann ich stillstehen, wie lange der sonst so unbeeinflussbar verrinnenden Zeit widerstehen?

Wie lange ist lange genug, wie kurz ist zu lang, wie unendlich ist diese eine Sekunde, und dann ist sie vorbei, die Zeit fließt zurück in alle Räume, mein Herz schlägt wieder, meine Augen sehen wieder das Wehen des Windes durch die Bäume der Welt, Wellen schlagen wieder an die Ufer, keine Uhr steht jetzt noch still, ich bin zurück, bin wieder da. Ich sage: "Ja."

Der kleine Bruder. Postea.

Von der Front
Januar 12, 2012

Neuerdings schlafe ich wieder schlechter. Seit ich meine Entscheidung getroffen habe, das Schreiben aufzugeben, seit ich meine Entscheidung getroffen habe, ein anderes Leben zu führen, seit ich alles auf den Prüfstand gestellt habe, schlafe ich wieder schlechter.
Morgens werde ich kaum wach, den halben Vormittag sitze ich apathisch am Schreibtisch, gegen Mittag gähne ich das letzte Mal, bevor mich am späten Nachmittag wieder die Schläfrigkeit einer unerholsamen Nacht einholt, die mich bis zu dem Zeitpunkt, da ich im Bett liege, nicht wieder loslässt.
Dann und nur dann bin ich für zwanzig Minuten wach, in denen ich mich frage, ob ich nicht doch zu früh ins Bett gegangen bin, ob ich nicht doch noch etwas sinnvolles hätte tun können, bevor ich dann in das bewusstseinsfreie Koma falle, aus dem ich am nächsten Morgen wieder emporsteige wie aus einem tiefen Meer.

Es ist anders als damals, als mich die Nachtpanik auch dann nicht zur Ruhe kommen ließ, wenn es nichts mehr zu tun gab. Über die gesamte letzte Phase meines Studiums zwischen Diplomarbeit und Abschlussprüfungen hinweg lag ich nachts wach, starrte an die Decke und dachte an das, was vor mir lag: Entscheidungen, die zu treffen waren, Menschen, die angerufen werden mussten, Textstellen, die noch einmal gelesen werden sollten; eine Zukunft, die ich mir erbauen wollte. Ich konnte wochenlang nicht durchschlafen, weil ich Angst vor dem hatte, was noch kommen würde, kommen müsste, kommen könnte. Ich hatte Angst davor, nach meinem Studium noch immer so unorientiert zu sein wie während all der Jahre, die ich einem Fach widmete, für das ich mich nur an guten Tagen erwärmen konnte.
Ich hatte Angst, zu Recht hatte ich Angst, denn was nach meinem Abschluss kam, diese Leere und das Fallen durch die Stille immer gleicher Tage, diese Wut und Selbstzerfleischung waren schlimmer als alles, was ich an meinen schlimmsten Tagen befürchtet hatte.
Ich konnte damals nicht schlafen aus Angst, der nächste Tag würde anbrechen, an dem ich wieder nicht alles von dem schaffen würde, was ich mir vorgenommen hatte.
Ich konnte nicht schlafen damals.

Heute werde ich nicht mehr wach.
Ich bin froh, sagte ich gestern zu einer Freundin, dass ich momentan so viel arbeite. Seit der Vorweihnachtszeit habe ich kaum länger als zwei Tage am Stück freigehabt.
Was daran gut sei, fragte sie.
Und ich antwortete: Dass ich nicht nachdenken muss, was kommt. Ich könnte mich nicht für eine Richtung entscheiden, und immer nur halbe Tage zu haben, um ein ganzes Leben neu zu sortieren, ist nicht genug. So muss ich gar nicht erst anfangen, so kann ich einfach so weitermachen, wie alle Menschen immer nur einfach so weitermachen in der Hoffnung, dass der nächste Tag auch keine Zeit oder Kraft lässt, sich über die Unordnung zu ärgern, sich Gedanken zu machen über die Alternativen oder den Weg dahin. Der Tag vergeht unter dem stampfenden Rhythmus der Arbeit, die ja nicht weniger wird, während man sie erledigt.
Was daran gut sei, fragte sie wieder.
Alles, sagte ich mit der Andere befremdenden Unbetontheit, in der lebenswichtige Erkenntnisse aus meinem Mund fallen, alles und nichts. Ich kann bei der Arbeit die Augen davor verschließen, dass meine Entscheidung gegen das Schreiben mich eine Welt gekostet hat, in die ich über Jahre Kraft und Kreativität gesteckt habe, und dass ich jetzt, wo ich diese Entscheidung getroffen habe, einfach nicht weiß, was ich mit all der freien Zeit anfangen soll. Ich kann bei der Arbeit ausblenden, dass ich nicht weiß, wohin ich nun gehe, da ich ja nicht mehr stehenbleiben will.
Was also gut daran sei, musste sie ein drittes Mal nicht fragen. Mein Blick ging weit genug ins Leere, hatte keinen Punkt mehr, an dem er sich festhalten konnte, fiel in die offene Weite der Welt, die neuerdings so offensteht wie lange nicht mehr. Ich starrte in diese Leere und spürte wieder die Müdigkeit in mir aufsteigen, die ich nun schon so gut kenne, seit ich meine Entscheidung getroffen habe.
Die ich kennengelernt habe in der Zeit, da ich wieder schlechter schlafe.

Die einzige Wahrheit. Ein Axiom zum Selberbasteln.

Usus operi
Januar 5, 2012

Die Bloggerin Sherry (Iranique) suchte in ihrem Blog nach der letzten Wahrheit und jenen, die nicht scheuen, über die Grenze des Denkbaren zu denken. Ein versuchter Grenzübertritt.
Götter, Wahrscheinlichkeiten, Weisheiten, Wahrheiten. Der menschliche Geist hat sie alle erfunden, um sie zu ergründen. Und wird letztlich nicht anders können als zuzugeben, dass sie ohne den Menschen nicht existierten. Es gibt eine Realität, und es gibt Meinungen darüber, die Wahrheit genannt werden, doch erstere ist einmalig und letztere immer relativ und dadurch Legion. Dies ist so, weil kein Mensch die subjektive Realität, also die individuell wahre Ansicht vom Sein aller Dinge eines anderen Lebewesens, ja nicht einmal eines anderen Menschen, und sei es ein eineiiger Zwilling, teilen könnte.

Wir können versuchen, die Welt aus der Sicht eines Schmetterlings darzustellen, doch auch das wird nur unsere Interpretation der tatsächlich vom Schmetterling empfundenen Realität sein, die der absoluten Realität selbst nicht entspricht.
Für die meisten Menschen ist dieser Gedanke zu beunruhigend, weil er uns allen die Fähigkeit abspricht, wirklich über unser Leben, wirklich über uns selbst, wirklich über irgendetwas zu verfügen, weil wir immer etwas übersehen. Übersehen müssen, denn obwohl unser Geist hochrezeptiv ist, kann er nur erkennen, was zu erkennen er geschult ist. So wie wir aber nicht unseren eigenen Hinterkopf ohne Hilfsmittel oder Wahnsinn erkennen können, stößt selbst die neugierigste Betrachtung an ihre Grenzen.

Auf der Basis dieser unvollständigen Wahrnehmung entstanden menschliche Konzepte wie die Wahrheit, die Weisheit, die Wahrscheinlichkeit. Vieles von dem, was wir nicht wahrnehmen können, sprachen frühere Menschgenerationen dem Übernatürlichen zu, dem sie die Form von Göttern und schließlich, im Laufe der fortschreitenden Selbst-Erkenntnis, die Form eines einzigen Gottes gaben, den sie später wiederum mit den von ihnen erfundenen Mitteln der Wissenschaft obduzierten.
Das Möbiusband der subjektiven Realität macht dies gleichzeitig wahr und unwahr. Wir erkennen mit der Hilfe unseres imperfekten Intellekts, dass unsere Erkenntnisfähigkeit auf den Horizont der begreiflichen Realität begrenzt und niemals darüber hinausreichend ist: Natürlich hat Gott uns den Geist gegeben, ihn zu dekonstruieren. Natürlich hat eine Reihe von Zufällen zu der Erkenntnis geführt, dass es Zufälle nicht geben kann in einer multifaktoriell variaten Realität, deren Faktorengesamtheit nicht erkannt werden kann.
Das heißt nicht, dass sie keinen Regeln folgt. Wir können diese Regeln nur nicht überblicken oder definieren und bezeichnen sie daher als Wahrscheinlichkeiten.

Der Mensch hat sich durch die Ergründung dessen, was er als seine Realität wahrnimmt, selbst erschaffen. Das ist seine größte kulturelle Leistung. Dass jede darüber hinausgehende Erkenntnistheorie an sich selbst scheitern muss, liegt auf der Hand, denn zur Beschreibung eines Sachverhalts braucht es eine Metaebene, die es außerhalb der menschlichen Erkenntnisfähigkeit nicht für den Menschen geben kann.
Vielleicht kann dereinst eine Art Metamenschheit beschreiben, wie unsere Wahrnehmung der Realität ausgesehen hat, aber selbst dann wird es eine Interpretation sein, die auf den erkennenden Erfahrungen der Metamenschheit mit unseren Zeugnissen beruht und daher ebenfalls nur eine subjektive Realität darstellen kann.
Wir sind, das ist die für die Menschheit unumstößliche Realität: Wir sind Menschheit. Und doch könnte ein einzelner Vertreter dieser Menschheit von sich behaupten, er sei der Einzige und sein Wahnsinn spiegele ihm die komplexen Vorgänge in der Welt nur vor.

So wie ich nicht meinen eigenen Hinterkopf beobachten kann, kann ich nicht sagen, ob ich nicht jener Wahnsinnige bin, der sich seine Realität in jeder Sekunde neu aus dem erfindet, was bisher an erfahrener Wirklichkeit war, die ebenso auf Basis des bislang Erfundenen erfunden wurde. So könnte für mich und meinen Wahnsinn die Realität der Zeitpunkt zwischen zwei Illusionen sein, die ich Vergangenheit und Zukunft nennte.
Weisheit ist dies noch immer nicht, genauso wenig wie Wahrheit. All dies ist eine wahre Lüge, eine interpretierte Erkenntnis des Unerkennbaren. Es ist wie die Erfindung Gottes durch den gottgeschaffenen Menschen: ein Axiom, unauflösbar, unerklärlich.

Nicht, nicht, nicht. Doch.

Usus operi
Januar 2, 2012

Durch einen Java-Virus mit der Frage konfrontiert, ob ich mein Blog wiederauferstehen lassen oder doch endlich das aufgeben soll, was mir so oft als notwendige Last erschien, habe ich mich (mal wieder) für ein Weiter-so entschieden.

Schwach nenne ich das bei anderen, wenn sie Dinge, von denen sie nicht vollständig überzeugt sind, nicht lassen können. Schwach nennte ich das auch bei mir, wäre es nicht einer meiner wichtigsten Wesenszüge: Nicht-Loslassenkönnen, Nicht-Aufgebenwollen, Nicht-Endgültigentscheiden. Eine Entscheidung zu treffen, und sei sie scheinbar noch so unwichtig, fiel mir noch nie leicht.
Vielleicht ist es ein wesentlicher Wesenszug der Menschen, immer alles haben zu wollen und auf nichts verzichten zu können. Doch je mehr ich diesen Wesenszug bei mir selbst beobachte, der umso stärker wird, je älter ich werde, desto mehr befürchte ich, dass es jener ist, der alte Menschen, die jenseits des Lebenswerten stehen, dazu bringt, sich an ihrem letzten Bisschen Existenz festzuklammern wie ein Ertrinkender an der Hoffnung, doch noch gerettet zu werden, auch wenn das Wasser schon die Lunge füllt.
Meine Großeltern haben so geklammert und auch die des Freundes und auch die meisten Menschen, die ich während meiner Zivildienstzeit im Krankenhaus beim Sterben begleitet habe. Sie alle hatten die Fäuste geballt, wie um das wenige zu halten, was ihnen noch geblieben war: den letzten Atem, das letzte Licht vor dem Dunkel, der letzte dann doch verklingende Ton. Sie alle haben gekämpft, als gebe es noch etwas zu gewinnen und nicht nur zu verlieren, wenn der Tod doch ein letztes Mal an dem fast vollständig vom Leben verzehrten Leib vorübergeginge. Als käme noch Leben in den schon halbtoten Leib.

Die Entscheidung, das Weblog zu reaktivieren, scheint trivial angesichts dessen. Es geht nur um geschriebene Worte, die wenige lesen und die kaum Einfluss haben auf das Denken und Tun anderer Menschen. Ich berichte nicht von Dramen oder Tragödien, nicht von Trauer oder Freude. Ich kann nicht mit Revolutionen aufwarten oder Reformen. Ich kann nur einen Einblick geben in das Leben eines Blockierten, in die Existenz eines Sich-Selbst-Blockierenden, der nicht loslassen, nicht aufgeben, nicht entscheiden kann, und der sich damit das Leben vom Leib hält.

Jack of all trades

Von der Front
Dezember 15, 2011

Die Entscheidung zu fällen, den Traum vom professionellen Schreiben aufzugeben, war einfach. Sie nicht als Niederlage zu begreifen, wird schwer werden, schwerer noch, da ich nicht weiß (und nie wusste), was sonst ich mit meinem Leben anfangen wollte.

Seit dem Ende meines Studiums, das mir einmal Sinn, Struktur und Selbstdefinition gegeben hat, sind Jahre des schleichenden Verlustes vergangen. Viel ist von all dem Wissen nicht übrig außer der verblassenden Erkenntnis, dass ich schnell lerne und langsam vergesse, dass ich gut mit Menschen umgehen, sie trotzdem nicht leiden kann.
Was macht man damit? Wie kann man das nutzen, um nicht zurückzufallen in die Lethargie der Vergangenheit, die jeden Tag und jede Stunde lockt, ich könne noch immer umkehren und die Geschichte aufschreiben, die Visionen festhalten, die zu haben ich glaube und doch nur Schlaglichter eruptierender Kreativität sind?
Ich habe es versucht, habe jeden Tag ein halbes Fragment, drei oder vier Sätze geschrieben, nur um festzustellen, dass die Sätze, die ich in meinem Kopf trage, sich nicht in feste Buchstaben fügen wollen. Vielleicht habe ich immer noch zu viel Angst vor dem Scheitern oder vor dem Verlust. Vielleicht bin ich auch anderweitig blockiert.
Unabhängig von Gründen scheitere ich aber immer wieder; das Bild, das ich malen will, erscheint nicht, die Worte, die ich finden will, rinnen mir wie Wasser durch die Finger. Mit jedem Misserfolg, habe ich gelesen, schwindet die Kraft für einen erneuten Versuch, das Monster zu bekämpfen. Von Sieg stand da nichts, und ich hoffe zwar einerseits, dass der Kampf alleine schon ein Sieg ist, befürchte andererseits aber, dass, wenn dem so sei, ich schon verloren habe.
Verloren, aufgegeben, hinter mir gelassen, wer weiß schon genau, wann das Gehirn den nächsten Bruch im Lebenslauf zu einer aktiven Entscheidung umerinnert.

Was mache ich als nächstes, frage ich mich.

Heute im Elektronikfachmarkt plötzlich vor Computerspielen aufgewacht ohne eine Erinnerung daran, was ich dort wollte. Wie ich mich nie daran erinnere, bewusst irgendwohin gegangen zu sein. Ich erinnere mich an die Orte, an denen ich war, ich erinnere mich verblüffend gut an Gesichter und nie an Namen, ich erinnere mich manchmal sogar an Dinge, die erst noch geschehen müssen.
Und doch kann ich keine einzige Entscheidung von mir als solche wiedergeben. Nie ist etwas passiert, weil ich es bewusst wollte.
Dinge geschehen, und ich ahne, dass ich am Geschehenlassen teilhabe, nur wie und wann und wo, das habe ich nicht erlebt. Kreativ will ich sein, ein Schaffer, Erschaffer. Egal, was wird, immer werde ich Dinge sehen, Momentaufnahmen machen; und was immer wird: eine Collage, die Neues erzeugt aus sich selbst, aus mir und meiner Umgebung. Da die Realität formbar ist, erschaffe ich sie selbst aus den Splittern dessen, was andere sehen. Design nennt man das wohl oder Erfindungsgabe, Schöpfung oder Chaos aus Ordnung aus Chaos. Lifecycle mechanisms.

Wie schön wäre es, selbst ein Mechanismus zu sein, kein Wesen mit haltlosem Willen, der zwar relativ in seiner Freiheit, aber absolut in seinem Freiheitswillen ist. Wie schön wäre es, einfach zu funktionieren, nach Regeln, nach Programmen, nach Standards; wie schön, funktionierte man dank Rädchen und Bändern, Schaltkreisen und Lötstellen.
Ja, das Gehirn ist ein Riesencomputer, das Programm läuft und läuft die ganze Zeit und der freie Wille ist ein Theaterstück für den Geist, der nicht denken soll, es gebe ihn nicht; der Geist darf das nie erfahren. er zerbräche daran.
Critical Error.
Ausnahmefehlstelle.
Identifikatorischer Nullpunkt.
Selbstverständnisimplosion.

Kreativ also will ich sein, kann ja nichts anderes, schnitze in Gedanken ja schon wieder Möbel und entwerfe Stoffe, grabe im Geiste Gärten um und tapeziere Wände. Angst habe ich, dass ich nichts davon jemals mache, obwohl ich es könnte, entschiede ich mich nur für ein einziges.
Aber was ist mit dem Anderen? Es gibt noch so vieles, was getan werden muss und möchte. So vieles was gelernt und vielleicht irgendwann vergessen werden kann.
Vielleicht kann ich alles machen?
Designer, Programmierer, Autor, Koch, Ernährungsberater, Gärtner, Verkäufer, Schriftsteller (ja, dann doch wieder), Biochemiker, Lehrer, Politiker, Psychologe, Künstler. Irgendwann auch einmal wieder Freund. Irgendwann wieder Lebenspartner. Jack of all trades, so nennt man den Hansdampf, den Tausendsassa im Englischen. Einer, der vieles beginnt und nichts beendet, der vieles ein bisschen und nichts richtig kann. In allen Sprachen gibt es ihn, den Mann mit den tausend Messern, von denen keines schneidet, dem, der so vieles festhalten will, dass ihm alles aus den Händen fällt.
Jack of all trades, master of none.

Es ist schwer, an einer Entscheidung festzuhalten, die so sehr nach Aufgeben aussieht. Und doch kann ich nicht mehr gegen mich kämpfen. Nicht so, mit der Aussicht auf den nächsten Misserfolg, auf die nächste Enttäuschung. Nicht jetzt, nicht in diesem Winter, nicht noch einen Winter.
Ich fürchte mich vor dieser kommenden Zeit, mehr noch als ich mich bisher vor dem Winter gefürchtet habe, denn ich werde endgültig auf den Nullpunkt zusteuern, den ich vermeiden wollte.
Die Ausnahmefehlstelle.
Der Schmerz der absoluten Wahrheit.
Aber welche Wahl habe ich schon? Der Schmerz bringt die Menschen zu sich, habe ich in einem anderen Leben geschrieben; Schmerz ist ein Warnsignal, ein machtvoller Indikator für falsche Entwicklungen, er ist nicht allein schlecht oder zerstörend. Er kann uns auch leiten, wenn wir an Orten sind, wo wir nicht mehr sehen. Wenn wir nicht mehr wissen, wer wir sind. Wenn wir alles können, aber nichts wollen, muss vielleicht der Schmerz uns leiten.

Wachstumsschmerzen. Ende einer Ära.

Usus operi
Dezember 10, 2011

Seit ich schreiben kann, schreibe ich.
Gedichte, Fragmente, Aspekte meiner Tage und Nächte. Schreiben ist so sehr zu einem Teil meiner Person geworden, dass ich nie daran gezweifelt habe, zum Schreiben geboren zu sein, zu nichts anderem geeignet als Schriftsteller zu sein.

Die Erkenntnis, dass eine solche Grundsicherheit, ein so wichtiger Aspekt meiner Identität falsch ist, hat mich erschüttert, so sehr, dass ich allem Alten, das im Schlaglicht der neuen Perspektive fremd und unvertraut aussah, entfliehen wollte. Ich wollte fort, nur fort, ohne Ziel, nur irgendwohin, wo die einstige Sicherheit noch gültig sei. Doch so einen Ort gibt es nicht. Kann es nicht geben. Ich hätte die Wahrheit nur vor mir verstecken, mich an mir selbst aufreiben und den Impuls der Erkenntnis unterdrücken können, um dann noch mehr Jahre später festzustellen, dass ich den größten Teil meiner Kraft auf einen Traum verwendet hätte, dem ich entwachsen war.

Autor zu sein, heißt Geschichten erzählen, unterhalten zu wollen. Schreiben, richtiges Schreiben ist harte Arbeit; ein Schriftsteller, noch dazu einer, der Erfolg haben will, muss konzentriert an seinen Texten arbeiten, selbst wenn er keine Lust darauf hat, selbst wenn er angeschlagen, müde, traurig, abgelenkt, uninspiriert ist. Er schreibt nicht aus einer Laune oder Inspiration heraus, sondern weil er dafür und davon lebt.

Ich kann das nicht, ich habe das nicht gelernt, ich weiß auch nicht, ob ich das wirklich lernen will oder kann. Ich bin notorisch unkonzentriert, unfokussiert, kein konsequenter Schreiber, kein disziplinierter Mensch. Ich schreibe inspirations-, situationsgetrieben, brauche den Schreibfluss, aus dem heraus ich erst schreiben kann. Und wenn sich dieser Zustand nicht einfindet, dann bin ich zwar nicht glücklich, schreibe aber eben auch nicht.
Richtige Geschichten habe ich auch nie geschrieben, immer nur Erkenntnisse, Erlebnisse, Meinungen, Momentaufnahmen, Fragmente und Aspekte meines Lebens festgehalten. Und auch, wenn ich mit Sprache gut umgehen kann und ich wahrscheinlich auch einen eigenen Schreibstil habe, reicht das doch nicht für ein Leben als Schriftsteller, es qualifiziert nicht für einen Beruf, der mir so lange als mein natürlicher Lebensweg erschien.
Die Erkenntnis ist schmerzhaft. Und beängstigend. Aber eben auch befreiend. Denn dass ich kein Schriftsteller bin, heißt ja nicht, dass ich das Schreiben aufgeben muss.
Die Erkenntnis nimmt mir lediglich den Druck, mit dem, was ich schreibe, erfolgreich zu sein. Gefühlt habe ich diesen Druck nämlich immer, Erfolg hatte ich dagegen nie. Denn wie auch, wenn ich nur für meinen Selbsterkenntnisgewinn schreibe und nicht für den Erkenntnisgewinn potentieller Leser.

Das Schreiben hat mir viel Kraft gegeben, hat mich emotional und psychisch stabilisiert und weitergebracht, es hat mich Ordnung in meinem Chaos finden lassen. Und es hat mir zuletzt eben auch gezeigt, dass ich mich mit meinen Traum vom Schriftstellersein lange Zeit davon abgehalten habe, meinen eigentlichen Weg zu gehen. Ich habe lange Zeit gedacht, ich sei angekommen.
Dabei bin ich nur stehengeblieben.
Nun gehe ich weiter.

Kreuzung

Usus operi
Dezember 8, 2011

Wieder stehe ich an diesem Scheideweg, dieser Kreuzung, die nicht rechts oder links heißt, nicht oben oder unten, nicht zurück oder voran, sondern wollen oder nichtwollen. Die Entscheidung zur Entscheidung, wie vorher und doch wie keinmal zuvor, hat mich wieder an den Rand meiner Handlungsfähigkeit, meiner Bewegungsfähigkeit gebracht. Ich sehe keinen Weg, ich sehe keine Lösung.
Vielleicht ist es der Winter, vielleicht ist es die immer früher hereinbrechende Dunkelheit, die wenigstens den Regen und das nachnovemberliche Grau vor meinen Augen verbirgt, die mich verzweifeln lassen, zweifeln lassen an der Sinnhaftigkeit meiner Entscheidungen, zweifeln lassen an der Sinnhaftigkeit, Notwendigkeit, Wirksamkeit von Entscheidungen an sich.

Nach Aufgabe meines Romanprojekts, an das ich mich immer noch im Geiste klammere, weil ich ja nichts anderes habe, humple ich wie ein Kriegsversehrter durch mein Leben. Von Woche zu Woche breitet sich die intellektuelle Entzündung weiter aus, meine Nächte werden zusehends wieder von der Frage beherrscht, wie mein Leben aussehen soll in einem Jahr, in zweien, in fünf. Wie ich mein Leben leben will, was ich machen will, was mich glücklich machen kann oder soll.
Ich bin noch nicht wieder soweit, dass ich die Menschen mit richtigen Berufen beneide, mit Berufen, in die hinein man ausgebildet wurde, noch bin ich nicht soweit, die Sehnsucht nach einem

Ich kann das auch gar nicht. ich könnte gar keine Ich muss suchen und aufgaben lösen, ich muss Probleme finden und deren Lösungen. Ich kann gar nicht anders mehr.
Konnte ich vielleicht noch nie.

Gebet

Usus operi
Dezember 6, 2011

Liebes Gott-Axiom,
das gleichzeitig ist und nicht ist,
vielfältig und ungenannt sei Dein Name,
denn Dein ist mein Wille
und Dein meine Macht,
wie Deine Stimme die meine ist
und mein Herz das Deine.

Wir beide wissen, dass Du nicht existierst in einem religiösen, verehrungsbedürftigen Sinne, und wir beide wissen, dass Du in dem Sinne real bist, wie ich Dir das Recht dazu gebe. Wir beide wissen, dass Du weder Erlöser noch Ratgeber bist, sondern Richtschnur und Gewissen, innere Stimme und ehrliches Herz. Wir beide wissen, dass Du die Angst nicht fühlst, die mich nächtens ergreift, dass Du nicht die Unruhe spürst, die mich am Tage beherrscht, dass ich mich aber an Dich wenden kann, wenn ich Trost brauche, Liebe suche, wenn ich nicht alleine sein kann und es trotzdem bin.

Liebe gottgleiche Stimme,
ohnmächtig und allmächtig,
blindes und sehendes Auge,
taubes und fühlendes Herz,
ich brauche Hilfe und Führung
und Stärke und Mut.

Ich habe meinen Weg aus den Augen verloren in den Jahren, in denen ich dachte, alles werde sich fügen; in all den Jahren, da sich nichts fügte. Ich habe die Kraft verloren, meinen Dämonen zu widerstehen, die mich locken wollen in Abgründe außerhalb meiner Seele und meines Seins.

Ichfragmente

Usus operi
Dezember 4, 2011

Derzeit brenne ich nicht. Habe ich bis auf wenige Ausnahmen eigentlich nie.
Manchmal, wenn ich schreibe, wenn ich in diesen Fluss gerate, der mich nicht daran zweifeln lässt, dass ich eine Geschichte zu erzählen habe, die andere hören wollen, dann brenne ich, lodert ein Feuer in mir, das mich nicht verzehrt, sondern den Weg, der vor mir liegt, erleuchtet.
Jetzt aber ist alles dunkel, alle Stimmen stumm und meine Worte fort. Ich brenne nicht, leuchte nicht, erschöpfe all meine Kraft darin, morgens aufzustehen, tagsüber zu funktionieren und abends einzuschlafen, als sei ich ein normaler Mensch wie alle anderen.

Und wahrscheinlich bin ich das auch, doch will ich nicht sehen, dass hinter ihren Mauern auch die Anderen Angst und Traurigkeit und Selbstzweifel und Einsamkeit spüren. Sie alle, die nicht brennen, nicht leuchten, erschöpfen sich darin, normal zu wirken wie die anderen.
Musik hilft, denn sie ist eine Nichtsprache, die jeder verstehen kann. Sie, die vor Worten war, berührt die Seele ohne den Umweg über das Gehirn. Ich kann mich vergessen, meine Sorgen, meine Schwäche, meine Orientierungslosigkeit, denn ich habe wieder ein Ziel: aufgehen in der Musik, nur Ohr sein und lauschender Geist, und bald tanze ich, bald rollen Tränen über mein Gesicht, und ich spüre mich wieder, mich unter all dem Schmerz, der Einsamkeit und Nichtverstehenwerden heißt, der Angst und Selbsterkenntnis ist. Musik hilft und so höre ich an jedem Tag viele Stunden ein Lied, manchmal zwei, bis ich so sehr in einem Rhythmus gefangen bin, dass ich die Abenddämmerung verpasse und den Aufgang der Sterne und spät erst, wenn der nächste Morgen wieder naht, einschlafen muss.
Konzentrieren geht aber auch nicht. Zu verworren ist alles, zu hin- und hergerissen, zu will-nicht-will-doch-gespalten ist der Geist, dass er nicht formulieren kann, was sein soll und was zerstört. Alles wird hingenommen und akzeptiert, abgehakt für ein Später, in dem es auszusortieren gilt, ein Später, dessen Nichtexistenz, dessen Niemalsexistenz ich jetzt schon sehe.

Wie kann das sein, frage ich mich: etwas sehen, das nicht da ist, das aber auch keine Fehlstelle, kein Nichtbild hinterlässt. Etwas sehen, das erst später nicht sein wird, das aber auch jetzt nicht ist, ein Negativ zu einem nicht geschossenen Foto. Ein Erkenntnisfehler wohl, ein Erwartungsaxiom. Und vielleicht, das befürchte ich zunehmend, ein Lebensprinzip, ein Leidensprinzip: Ziele ansteuern, die sich noch vor Nichterreichen als Luftspiegelung entpuppen, als Niemalsland. In welcher Wüste lebe ich, frage ich mich, dass ich immer und immer weiter vorangehe, ohne jemals den Horizont zu erreichen.

Tryptichon: Beckmann, die Argonauten und ich.

Von der Front
November 30, 2011

Städel Frankfurt: Beckmann & Amerika. Farbüberfüllt die Emotionen des Nachkriegsexilanten Beckmann, der in seiner neuen Heimat Amerika gröber malt, wie überfordert Bilder auf die Leinwand wirft mit starken Kohlerändern und in schwermütigen Tönen. Beckmann, der vor seiner Ausreise in die Vereinigten Staaten zehn Jahre in den Niederlanden gelebt und in innerer Emigration verbracht hat, findet in Amerika eine neue, kraftvolle Bildsprache, die gleichzeitig sich selbst nicht gewachsen scheint, keine detaillierte Wiedergabe des Gesehenen mehr ist, sondern nur eine Ansicht widerhallender Details seines neuen Lebens.

Ich mag Beckmann in diesem Moment nicht. Immerhin mag ich, denke ich, bis ich die Argonauten sehe, nur gegenständliche Kunst, bei der ich weiß: es erfordert viel Übung und Durchhaltevermögen, ein Bild so zu malen, dass es aussieht, wie das, was es zeigt. Vielleicht natürlich, weil jeder Hyperrealismus meine latente Überzeugung stützt, dass ich das nicht könnte und der Künstler darum rechtens Künstler genannt wird.
Bei Beckmann spüre ich das so nicht. Bei seinem letzten Triptychon allerdings durchfährt mich der Gedanke, dass ja alle Gegenständlichkeit nichts nutzt, wenn sie nichts aussagt, wenn sie den Künstler nicht auch zum Interpreten der Wirklichkeit macht. Kunst dient ja nicht allein dem Festhalten des Moments, Kunst spricht ja die Seele an, den Geist, das Herz. Kunst, die nur zeigte, was ist, erzeugte kein Nachdenken, keine Reflexion des Gesehenen. Natürlich bewunderte man den Fleiß des Malers, die vollendete Beherrschung des Handwerks, doch einen Künstler definiert über das Handwerk hinaus ja auch die Fähigkeit, mit dem Gesagten das Ungesagte, mit dem Gezeigten das Ungezeigte, mit dem Dargestellten das Fehlende aufzuzeigen.

So seltsam ich die Argonauten auf dem Bild Beckmanns wie in der eigentlichen Sagen- und Geschichtensammlung finde, spricht in mir etwas an, erzeugt Widerhall und Widerspruch und Widerborst, plötzlichen Widerwillen gegen diesen ewigen Wunsch der getreulichen Abbildung, die nichts aussagt, die nichts öffnet, die nichts wiedergibt als das Abbild der Wirklichkeit, die es so ja ohnehin nicht gibt.
Macht das große Kunst aus, frage ich mich, und weiter: was macht mich als Künstler aus, wenn ich immer bemüht bin, keine Ellipse zu verfassen, keine Fehlstellen zu erschaffen? In allem, was ich schreibe, was ich ernsthaft so schreibe, dass ich daran zu scheitern scheine, arbeite ich mich so nah an einer Vorstellung von Realität ab, die mir aber nicht vollends geläufig ist. Denn diese Realität, deren Abbild ich formen will, gibt es nicht, kann es nicht geben, so lange sie mein Gedankenkonstrukt ist. Daran scheiterte ich immer, denke ich, an der Besessenheit, genauer als genau zu sein und ein Hundertzwanzigprozenter.

"Nein! Natürlich ein Hundertfünziger!", ruft der parasitäre Zensor, der noch nicht verstanden hat, dass er sich selbst zerstört, wenn er mich zerstört, "und natürlich muss man dazu sagen, dass große Kunst ja mal was völlig anderes ist als Fragmente von allem und jedem oder die Gedankenlosigkeit, mit der sich hier produziert wird; und überhaupt sollte mal jemand anderes Anders sein. Jemand mit weniger unbegründeter Arroganz vielleicht."
"Halt doch die Schnauze", brülle ich ihn an und brülle gleichzeitig vor Schmerz, denn getroffen hat er natürlich doch, der Zensor, und ich blute schon wieder.

Starren Blickes bleibe ich stehen vor dem Triptychon, starren Blicks nach außen auf die Leinwand und nach innen auf die aufgewühlte Seele, die nicht weiß wohin mit sich, die das nie weniger wusste als derzeit, da aller Sand, auf den die Zukunft war gebaut, geflutet, ausgewaschen ist.
Ich bin all dem nicht mehr gewachsen, denke ich, bin überfordert mit allem, dass meine Worte nicht mehr reichen, nicht mehr sagen können, was ich fühle, was mir fehlt. Vielleicht, denke ich, ging es Beckmann ebenso in jener Zeit in und vor Amerika, als er gegen die Wellen in sich kämpfte, gegen den Widerhall all dessen, was er sah und nicht wiedergeben konnte. Vielleicht, hoffe ich, geht es mir wie Beckmann, dass auch ich irgendwann wieder sprechen kann.

Der Stillstand. Der verfluchte Stillstand.

Von der Front
November 25, 2011

"Dieser Stillstand", fluche ich. Und wirklich, auch wenn ich es seltsam finde, nicht rhethorisch flach zu fluchen, fluche ich so. "Dieser Stillstand", also, "dieser verfickte ewige Stillstand. Dieses ewige Nichtankommen, dieses unsägliche Nichtvomfleckkommen, diese beschissene Untätigkeit!"

Ich räume auf. In den letzten Tagen, da ich krank im Bett und auf dem Sofa lag und alles, was schwerer als ein verrotztes Taschentuch war, einfach fallenlassen musste, weil mir sowieso alles entglitt, hat sich Unordnung in der Wohnung angesammelt, an Ecken, da kann ich mir gar nicht erklären, was ich da gemacht habe. Ich räume also auf, finde nicht ein, sondern gleich zwei angelesene Taschenbücher unter dem Sofa, Schüsselchen mit ausgedrückten Teebeuteln im Schlafzimmer, in der Küche, auf dem Schreibtisch und im Wohnzimmer, ein angebissenes Croissant neben dem Bett.
Offensichtlich war ich nicht nur krank die letzten Tage, sondern überwiegend bewusstlos und schlafwandelnd. Mich regt das auf. Umso mehr, da ich derweil noch nicht wieder richtig gesund bin, im Gegenteil immer noch den dumpfen Druckschmerz der Nebenhöhlenentzündung spüre und den Schleim, diesen ewigen, widerlichen, unbeweglichen Schleim, der mein Gehirn verstopft.

Ich bin nicht oft krank. Krankheit, das habe ich während meiner Arbeit in dem alternativen Ausbildungsbetrieb gelernt, ist ja immer auch eine Kopf- und Einstellungssache: wer nicht krank werden will, wird es in der Regel auch nicht; Krankheit ist also ein Zeichen auch dafür, dass das Leben, das wir führen, nicht das ist, das wir führen wollen, weil wir es ja sonst so führen würden, dass es uns nicht krank werden ließe.
Ich habe lange gebraucht, bis ich das verstanden habe, auch wenn ich schon immer wusste, dass das stimmt. Ich habe immer nur dann Krankheiten gehabt, wenn ich unglücklich war; nie wurde ich unglücklich durch Krankheiten. Selbst als ich Filzläuse hatte, ging es mir nachher besser als vorher, immerhin brachte es mich dazu, eine ungesunde Beziehung zu beenden.
Gut aber, dass ich jetzt noch krank bin und nicht kraftstrotzend gesund. Laut brüllen würde ich sonst und nicht nur gemäßigt fluchen, während ich aufräume und mir mit jedem Teebeutel, den ich wegwerfe, und jedem Buch, das ich wieder an seinen Platz stelle, vorstelle, wie ich auch Stücke meines ungeordneten Lebens wieder ordentlich aufreihe und ein Muster aus den Bruchstücken meiner Vergangenheit zusammensetze, das mich nicht denken lässt: "Soll das so sein?"
Und so sitze ich, angeschlagen immer noch und daher auch ein wenig rührselig, plötzlich vor einem Karton, in dem ich Fotos aufbewahre, die mich an dieses elende Früher erinnern, in dem ich offensichtlich so viel fröhlicher war. In dem alle so viel glücklicher aussehen, nicht so sehr nach November und Verantwortung, sondern nach Urlaub und Badespaß, nach Weihnachtsmarkt und Frühlingserwachen. Zurück will ich dann, in diese Zeit, die so fern scheint und so friedlich, so viele Depressionen entfernt. Entscheiden könnte ich mich nicht leichten Herzens, fragte man mich, in welche Richtung ich gehen wollte, hätte ich die Wahl, ob voran oder zurück.
Und wahrscheinlich ist das auch die Antwort auf mein Fluchen: ich suche den Stillstand, diesen ewigen, unveränderlichen, nichtankommenden, nichtvomfleckkommenden, verfickten Stillstand, weil ich nicht weiß, was ich will.
Und so bleibe ich sitzen, zwischen Vergangenheit und Zukunft, mit dem Stechen der Krankheit im Kopf und der Hoffnungslosigkeit aller Winter im Herzen.

Lichterfest. Was man so will.

Von der Front
November 23, 2011

Die eigentliche Frage - nämlich: wohin will ich mit mir und meinem Leben? - bleibt natürlich unbeantwortet.

Jedes Feuer, das ich entzünde, brennt für mich alleine, bevor es erlischt. Doch ich trage mein Licht ja auch nicht hinaus in die Welt, die doch ohnehin schon überbeleuchtet ist von Lichtern und Leuchten und Blendern. Ich bin mir selbst genug, sage ich im Wissen, dass das nicht stimmt, dass niemand je sich selbst so sehr genug war, dass er nicht von mehr als dem geträumt hätte als er je besaß.

Mit dem Freund streife ich mal wieder durch Möbelhäuser auf der Suche nach einem neuen Kleiderschrank.
"Nicht zu hoch", sage ich und denke an die wenigen Kleidungsstücke, die ich wirklich liebe (fünf T-Shirts, zwei Hosen, drei Strickjacken, ein Pullover), und an die vielen, die ich trotzdem habe.
"Vielleicht reicht auch eine Kommode", murmele ich, der Freund ist aber eh schon wieder außer Hörweite, ist vor einer Schrankwand stehengeblieben, die ich ignoriert habe. So viel in meinem Leben könnte ich aussortieren, denke ich, Kleidung und Bücher, Möbel und CDs. Den Computer, denke ich kurz, bevor mir einfällt, dass das nicht geht, dass der Computer meine Lebensader geworden ist, dass der Computer mir zumindest das Gefühl von Teilhabe an etwas gibt, das ich nicht benennen kann, das sich aber als irgendwas zwischen Facebook und Blog und E-Mail-Programm anfühlt. Gemeinschaft vielleicht, denn das fehlt mir, wenn ich so viele Tage alleine zu Hause bin, nichts anderes mache als zu lesen und ab und zu mal etwas zu schreiben.
Gemeinschaft, die ich andererseits aber auch fast genauso schnell wieder verlassen möchte: Nähe bekommt mir nicht, nicht immer jedenfalls. Die Erblast des Außenseiters, denke ich und weiß gleichzeitig, dass es mangelndes Selbstbewusstsein ist, das mir das Gefühl gibt, niemals meinem Gesprächspartner ebenbürtig zu sein. Und dass es eben dieses mangelnde Selbstbewusstsein war, das mich erst zum Außenseiter gemacht hat, nicht umgekehrt.
Und dann frage ich mich, wie viel Kraft mich das in den letzten Jahren eigentlich gekostet hat, Außenseiter zu bleiben, mich sogar als Außenseiter weiter von allem fort zu bewegen, gesellschaftsinkonforme Überzeugungen zu pflegen, nicht meine Seele an einen Konzern zu verkaufen, nicht ein Schaf in der Menge zu sein, sondern der Wolf.
Viel Kraft muss das gewesen sein, und ich muss mich setzen, so schwach fühle ich mich plötzlich.
Wie viele Menschen kämpfen so jeden Tag gegen sich selbst?
Wie viele Menschen denken seit Jahren: so, wie sie ist, kann diese Gesellschaft, nicht mehr funktionieren?
Wie viel Energie wird für Selbstverleugnung verbraucht, wie viele Menschen verbrennen sich jeden Tag, wenn sie im Stau zu einer Arbeit stehen, deren höheren Sinn sie nicht sehen?
Wie viel Kraft geht dabei verloren, nicht man selbst zu sein, Kraft, die dann dazu fehlt, freundlich zu sich und anderen zu sein?
Wie viele Menschen entzünden erst im Stillen ihr Licht und lassen es nur für sich leuchten, verschämt ob der Schönheit, die sie in sich tragen?

"Hier bist du ja", reißt mich der Freund aus meinen Gedanken. "Ist was? Du siehst so angestrengt aus."
"Ich habe nachgedacht." Und weil ich den Freund nicht immer mit so verstörenden Gedanken beunruhigen will, sage ich noch: "Über Möbel."
"Schlimm, nicht? Lass uns gehen, die Schränke hier sind nichts für uns."
Eigentlich, denke ich im Gehen, will man ja eigentlich nur nicht alleine sein. Dass wir aber nicht alleine sind, sehen wir nicht immer gut.

Erinnerungen. Siebtes Siremon-Fragment

Siremon
November 18, 2011

Die Besuche bei seinen Eltern waren für Kirren seltene und seltsame Erlebnisse. Sie sich jetzt in Erinnerung zu rufen war, als handle es sich um Geschichten, die ihm erzählt worden seien. Er berichtete Sira nach Tilans Fall von jenem letzten Streit mit seinem Vater über jene Cathanie, die Kirrens jüngerer Bruder vor seinem Tod gepflanzt hatte und die der Vater fällen wollte.
„Du bist nie hier, Kirren.“ Die Stimme des Vaters matt und tonlos, als habe er diesen Streit schon so oft geführt. „Du bist nie hier und siehst nicht die Blicke Deiner Mutter auf den Baum.“
„Aber er ist das Einzige, was wir von meinem Bruder haben!“
„Ja, er ist das Einzige, was uns noch an das erinnert, was wir verloren haben. Jeden Tag seit dem Tod Deines Bruders schaut Deine Mutter auf den Baum und sieht ihn wachsen statt ihres Sohnes.“
„Aber was ist dann? Wollt Ihr ihn einfach vergessen?“
„Nein, und das weißt Du, Kirren. Wir werden ihn nicht vergessen, niemals, das verspreche ich Dir.“
„Gut, denn das werde ich auch nicht. Niemals.“

Als Kirren nicht weitersprach, fragte Sira: „Wieso erzählst Du mir das, Kirren?“
„Weil ich seinen Namen vergessen habe.“ Er holte tief Luft. „Ich habe vergessen, wie mein Bruder hieß, ich habe vergessen, wie er gestorben ist. Ich weiß nicht mehr, wie er aussah, ich habe alles vergessen.“
Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander durch den Wald. Dann sagte Sira: „Vielleicht ist es einfach zu lange her. Ich kann mich auch kaum an meine Eltern erinnern; als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war ich noch ein Kind. Ich habe länger ohne sie gelebt als mit ihnen.“
„Aber Du erinnerst Dich an sie. Du weißt, dass sie da waren.“
„Ja, natürlich. Ich weiß noch, wie …“ begann sie, doch Kirren fiel ihr ins Wort: „Ich weiß es nicht. Ich kann mich an den Streit erinnern, an meinen Vater und an die Cathanie, ich sehe sogar die traurigen Blicke meiner Mutter, doch ich weiß nicht, warum ich an dem Baum so gehangen habe.“
„Sagtest Du nicht, dein Bruder hätte …“
„Gesagt habe ich es, aber ich weiß es nicht! Hätte es nicht diesen Streit gegeben, ich wüsste nichts mehr von ihm, verstehst Du nicht? Ich kann mich nicht erinnern, einen Bruder gehabt zu haben.“

Nachdem Marathorn sich versichert hatte, dass Kirren und seine Begleiter weit genug in den Geheimgang vorgedrungen waren, versiegelte er die Tür in der Wand mit dem stärksten Zauber, den er dafür kannte. Er bereute, dass er in seiner Zeit beim Zirkus zwar gelernt hatte, Schließzauber zu brechen, nicht aber, sie zu wirken. Andererseits wäre kaum ein Zauber den Schattenbindern gewachsen. Er hatte es an Kirren gesehen, dessen Erinnerungen sich nach dem Angriff der Schattenbinder zusehends auflösten; jene Erinnerungen, die Marathorn selbst über Jahre hinweg in Kirrens Geist gewoben hatte, um ihn vor der Wahrheit und seinen Verfolgern zu schützen.
Während er jenen letzten Zauber vorbereitete, der die Akademie auslöschen und einen Großteil der Soldaten des Ersten Mannes sowie der Schattenbinder vernichten würde, hoffte er, dass Kirren auf seine Warnung hören und sich verstecken würde. Kirrens Mutter zu erwähnen, war – eine leise Stimme in seinem Hinterkopf sagte ihm das – gefährlich, fahrlässig gewesen, denn der Junge würde nun nach ihr suchen, wenn sie nicht dort war, wo er glaubte, aufgewachsen zu sein.
Andererseits war Kirren nicht alleine, Arket würde auf ihn aufpassen, Arket, der schon früh Marathorn mit dem Vorwurf konfrontiert hatte, Kirrens Erinnerungen zu manipulieren, Arket, der für Kirren wie ein Bruder war, Arket würde Kirren vor Gefahr bewahren. Ja, Arket würde Kirren schützen.

Evin. Sechstes Siremon-Fragment

Siremon
November 15, 2011

Je näher mir Siremon kam, desto mehr wurde mir bewusst, wie wenig ich von meiner eigenen Welt kannte. Tage, Wochen und Monate saß ich am Computer, und je weiter ich mich von meinen Mitmenschen, von meiner Heimatstadt, von meiner Arbeit entfernte, desto schwieriger wurde es schließlich auch, sich auf Siremon zurechtzufinden.
Ich verließ Tilan, verirrte mich im Wilden Land, das die dortigen Menschen Ti-Kaan nennen. Evins Volk lebt dort in den Wäldern rund um die Drachenberge, wo ihre einzige befestigte Stätte liegt: Risalk, der Ort der Versammlung. Die Schattenbinder ihres Volkes lernen dort ihre Gabe zu kontrollieren, sie lernen zu kämpfen, sie lernen zu töten. Sie lernen all dies, um in einem Kampf überleben zu können, den schon ihre Vorfahren geführt hatten, der ihre Eltern das Leben gekostet hatte, ein Kampf so natürlich wie atmen und singen, jagen und essen. Der Kampf gegen die Drachenmenschen grenzte Evins Brüder und Schwestern von ihren Feinden ab, Feinden, die einst ihre Brüder und Schwestern gewesen waren.

„Hier seid Ihr.“
„Evin! Du hast mich erschreckt.“
„Ich habe Euch überall gesucht. Warum seid Ihr nicht in Euren Gemächern?“
„Meine Gemächer?“ Sira schnaubte. „Ich habe genug von diesen Zeltplanen. Warum hast Du mir nicht gesagt, dass Dein Volk auch Mauern und Hallen baut?“
„Diese Mauern sind nicht Euer, sie sind meines Volkes. Ihr seid ohne Recht hier.“
„Natürlich. Ich habe nirgends und auf nichts Rechte. Ich habe es so satt, mich verstecken zu müssen, selbst da, wo ich nicht gesucht und gesehen werde.“
Als Evin nichts erwiderte, sondern sich nur zum Ausgang der Halle wandte, fügte Sira hinzu: „Die Mauern erinnern mich an zuhause, weißt Du? In den letzten Jahren habe ich nur Bäume und Büsche gesehen, nur Pflanzen und nichts, das auf Menschen hindeutet. Dieses Leben im Wald ist so erschöpfend wie es üppig ist.“
Evin blieb noch einmal stehen. „Wir werden in die Stadt gehen, Prinzessin. Der Rat sagt, wir werden gehen. Kommt nun.“
Bevor Sira folgte, drehte sie sich noch einmal um. Die Mauern der Halle hatten keine Fenster, so dass Licht nur durch den Torbogen und die Ritzen und Spalten zwischen den Steinen fiel. Der Schatten, den sie selbst warf, reichte fast bis zu dem Bild, das sie betrachtet hatte, bevor Evin sie gefunden hatte. Es zeigte einen Baum, hoch und ausladend, und Sira fragte sich, wie dieses Volk, das keine anderen Farben zu kennen schien als die Grün- und Brauntöne des Waldes, dieses Bild gemalt hatte: einen Baum mit silbern glänzendem Stamm und goldenen Blättern.

Auf meiner Reise durch die Welt, die ich fand und gleichzeitig erfand, lernte ich viel über die Welt, die ich mit jedem weiteren Schritt voran hinter mir ließ. In allem, das ich auf Siremon sah, ahnte ich eine Entsprechung und einen Ursprung in unserer Welt. Wir Menschen sind so begrenzt in unserer Vorstellungskraft, dass wir nichts grundsätzlich neues erfinden, sondern immer nur vorhandenes nachahmen und verändern können. Das Endergebnis mag an nichts erinnern, was man schon gesehen hätte, und doch liegt allem Neuen immer etwas Altes zugrunde. In allem, was wir an Neuem ersehnen, liegt immer auch die Erinnerung an etwas Verlorenes, Vergangenes.

Evin hatte Risalk nicht wieder betreten wollen, doch ihr Eid dem Rat gegenüber, die Verpflichtung ihrem Volk gegenüber zwang sie dazu. Nach dem Ende ihrer Ausbildung zur Schattenbinderin hatte sie geschworen, den Wegen des Baumes zu folgen, wissend, ja erwartend, dass es ihr Leben kosten könnte, den Kampf ihrer Vorfahren aufzunehmen. Sie hatte niemals geahnt, jene Schattenbinder, mit denen sie aufgewachsen war, zu überleben, älter zu werden, sich zu verlieben und diese Liebe wieder zu verlieren. Sie hatte niemals geahnt, dass es etwas schmerzhafteres geben konnte als das alles auslöschende Brennen der Schattengabe in ihrem Inneren. Sie hatte so oft den Tod im Kampf mit den Drachenmenschen gesucht, um nicht mehr daran denken zu müssen, was vergangen war. Doch sie hatte nie aufgeben, nie sich unterwerfen wollen, ihr Eid wog schwerer als ihr Schmerz und so zögerte sie auch nicht, diese menschliche Prinzessin, von deren Wohl auf verschlungenen Wegen auch das Wohl und die Freiheit ihres eigenen Volkes abhängen sollte, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu schützen.
Sie hatte Angst gehabt vor dem Wiedersehen, hatte gehofft, dass sie die Konfrontation umgehen konnte, doch als sie schließlich in Risalk ankamen, war sie erst enttäuscht, dann wütend, später wie taub gewesen angesichts der Offenbarung des Rates, dass menschliche Angreifer die erste Tochter, die eine Schattenbinderin in den letzten Jahrhunderten geboren hatte; dass diese Angreifer ihre Tochter, die sie seit ihrer Geburt vor zehn Jahren nicht gesehen hatte, entführt hatten.

Das Feuer. Fünftes Siremon-Fragment

Siremon
November 11, 2011

Kirrens letzter Sommer in Tilan endete mit einem Feuer.

Kirrens letzter Sommer auf Tikaan endete mit dem Feuer.

Kirrens letzter Sommer auf Siremon begann mit einem Feuer.

Wie ich beginnen wollte: ich wusste es nicht. Ich sah Kirren im Halblicht der Kerze am Fenster stehen, hinabblicken auf die vorbeigehenden Menschen, die, in dunkle Mäntel gekleidet, zum Platz der Freiheit gingen. Sein eigener Mantel lag auf dem Bett, er hatte noch Zeit, auf ihn wartete nichts, niemand. Das Feuer würde auch ohne ihn entzündet werden, er wusste es noch nicht, doch er würde nie am Platz der Freiheit ankommen, er würde nicht sehen, wie Arket aus einer einzelnen Flamme einen himmelfüllenden Drachen aus reinem Feuer erschaffen würde.
Den Angriff der Schattenbinder allerdings, der alle Magie in Tilan für einen Moment verschwinden und den Flammendrachen über der Menge taumeln ließ, spürte Kirren am eigenen Leib, denn er brach einen Zauber, so kraftvoll aus Kirrens eigener Essenz gewoben, dass er erst durch seinen Tod gebannt werden sollte. Und tatsächlich starb ein Stück von Kirren bei diesem Angriff: die Kindheit in Ris, der Unfall des jüngsten Bruders im Moor, die ewigen Streitereien mit den Zwillingen, das lange, langsame Verblassen der Mutter; ausgelöscht wie Kerzenlicht durch das Bild eines Baumes, der vielfach gespalten im Stamm vor ihm aufragte, und ein Gesicht vor ihm, die Haare grau, die Augen brennend wie die Mittagssonne und Lippen, rissig wie geborstenes Holz, die unablässig flüsterten: „Komm, komm zurück. Komm.“

Kirren hatte diese Beschwörung mit Arket geübt, so oft geübt und doch wollte die Flamme nicht erscheinen. Er stand im Dunkel einer schmalen Gasse, in die er Sira gefolgt war und ihrer Beschützerin? Entführerin? Egal, was sie war, sie konnte auf jeden Fall besser sehen als Kirren, darum brauchte er das kleine Licht, das er mit Arkets Hilfe schon einmal beschworen hatte. Er stellte sich vor, wie eine kleine Flamme seiner ausgestreckten Handfläche entspränge, ohne die Haut zu verletzen. Stellte sich die sanfte Wärme vor, das lustige Flackern, das rotgoldene Leuchten, das die Gasse ausreichend erhellen würde, dass Kirren sich orientieren konnte. Dann ließ er seine Kraft fließen, so vorsichtig als heile er ein Blütenblatt. Tatsächlich begann sich die Luft über seiner Hand zu erwärmen, und als er ein wenig mehr Kraft fließen ließ, glaubte er sogar ein blasses Leuchten wahrzunehmen. Doch dann überrollte ihn eine Welle absoluter Schwärze, durch die er die Kontrolle über seine Magie verlor. Für einen Augenblick wurde die Gasse aus seinem Bewusstsein gelöscht.
Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem angenehm kühlen Pflaster der Gasse. An seinem Mantel leckten kleine Flammen, durch die Wände der Häuser fraßen sich Schlangen aus Feuer, das Brechen der Balken ging im Brüllen des Brandes unter.

Das dritte Feuer zerstörte die Akademie. Die Truppen des Ersten Mannes waren noch während der Zeremonie des Neuen Feuers ausgeschwärmt, um die Magier auszuräuchern. Erst später würde Kirren von Evin erfahren, dass die Stadtgarden Schattenbinder dazu benutzt hatten, die Schutzbanne der Akademie niederzuwerfen und jede magische Gegenwehr im Keim zu ersticken.
Als Kirren durch die vertrauten Gänge schlich und seine Mitschüler und Lehrer tot oder sterbend fand, konnte er nur um sie weinen, denn er konnte keine Kraft mehr in sich spüren, sie zu heilen. Immer wieder brandete die Erinnerung die Vision und diese Augen und diese Stimme und diese Worte gegen sein Bewusstsein und drohte ihn zu überwältigen. Und dann so plötzlich, dass er dachte, er müsse sich verlaufen haben, stand er vor Marathorns Gemächern. Die Tür hing schief in den Angeln, davor lag ein toter Soldat, dessen Gesicht nur mehr eine schwarz verlaufene Masse war. Seltsam betäubt nahm Kirren das war, als ginge es ihn nichts an, er ging nur an dem Leichnam vorbei und sah durch die Tür in den langen Gang zum Arbeitszimmer seines Mentors. Dort kämpften zwei Soldaten gegen züngelnde Flammen, die sich auf die Männer stürzten und sich wieder zurückzogen, um kurz die Form eines Menschen anzunehmen, bevor sie erneut zuschlugen. Noch hinter den Kämpfern versuchten zwei Soldaten die Tür zu Marathorns Arbeitszimmer aufzubrechen und daneben stand ein Kind, das Kirren ansah mit einem so leeren, fernen Blick, dass ihm klar wurde, dass der Tod Fremder nicht das Schlimmste war, das diese Augen je gesehen hatte.

Als sie in Evins Versteck angkommen waren, heilte Kirren die schlimmsten von Arkets Verbrennungen, die er sich beim Kampf gegen die Soldaten zugezogen hatte. Sein Freund hatte die Augen geschlossen und sagte auch nichts, so dass Kirren mit seinen Gedanken alleine war. So vieles war passiert: Sira, der tote Soldat, die brennende Gasse, die Vision des Baumes, das Blutbad in der Akademie, der Kampf, Marathorns Opfer, die Flucht, doch alles verwehte wie Rauch angesichts von Marathorns Worten, Marathorns Warnung angesichts Kirrens Vision: „Geh nicht dorthin, Junge, versteck Dich vor Yal. Vergiss, was Du gesehen hast, oder alles, was Deine Mutter für Dich geopfert hat, war umsonst.“

Arket. Viertes Siremon-Fragment

Siremon
November 8, 2011

In einer der frühesten Fassungen der Geschichte war Arket noch Kirrens jüngerer Bruder, und sie beide lebten in einem kleinen Dorf abseits von Tilan, jener Stadt, in der später alles beginnen sollte. Arket war damals noch fast unsichtbar, unfassbar für mich, doch war mir die Bindung zwischen den beiden so deutlich, dass ich sie auch später nie lösen konnte. Selbst in einer der späteren Fassungen, da Arket und Kirren einander zu besiegen suchten, blieb immer noch klar, dass sie in der Vergangenheit Freunde und Vertraute gewesen waren. Vielleicht, das wurde mir später klar, muss das so sein, wenn man aufwächst, dem Vertrauten entwächst: man löst sich von allem, was die eigene Kindheit bedeutete, was einen mit jener verlorenen Zeit verband, um erkennen zu können, dass sie wirklich verloren ist.

„Es ist eine einfache Beschwörung. Selbst Du solltest das können.“
„Selbst ich? Wofür hältst du mich, einen Stein?“
„Selbst Du als Heiler solltest eine Flamme beschwören können. Es ist so einfach.“ Arket öffnete seine Faust, so dass Kirren die Flamme sehen konnte, die auf der Handfläche seines Freundes tanzte.
„Wenn Du heilen so einfach findest, kannst Du Dich ja das nächste Mal, wenn Du verprügelt wirst, selbst versorgen.“
Mit einem dumpfen Knall fing Arkets gesamte Hand Feuer, doch sah er nicht hinab, sondern starrte Kirren an. In seinen silbernen Augen spiegelten sich die nun lodernden Flammen. Kirren wusste selbst, dass seine Worte Arket verletzt hatten, und wie so oft kam ihm der Gedanke, dass er für einen Heiler zu gut Wunden reißen konnte. Andererseits hatte Arket dafür, dass er das Heilen zu den niederen Zweigen der Magie zählte, schon viel zu oft der Hilfe dieses niederen Zweiges bedurft, wenn er boshafte Bemerkungen über sein nichtmenschliches Erbe mal wieder nicht ignorieren konnte. Kirren ahnte, dass die Erwähnung der häufigen Angriffe auf ihn schmerzender war als diese selbst.
Doch dann, als Kirren schon befürchtete, Arket schlüge ihm die Flammen ins Gesicht, erlosch das Feuer zwischen ihnen und Arket ließ seine Hand und seinen Blick sinken. Als er wieder aufsah, glänzten seine Augen nicht mehr wie kalter Stahl, sondern schimmerten in dem Himmelblau, das er von seiner Mutter geerbt hatte. „Ich habe mir die Hand verbrannt“, sagte er heiser.
„Lass mal sehen.“
Arket hielt seine Hand wieder in die Höhe. Die Haut war an vielen Stellen vollends verbrannt und das darunter bloßliegende Fleisch glänzte schwarz und rot.
„Das ist gar nicht so schlimm, wie es aussieht.“ Kirren formte mit seinen Händen eine Kugel um Arkets Hand und öffnete sich der Kraft, die in ihm wie eine silberne Pflanze wurzelte. Dann konzentrierte er sich auf den Zauber, der das Gewebe kühlen und nähren, ihm die Erinnerung an Leben wiedergeben würde, und ließ dann seine Magie fließen. Leise fügte er hinzu: „Es ist ein ganz einfacher Zauber. Selbst Du solltest das können.“

Diese Freundschaft wollte ich nicht zerstören, ich musste. Wenn ich die Geschichte vorantreiben wollte, wenn ich wollte, dass Kirren sich seinem Schicksal stellt, dann musste ich ihn aus dem Schatten herausbringen, den der Halbmensch warf. Ich weiß nicht, ob ich Arket dazu wirklich hätte vernichten müssen, oder ob er auch an Kirrens Seite hätte kämpfen können. Ich habe es nie versucht.
So wie die Freundschaft zwischen dem Jungen ohne Erinnerung und dem Jungen mit zu viel Erinnerung keiner Alternative Raum ließ, sah ich auch keine Möglichkeit, Arket vor sich selbst zu retten. Das Feuer, das in Arkets Seele brannte, würde ihn mit der Zeit verzehren und wenig zurücklassen, das selbst ein Heiler mit göttlichen Kräften hätte retten können. Das einzige, was ich für Arket tun konnte: ich gab ihm Zeit, verlängerte sein Leiden an sich selbst weit genug, dass er erkennen konnte, dass hinter seiner Wut eine viel größere Kraft steckte.

Yal. Drittes Siremon-Fragment

Siremon
November 4, 2011

Betrat man nach Herekats Fall den Garten der sterbenden Göttin, konnte man Yals Schreie hören, die mal schneidend hell an einen hochfliegenden, klagenden Adler, mal tief und heiser an ein großes, aber tödlich verwundetes Tier denken ließen. Manchmal murmelte Yal nur leise Worte, dann wandelte ihr Geist auf jenen anderen Pfaden, die den Garten mit den Kraftknoten in der Steppe von Rhaton, im Schlund und in den Drachenbergen verbanden.
Neskarian ging in diesen wenigen Stunden, die er nicht als Yals Stimme diente, auf den sichtbaren Wegen durch den Garten, betrachtete Schmetterlinge und Blüten, Vögel und Eichhörnchen. Dann konnte man auch seine wahre, eigene Stimme hören, wenn er Lieder sang, die ihn an die Zeit erinnerten, bevor die Menschen Yals Garten betreten und sie zu einer Gefangenen in ihrem eigenen Reich gemacht hatten.

Ich erfuhr nie den Namen des Mannes, der Yal töten sollte. Mal nannte ich ihn Hauptmann, mal Schwertträger, dabei war er weder das eine noch das andere. Dieser einfache Soldat, der das Schwert seines toten Vorgesetzten genommen und sich damit vom Schlachtfeld gestohlen hatte, fand sich auf der Suche nach Sicherheit vor einem silbern leuchtenden Baum mit goldenen Blättern wieder, wo eine Frau stand, deren weißblondes Haar über ihren nackten Körper bis zum Boden fiel. Der Soldat zögerte nicht, denn Zögern hatte schon den Hauptmann das Leben gekostet, also beschleunigte er seine Schritte so sehr, dass er fast rannte. Sie musste ihn gehört haben: sie wandte sich um, und hätte der Soldat die Entscheidung nicht schon getroffen, er wäre nicht mehr dazu fähig gewesen, sie anzugreifen. So schön war sie, ihre Haut wie sonnendurchfluteter Nebel, ihre Augen golden wie Herbstlicht, ihr Blick traurig, nicht erfüllt von Angst oder Zorn.
Das Schwert durchfuhr ihre Brust wie Wasser, er spürte den Widerstand, als die Klinge Borke, Bast und Holz durchdrang, und für einen Moment erfüllte ihn ungläubige Freude über diesen Angriff, der so leicht, so schnell geglückt war. Dann schrie Yal zum ersten Mal und der Geist des Soldaten erlosch, als sein Körper in den Flammen ihrer entfesselten Macht verbrannte wie sommertrockenes Stroh.

Neskarian selbst führte Kirren durch Yals Garten. „Du bist groß gewachsen, Mensch, und doch erkenne ich in Dir das Kind wieder, das ich vor Jahren zu Yal brachte.“ Neskarian blieb stehen und sah einem Schmetterling nach, der ihren Weg gekreuzt hatte und dann zu einem nahen Blauregen geflogen war. Dann sah er wieder zu Kirren. „Es ist gut, dass Du zurückgekehrt bist.“
„Ich werde nicht bleiben.“
„Natürlich nicht.“
„Ich muss zurück zu meinen Freunden. Sie sind in schrecklicher Gefahr. Dieser Dreigesichtige …“
„‚Dieser Dreigesichtige‘ ist gefährlicher, als Du ahnst. Doch deine Anwesenheit hier ist die erste von vielen Niederlagen, die er erleiden wird.“
Neskarian ging so plötzlich weiter, dass Kirren zurückfiel und erst aufholte, als der Sin kurz darauf wieder stehenblieb. Seine Frage, welchen Verlust es für den Dreigesichtigen darstellte, nicht gegen einen Heiler kämpfen zu müssen, der seine magischen Kräfte nicht mehr kontrollieren konnte, erstarb auf seinen Lippen, als er den Baum sah, den er aus seinen Träumen kannte.

Manchmal schien mir Kirrens Geschichte in den letzen Jahren so nah, so echt, dass ich seine Träume selbst durchlebte. Auch wenn ich nicht mehr schlief, verfolgte mich das Bild des Herekat durch die schlaftrunkenen Minuten unter der Dusche, und wenn ich im Morgengrauen durch den Park zur Arbeit ging, erwartete ich zu sehen, was Kirren gesehen hatte: die schwarze und rissige Rinde eines vielfach im Stamm gespaltenen Baumes, dessen Äste teils wie Klauen nach dem Himmel griffen und teils auf der Erde lagen inmitten blutroten Laubs. Und davor sähe ich eine Gestalt mit grauer Haut, das lange, bleiche Haar reichte bis zum Boden und verhüllte doch nicht die umschatteten, gelb leuchtenden Augen oder das Gesicht, rissig wie Borke. Und dann fiele mein Blick nach unten zu dem Griff des Schwertes, das Yals Körper an diesen gestorbenen und wiederbelebten Baum fesselte, der sie in den letzten dreihundert Jahren so umfasst hatte, dass sie selbst wie ein verdrehter Ast dem schwarzen Stamm entwuchs.

Die Liebeskinder und der Sturm

Von der Front
November 3, 2011

Neuerdings lenke ich jedes Gespräch, das ich führe, auf den gesellschaftlichen Umbruch, den ich erwarte. Das trägt manchmal seltsame Blüten: beim Haareschneiden regt sich die Friseurin darüber auf, dass so viel deutsches Geld in den griechischen Orkus gepumpt wird. Nicht zuletzt aus Sorge um meine Ohren erwidere ich, unsere gesellschaftliche Fixierung auf Geld könne sowieso mal ein Make-Over vertragen. Da hört sie auf zu schneiden, schaut mich an mit diesem Blick, den ich auch manchmal habe, wenn ich einen halben Scherz mache und sich nachher alle fragen: meint der das ernst? Sie hat also den Kopf leicht schräg gelegt und die Augen ein bisschen verengt und sagt: Hast ja recht, die Welt geht ja eh bald unter, also schon 2011, nicht erst 2012.
Und dann, bevor ich verdaut habe, dass die junge Frau, die mir heute so schnell die Haare schneidet, als müsse sie, um sich selbst vor der Verdammnis retten, so viele Köpfe frisieren wie alle ihre Kolleginnen zusammen; dass also diese junge Frau wirklich an so etwas wie eine Apokalypse, vor allem an eine baldige, glaubt; bevor ich das also verdaut habe und eine schlagfertige Antwort darauf habe, gehen an den Frisierplätzen rechts und links von uns die Föns an, fast zeitgleich und so laut, dass man schreien müsste, um sich noch zu unterhalten. Schreien will ich aber nicht, nicht von Weltuntergängen, nicht beim Friseur, denn genau, wenn ich dann etwas selbst für mich absonderliches mitteilen wollte, gingen die Windmaschinen aus und ich brüllte in die plötzlich eintretende Stille. Das will ich nicht, also schweige ich und warte auf das Ende des Sturms.

Bedenklich ist die Zeit aber doch, in der wir leben. Kein Kompass zeigt mehr nach Norden, unsere Anführer haben den Weg verloren, sie zaudern vor jedem einzelnen Schritt. Der Markt, dieses außer Kontrolle geratene Monster, das Besitz von den Seelen der Menschen ergreift und sie kalt werden lässt in den Herzen, bestimmt den Gang der Politik fort von der Gesellschaft, legt die Saat für Misstrauen und Neid, schürt Angst vor jenen, die sich selbst ängstigen, weil sie alleine gelassen werden. Europa, das große Europa, steht am Scheideweg und keine Richtung scheint mehr richtig. Bald, denke ich, ist die Zeit, da wir, das Volk, uns wirklich entscheiden wollen, ob wir das Miteinander wollen, das Zueinanderstehen auch in den schwierigen, dunklen Zeiten, oder ob wir zurück wollen in die Zeit der Konkurrenz, des Misstrauens, der Missgunst. Es ist nicht weniger als die Entscheidung zwischen Frieden und Unfrieden, im schlimmsten Fall der Weg zum Krieg.
Meine Generation kennt den Krieg nicht mehr, wir sind Friedenskinder, Wohlstandskinder, Liebeskinder. So unterschiedlich unsere Geschichten auch sind, wir alle haben nicht den Hunger und die Angst, den Hass und die Verzweiflung des Krieges gespürt, keiner von uns hat in den Abgrund gesehen, der in den Menschen lauert, der Morden heißt und Überleben dessen mit den geringeren Skrupeln. Wir haben zwar gelernt, dass auch Deutschland im Krieg steht, doch das ist ein fernes Wort, ferner als Griechenland oder der Nahe Osten, ferner als der Arabische Frühling, in dem normale Menschen erst zu Widerständlern, dann zu Revolutionären, dann zu Freiheitskämpfern wurden und letztlich dazu, wovon sie sich befreien wollten: Mördern.

Manchmal denke ich, die Occupy-Bewegung ist gut, denn sie ist friedlich und sie überschreitet gedankliche wie nationale Grenzen, und dann wieder adressiert sie doch die Falschen, denn jene Männer und Frauen, die in den Banktürmen mit irrealen Geldsummen hantieren, machen ja auch nur ihren Job und blenden aus, dass ihre Entscheidungen Menschen das Leben kosten können, so lange es nur nicht das eigene ist; denn die Menschenleben, die verloren gehen, sind noch weniger sichtbar als das Geld, das zur Waffe werden kann. Der Markt hat auch ihre Seelen ergriffen, die Angst vor jedwedem Abstieg ihre Herzen, und sie betäuben ihr Gewissen mit hochdosiertem Luxus weit jeder Genussschwelle. Sie sind die ersten Opfer eines Schattens, der auf die Gesellschaft, auf die Gemeinschaft gefallen ist, der Schneisen aus Schlaglicht zwischen die Menschen schlägt und sie schwarz oder weiß sein lässt und nicht mehr Mitmensch, Mitbürger, Freund.
Wir, die Liebeskinder, haben plötzlich Feindbilder, wir haben die Anderen, die Fremden, jene, die nicht unseren emotionalen, unseren finanziellen, unseren sozialen Status teilen, wir grenzen uns ab von jenen, denen wir unsere Liebe nicht schenken wollen, denen wir unser Mitgefühl vorbehalten wollen. Daran werden wir zerbrechen und unsere Seelen der Kälte ausliefern und unsere Heimat zerstören, unser Europa. Vielleicht aber ist diese Krise, wie jeder Scheitelpunkt auch eine Chance: Was, wenn wir uns entschieden, ehrlich zu sein zu uns selbst, zu einander, dass wir alleine nicht gegen die Gier, die uns zerstört, ankommen können, nicht gegen unseren Neid, der uns von den Anderen abgrenzt, nicht gegen den Zorn, der uns von uns selbst entfernt. Was, wenn wir zugäben, dass wir einander brauchen, um zu überleben?

Und dann lässt der Sturm nach, meine Friseurin erklärt, eine Freundin habe ihr das mit dem Weltuntergang neulich berichtet, unfassbar sei das, dass die Freundin so einen Unsinn tatsächlich glaube. Ja, unfassbar sei das, sage ich und begucke meinen Hinterkopf in dem Spiegel, den die Friseurin mir hinhält.

Die Insel. Zweites Siremon-Fragment

Siremon
November 1, 2011

Ich strandete auf einer Insel, die ihre Form erst später annehmen würde. Die Tage und Nächte blinzelte ich hinfort, jeder Lidschlag ein Jahr, jeder Schlaf ein Jahrtausend. Um mich wogten Gezeiten aus den reinen Elementen, die Kräfte, die ich später Fons Sturm, Perts Beben, Marruhs Brand und Labins Flut nennen würde. Sie rangen miteinander um die Vorherrschaft auf einem Planeten, der sich selbst erschaffen hatte, sie rangen um die Herrschaft über ihre gleichberechtigten Geschwister, vor allem aber kämpften sie gegen sich und verloren.

Die Wesen, die später hier lebten und kämpften und vergingen, sah ich kommen und gehen, ich sah Mächtige und deren Ohnmacht, ich sah Furchtlose und deren Ängste. Sie waren wilde Tiere angesichts derer, die später kommen und wirklich herrschen würden, die sich als Götter verehren ließen und jene bestraften, die nicht den Rücken beugen mochten; jene aber, die ihre Götter in Ehrfurcht betrachteten, vernichtete der Kampf, der folgen musste: Gott gegen Gott, wie schon Labin und Marruh, Pert und Fon gegeneinander gekämpft hatten.

Menschen und Menschenähnliche errichteten auf den einstigen Schlachtfeldern ihre Reiche. Die Kriege der Götter bedeuteten ihnen nicht mehr als Legenden, Sagen, Märchen. Die Götter waren mit den Kriegen, die sie verloren hatten, vergangen, die wenigen Kämpfer, die überlebt hatten, hatten sich zurückgezogen in die Einsamkeit der tiefen Wälder, schroffen Gipfel und stillen Seen. Nur einer, der von seinen einstigen Gegnern mit mächtigen Banden gefesselt lag, und eine, die es verstand, die Wunden und Seelen der Versehrten zu heilen, hatten den Niedergang ihres Zeitalters überlebt. Beide warteten sie mit der Geduld jener, die die Zeit nicht fürchten müssen, auf die letzte Schlacht, die ihre endgültige Niederlage oder den späten Triumph zeitigen würde.

Die Insel, deren Name in mir aufstieg wie die Träume, die mich dorthin trugen, war durch den Kampf der Elemente geformt und durch die Kriege der Götter in drei Teile zerbrochen worden. Das Alte Land nannte ich die östliche Insel, auf der die heilende Göttin und ihre halbgöttlichen Kämpfer sich für den letzten Kampf rüsteten und dem ersten Angriff ihres Gegners doch schutzlos ausgeliefert waren. Das Wilde Land nannte ich die westliche Insel, wo zwei Völker der menschenähnlichen Korian seit Jahrtausenden ihre gemeinsame Vergangenheit mit dem Blut ihrer Toten abzuwaschen versuchten. Das Neue Land schließlich nannte ich die große Insel, die südlich des Wilden Lands und westlich des Alten Lands lag: hier hatten sich die Menschen angesiedelt, nachdem ihre Heimat von magischen Geschöpfen überrannt worden war. Zu ihnen, den Menschen ging ich und nannte ihnen den Namen der Insel, die einst eins gewesen war und in der Sprache der halbgöttlichen Sin Thyar Aémon hieß und bei den Korian Syraemon. Den Menschen sagte ich: Dies ist Siremon, das Leere Land, dies ist Eure Heimat.

Abschiede

Trophisches
Oktober 31, 2011

Die letzten Wochen über war es still, der Herbst fällt wie ein Schatten über Deutschland, wo doch eben noch – so dachte ich – Sommer war. Die Wege teilt man sich mit Laubbergen und kunstbepelzten Rentnerinnen, die miteinander schwatzen, während die Herren dahinter sich an Strände denken, wo sie zwar den Bauch einziehen müssen, aber wenigstens das ewige Geplauder mit dem Meeresrauschen verschmilzt.

Der Herbst fordert Entscheidungen, Abschiede, Kürbissuppe. Trifft sich, denke ich, Kürbis mag ich, Suppe kann ich und Kürbiskernöl habe ich noch drei Liter. Tatsächlich aber sind die Damen vom Markt gegen mich, sie haben nicht den herrlich aromatischen Muskatkürbis, sondern nur den allgegenwärtigen, ganzjährig verfügbaren Hokkaido. Was soll ich auf den Markt gehen, frage ich die Damen, wenn Sie Sie nichts verkaufen, was ich nicht auch im Supermarkt bekommen kann?
Lieber Herr, sagen die Damen, auf den Markt geht man nicht der Lebensmittel, sondern der Leute wegen. Im Supermarkt bekommen sie unfreundliche Gesichter entgegengehalten und rüde das Wechselgeld zugeworfen. Auf dem Markt aber gibt es ein Lächeln und ein Hallo, da freuen sich alle des gegenseitigen Wiedererkennens und außerdem bringen wir ab November Glühwein mit, da dürfen Sie nippen, lieber Herr, aber wirklich nur Sie, weil wir Sie so lieb haben.

Wie könnte ich da anders als doch Hokkaido kaufen und Suppengemüse und Eier, die ich zwar nicht für die Suppe brauche, aber für die Salzburger Nockerl. Die Eier, versichert mir die Kürbisdame, seien glücklich freilaufend; und ich sehe lieber kurz in den Karton, um zu gucken, ob da nicht am Ende noch Füßchen aus den Eiern hängen. Glück gehabt, denke ich, als ich keine Füßchen sehe. Andererseits sollen ja frisch ausgekochte Hühnerfüße ein ausgezeichnetes Grippeprophylaktikum sein, und die kommt ja auch bald wiederdie Grippe, die ersten Hysteriker wollen sich schon impfen lassen. Schweren Herzens verzichte ich dann eben auf die Hühnerfüße, muss ich eben Obst und Gemüse und Salzburger Nockerl und Kürbissuppe essen. Wird sich leben lassen damit.

Zuhause mache ich, ich bin ja ein altmodischer Mensch, erst mal die Brühe. Oha, wird da einer sagen, was soll das denn, muss das sein, ist das nicht des Aufwands zu viel?
Natürlich schaue ich mich dann erst mal um, denn ich dachte, ich bin allein in der Küche, schaue in den Schrank und alle Schubladen, ob nicht doch einer da ist, der sich darüber mokiert, dass ich meine Brühe selber mache. Ist aber keiner da. Sage ich also dem Herd und dem Topf und dem Suppengemüse, dass es stimmt, Brühe kann man auch kaufen, Pferde und Autos ja auch, Heizdecken und Haartrockner, von irgendwas müssen ja auch andere Leute leben, kann ja nicht jeder so privilegiert sein wie ich und einfach nur fürs Tollsein bezahlt werden. Also gibt es Leute, die aus Gemüse, das sich nicht verkaufen lässt, Pulver machen, für das die Menschen gerne Geld geben, denn so einen Trick, Pulver aus Sachen machen, den kann jetzt auch nicht jeder. So funktioniert, sage ich der Möhre, Kapitalismus oder Marktwirtschaft oder Beutelschneiderei, ich weiß nicht genau, ich bin Ernährungs-, kein Wirtschaftsfuzzi. Und weil ich weiß, dass der Möhre noch eine Frage auf der Zunge liegt, schneide ich sie schnell klein. Das restliche Gemüse ist jetzt so verängstigt, dass es keine Lust mehr hat zu streiten.

Für die Brühe schneide ich Möhren, Sellerie, Lauch, Zwiebeln in grobe Würfel, werfe sie in einen Topf mit einer Knoblauchzehe, zwei geviertelten Tomaten, zwei Lorbeerblättern und einem Schwupp Wacholderbeeren. Ich zähle die nicht. Wozu auch.
Mit Wasser bedecken, erhitzen, eine Stunde offen köcheln lassen, dann durch ein Sieb passieren und ausdrücken (oder durch die Gemüsemühle drehen). Fertig. Hat doch gar nicht wehgetan.

Für die Suppe habe ich derweil schon mal eine Zwiebel gehackt und den Kürbis entkernt und gewürfelt, was ja beim Hokkaido recht einfach ist, weil man sich das Schälen schenken kann. Dafür schmeckt er halt auch nicht so fein.
Das Gewürfel schwitze ich in Butter an, dann gebe ich einen Liter Brühe zu und lasse wieder köcheln, diesmal so ungefähr 20 Minuten, bis die Kürbiswürfel ihre Form verlieren und/oder leicht zerdrückbar sind. Dann pürieren. Die Könner machen das ohne Spritzschutz, und auch ich mache das – obwohl ich kein Könner bin – ohne Spritzschutz. Entsprechend sehe ich danach aus und muss mich kurz umziehen, bevor ich Sahne anschlage, Kürbiskerne röste, das Kürbiskernöl aus dem Schrank hole, die Suppe in Teller gebe, einen Sahnehaufen draufgebe und diesen mit Kürbiskernen und Öl dekoriere. Und weil ich kein Foodstylist bin, zerläuft die Sahne dann schon, während ich noch ein paar Fotos mache. Später stelle ich fest, dass alle unscharf sind bis auf eines, und das ist schief.
Egal, denke ich mir, denn das wichtige ist ja, dass man es warm hat im Bauch. Und da ist es dann auch egal, dass man den dann nicht einziehen kann, weil man den Herbst dann ja doch gar nicht mehr so schlimm findet.

PS. Falls Sie sich im Übrigen fragen, was das mit den Abschieden soll: ich frage mich das auch schon eine geraume Weile. Haben Sie eine Antwort?

PPS. Und falls Sie sich darüber hinaus noch fragen, wieso denn jetzt keine Nockerl kommen, dann sage ich: das nennt sich Cliffhanger.

Kirren. Erstes Siremon-Fragment

Siremon
Oktober 28, 2011

Als ich Kirren das erste Mal traf, rannte er durch meinen Traum, verfolgt von unsichtbaren Häschern, gejagt an den Rand einer Klippe, wo er hätte aufgeben können. Doch der Junge sprang und fiel.
Ich erwachte nicht etwa; der Rest des Traums ist zwar dunkel und fern, doch ich erwachte nicht. Ich spürte das Brennen der Luft in seiner Lunge, die Furcht eines Tieres, den Schweiß, der auf seinen Körper bedeckte wie Tau. Über allem anderen aber lag – auch später, als ich mich im Wachen an das Dunkel des Traums erinnerte – die plötzliche Gewissheit angesichts der Klippe. Als hätte er darauf gewartet, keine Wahl mehr zu haben, nicht mehr entscheiden zu müssen, als habe er endlich begriffen, dass es nur den einen Weg gebe: nicht mehr fliehen, sondern sich dem Abgrund stellen, und sei er bodenlos.

Als ich dann doch erwachte, lag mir sein Name auf den Lippen, ein Name, so seltsam weil kein Name: Kirren. Ein Wort, das zu kennen ich glaubte und nicht zu kennen ich wusste: jemanden verrückt machen, heiße es, dachte ich, jemanden kirre zu machen. Tatsächlich aber ist das Kirren eine Waidner-Tätigkeit, es beschreibt das Anfüttern wilder Tiere zur Hege oder Jagd.
Als ich in jener Nacht vor über acht Jahren erwachte, lag mir sein Name auf den Lippen und ich ahnte nicht, dass Kirren mich all das kosten würde, was ich für selbstverständlich, für gegeben, vor allem aber für meinen Weg im Leben hielt.

Ich hatte ein Studium begonnen, das mit meinem eigentlichen Ziel, Schriftsteller zu sein, nichts zu tun hatte. Ich war in eine Stadt gezogen, von der ich vorher nie gehört hatte und die ich erst lieben lernte, als ich sie Jahre später wieder verließ. Ich hatte eine Beziehung zu einem Mann begonnen, der gleichzeitig älter und jünger als ich war.
Dann geschah dreierlei: Ich kaufte mir einen Schreibratgeber, versagte in meinen Vordiplomsprüfungen und träumte von einem Jungen, der an den Rand eines Abgrundes gejagt wird, in den er sich bar aller Ängste fallen lässt. So sehr ich heute versucht bin, diesen Traum als eine Botschaft meines Unterbewusstseins zu interpretieren, wollte ich damals nichts anderes als zu erfahren, wer der Junge sei, wer ihn jagte und warum er sicher war, den Sturz in den Abgrund zu überleben. Ich wollte herausfinden, wer Kirren war und folgte ihm in den Kampf gegen seine Götter.

Man muss nur wollen. Das Manifest.

Textualitäten
Oktober 27, 2011

Es schien unmöglich geworden, angesichts der vielen Möglichkeiten etwas zu erreichen; also schrieb ich das Manifest der Durchsetzung von Interessen, in dem ich mir selbst erlaubte, dem Schreiben der Geschichte um den Untergang der Götter alles unterzuordnen.
In einem halben Jahr von Mai bis November wollte ich in 200.000 Worten den ersten auszubauenden Entwurf schreiben. Dieses eine Mal oder nie mehr. Ich ordnete dem vordringlichen Traum, 1200 Worte pro Tag zu schreiben, mein Leben, meine Beziehung, meine Freundschaften, mein brotverdienstliches Engagement unter. Ich habe im letzten Halbjahr vieles vernachlässigt und wenig erlebt. Ich habe mehr denn je von dem vergessen, was der Freund mir gesagt hat, habe mich weniger denn je für irgendetwas interessiert, was nicht mit der Geschichte zu tun hatte. An jedem Tag, den ich nicht im Brotberuf verbrachte, saß ich stundenlang vor dem Computer, werkelte ich stundenlang an der Geschichte, erforschte die handelnden Personen und erfand ihnen eine Welt. Lenkte mich vor allem aber ab, entdeckte neue Seiten im Internet, bastelte an Logos, spielte Spiele, hörte Musik, las in Blogs. Schrieb nicht. Schrieb kein einziges Wort den ganzen Tag lang. Ich las Bücher darüber, wie eine Geschichte aufzubauen sei, wie der Roman aussehen sollte, welche Charakterzüge fesselten und welche Plotlinien Leser vergraulten. Aber ich schrieb nicht. Ich erfand zuletzt die Entstehung der Welt als zwingenden Hintergrund, vor dem sich die Geschichte entfalten musste als logische Weiterentwicklung eines Jahrtausende alten Prozesses.

Und wich dem zentralen Punkt, dem Schreiben nämlich, immer aus. Ich hatte Angst davor, zu entdecken, was ich schon wusste, bevor ich das Manifest verfasste: dass ich die Geschichte nur schreiben wollte, weil ich mich schon so lange damit beschäftigt hatte. Ich wollte nicht Zeit vergeudet haben. Ich wollte nicht versagt haben. Es scheint unmöglich geworden, mich noch weiter zu belügen; im Manifest der Durchsetzung von Interessen gab ich mir ein halbes Jahr, meinen Selbstbetrug zu entdecken oder meinen Verdacht darauf zu widerlegen.
Ich höre nun damit auf. Ich erkenne an, dass ich schreiben will, erfinden will, kreativ sein will, dass ich aber diese Geschichte nicht erzählen muss, um das zu sein. Ich gebe mein schlechtes Gewissen auf, gebe die Selbstblockierung auf und höre vor allem damit auf, mich aus Gründen vermeintlicher Selbstverwirklichung von Menschen abzuschneiden, die mir etwas bedeuten.

Jahre her

Usus operi
Oktober 25, 2011

Wir hatten diese Jahre, sie und ich. Die Jahre, in denen wir uns besser als blind verstanden, die Jahre, in denen wir uns selbst mit offenen Augen nicht erkennen konnten, die Jahre, in denen wir nicht ohne den anderen leben wollten. Diese Jahre sind fort wie sie.

Lange habe ich sie vermisst und nach etwas gesucht, das diese Wunde verschließen könnte, aus der noch Jahre später meine Kraft herausfloss. Gefunden habe ich nichts, auch keine andere Freundschaft, die mit ihrer Liebe, mit der Liebe, die sie mit sich genommen hatte, mithalten hätte können. Ich steckte fest in einer Vergangenheit, die es nicht mehr geben konnte, die es auch nicht mehr geben durfte, sollten wir beide vorankommen. Diese Vergangenheit vergehen zu lassen, hieß nicht, keine Freundschaft, keine Liebe füreinander mehr zu spüren. Aber es hieß, Abstand zu nehmen, einzuhalten, Freiheit zu geben, anzuerkennen.

Nach ihrem Abschied habe ich mich in die Beziehung zum Freund gestürzt, habe ihn zu meinem Fluchtort gemacht, habe Freude und Schmerz, Liebe und Enttäuschung allein auf ihn gerichtet. Kurzsichtig, blauäugig, naiv, ungerecht, denn was anders konnte ich sein als enttäuscht davon wie anders unsere Gespräche waren, unser Umgang, unser Alltag.
Ich habe versucht, den Freund zu einer männlichen Version der Freundin umzuformen, die ich mehr als mich selbst liebte und die ich nach ihrem Abschied mit Gewalt aus meiner Seele schneiden musste, um die Ferne zu ertragen, die zwischen uns gewachsen war. Natürlich – das weiß ich aus dem Rückblick, aus dem wir alle immer schlau und erhaben sein können angesichts unserer Fehler – konnte das nicht gut gehen und ich habe ihn und mich und sie im Verlauf der Jahre verletzt durch Worte, Taten, Schweigen.

Langsam erst komme ich dahinter, dass die Warnung meines ersten Freundes, ich könne keine zwei Beziehungen parallel und glücklich führen, sich auch auf Beziehungen beziehen könnte, die ich Jahre nach unserer Trennung erst aufbauen würde. Ich hatte mich mittels meines Coming-Outs gerade aus einer gegenseitig emotional missbrauchenden Freundschaft gelöst, als ich ihn kennenlernte. Als uns beiden allerdings klar wurde, dass die beendete Freundschaft mich immer noch mehr fesselte als die beginnende Beziehung, trennten wir uns wieder. Er wusste damals schon, was ich heute erst verstehe: dass Ja zu jemandem zu sagen heißt, dass man Nein zu einem anderen sagen muss. Ich wollte immer zu allen Ja sagen, wollte niemanden loslassen aus Angst vor der Einsamkeit, die ich wie ein lauerndes Tier in mir spürte. Auch heute noch spüre, weil ich mich selbst immer noch zerteile und nichts Ganzes zurückbleibt, das in mir ruhen könnte. Die Entscheidungslosigkeit in allen Bereichen höhlt mich aus und lässt nur die Angst zurück.

Wozu sage ich heute Ja und wozu Nein? Zu wem will ich halten und zu wem kann ich es? Ich will niemanden verlieren und kann doch niemanden halten, kann nicht die Schluchten, die Weiten wieder schließen, die sich zwischen unseren Leben aufgetan haben. Die beste Freundin hat unser gemeinsames Leben verlassen, und ich ging wenige Monate später. Ich vermisse sie auch heute noch, jeden Tag, an dem ich nicht anrufe, keine Nachricht schicke. An jedem Tag, an dem ich Nein zu ihr sage.

Die Jahre dazwischen haben nichts leichter gemacht. Diese Jahre, in denen wir wie blind waren füreinander und die Liebe, die uns verband, die aber dem vergangenen Anderen galt, mit dem wir nicht mehr lebten. Ihre Beziehung scheiterte daran, dass sie wie ich wollte, was sie nicht mehr haben konnte. Nehme ich an, denn auch meine Ansprüche an den Freund waren oft jenseits der Realität unserer Beziehung.

Nehme ich an, denn hier trennen sich die Wege. Über das Ende ihrer Beziehung muss ich viel mutmaßen, denn ich war nicht mehr da. Ich habe ihre Entscheidungen nicht miterlebt, nicht ihre Zweifel und ihre Angst vor einer Zukunft mit diesem Mann. Und nicht die Einsamkeit, in der sie diese Entscheidungen mit sich selbst ausmachen musste. Diese Einsamkeit, die ich auch in mir spüre, jeden Tag wieder und aufs Neue, die aber langsam der Erkenntnis weicht, dass nicht die Angst der Einsamkeit folgt, sondern die Einsamkeit der Angst, zu jemandem Ja zu sagen und zu einem anderen Nein.

Und dann hatten wir diesen Sommer, der uns beides zeigte: die Liebe und Freundschaft, die wir immer noch füreinander empfinden, aber eben auch die Distanz zwischen uns und unseren Lebensentwürfen. Der uns erschrecken ließ über die Vertrautheiten, die der Andere mit Dritten hat, der Erinnerungen sich in uns öffnen ließ wie Jasminblüten, der uns an einen Ort unserer gemeinsamen Vergangenheit führte, den wir aber beide nicht mehr wiedererkannten.
Wir saßen an diesem See und starrten über das Wasser hinüber zum anderen Ufer und suchten nach den Tagen, die wir zehn Jahre zuvor an exakt der selben Stelle verbracht hatten. Sie schlief in der Sonne auf der Wiese und ich sprang vom Steg in das kalte Wasser und tauchte so tief ich konnte, bis mich der Schmerz in meinen Lungen wieder nach oben trieb. Wir tranken Kaffee und aßen Eis wie in einem Früher, das es so nie gegeben hatte.

Seit meiner Rückkehr vom See kämpfe ich mich durch ein Meer aus Zweifeln, aus denen wie ein Eisberg die Beziehung zum Freund ragt. Ich habe beschlossen, zu kämpfen. Ich will nicht untergehen, nicht aufgeben, nicht ertrinken. Doch ich werde mich nicht weiter an den Freund klammern, der weder Rettungsring noch Anker ist, sondern Fixpunkt. Wir haben viele Gespräche geführt in den letzten Wochen: traurige, lustige, ernsthafte, besorgte, vor allem aber uns einander näherbringende, gute Gespräche. Ich habe beschlossen, Ja und Nein zu ihm zu sagen. Mir ist unsere Beziehung wichtig, er vor allem ist mir wichtig. Ich habe Grenzen gesetzt und Positionen bezogen, habe mir Freiheiten genommen und Regeln aufgestellt, doch eben auch Nähe zugelassen und Ehrlichkeit. Langsam lerne ich wieder, wie das geht, eine vollständige Beziehung zu führen, in der man immer noch eigenständig ist. Ich ordne mein Leben nicht mehr um den Freund herum, sondern flechte ihn ein in ein größeres Bild, in dem alles, was mir wichtig ist, einen Platz hat. Das vor allem mehr als nur ihn oder sie oder mich zeigt.

Diese Jahre allerdings, die wir hatten, sind vergangen. Wenn wir uns heute sehen, sehen wir nicht mehr unsere gemeinsame Vergangenheit, sondern die Menschen, die wir ohne einander geworden sind. Wir sind nicht mehr blind für die Unterschiede, sehen dafür umso deutlicher aber das, was uns immer noch verbindet.

Fix you/me

Usus operi
Oktober 5, 2011

Ein schlagendes Herz, ein wortezermahlendes Hirn. Am Ende der flammenzerfressenen Tage eine immer wieder irrende Seele, die nicht weiß, wohin mit sich.
So viel zu tun, so viel zu erledigen, so wenig Ahnung davon, was das soll mit all den für Andere offensichtlich einfachen Dingen. So viele Menschen, die man sprechen, treffen, vermissen möchte, und doch so wenig Ahnung davon, wie man auch nur eine einzige Nachricht schicken kann, die nicht nur sagt: es geht mir nicht gut, du fehlst mir, aber ich kann nicht anders.

Ich muss alleine sein oder kann zumindest nicht selbst entscheiden, nicht alleine zu sein. Ich will in den Arm genommen werden, aber kann nicht darum bitten. Die Tage verbringen sich zwischen der Arbeit und den Fluchtgedanken davor. Die wenigen Gespräche mit den wenigen außerarbeitlichen Menschen erschöpfen so sehr, obwohl sie so nötig sind.
Den letzten Kuchennachmittag in einer halben Schockstarre verbracht, weil das Gehirn nicht mehr richtig funktionierte, nicht sagen konnte: ich habe Angst vor dem Leben, das Entscheidungen haben will, Ja und Nein hören will, das endlich ein Ende dieser Suche nach dem richtigen Weg haben will.
Und immer wieder die neuen Symptome, die die gleiche Ursache haben. Immer wieder der Moment, wo ich Menschen anschreien will, die mir nichts anderes getan haben, als meine kostbare Zeit zu verschwenden. Die Zeit, die so knapp geworden ist, weil ich sie nicht achte, immer auf der Suche nach dem Moment des größten Glücks im Unglück, jenem Moment, den ich im kommenden Winter, wenn die Depression mich wieder zerfressen wird, herausholen kann wie einen Schatz, wie ein kleines Feuer, an dem ich meine Seele wärmen kann. Dieselbe Seele, die ich immer wieder in jene kleine Kammer sperre, in der auch mein Selbstwertgefühl und meine Kreativität stecken. Irgendwann werden sie sich gegenseitig zerfressen. Vielleicht, wenn ich dann keine Seele mehr habe, deren Niedergang ich befürchten muss, geht es mir endlich gut.

Im Laden ist das anders. Meine Hände zittern nicht, meine Augen sind klar, meine Stimme ist deutlich. Mein Rücken hat mehr Spannung als mein Leben, meine Brust ist breiter als der Weg, den ich in meinen dunklen Stunden mit kleinen Schritten erfühle, weil ich ihn nicht sehen kann. Im Laden bin ich Kundenberater, ich bin dabei ehrlich und das schätzen die Kunden an mir. Ich habe eine Meinung, die ich vertrete, Wissen, das ich uneifersüchtig teile, und auch wenn es sich nur um Käse handelt, weiß ich doch, dass es mich glücklich machen kann, einen Menschen gut beraten zu haben. Ich bin gut darin, gut im Erklären, im Beraten, im Verkaufen.
Ich bin der Beste im ganzen Laden, und doch verschwindet alles Selbstbewusstsein zusammen mit meiner Schürze in meinem Spind, wenn ich abends nach Hause gehe, um wieder ich zu sein.
Dann sinken meine Lider über die glasigen Augen, meine Stimme wird zittrig, meine Hände können kaum den Hausschlüssel halten. Mein ganzer Körper sackt in sich und auf dem Sofa zusammen, knickt wie eine Ähre nach dem Sturm.
Zuhause bin ich nur ich, froh, mich in Bücher und Serien verstecken zu können, froh, mir das Leben anderer anzusehen, froh zu sehen, wie andere leben, wenn schon ich es nicht kann. Vielleicht habe ich das nie gelernt, vielleicht auch nie lernen wollen. Es muss ja auch jene geben, die einfach nur zusehen, denke ich dann manchmal, wenn mir auffällt, mit welcher Leidenschaft ich meine Leidenschaften für das Leben unterdrücke und mich an den Rand der Tanzfläche stelle, um Anderen zuzusehen. Ich höre die Musik nicht, zu der sie tanzen, in meinem Kopf singt eine einsame Stimme ein leises, ein trauriges Lied.
Manchmal denke ich, es hülfe, könnte ich über mein Leben sprechen. Über das, was mich interessiert. Über die Tage, an denen ich mir für Siremon eine Geschichte ausdenke, Staaten erblühen und zerfallen lasse, damit Kirrens Geschichte endlich eingebettet werden kann und nicht einfach nur als Parabel für so viel anderes alleinstehen muss. Ich bringe schöpferische Götter gegeneinander auf, damit ihr Kampf die Welt formen kann, auf der die Menschen schließlich von den Naturgewalten und ihren eigenen sich verändernden Gesellschaften geformt werden. Ich versuche in Bildern zu erzählen, was ich nicht in Worte fassen kann, doch nichts davon dringt nach außen.
Denn ich habe Angst vor dem, was andere denken über das, was ich teilweise selbst als Zeitverschwendung betrachte. Ich, der ich meinem ersten Freund die Angst davor zu nehmen versuchte, händchenhaltend durch die Nürnberger Innenstadt zu laufen, kann niemandem die Geschichte anvertrauen, die ich seit sieben Jahren in meinem Kopf verstecke. Ich habe Angst davor, dass Andere das, was ich seit so langer Zeit mache, tatsächlich als Zeitverschwendung betrachten könnten, dass ich es lieber aufschiebe. Wie ich alles aufschiebe und alles verschweige.

Manchmal denke ich, es hülfe schon, sagte ich jenen, die es nicht wissen, dass ich schwul bin. Auf mein Privatleben angesprochen hin schweige ich. Als gäbe es mich zweimal: in einer Beziehung mit dem Freund und in Beziehungen zu Freunden und Bekannten.
Ich stoße die Menschen von mir, die mir etwas bedeuten.
Mehr und mehr, wieder und wieder.
Vielleicht, damit ich mit Entschuldigungen zurückkehren kann.
Vielleicht damit ich etwas habe, worüber ich sprechen kann, damit nicht die Frage nach meinen Träumen auftaucht, die mich jeden Tag fesselt und keine Nacht mehr ruhig schlafen lässt.

Dabei interessieren sich die anderen nicht mehr für meine Träume als für ihre eigenen. Sie alle leiden, sie alle haben Probleme, sie alle sind verwirrt und verstört und wissen nicht immer, welchen Weg sie gehen sollen. Doch es ist mein Leben und ich will, dass sich jemand dafür interessiert und sei es nur, damit ich sagen kann, es sei mein Leben, um dann auf eine Nachfrage hin tatsächlich von mir zu erzählen und davon, dass ich so viele Menschen liebe und es keinem von ihnen jemals werde sagen können, denn jeden Tag verliere ich mehr von meiner Sprache und mehr von meinen Gedanken, bis mir nur zu sagen bleibt: ich habe Angst, doch weniger dank Dir.

Doch statt dessen sage ich nichts und lausche auf mein schlagendes Herz, bis es endlich aufhört. 

Angesichts des Sonnenscheins. Analyse. Anabel?

Usus operi
September 17, 2011

Es ist einigermaßen schwierig, bei Sonnenschein pathetische Texte zu verfassen und sich nicht statt dessen über die Imperfektion von Blogging-Software auszulassen, die mir vieles erleichtert, aber das einzige, was ich will, erschwert: das Schreiben pathetischer Texte.
Na, fast.

Das Schreiben funktionierte zwar mal besser, aber immerhin stehen da schon wieder Worte, die zwar keine emotionale Tiefe erzeugen, aber Worte sind es, die ich mir trotz Sonnenschein abgerungen habe. Trotzdem bin ich unzufrieden mit diesem Konzept, diesem Korsett, in das ich mich begeben habe, als ich diese Seite ins Leben rief. Und natürlich interessieren sich meine drei Leser nicht für meine Konzeptionszweifel, da ich aber in einem der überflüssigen Schreibratgeber gelesen habe, man soll immer nur für sich und nie für andere schreiben, da man dann nicht die eigene Stimme erhebt, sondern immer nur das Lied anderer singt, kann ich nicht anders, als mich zu fragen, als mich öffentlich zu fragen, was ich da eigentlich wollte, als ich anfing, als Anders Wolf zu schreiben.

Eine Fortsetzung der alten Seite mit neuen Mitteln?
Eine vorgebliche Öffnung meiner Anonymität?
Eine öffentliche Selbstfindung, Persönlichkeitsentwicklung, Authentifizierung meiner Selbst unter einem Pseudonym?

Einen Fehler, den ich gemacht habe: ich habe die alte Seite importiert, habe die alten Kategorien, in denen ich über Jahre gedacht habe, mitgenommen, obwohl ich doch davon frei sein wollte. Ich konnte und kann auch immer noch nicht loslassen, manchmal lese ich in diesen alten Texten, um vielleicht eine Antwort zu bekommen auf die Fragen, die ich heute habe, die ich mir mit meinem heutigen Wissen, das ich geringer einschätze als mein verlorenes, nicht beantworten kann. Doch das einzige, was mir bleibt, ist Wehmut und die Sehnsucht nach jenen einfachen Tagen, als ich noch nicht paralysiert zwischen den Möglichkeiten saß, die mir mein Leben eröffnete.
Und der Wunsch, wieder schreiben zu können wie damals, als das Pathos so überreich durch meine Texte floss, dass sie noch tagelang an meiner Amygdala klebten. Ja, auch wenn das bedeutete, dass ich mich nicht weiterentwickelt hätte, dass ich immer noch der naive Junge wäre, der keine Ahnung davon hat, dass Scheitern nicht großartige Tragik eröffnet, sondern nur Abgründe in die Seele, die man nie wieder schließen kann, so sehr man es auch versucht, so sehr man auch vorgibt, aus diesem Abgrund wieder neu und stark erwachsen zu sein.
Immer wird man in diesem Abgrund verwurzelt sein und die Dunkelheit spüren, die der Kern jeder Lebensangst ist.

Manchmal aber will ich noch dieser Junge sein, der keine Angst hatte, keine gebrochene Seele, keine Selbstzweifel, der Junge, der immer wusste, dass Schreiben das einzige sein würde, was wahr und wichtig sei.

Was also soll anderswolf.de sein?
Eine Heimat dem Heimatlosen?
Eine Gedankenwerkstatt, wo die Wortlosigkeit in ihre kleinsten Einheiten zerlegt wird, um daraus etwas Neues, Erhabenes zu konstruieren?
Ein Labor meiner Zukunft?
Oder nur der Versuch, mit mir und meiner Vergangenheit abzurechnen?

Ich weiß es nicht, und kann es nicht wissen, da ich mich nicht danach zu fragen traue. Es gibt so wenig, dessen ich mir sicher bin, wenn da überhaupt etwas ist. Zu gerne würde ich neu anfangen, doch mich hält zu viel am Alten. Und so sitze ich im Sonnenschein, der durch die ungeputzten Fenster in das Zimmer fällt und versuche, pathetische Texte zu schreiben und zu vergessen, dass es nicht der Schmerz ist, der mein Leben bestimmt.

Angesichts des Nebels. Parabel/lyse.

Morpheon
September 17, 2011

Am Ufer sitzend blicke ich auf das andere, baumbestandene Ufer, wo Nachtnebel sich aus den Bäumen hervor auf den See tastet. Und ich weiß, dass er mich auch hier erreichen, meinen Körper einschließen wird.
Obwohl ich noch sicher bin, kann ich die Kälte, die mein Herz angreifen wird, jetzt schon spüren und die Feuchte, die meine Haut überziehen wird.

Verloren bin ich, denke ich, in diesem Nebel, den ich jetzt noch von außen sehen und doch schon schmecken kann nach Eis und Seewasser, Borke und Waldboden.
Ich will aufstehen und rennen, fort vom Ufer, fort von dem, was da auf mich zukommt, doch meine Beine gehorchen mir nicht, ich kann meine Arme nicht bewegen, meinen Kopf nicht wenden, den Blick nicht lösen vom Nebel, der wie ein lauernder Panther, wie eine züngelnde Schlange über den See wandert: langsam, bedächtig, ohne Eile oder Hast.

Und so sitze ich am Ufer, warte ich am Rand des Sees, innerlich bebend und schreiend, doch äußerlich ruhig, bis der Nebel mich verschlingt.

Steve de Shazers Frage

Störsatz
September 16, 2011

„Angenommen, dein Problem wäre wie durch ein Wunder gelöst. Was genau wäre das Wunder und woran würdest du merken, dass das Wunder geschehen ist?“

Was kann ich tun, Folge 2: Online Self Assessment

Usus operi
September 16, 2011

Das nachfolgende Profil liefert Ihnen ein paar Anhaltspunkte über Ihre Stärken und Entwicklungsmöglichkeiten.

Ihr Wert entspricht einer mittleren Ausprägung zwischen Sicherheitsstreben und Risikobereitschaft.
Personen mit einem vergleichbaren Ergebnis beschreiben sich als Menschen, die in Entscheidungssituationen zu realistischen, ausgewogenen Handlungsalternativen tendieren. Im Zweifelsfall wählen sie einen Kompromiss oder Mittelweg. Im positiven Sinne werden Personen mit einem mittleren Ergebniswert in der Fremdwahrnehmung als vernünftig, vorsorgend oder weise bewertet; im negativen Sinne werden sie als unentschlossen oder kompromisslerisch wahrgenommen.

Ihr Wert entspricht einer hohen Handlungsbereitschaft und einer niedrigen Reflexivität.
Personen mit einem vergleichbaren Ergebnis beschreiben sich als Menschen, die rasch und intuitiv entscheiden, um aktiv in das Geschehen eingreifen zu können. Sie drängen auf schnelle, sichtbare Veränderungen und nehmen ggf. Umwege in Kauf. Im positiven Sinne werden Menschen mit einer hohen Handlungsorientierung von anderen als zupackend, aktiv, dynamisch und lebendig eingeschätzt; im negativen Sinne werden sie als impulsiv, voreilig, konfus und hektisch wahrgenommen.

Ihr Wert entspricht einer hohen Kreativität und einer niedrigen Konformität.
Personen mit einem vergleichbaren Ergebnis beschreiben sich als Menschen, die Bestehendes in Frage stellen und Innovationen anstoßen. Es fällt ihnen leicht, Dinge aus einem neuem Blickwinkel zu sehen und neue Lösungswege zu generieren, auch wenn dies nicht immer den ungeteilten Beifall ihrer Umwelt findet. Im positiven Sinne werden Menschen mit einer hohen Kreativität von anderen als erfrischend, neugierig, unkonventionell, schöpferisch, visionär und progressiv eingeschätzt; im negativen Sinne werden sie rebellisch, anstrengend und unbequem wahrgenommen.

Ihr Wert entspricht einer mittleren Ausprägung zwischen Kontinuität und Flexibilität.
Personen mit einem vergleichbaren Ergebnis beschreiben sich als Menschen, die genau abwägen, ob bewährte Vorhegensweisen fortgesetzt oder von neuen, besseren Verfahren abgelöst werden sollen. Sie bearbeiten Aufgabenstellungen sowohl seriell wie parallel und können zwischen diesen Bearbeitungsformen wechseln. Im positiven Sinne werden Personen mit einem mittleren Ergebniswert in der Fremdwahrnehmung als informiert und situationsangepasst erlebt; im negativen Sinne werden sie in Changeprozessen als zu beharrend und in Konsolidierungsprozessen als zu wechselhaft wahrgenommen.

Ihr Wert entspricht einer mittleren Ausprägung zwischen Team- und Führungsorientierung.
Personen mit einem vergleichbaren Ergebnis beschreiben sich als Menschen, die in herausfordernden Situationen durch ihre Meinung Orientierung geben können. Gleichermaßen sind sie umsichtig für die Interessen anderer und stimmen sich ab. Im positiven Sinne werden Personen mit einem mittleren Ergebniswert in der Fremdwahrnehmung als umgänglich und teamfähig bewertet; im negativen Sinne werden sie – je nach Standpunkt – als zu kollektivistisch oder zu individualistisch wahrgenommen.

Ihr Wert entspricht einer mittleren Ausprägung zwischen Harmoniestreben und Konfliktbereitschaft.
Personen mit einem vergleichbaren Ergebnis beschreiben sich als Menschen, die sich fallweise überlegen, ob sie großzügig über eine Sache hinwegsehen oder einen Konflikt eingehen sollen. Sie arbeiten im Konfliktfall Unterschiede sowie Gemeinsamkeiten heraus und sind bereit, zur Lösung vertretbare Kompromisse einzugehen. Im positiven Sinne werden Personen mit einem mittleren Ergebniswert in der Fremdwahrnehmung als verträglich und besonnen bewertet; im negativen Sinne werden sie ggf. im Streitfall als zu kritisch und bei Kompromissen als zu nachgiebig wahrgenommen.

Ihr Wert entspricht einer mittleren Ausprägung zwischen Sach- und Kontaktorientierung.
Personen mit einem vergleichbaren Ergebnis beschreiben sich als Menschen, die keine Schwierigkeiten haben, auf andere zuzugehen und Bindungen einzugehen. Sie können sich bei Bedarf jedoch auch ganz einer Fachaufgabe in Einzelarbeit konzentrieren. Im positiven Sinne werden Personen mit einer hohen Sachorientierung von anderen als sozial aufgeschlossen und zugewandt eingeschätzt; im negativen Sinne werden sie von introvertierten Kollegen als extravertiert und von extravertierten Kollegen als introvertiert wahrgenommen.

Ihr Wert entspricht einer mittleren Ausprägung zwischen einer numerisch-logischen und einer sprachlichen Orientierung.
Personen mit einem vergleichbaren Ergebnis beschreiben sich als Menschen, die je nach Bedarf in der Lage sind, entweder Geschäftskorrespondenz adressatengerecht zu formulieren oder betriebswirtschaftliche Reportings logisch-schlüssig zu analysieren. Im positiven Sinne werden Personen mit einem mittleren Ergebniswert in der Fremdwahrnehmung als gute „Allrounder“ bewertet; im negativen Sinne werden von Experten ihre Formulierungen bei heiklen Textpassagen als zu holprig oder nicht stilsicher und ihre Berechnungsformeln in komplexen Tabellen als fehlerhaft wahrgenommen.

Ihr Wert entspricht einer mittleren Ausprägung zwischen Selbstreflexivität und Selbstbewusstsein.
Personen mit einem vergleichbaren Ergebnis beschreiben sich als Menschen, die sowohl ihre Stärken, als auch ihre Schwächen kennen und sich dementsprechend die betrieblichen Aufgabenstellungen auswählen. Sie haben Vertrauen in ihre eigene Leistungsfähigkeit, ohne dabei abzuheben. Im positiven Sinne werden Personen mit einem mittleren Ergebniswert in der Fremdwahrnehmung als unbefangen und authentisch bewertet; im negativen Sinne werden sie von schüchternen Personen als zu forsch und von sehr selbstbewussten Menschen als zu verzagt oder pessimistisch wahrgenommen.

Ihr Wert entspricht einer mittleren Ausprägung zwischen Fremd- und Selbstmotivation.
Personen mit einem vergleichbaren Ergebnis beschreiben sich als Menschen, die sich – situationsabhängig – betrieblicher Problemstellungen eigeninitiativ annehmen oder für neue Aufgaben von anderen begeistert werden können. Sie versuchen Aufgaben ordnungsgemäß und termintreu zu erfüllen, ohne sich dabei zu verausgaben oder mit anderen in destruktive Konkurrenz zu treten. Im positiven Sinne werden Personen mit einem mittleren Ergebniswert in der Fremdwahrnehmung als motiviert bewertet; im negativen Sinne werden sie von unmotivierten Personen als zu ehrgeizig und von sehr engagierten als zu passiv wahrgenommen.

Ihr Wert entspricht einer hohen Nachhaltigkeitsorientierung und einem niedrigen Profitstreben.
Personen mit einem vergleichbaren Ergebnis beschreiben sich als Menschen, die eine langfristige Perspektive verfolgen und das wirtschaftliche Geschehen ganzheitlich betrachten. Sie beziehen die Interessen der Stakeholder in ihre Überlegungen ein und orientieren sich an übergeordneten ethischen Grundsätzen. Kurzfristig kann dies zu wirtschaftlichen Nachteilen führen. Im positiven Sinne werden Personen mit einer hohen Nachhaltigkeitsorientierung von anderen als integer und weitsichtig eingestuft; im negativen Sinne werden sie als idealistisch oder sozialromantisch wahrgenommen.

Ihr Wert entspricht einer mittleren Ausprägung zwischen Sensibilität und Robustheit.
Personen mit einem vergleichbaren Ergebnis beschreiben sich als Menschen, die einerseits aufmerksam für die Sorgen anderer sind und hilfsbereit zur Seite stehen, andererseits Stresssituationen über einen vertretbaren Zeitraum effektiv bewältigen können. Benötigt in der Regel nach Krisen etwas Zeit, um physisch oder psychisch wieder zu Arbeitsqualität und Routine zurückzufinden. Im positiven Sinne werden Personen mit einem mittleren Ergebniswert in der Fremdwahrnehmung als ruhig, gefasst und ausgeglichen bewertet; im negativen Sinne werden sie von sensiblen Personen als zu dickfellig und von sehr robusten Menschen als zu dünnhäutig wahrgenommen.

[Quelle: Online Assessment Berufliche Potentiale]

Was kann ich tun, Folge 1: Berufsneigungstest

Usus operi
September 16, 2011

Kreativ-künstlerischer Umgang mit Ideen und Konzepten

Ihre Einschätzungen deuten mit 100 Prozent auf ein Interesse an einem Arbeitsbereich hin, der mit theoretisch-abstrakten oder wissenschaftlichen Konzepten, Überlegungen und Methoden, zu tun hat. Diese Ausrichtung zielt hin auf einen kreativen, künstlerischen oder geisteswissenschaftlichen Arbeitsbereich, denn das „Visionäre“, der kreativ-schöpferische Prozess, ist für Sie von wichtiger Bedeutung.

Im Vordergrund stehen hier geistige Aktivitäten wie:

  • sich mit komplexen, eher philosophischen Fragestellungen auseinanderzusetzen
  • etwas intensiv durchdenken, erforschen, infrage zu stellen
  • analysieren, um neues zu kreieren.

Aber es geht auch um Einfühlen und Sensibilität. Sie verfügen über ein hohes Maß an Kreativität.

Ihr bevorzugtes Berufsfeld ist am ehesten im Bereich der kulturellen, geistigen, künstlerisch-musisch anregenden Sphäre zu vermuten und hat dabei eine deutliche Ausprägung im konzeptionellen, theoretischen Überbau.

Sie wären nicht gerne selbst Schauspieler, Orchestermusiker oder Intendant, sondern eher

  • Regisseur
  • Dirigent
  • Dramaturg
  • Komponist
  • Theater- oder Musikkritiker.

Ressortleiter, Cheflektor, Künstlerischer Leiter kommen ebenfalls für Sie in Frage, wenn sie die Möglichkeit haben, einer Sache Ihren ganz persönlichen Stempel aufzudrücken.

[Quelle: WirtschaftsWoche]

Im All. Fragmentgedanke.

Morpheon
September 9, 2011

Wie sehr wir alle versuchen, wir selbst zu sein, obwohl wir doch nur dazugehören wollen. Wie Fremdkörper in der Welt sind wir, unabhängig, unzugänglich, abgenabelt, echolos. Durch die Einsamkeit unserer Universen schweben wir, immer auf der Suche dem einen Leben, das uns genug Strahlkraft verleiht, uns so heil macht, dass andere wieder mit uns leben wollen und können.

Alles, was zählt

Morpheon
September 7, 2011

Wie wir so voneinander behaupten, einander nicht zu kennen, um einander näher zu sein.
Wie wir uns ignorieren um des Ignorierens, um des gemeinsamen Nichtkennens wegen.
Damit wir überhaupt etwas gemein haben.

Wohin geht man mit solchen Erkenntnissen, wohin wendet man sich, wenn man in einer Sackgasse zu stecken scheint. Zurück geht ja nicht, da kommt man ja her, da weiß man schon, dass es da nicht weitergeht.
Vorwärts aber, wo soll das sein, wie soll das gehen, da ist ja nix.
Vielleicht mit geschlossenen Augen und voller Wagemut, denkt man, könnte man die Wand durchschreiten, durch die es kein Durchkommen zu geben scheint.

Und tatsächlich, wenn ich nicht mehr mit dem Rücken zur Wand stehe, wenn ich mich einfach, furchtlos, ahnungslos nach vorne fallen lasse, dann ist ein Weg da, den meine Augen nicht sahen, mein Herz aber immer ahnte.

Und dann ist man doch wieder alleine mit all seinen Ängsten, denn Angst ist ein Gefühl, und Gefühle kann man nicht teilen wie Kuchen oder Suppe oder Milchreis.
Gefühle gehören immer nur einem alleine, denn keiner fühlt wie ich und ich fühle niemals wie Du.
Und überhaupt wäre es unfair, könnte man all seine Gefühle, und seien sie Freude und Liebe und Glück, und seien sie Trauer und Einsamkeit und Angst, anderen überstülpen und sie dadurch zu einem Stück seiner Selbst machen.

Und so halten wir uns an der Hand, in unterschiedliche Richtungen blickend, zwischen uns diese Mauer aus Ignoranz, die nicht kleiner oder durchgängiger wird, je länger wir beieinander sind.
Aber das macht nichts, denn ich glaube, Du hältst gerne meine Hand und ich die Deine, und ich denke, im Moment ist das alles, was zählt.

Nachtfragmente. Keine Wahl.

Morpheon
Juli 27, 2011

Wie eine Wüste übervoll an Sand und leer an Leben ist meine Seele ein Meer aus unsagbaren, ungesagten Worten. Jeden Tag und jede Nacht betrachte ich all das Ungeschriebene, das wie Harz zu Bernstein kristallisiert, darin eingeschlossen kleines Leben, zu betrachten, doch niemals zu berühren.
Und wenn die Tränen kommen, dann berühren sie nicht meine Seele, sondern nur meine Haut, die so weit weg von mir scheint, weiter fort als die Hand des Freundes, der mich trösten möchte, dessen Berührung ich aber nicht ertragen kann, wenn ich so schwach bin, dass seine Liebe mich fast erstickt.

Ich bin außer mir, nicht mehr ich selbst, nicht mehr an diesem Ort, den ich Heimat nannte, als er noch in mir lag. Ich bin fort, auf der Suche nach dem Leben, das mich verließ, als ich auszog, ich selbst zu werden. Zurück will ich, das sehe ich nun, zurück in jene einfache, stille Zeit, da ich nicht Anders Wolf, sondern ein Anderer war, dessen Worte wie Blut aus Wunden zu quellen schienen, unaufhaltsam, doch reinigend, schwächend, doch ein Zeichen von Leben. Jetzt aber ist jeder Satz eine seelenverletzende Narbe, die nie zu heilen droht und immer schmerzt.

Außerdem verstehe ich Wordpress nicht, komme nicht klar mit den Formen und dem PHP, kann Datenbanken nichts abgewinnen und will nicht aktualisieren. Ich will mich nicht um Akismet kümmern und Viagra-Spam, ich will schreiben und nicht noch mehr Zeit vergeuden.

Ich habe Angst vor dem Tod, der mich noch nicht ereilt, ich habe Sehnsucht nach dem Morgengrauen nach einer sternklaren Nacht, ich träume von einem Sonnenuntergang am See. Morgens erwache ich mit zerschlagenem Körper, weil ich im Schlaf gerannt bin, auf der Flucht war vor dem schlechten Gewissen, dass ich mit dürren Worten abzuspeisen gedacht hatte.
Eine Selbstverpflichtung hatte ich mir gegeben, dass ich schreiben wolle bis November, schreiben, um meine Geschichte endlich voranzubringen, doch immer und immer wieder holt mich der bescheuerte Brotberuf ein, die unsäglichen Arbeitszeiten, die nervigen Nachbarn. Ich bin vollkommen an einem Ende angekommen, mittlerweile sagt mir sogar mein Konto wieder, dass ich das falsche Leben lebe.
Ich habe so viele Pläne und gleichzeitig so viel Zeit, dass ich von so vielem nichts mehr tun kann, weil ich mich nicht zu einem Anfang entscheiden kann. Ich bemitleide mich noch nicht einmal mehr selbst, so überdrüssig bin ich allem.

Und dann stürzt alles ab und ich bin nur noch ich.
Kein Sender kommt noch durch, kein Blitz schlägt mehr ein, kein Donner durchbricht noch die Stille.
Es ist Nacht draußen, eine dunklere Nacht als sonst, dunkler als jemals zuvor.
Alles ist schwarz und alles ist plötzlich so einfach.

Grau. Inmitten Grau. Immerzu.

Morpheon
Juli 13, 2011

Nicht sehen, nicht wissen, nicht glauben, nicht ahnen, nur hoffen wir, hinaus gehen wir, in die Tage, die nichts mehr erleuchtet, hinaus gehen wir und lassen uns selbst zurück.

Ohne Ziel stolpern wir durch die Straßen, bleiben unter Bäumen stehen, die regennass in die Gegend starren.
Als käme da noch was, starren sie, als käme seit Tagen, Wochen, Monaten was, als warteten sie schon seit Jahren, nur eben nicht auf uns, die wir eben nun mal unter den Bäumen stehen.
Weitergehen sollen wir, versperren mit unserem Rumstehen den Bäumen den Blick in die Zukunft.
Umdrehend sehen wir aber nichts, nur noch mehr Weite, mehr Bäume, mehr unerleuchtete Tage.

Nicht dass die Dunkelheit andererseits käme.
Nicht mal neblig ist es, untrübes, klares Grau, alle Kanten scharf wie frisch geschnitten, alle Furchen wie frisch gezogen, alles Leben wie frisch fort.
Irgendwo zwischen Tag und Tag gehen wir durch das enervierend frische Grau, heller auf den Wegen, dunkler auf dem Gras, die Farben alle ausgewaschen, in der erstarrten Zeit verloren gegangen, die doch gleichzeitig rast.
Ohne ein Ziel gehen wir herum und sind immer zu spät, immer haben wir gerade alles verpasst, ist alles vorbei.
Aus der Zeit gefallen stehen wir an der Grenze zu einer Dämmerung, deren Dunkel niemals anbricht.

Wir hoffen und ahnen und glauben und wissen und sehen nichts.

Der Keim allen Übels

Trophisches
Juni 8, 2011

Viele betrachten ja den aktuellen Lebensmittelskandal als willkommene Entschuldigung dafür, jetzt endlich keinen Salat mehr zu essen. Wurde auch Zeit, wo die bisherigen Skandale – BSE, Antibiotika-, Gammel- und Klebefleisch, Analogkäse und Dioxineier – den Verzehr von Gemüse als einzig sichere Ernährung erscheinen ließen. Und dann auch noch diese unerträglichen Bücher wie Anständig essen und Tiere essen, die einem das Schnitzel auf dem Teller und überhaupt jedes tierische Produkt schlecht reden. Endlich hat man ein handfestes Argument gegen diese Veganokratur.

Andere wie Hartmut Wewetzer vom Tagesspiegel freuen sich dagegen darüber, dass endlich der Biokratur die vermeintliche Unschuld genommen wurde:

Es ist makabere Ironie, dass ausgerechnet die böse Chemie in Form von Antibiotika und anderen Arzneimitteln und die Gentechnik in Gestalt biotechnisch hergestellter Medikamente nun die Menschen rettet, die möglicherweise „Bio“ in Gefahr gebracht hat – falls sich die Indizien bestätigen.
[…]
Bio-Lebensmittel sind nicht nachweislich gesünder als herkömmlich erzeugte und manchmal sogar gefährlicher. Ein Grund ist der Verzicht auf Kunstdünger. Zur Düngung eingesetzte Gülle, Mist und Kompost können Krankheitserreger enthalten. Auch der Hang zu rohen, naturnahen und unbehandelten Lebensmitteln hat seine Tücken. Eine häufige Quelle von Ehec-Ausbrüchen ist nicht erhitzte Rohmilch. Und immer wieder fallen Bioprodukte durch Keimverunreinigungen auf, wie aus einer Auswertung der Stiftung Warentest aus dem Jahr 2007 hervorgeht.

Recht hat er. Wurde Zeit, dass auch die verblendetsten Umweltschützer und Grünwähler mal sehen, dass unsere Ernährungsprobleme nicht im sterilen Labor beginnen, sondern auf dem unhygienischen Feld.

Aber mal im Ernst: was ist denn eigentlich passiert?

Irgendwie gelangen Darmkeime in die Nahrungskette. Nicht auf die Probiotika-Weise, wo man sich Myriaden von lebenden Darmbakterien freiwillig in den Mund schüttet. Sondern auf einem unsichtbaren, intransparenten Weg.
Die Folgen: erstens natürlich die Infektion, der Durchfall, schlimmstenfalls Organversagen und Tod. Zweitens aber, und das ist viel dramatischer, eine vollständige Verunsicherung eines übergroßen Teils der Bevölkerung. Selbst im Biomarkt und bei den direktvermarktenden Bauern auf dem Markt brechen Gemüseumsätze ein aufgrund einer irrationalen Angst vor Killergurken, Todestomaten und Suizidsalat. Vollkommen unreflektiert machen Verbraucher neuerdings einen großen Bogen um alles, was auch nur ansatzweise roh aussieht, Dosenobst und Konservengemüse verkaufen sich dagegen plötzlich überraschend gut.

Als Dienstleister im Lebensmitteleinzelhandel hat man momentan nur noch eine Aufgabe: Unbedenklichkeitsbezeugungen für die eigenen Produkte geben. Die Gurken, ja, die kommen aus der Region, ja, die esse auch ich, den Salat, ja, den sollte man schon waschen, wahrscheinlich ist noch Sand drin, das knirscht sonst. Die Tomaten, naja, spanische halt, mit denen gibt es kein anderes Problem als früher, aber ja, die kann man schon essen, wenn man muss. Schmecken halt immer noch nach nix. Auf meine doch wohl sicherlich vorhandene Angst vor EHEC angesprochen sage ich gerne: Ich habe mir zwar nicht anlässlich, aber zeitgleich der ersten Erkrankungsfälle das erste Mal in meinem Leben Rohmilch gekauft, das Lebensmittel, das wie kein anderes sonst vor 2011 als Quelle für EHEC-Infektionen galt. Und ja, sie hat gut geschmeckt. Sollten Sie auch mal probieren, wenn Ihre Paranoia nachlässt.

Denn das ist ja die eigentliche Krankheit, die derzeit ihren größten Ausbruch in der dokumentierten Geschichte der Industriegesellschaft feiert: das Misstrauen der Menschen in ihre Lebensmittel. Wir, die vermeintlich mündigen Verbraucher, sind so schnell und leicht so umfassend verunsichert, weil wir die Verbindung zu unserer Nahrung verloren haben: Wir glauben, die Milch kommt aus der Flasche, das Fleisch aus dem Supermarkt. Dass Joghurtbecher nicht auf Bäumen wachsen und Bananen noch nicht mal in unseren Breiten, haben wir in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt wunderbar ausblenden können. Wir wissen nicht, wie es sich anfühlt, ein Schwein zu schlachten, eine Kuh zu melken. Wir wissen teilweise nicht, wie man die giftigen von den ungiftigen Beeren unterscheidet, wenn sie nicht im Supermarkt ausliegen, es gibt Menschen in Deutschland, die nicht wissen, wie es ist, einen noch nicht ganz reifen Apfel zu pflücken und seine Zähne ins noch saure Fruchtfleisch zu graben, den Saft das Kinn herunterlaufen zu spüren, und es gibt Menschen, die noch nicht einmal wissen, dass es Quitten gibt. Arm sind sie dran, vor allem jetzt, wo sie von dem Skandal nur behalten werden, dass alles Rohe töten kann.

Wie bekommen wir die Kirche zurück ins Dorf?

Die erste und wichtigste Aufgabe von Politik und Behörden ist es natürlich, den Erreger und seine Quelle aufzuspüren und auszuschalten. Daneben wird es aber für die Zukunft wichtiger sein, dem Verbraucher, der Gesellschaft wieder das Vertrauen zu geben, dass die von uns verzehrten Lebensmittel sicher, sauber und gesunderhaltend sind. Dazu gehört nicht, die Lebensmittelproduktion noch mehr abzuschirmen und gänzlich in die Labore und Fabriken zu verlagern, sondern im Gegenteil Transparenz durch Öffnung auf Produzenten- wie auf Konsumentenseite. Die im 20. Jahrhundert forcierte Entfremdung zwischen Lebensmittel und Konsument muss umgekehrt werden: denn nur was wir nicht kennen, ängstigt uns; stellen wir uns unserer Angst vor der Natur, können wir sie vielleicht nicht beherrschen, aber doch verstehen (beide, die Angst wie die Natur).

Die erste und wichtigste Aufgabe des Verbrauchers ist es daher, Unwissenheit und Angst zu überwinden und damit seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu entkommen. Der aufgeklärte Verbraucher weiß, dass die Qualität eines Lebensmittels wichtiger als sein Preis ist. Der aufgeklärte Verbraucher weiß, dass international arbeitende Lebensmittelkonzerne gewinn- und nicht kundenorientiert arbeiten. Der aufgeklärte Verbraucher weiß, dass die Entscheidung für „regional und saisonal“ wichtiger ist als die zwischen bio und nicht-bio. Der aufgeklärte Verbraucher aber weiß vor allem, dass die Verantwortung für seine Gesundheit nicht in den Händen irgendwelcher Konzerne, Politiker, Behörden oder Landwirte liegt, sondern in seinen eigenen und dass es seine Aufgabe ist, für sich selbst die beste Wahl zu treffen. Und nicht einfach nur die einfachste.

PS. Und die Sprossen? Sind vielleicht, vielleicht auch nicht die Quelle der Infektionen. Das wird sich wahrscheinlich nie mit Sicherheit und abschließend sagen lassen können.

Schwulsein

Usus operi
Mai 11, 2011

Die Nachbarin weiß nicht, wie sie in Gesprächen mit mir meinen Lebensgefährten benennen soll. Meinen Kumpel nennt sie ihn manchmal, öfter nennt sie das, was sie für seinen Namen hält, sie hat es nicht so mit dem Lesen des Klingelschilds. Dass wir aber mehr als nur Mitbewohner sind, versteht sie.

Meinen Lebensgefährten nenne ich umschreibend oft „den Freund“, obwohl er mehr ist als das. „Freund“, das klingt in Facebookzeiten nicht näher als „Kollege“, „Bekannter“, „Jemand“, auch wenn meine Facebook-Freunde bis auf wenige Ausnahmen wirklich echte Freunde sind, also Menschen, mit denen ich gerne Zeit verbringe. Der Freund aber ist mehr als das, er ist in den letzten fast zehn Jahren zu einem Teil von mir geworden, er ist in mein Leben und meine Seele gewachsen wie ein Baum, der nah an einem anderen steht: mit der Zeit kann man kaum noch erkennen, dass sie einmal einzeln waren.

Dass ich schwul bin, habe ich in der Pubertät entdeckt, habe es vor 12 Jahren jedem gesagt, der es wissen wollte, und vor allem jedem, den es nicht interessierte. Und heute spüre ich jedes Mal die Angst vor einer Ablehnung, wenn mich jemand nach meinem Beziehungsstatus fragt. Das sind im Grunde harmlose Fragen: ob ich meiner Freundin ein guter Hausmann sei, ob ich alleine im Urlaub gewesen sei, wie ich mir alleine eine so große Wohnung in so einer Gegend leisten könne, ob ich schon Kinder habe. Jedes Mal spüre ich in mir diese instinktive Abwehr, die mich von meinen Gesprächspartnern entfernt, die mich nicht einfach sagen lässt, dass ich meinem Lebensgefährten manchmal ein guter Hausmann sei, häufiger aber hoffe, die Hausarbeit würde sich von alleine erledigen. Dass nicht ich die Familie im Ausland habe, sondern der Freund, dessen Einkommen es uns die Wohnung ermöglicht. Und dass ich ein Patenkind habe, meine Mutter sich Enkel wünsche und ich zwar ein guter Erzieher sei, aber wenn, nur ein Vater durch Samenspende.

Offensichtlich habe ich mich irgendwann dazu entschieden, unauffällig zu sein, so etwas wie normal. Als ob Norm und Normalität nicht-relative Begriffe seien, objektive Wahrheiten am Ende gar und nicht einfach nur eine Geschmacksfrage. Als ob es mir ein besseres, leichteres Leben ermöglichen würde, mich dem Durchschnitt der Bevölkerung anzupassen. Als ob mir sowas auch nur ansatzweise gelänge. Als ob ich nicht ohnehin in allen Belangen zumindest subtil kontrastierte.

Und damit bin ich dann wohl doch normal geworden, denn wer ist schon gerne Teil der breiten Masse, wer ist denn in allem konform?

Namibia: Zurück und voran

Von der Front
Mai 10, 2011

Die kleinen und großen Unterschiede. Das Früher und Später, das Was-wäre-wenn. An jedem Tag, in jeder Sekunde, in allen Entscheidungen, vor jedem Schritt stehen wir auf der Schwelle zur Veränderung. Und gehen immer voran. Und blicken stets zurück.

Vier Wochen waren vergangen seit dem viertstärksten Erdbeben in der Geschichte der aufzeichnenden Menschheit, als ich in die älteste Wüste der Welt aufbrach. Die Namib, der leere Ort, bietet wenig Leben Raum. Nichts gedeiht dort, war meine Gewissheit, hatte ich es doch selbst schon gesehen, das Fehlen von Leben, die Nicht-Existenz von Veränderung. Dort aber blühten Blumen, überzogen Büsche die Dünen und zwischen roten Sandbergen funkelte blau ein weiter See. Ich erkannte und erkannte doch nicht den Ort, den ich unverändert dachte, ich war erschrocken und erstaunt, gefangen von der Schönheit dieses unerwarteten Paradieses, ehrfurchtsvoll angesichts des Wunders vor mir.

Namibia erlebt derzeit die längste und üppigste Regenzeit seit einem Jahrhundert. Es ist schwer, jemandem, der nie die Trockenheit des fast verdursteten Landes gespürt hat, zu erklären, wie sehr der Anblick von hochaufgeschossenen saftigen Gräsern an die Grenzen der eigenen Erinnerung rührt: der stetige Versuch, in den ausgewaschenen, nassen Fahrwegen die staubigen, steinigen Straßen wiederzuerkennen, der immerwährende Fehlschlag, in den blühenden Wiesen und Sträuchern das dürre, im lauen Wind raschelnde fahlgelbe Gras zu sehen, all die vermeintlichen Momente des Begreifens lehren nur eines: dass nichts von Dauer, nichts ewig, nichts festgeschrieben steht. Der Regen hat alle vermeintliche Wirklichkeit aus der Welt gewaschen und ein neues, grünes Land hinterlassen.

Den dortigen Menschen, die vom und auf dem Land leben, ist dieser Regen, den sie zunächst begrüßten wie einen lange vermissten Freund, ein schlimmerer Feind geworden als die Dürre zuvor. Während zuvor jeder geregnete Millimeter mit Freude und Stolz an die Nachbarn weitergegeben worden war, begleitet jetzt jede Regenmeldung ein Unterton von Furcht vor dem, was die Wolken noch bringen möchten: schon wieder drei, noch einmal fünf, wieder und wieder zehn Millimeter in fünf, in drei, in zwei Stunden. Mehr als in Deutschland in einem Jahr habe es in Teilen des Landes in den letzten vier Monaten geregnet, sagen manche, um dann zu warnen: Höre es nicht bald auf mit dem Regen, werde er allen Segen, den er mit sich brachte, wieder mit sich nehmen. Das Gras sei zu schnell gewachsen, es sei nichts wert, sagt eine Farmerin. Das Gras habe keine Kraft und bald werde es auf den Feldern stehend verrotten, wenn der Regen nicht ende. Und dann sei der Regen, der zunächst als Segen gesehen wurde, noch gefährlicher als alle Trockenzeiten zuvor, denn die Trockenzeiten hätten nie Hoffnung geschenkt, um sie danach wieder zu zerstören. Der Regen aber zerstöre den Mut der Farmer und aller anderen Menschen, die vom und auf dem Land leben.

Die Namibier blicken viel zurück auf die Zeit vor dem Regen und gehen doch voran. Sie wissen, das Land wartet nicht auf sie, die Erde wird die fallenden Fluten weiterhin trinken und die Riviere sich weiter auswaschen. Die Tiere des Landes werden sich mästen und so für die schwereren Jahre wappnen, sie werden hinnehmen, was ihnen geschieht, und sich anpassen. Die Menschen dagegen, sie werden hadern, werden zurückblickend vorangehen und immer wieder sehen, wie wenig sie sind angesichts einer Wüste, die nicht der alten Leblosigkeit nachtrauert, sondern nach 80 Millionen Jahren wieder blüht.

Vier Wochen nach meinem Besuch in der Namib bin ich scheinbar zurück in meinem alten Leben, das dann doch so anders ist. Die Relationen haben sich verschoben in allen Belangen. Nicht alles, was wichtig schien, ist es noch. Die großen Träume sind nicht kleiner geworden, aber ferner, die Ängste, die Befürchtungen haben ihren Schatten verloren, die Hoffnungen ihren Glanz. Mit Ehrfurcht denke ich noch immer an die Wüste, die nicht zögert angesichts des Überflusses, sondern dem Regen ihre schönsten Blüten schenkt, und ich befühle mein eigenes Zaudern wie einen Fremdkörper in mir, der mich zurückhält, der Angst heißt und ein Widerstand ist gegen die wilde Natur, die sich in allem über uns dünnhäutige Menschen erhebt, die noch nicht mal in Teilen begriffen haben, dass es nicht um unser Weiterleben als Spezies geht in dieser Welt. Und erst langsam begreife ich selbst, dass wir nur Teil sind eines Tanzes, der Jahrmillionen vor uns getanzt wurde und der Jahrmillionen nach uns immer noch die gleiche Melodie der Evolution haben wird. Es reicht ein Wimpernschlag, ein Regen, eine Zuckung des in seinen Träumen von Gravitation versunkenen Erdkerns, um alles zu verändern, was wir für sicher hielten. Und während wir immer noch gefangen sind in der Schwerelosigkeit des Augenblicks und selbst träumen von unseren geplanten Leben, dreht die Welt sich, verrückt um zwei Dutzend Zentimeter, um eine neue Achse.

Die großen und die kleinen Unterschiede. Das Vorher und das Nachher, das Veränderte und das Gleiche, das ewige Was-wäre-wenn. Wie soll man die Unterschiede noch erkennen, wenn das, was Erinnerung ist, niemals die Realität widerspiegelt, sondern nur unsere Wahrnehmung des Vergangenen? Wie soll man zurück und voran sehen, ohne vom eigenen Blick getroffen zu werden? Wie soll man zurückfinden, wenn man fort war, in ein Leben, das nicht mehr da ist, das schon nicht mehr da war, als man es hinter sich ließ und in ein fernes fremdes und vertrautes Land aufbrach?

Man kann es nicht. Man kann nicht mehr zurück und unverändert sein. Man kann immer nur voran.

Die Japan-Angst

Von der Front
März 15, 2011

In der Tiefe der Nacht tauche ich in meine Seele und finde das erste Mal seit 2001 auch wieder die leibliche Angst des Sterblichen. Die Ereignisse in Japan, die ich so wenig wie alles andere an mich heranlassen wollte, brechen nun auch meine letzte Gegenwehr.
Ich habe Angst, wirkliche, wenn vielleicht auch unbegründete Angst vor dem, was in Japan gerade passiert, und das ist ja nicht nur das Erdbeben und der Tsunami, sondern das sind vor allem die erschreckenden Vorgänge im Kernkraftwerk Fukushima.

Es ist 3:15 Uhr unserer Zeit. Wolken verdecken unsere Sterne.

In Fukushima 1 sind zwei Reaktorhüllen explodiert, die Generatoren, die ersatzweise die Reaktorbecken kühlen sollten, sind ausgefallen, der vierte Block von Fukushima 1, in dem abgebrannte, aber immer noch gefährliche Brennstäbe lagern, wütet unkontrollierbar ein Feuer, der Ministerpräsident verlangt von seinen Bürgern, sich mindestens 20 km weit vom Kernkraftwerk zurückzuziehen. Dabei hat er keine eigene Einschätzung, keine eigenen Experten, das gibt er zu, er kann nur die Informationen weitergeben, die er von einem Unternehmen bekommt, das seit Jahren die Wahrheit über seine Reaktoren verschleiert.

Ich habe Angst.
Die Bundesregierung hat es mit der Ankündigung des Ausstiegs aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg aus der Atomkraft sogar bis in die japanischen Nachrichten geschafft, und doch singen bestimmt auch morgen früh noch viele Regierungspolitiker, dass kein Grund bestehe, sich übereilt aus der Atomkraft zu verabschieden, als sei die nicht kontrollierbare Technik ein zweites Afghanistan, das zu verlassen uns ethische Grundsätze verletzen ließe.
In Wahrheit, und deswegen sehen die Atomlobbyversehrten immer so verstörend schuldbewusst und ertappt aus, widerspricht es nach heutigem Kenntnisstand (und damit meine ich den schon vor zehn Jahren existierenden Kenntnisstand im Vergleich zu den Kenntnissen der 1970er) sowohl dem gesunden Menschenverstand als auch der gesellschaftlichen Wohlfahrtsverpflichtung der Regierenden, eine Technologie, die bereits durch dumme Zufälle als Massenvernichtungswaffe wirken kann, nicht sofort abzuschaffen.

Meine japaninduzierte Angst ist ja nicht, dass Erdbeben Biblis oder Neckar-Westheim erschüttern, meine Angst ist vor allem, dass die Verantwortlichen, und das sind gewinnorientierte Businesstypen, niemandem die Wahrheit sagen würden über die tatsächlichen Vorgänge in den AKWs, selbst wenn die Kernschmelze kurz bevorstünde.
Ich habe Angst vor diesen japanischen Verhältnissen, wo die Wahrheit nur Stück für Stück ans Licht kommt, und sich letztlich als doch noch schlimmer entpuppt als der ursprüngliche GAU. Dass die deutsche Politik da mithalten kann, hat sich ja im Fall Guttenberg auch gut gezeigt.
Ich habe Angst.
Angst vor unserer Regierung.
So weit ist es schon.
Und so spät.

Ich kenne Clara Zetkin nicht

Von der Front
März 8, 2011

Als Clara Zetkin im Moskauer Exil starb, lag ihre Heimat in noch glühender Asche. Das Weimarer Deutschland hatte sich abgeschafft, hatte einem Brandstifter die Tore zur entzündlichen Identität eines Volkes geöffnet. Als Clara Zetkin starb, schwelte in Deutschland ein Feuer, dessen Brandgeruch auch fast ein Jahrhundert später noch nicht aus den Kleidern zu bekommen ist. Wäre Clara Zetkin jünger gewesen und nicht schon 76 Jahre alt und nach Selbstaussage invalide, sie hätte zum Widerstand gegen die Nationalsozialisten nicht nur aufgerufen, sondern hätte mit allen Mitteln gegen die neuen Machthaber gekämpft.

Clara Zetkin kannte wahrscheinlich kein Zögern, erst ihr zunehmend erstarrender Körper nahm ihr wahrscheinlich die Kraft, die sie wahrscheinlich all die Jahre und Jahrzehnte ihres sozialen und politischen Wirkens vorangetrieben hat. Wahrscheinlich.
Ich kenne Clara Zetkin nicht. Ich kenne keines ihrer politischen Zeugnisse. Wikipedia, das allwissende Auge, zeigt mir Ausschnitte aus der Geschichte, geschrieben von den Hinterbliebenen, von den Siegern und Verlierern, von all jenen, die sich aus dem einen oder anderen Grund für die Frau interessieren, der wir den Weltfrauentag verdanken, der heute offiziell hundertsten und tatsächlich neunzigsten Geburtstag feiert.

Am 19. März 1911 wurde auf Vorschlag von Clara Zetkin der erste Internationale Frauentag durchgeführt als Aktion für das Frauenwahlrecht, von dem sich vor allem die Sozialdemokraten eine Erweiterung ihrer Wählerschaft versprachen (sagt Wikipedia). Und auch wenn es noch sieben Jahre dauern sollte, bis Frauen tatsächlich wählen durften, war der erste Weltfrauentag ein phänomenaler Erfolg – für die SPD zumindest, die 1911 über 20.000 neue weibliche Mitglieder verzeichnen konnte und fortan den Weltfrauentag als wichtiges Oppositionsmittel jährlich durchführte, bis der 1914 deklamierte Burgfrieden der Opposition die Legitimierung für Opposition nahm.
Der Weltfrauentag wurde dennoch und in Illegalität durchgeführt, erweitert um die Forderung nach Frieden (und zwar nicht nur, um die SPD wieder offiziell in die Opposition zu bringen). 1917 schließlich spaltete sich die USPD von der SPD ab, nahm den Weltfrauentag gleich mit und gestalteten im Mai 1917 eine (wahrscheinlich aus rein sozialistischen und nicht aus Frauengründen) sogenannte „Rote Woche“.
Außerdem 1917, und diesmal am julianischen 23. Februar und am gregorianischen 8. März, lehnten sich die russischen Arbeiter-, Soldaten- und Bauernfrauen im Namen des hungrigen Proletariats gegen die satte Aristokratie auf und lösten so die Februarrevolution aus, die letztlich den Sturz der Zarenfamilie zur Folge hatte. Entweder eine bulgarische Delegation oder Lenin installierten daraufhin 1921 im Gedenken an diesen denkwürdigen Tag einen Gedenktag am 8. März.

In dem Jahr, als Clara Zetkin starb, wurde der Weltfrauentag, in dessen großen und kleinen Forderungen sich alle politischen Kämpfe Zetkins kristallisierten, von den Nationalsozialisten aufgrund seiner sozialistischen Herkunft verboten und durch den Muttertag ersetzt. Der Weltfrauentag wurde trotzdem begangen, weiterhin am 8. März, ungleich subtiler allerdings und als Zeichen politischen Widerstands gegen das Regime. Diese Deutung behielt der Weltfrauentag in der russischen Besatzungszone und der DDR auch später bei, wurde aber wie Clara Zetkin selbst für Propaganda-Zwecke der SED missbraucht.
In der BRD widmete sich der Weltfrauentag zwar dem Kampf gegen die Wiederbewaffnung, versank aber zunehmend in Bedeutungslosigkeit, da auch die keimende Frauenbewegung nicht recht wusste, was anzufangen sei mit diesem Tag, an dem in den Zwischenkriegsjahren zwar noch auch in den 1960ern wichtige Themen wie Arbeitszeitverkürzungen ohne Lohnabschläge, Senkung der Lebensmittelpreise, regelmäßige Schulspeisung und legaler Schwangerschaftsabbruch gefordert worden waren, der aber angesichts der Instrumentalisierung im Bruderstaat DDR als sozialistische und letztlich wahrscheinlich menschenverachtende Propaganda irgendwie geschmacklos erschien.

44 Jahre nach Clara Zetkins Tod wurde der Weltfrauentag von der UN als Aktionstag offiziell benannt, seit der Wiedervereinigung wird der Weltfrauentag in Deutschland mit dem zurückhaltendem Enthusiasmus begangen, der den brandversehrten Deutschen so zu eigen ist. Und vielleicht ist das auch richtig so, vielleicht wird der Weltfrauentag in seiner Bedeutung, in seinem Potential überschätzt. Es gibt sogar Frauen, die wie Alice Schwarzer die Abschaffung des Frauentags fordern, der durch die Betonung der Notwendigkeit der Gleichberechtigung der Frau genau das verhindert. Oder um es mit Viviane Redings Worten zu sagen: „Das Ziel ist die Gleichberechtigung, damit wir solche Tage nicht mehr brauchen.“

Clara Zetkin wäre wahrscheinlich der gleichen Meinung. Die Clara Zetkin, die ich kenne, würde sich wahrscheinlich nicht mit einem vermeintlichen Feiertag begnügen, der nicht die Gleichberechtigung der Frau feiert, sondern daran erinnert, dass sie es nicht ist, so wie die eingetragene Partnerschaft als Nebenkonstrukt der Ehe nicht die Gleichberechtigung hetero- und homosexueller Beziehungen darstellt, sondern sie vielmehr institutionell und damit offiziell voneinander abgrenzt. Die Clara Zetkin, die ich kenne, würde sich nicht abspeisen lassen mit dem Status Quo, vor allem nicht mit einem Status, der ganz und gar nicht Quo ist. Die Clara Zetkin, die ich kenne, würde kämpfen für Frauen und Männer, für Homosexuelle und Heterosexuelle, für Schwarze und Weiße, für Kinder und Erwachsene. Die Clara Zetkin, die ich kenne, würde kämpfen bis zum Ende ihrer Kraft. Wir können alle so viel lernen von ihr.

Andererseits kenne ich Clara Zetkin nicht.

Gesundheit Alaaf!

Trophisches
März 7, 2011

Heute übrigens ist nicht nur Rosenmontag, sondern – und das wird in der Flut aus Kamelle und Strüßche sicherlich untergehen – auch der Tag der gesunden Ernährung. „Weiß ich doch“, schreit es da hinten aus der Umkleidekabine. „Hab aber keine Zeit dafür, ich muss doch auf den Wagen!“

Ist für gesunde Ernährung eigentlich jemals Zeit? Und was eigentlich ist gesunde Ernährung? Was aus Frauenzeitschriften als Erdbeerdiät, Wohlfühlfigur oder Anti-Aging-Kur quillt? Was sich in Fitnesszeitschriften „Food-Guide zum Waschbrettbauch“ schimpft? Was die Deutsche Gesellschaft für Ernährung mit „5 am Tag“ und der alle paar Jahre umgestalteten Ernährungspyramide propagiert?

Die gesunde und die durchschnittliche Ernährung

Gesundheit sei, sagt die Weltgesundheitsorganisation, „ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen„. Was das mit Ernährung zu tun hat? Viel, denn mit nichts neben Sport steuern wir unsere Gesundheit mehr. Was also steht da? „Körperliches, geistiges und soziales Wohlergehen.“ Das muss ja wohl mehr sein als einfach nur Bio und Fünf am Tag und weniger Fleisch als Gemüse.

Man guckt da hinten in die Umkleidekabine und erwischt jemanden, der nicht nur unfertig geschminkt und halb angezogen ist, sondern sich durchschnittlich ernährt: Mischkost mit hohem Anteil einfacher Zucker, tierischer Fette und Eiweiße, die Lebensmittel konsequent aus konventionellem Anbau und preisorientiert ausgewählt, hoher Anteil von Convenience-Produkten. Man erwischt in der Umkleidekabine jemanden, der einen Schokoriegel im Mund hat und sich dafür schämt, weil ihm beigebracht wurde, dass Schokoriegel böse sind. Weil keinen Schokoriegel zu haben, aber auch keinen Spaß macht, hat er in der Umkleidekabine den Schokoriegel im Mund, den er außerhalb als ungesundes Teufelszeug verdammt.

Die richtige, aber komplexe Antwort

„Was ist denn dann gesund?“ Ernährungswissenschaftler hören keine Frage öfter. Nie aber geben haben sie die richtige Antwort, denn „Du darfst alles essen, nach dessen Verzehr Du Dich körperlich, geistig und sozial wohlfühlst.“ will ja auch keiner hören. Das ist keine Antwort, die man wie Kamelle und Schokoriegelbröckchen einfach schlucken kann.

Es ist eine Antwort, die man verdauen muss. Die die Fähigkeit zur Selbstanalyse voraussetzt, eine im globalisierten Kapitalismus unterentwickelte Fähigkeit. Denn ehrliche Selbstanalyse führt zur Selbsteinordnung in ein größeres Ganzes, das nicht Kapitalismus, sondern Umwelt ist, in der man als omnivorer Konsument wahllos so ziemlich alles in sich reinstopft. Und seine Umwelt damit mehr formt als sie ihn.

Die Schokoriegel-Erkenntnis

Was also lernen am Tag der gesunden Ernährung? Dass man ein böser Mensch ist, der die abgegraste Umwelt mit buntem Zeug füllt, das er am Rosenmontag noch Kamelle und Strüßche nennt, nach Aschermittwoch aber als Müll entsorgt? Dass Frauen- und Fitnesszeitschriften keine Ahnung haben, und die, die Ahnung haben, sich lieber ausschweigen, weil alles viel zu komplex ist? Weder noch.

Man soll begreifen, welche Macht man hat als Konsument, der die Welt durch die einzige Kraft formt, die nach dem Niedergang aller politischen Konstrukte noch übrig bleibt: Geld. Und dass man auch Schokoriegel kaufen darf und auch soll, wenn es Schokoriegel sind, die ohne Emulgatoren hergestellt sind, die überwiegend aus Soja gewonnen werden, für dessen Anbau mittlerweile Regenwälder gerodet werden, weil die bisherigen Anbauflächen nicht reichen, um den Bedarf zu decken.

Man muss am Tag der gesunden Ernährung nicht Schokriegel durch Äpfel ersetzen. Schon gar nicht sollte man Kamelle durch Äpfel ersetzen. Man kann aber damit anfangen, die Herkunft, die Verarbeitungsstufe und die Zutatenliste seiner Einkäufe zu lesen und zu hinterfragen. Und sich dann dafür entscheiden zu erkennen, dass der Wert, den man der eigenen Ernährung beimisst, dem entspricht, den man seiner Umwelt gibt. Dafür sollte Zeit sein. Nicht nur am Tag der gesunden Ernährung.
Aber eben auch am Rosenmontag.

Schnellemachefix

Trophisches
Februar 25, 2011

Das erste Backerlebnis hatte ich mit meiner Sandkastenfreundin C. in der Küche ihrer Mutter. In meiner Erinnerung stehen wir – damals kaum groß genug, um auf die Arbeitsfläche schauen zu können, ohne auf einen Schemel zu steigen –  vor dem Backofen, in dem sich unsere pampige Mischung aus Mehl und Milch nicht wie durch ein Wunder in Baisers verwandelt.
Diese Wunder geschehen nicht. Der Glauben kann Berge versetzen, Überzeugungen können sich in Revolutionen oder Völkermorde verwandeln, nie aber kann die Hoffnung auf luftiges Backwerk sich allein durch den Wunsch darauf erfüllen. Eher wird die Menschheit sich in der Zerstörung der Welt zügeln, als dass Backwerk anderen Regeln als den eigenen gehorcht.

Als ich den Kuchen, mit dem ich meine Kindheit auch heute noch assoziiere, das erste Mal nachbacken wollte, war ich schon in der Pubertät. Ich hatte nicht das erste Mal gebacken und frühe Erfolge mit gelatinösen Sahnetorten, komplexem Brandteig und sogar dem mir damals als Meisterstück geltenden Hefeteig gaben mir die Sicherheit, dass nichts schiefgehen würde. Was konnte auch passieren: ich würde einen fluffigen Rührteig kurz backen und er würde sich aufblasen wie langsam gegangener Gugelhupf. Danach noch Zuckerguss und bunte Streusel drauf; fertig wäre der Kuchen meiner Kindheit, den meine Mutter und alle in meiner Familie als Schnellemachefixkuchen kannten, weil er keine halbe Stunde dauerte.
Was hätte schief gehen können? Ich bin mir nicht sicher, was ich alles falsch gemacht habe, vielleicht habe ich den Handrührer statt des Standmixers verwendet, zu wenig Backpulver, zu viel Mehl, vielleicht habe ich bei der Zubereitung getrödelt, vielleicht habe ich den Kuchen zu lange im Ofen gelassen. An diesem Nachmittag jedenfalls habe ich den größten Keks meines Lebens gebacken.

In den späteren Jahren habe ich mich noch ein paarmal an diesem Kuchen versucht, bis ich aufgegeben habe. Was, wenn meine Mutter ihn buk, wie ein weiches Kissen dazu einlud, das Gesicht hineinzudrücken (bevor der Zuckerguss auf dem Teig war), wurde bei mir hart und trocken oder weich und matschig, nie aber höher als eineinhalb Finger. Vielleicht, das habe ich mir später als Erklärung zurechtgelegt, durfte mir der Kuchen nie gelingen, um mir nicht selbst meine Kindheit zu nehmen.
Mittlerweile habe ich mich damit abgefunden. Ich probiere mich nicht mehr am einfachsten Kuchen der Welt, sondern habe meinen eigenen Zuckerstreusel-auf-Zuckerguss-auf-Rührteig-Kuchen, der nur optisch dem Kuchen meiner Kindheit nahekommt, tatsächlich aber mehr ein Sandkuchen-Hybrid ist.

Für ein Kuchenblech:

250 g Butter vorsichtig schmelzen, ein Backblech fetten und mit Zucker bestreuen, den Backofen auf 200 C Ober-/Unterhitze vorheizen. 5 Eier mit 50 g im Mörser zerstoßenem alten Marzipan*, 100 g Zucker, 1 Messerspitze Vanille, abgeriebene Schale einer Zitrone und etwas Salz nicht nur ein bisschen, sondern richtig dolle schaumig rühren. Wenn man glaubt, es ist schaumig genug, noch mindestens eine Minute weiterrühren.
125 g Mehl mit 125 g Speisestärke und 1 TL Backpulver mischen und abwechselnd mit der flüssigen Butter, die mittlerweile auch wieder leicht abgekühlt sein dürfte, unter die Creme rühren. Die Mehlmischung dabei sieben, die Butter nicht.
Den Teig aufs Blech schmieren, dann sofort in den Ofen, die Temperatur auf 180 °C runterdrehen. In den 15 Minuten, die der Kuchen jetzt im Ofen ist, muss der Zuckerguss vorbereitet werden: 200 g Puderzucker mit 3-4 Esslöffeln Zitronensaft (gut, dass wir noch eine Zitrone übrig haben) schön geschmeidig rühren, lieber etwas zu flüssig. Außerdem die bunten Zuckerstreusel, kandierten Veilchen oder sonstigen Schnickschnack für obendrauf bereithalten.

Der Wecker klingelt. Stäbchenprobe am Kuchen, wenn noch was pappt (unwahrscheinlich), eine Minute zugeben, ansonsten raus mit dem Kuchen. Zuckerguss auftragen, immer nur ein Stückweit und dann sofort hinterherstreuseln. Ist der Zuckerguss erst mal hart, prallen die Streusel einfach ab und liegen doof in der Küche rum und wutscheln sich in die Socken. Das will keiner. Darum lieber zügig arbeiten. Muße gibts später, wenn der Kuchen abgekühlt ist.
Warnung: Niemals den Kuchen direkt vom Blech essen. Immer schön ein Stück abschneiden und auf einen Teller legen und die Küche verlassen. Oder die Wohnung.

C.s Mutter hat dann übrigens extra für uns noch Baiser gebacken. Seither weiß ich auch, wie das geht. Aber das ist eine andere Geschichte.

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* Ja, ich habe tatsächlich immer altes Marzipan zuhause.

Alleinkampf. Nachtgedacht.

Usus operi
Februar 24, 2011

Und dann will ich doch immer noch stark sein und kann es nicht.
Ich will fortgehen und kann doch keinen einzigen Schritt tun, nicht einmal auf den Balkon kann ich gehen, ich traue mich kaum ans Fenster, aus Angst vor dem Leben, das draußen sicher auf mich lauert.
Ich will stark sein, ich muss stark sein und gegen den Impuls ankämpfen, mich selbst dafür zu bemitleiden, dass ich diesen Kampf um mein Buch alleine kämpfe, dass ich nicht weiß, wie ich leben soll, wenn ich nicht mehr schreiben kann, dass ich aber auch nicht arbeiten und schreiben gleichzeitig kann.

Die Arbeit im Biomarkt ist vollkommen daneben, ich muss mich zunehmend zurückhalten, weder Kunden noch Kollegen gegenüber unhöflich zu werden, auch wenn die Kunden immer mehr wie verzogene Kinder wirken und die Kollegen so wenig interessant sind wie das Innere eines Bleistiftanspitzers.
Ich hatte ja im Seminarhaus schon das Gefühl, meine Zeit in einem Büro zu verschwenden, aber noch mehr habe ich es, wenn ich Käse von einer Frischhaltefolie in die nächste packe.
Mich befremdet, dass ich mich vor ein Regal mit Joghurt stelle, um die Etiketten gerade auszurichten, während zuhause ein zu bearbeitendes Skript wartet.
Ich bin fassungslos, dass ich morgens um fünf Uhr aufstehe, um Tiefkühlpizzen zu stapeln, aber nicht vor zehn Uhr an meinen freien Tagen meinen Protagonisten in eine Krise stürzen kann.
Und ich kann nicht anders als die Tränen zu spüren, die zwischen meiner Seele und der Maske, zu der mein Gesicht geworden ist, stehen. Ich fühle das Brennen auf dem nackten Fleisch und den ätzenden Selbsthass, aber ich kann es niemandem sagen, nicht den Menschen im Laden, nicht dem Freund zu Hause, denn keiner kann mir die Worte sagen, die ich hören will, denn diese Worte dürfen nicht gesagt werden: "Sorge Dich nicht um Dein Leben, denn es ist Dein Schreiben, das zählt. Um das Leben kümmere ich mich."

Ich brauche den Kampf, den Kampf gegen mich, gegen die Worte, brauche den täglichen Schützengraben, der mir zeigt, dass ich kämpfen kann und dass ich etwas habe, für das es sich zu kämpfen lohnt.

Ich frage mich manchmal, ob es wirklich das Schreiben, wirklich das Erzählen dieser Geschichte, dieser viel zu langen und vor allem viel zu lange schon vor mir hergetragenen Geschichte sein muss. Ob ich meine Liebe nicht auf etwas greifbareres konzentrieren kann, auf etwas, das schon da ist, das nicht erst noch erschaffen werden muss. Auf den Freund zum Beispiel, der mich gerne trösten würde und nicht weiß, welche Form von Traurigkeit das eigentlich ist, an der ich leide. Der es nicht wissen kann, weil ich es selbst nicht weiß. Ob es die Trauer über die verlorene Zeit ist oder nur der Schatten der falschen Entscheidungen, die ich jeden Tag zu treffen scheine. Oder ob es die Wut auf mich ist, dass ich mich in meinem Leben so sehr eingeschlossen habe, nur um dieses Buch zu schreiben, von dem niemand mehr als nur einen Hauch gespürt hat.
Ich habe mich so sehr eingeschlossen, dass ich mich nicht mehr ans Fenster traue und nicht auf den Balkon und schon gar nicht auf die Straße.

Liebe Kunden

Von der Front
Februar 22, 2011

Im heutigen Newsletter wollen wir Sie darüber informieren, dass es so nicht mehr weitergeht. Es haben sich eindeutige Indikatoren dafür gezeigt, dass die Beziehung Kunde | Dienstleister einer Klärung bedarf. Im beiderseitigen Sinne und zu beiderseitigem Nutzen.

Viele von Ihnen entstammen nicht so sehr einer Generation als einer Deformation, die der Meinung ist, der Kunde sei immer noch König. Um ehrlich zu sein: diese Verhältnisse galten schon vor Ende des Kaiserreichs nicht mehr oder nur noch vereinzelt, und selbst die wenigen Geschäfte, in denen man königlich behandelt wurde (oder vielmehr so, dass der Kunde glauben konnte, er wäre dem Verkäufer mehr wert als das Geld, das er im Geschäft lässt) sind spätestens vom Siegeszug des Supermarkts überrollt worden. Der Kunde ist nicht mehr König, der Kunde ist, auch wenn es sich noch nicht überall herumgesprochen hat, Partner.

Es sei denn, Sie rechnen im Zweifelsfall mit ein, dass gerade königlicher Adel eine deutlich höhere Sterberate durch Fremdeinfluss hat als der durchschnittliche Bürger.

Wir meinen im Übrigen nicht die Herren, die laut telefonierend durch die Gänge laufen und dabei nicht nur ihren sinn für Lärmbelästigung und Scham verloren haben, sondern teilweise echte Käufererfahrung missen lassen. Es ist zwar sicherlich auch im Interesse der Frauen, dass auch die Männer endlich mal ihren Beitrag bei der Beschaffung der Lebensmittel leisten, aber gerade beim ersten oder zweiten Einkauf muss man sich doch nicht so auffällig verhalten.

Wir meinen auch nicht die Mütter, die ihre Überforderung mit den Kindern zwischen den Regalen demonstrieren, indem sie ihre Kinder anschreien, weil ihnen ein Marmeladenglas heruntergefallen ist. Ein tadelndes Wort oder mehr elterliche Übersicht genügen da vollkommen. Andererseits ist es ja auch schön zu sehen, dass die Kinder wenigstens nicht verprügelt werden.

Wir meinen auch nicht die Kunden, die um fünf Minuten vor Ladenschluss noch von zehn Käsesorten probieren möchten, um dann abgepackten Billiggouda zu kaufen, auch wenn das schon hart an der Grenze ist.

Es sind die Kunden gemeint, die sich nicht nur verwirrt, sondern hochgradig arrogant benehmen, Kunden, die die Sprachkenntnisse derjenigen kommentieren, die glauben, man habe nicht etwa schon den ganzen Tag hinter einer Theke gestanden, um schlecht erzogenen Erwachsenen ihre Schlüssel hinterherzutragen, ihre Sonderwünsche zu erfüllen oder auf ihre schwammig formulierten Wünsche präzise zu reagieren, sondern als sei man gerade eben erst aus dem Lager für Einweg-Kundenbetreuer gekommen. Nur zu ihrer Information: das gibt es nicht.

Schokopudding

Trophisches
Februar 18, 2011

Wenn man lieber isst als fotografiert, hat man mitunter ein Problem. Vor allem dann, wenn es sich um Schokopudding* handelt. Ich liebe Schokopudding, ich liebe ja auch Kakao, denn beide bestehen aus tollen Dingen: Milch und Schokolade. Wie könnte man da lange genug Verzicht üben, um drölftausend Fotos zu machen? Eben.

Wie aber sollte man auch warmer Schokolade widerstehen? Wie kann man nicht dem tröstlichen Gefühl von etwas Warmem im Magen, wie kann man nicht den Schoko-Endorphinen erliegen? Warum muss man denn unbedingt stark sein, wenn einem Schokopudding doch sagt: „Lass Dich fallen, entspann Dich, sinke in mich wie in ein wubbeliges Kissen. Ich massiere Dir die Knoten aus der Seele, wenn Du Dir am liebsten die Augen aus dem Kopf heulen würdest. Ich bin für Dich da wie eine warme Umarmung.“ **

Tatsächlich wurden mit Schokopudding schon Seelen gerettet. Dazu muss es aber der selbstgemachte sein, nicht der aus dem Tütchen***. Das enthält zwar im besten Fall auch nichts anderes als Speisestärke, Kakao und Zucker (im schlimmeren Fall noch modifizierte Stärke, Emulgatoren, Aromen und Farbstoffe, und was im schlimmsten Tütchen drin ist, will keiner wirklich wissen). Wenn aber die traurige Freundin vor der Tür sitzt und durch nichts anderes zu trösten ist als eine liebevolle Umarmung und Schokoladenpudding, dann will man nicht sagen: „Ich habe kein Pulvertütchen im Haus, geh weg.“ Das kann man nur machen, wenn die entsprechende Freundin gerne gekokst hätte und man da nicht drauf steht.

Bei Schokopudding aber gelten solche und andere Ausreden nicht. Auch und erst recht nicht die beliebte „Ich habe keine Zeit“-Ausrede. Denn nur weil es abgepackt ist, stellt das Produkt keine Geld- oder Zeitersparnis dar, man produziert eine in Relation zum Nutzen ungeheure Menge Müll, verschenkt die wunderbare Möglichkeit, den Pudding nach seinem eigenen Geschmack abzuschmecken und macht sich in einer emotionalen Angelegenheit abhängig von einer Firma, für die Liebe nichts wert ist, weil man sie nicht in Tütchen packen kann.

Bei Schokopudding gilt aber wie in der Liebe: mach’s einfach.
Für 2 Personen einen halben Liter beste Milch zum Kochen bringen. Zwei Esslöffel Speisestärke, eineinhalb Esslöffel Kakao und einen Esslöffel Zucker mit einem Schwupp zurückbehaltener Milch aufrühren. Wenn die Milch kocht, den Topf vom Feuer nehmen und die Kakao-Pampe mit dem Schneebesen einrühren. Zurück auf den Herd, immer noch weiterrühren. Die Speisestärke fängt sofort an zu quellen, die Viskosität des Puddings nimmt zu. Herd aus. Umfüllen in schöne Schälchen oder gleich aus dem Topf essen.

Wenn man den Pudding abkühlen lässt, bildet sich schnell eine Haut, die viele Menschen (warum auch immer) nicht mögen. Will man Hautbildung vermeiden, kann man Frischhaltefolie direkt auf die Puddingoberfläche geben und erst kurz vor dem Servieren abnehmen. Oder man bestreut die Oberfläche des Puddings mit Zucker, der dann Feuchtigkeit aus der Luft und dem Pudding zieht und dann eine dünne Flüssigkeitsschicht als Luftabschluss bildet. Oder man schlägt noch Sahne mit etwas Zucker und Vanille cremig und baut einen hübschen Berg, den man dann sogar noch wieder mit Schokoraspeln verzieren kann.

Boah. Da hätte ich jetzt richtig Lust drauf. Ich glaube, das mache ich jetzt mal.

________________

* Der kleine Pedant in meinem Kopf nörgelt rum, dass ich eigentlich keinen Pudding, sondern Flammeri meine. Damit hat er recht, da ich mir nicht die Mühe mit dem Wasserbad mache. Grundsätzlich aber sollte der Pedant aber den Mund halten, sonst bekommt er keinen Pudding mehr. Von Flammeri ganz zu schweigen.

** Vorsicht: Wenn der Pudding wirklich anfängt zu sprechen, war entweder die Milch nicht mehr gut oder man sollte mal zum Kopfdoktor.

*** Ich weiß, dass es auch Pudding im Becher gibt. Wer den aber kauft, um sich zu trösten, könnte sein Herz auch gleich ins Kühlregal legen.

Wrong Password. Try again.

Usus operi
Februar 16, 2011

Ich bin tatsächlich so naiv zu glauben, dass das Jammern über meine wie und wann auch immer unterdrückte Sexualität mich weiterbringen könnte. Ich gebe mich wirklich der Illusion hin, dass es mein wichtigstes Ziel ist, herauszufinden, warum ich so krumm bin, warum mich Sex mehr fasziniert als das Schreiben. Ich bin fast ernsthaft davon überzeugt, dass es relevant ist zu klären, wieso ich lieber Pornos schaue als Geschichten zu erfinden.

Fast.

In Wahrheit (und darum sollte es mir hinter der Maske von Anders Wolf ja doch gehen) kenne ich die Antworten und den Wert dessen, was ich herausfinden könnte.
In Wahrheit weiß ich, dass ich mich lieber mit meiner Sexualität beschäftige als mit meiner Kreativität, weil Selbstbefriedigung keine Veränderung hervorruft.
Ich fühle mich wohl in meinem Schlammpfuhl, in dem ich mich suhlen kann.
Ich will gar nicht über mich hinauswachsen, denn Wachstum bringt Schmerzen mit sich.
Ich will nicht meine Komfortzone verlassen, um um mein Werk zu kämpfen.
Ich will bleiben, wo ich bin, denn ich habe Angst davor, wohin ich gerate, wenn ich meine Bequemlichkeit hinter mir lasse.

Dass ich schwul bin, habe ich ja nun akzeptiert. Ich bin darin nicht so offen wie andere, ich verleugne meine Homosexualität aber nicht. Entgegen meiner bisher hier gezeigten Obsession mit dem Thema sehe ich mein Schwulsein nicht als besonders relevanten Charakterzug.
Dass ich Pornos mag, habe ich ja nun auch schon mehrfach gesagt. So oft mittlerweile, dass es sogar für mich langsam den Anruch des Skandalösen verliert. Ist eben so. Ich schaue ja auch amerikanische Fernsehserien. Lieber sogar als Pornos, weil sie abwechslungsreicher sind.

Aber auch das: kein relevanter Charakterzug.
Selbstmitleid dagegen.
Faulheit dagegen.
Hybris dagegen.
So ungerne ich diese Eigenschaften mir konnotiere, so wenig kann ich meine Arroganz ignorieren, so übermächtig ist die Erkenntnis, dass ich Zeit verschwende, die ich nicht verschwenden darf. Dass ich die Zeit verschwende, die ich mir so sehr gewünscht habe, um endlich meinen kreativen Kram machen zu können.
Unterdrückte Wut dagegen.
Psychische Autoaggression dagegen.
Paralytische Angst dagegen.

Ich glaube sagen zu können, dass ich mich selbst ganz gut kenne. Ausreichend gut, um dem Bedürfnis, noch mehr über mich herauszufinden, nicht noch mehr Raum in meinem Leben einräumen zu müssen. Zu gut, um dem geringen noch möglichen Erkenntnisgewinn die Auslebung meiner Kreativität unterzuordnen.

Als ich begann, mich selbst kennenzulernen, mich selbst ernst zu nehmen, als ich begann, analytisch über mich und meine Selbstwerdung nachzudenken, war mein Ausgangspunkt auch mein Ziel: Kreativität, Schreiben, Kunst. Als ich mich auf diese Reise begab, war mir lose bewusst, dass ich irgendwann wieder dort ankommen würde, wo ich losgegangen war, denn es ist diese eine Aufgabe, die ich wirklich meistern muss.
Es ist das Eine im Leben, das ich tun muss, und mit dem ich so lange und so oft wieder konfrontiert werde, bis ich endlich aufgebe, mich dagegen zu wehren.
Bis ich endlich aufhöre, meine Kraft im Kampf gegen meine Stärken zu vergeuden.
Bis ich endlich erkenne, dass darüber hinaus keine Erkenntnis mehr wichtig ist.

Ohne das Passwort für wer_bin_ich.doc gefunden zu haben, weiß ich, wer ich bin. 

Essen, Emotion, Erinnerung

Trophisches
Februar 15, 2011

Essen und Erinnerung sind ja nicht so sehr zwei Paar Schuhe, wie viele gerne denken. Wobei… weiß ich nicht. Denken das viele? Für mich bestand da schon immer eine enge Verbindung. Essen, Emotion, Erinnerung, ein potentiell gefährlicher Dreiklang, der bei vielen vor allem heißt: durch Essen (meist Schokolade) gute Emotionen erlangen (z.B. Freude), um böse Erinnerungen (oft Liebeskummer) zu übertönen. Es kann aber auch anderes bedeuten: eingelegter Kürbis weckt bei mir die Erinnerung an einen traumatischen Kindergartentag, als ich im Auftrag meiner Mutter von mir fremden Leuten abgeholt und in deren Küche gesetzt wurde, wo gerade – wait for it! – Kürbis eingelegt wurde. Ich kann bis heute keinen eingelegten Kürbis essen ohne an einen kleinen dunklen Raum mit Resopaltisch zu denken. Meiner Ansicht nach ist das aber auch kein großer Verlust.

Was wir mögen, welche Geschmacksnuancen wir erkennen, unsere gesamte Aromenklaviatur spiegelt unsere Erfahrungen mit Essen wieder. Als ich in der sechsten Klasse war, wurde ich für die Behauptung „Essen bildet“ ausgelacht, überwiegend weil ich zu diesem Zeitpunkt fett war, und übermäßiges Essen natürlich Fettpolster bildet. Ein Fragment dessen, was ich damals tatsächlich meinte, kann jeder, der jemals in Asien war bestätigen: man lernt sehr viel schneller etwas über fremde Kulturen, wenn man einheimische Speisen isst. Man lernt dabei zudem, wo die eigenen Grenzen liegen. Bei den einen ist das noch weit vor Gorgonzola, Andere essen auch angebrütete Enteneier. Geschmack ist unanfechtbar, nicht zum Streit geeignet, vor allem aber individuell.

Eine Weinprobe, Menschen verschiedener Herkunft sitzen am selben Tisch, trinken den gleichen Wein. Man assoziiert, wonach dieser Wein jetzt schmecken könnte und enthüllt dabei ungewollte Details über seine Vergangenheit. Der Herr von schräg gegenüber hat im Chardonnay Barrique eben eingerittenen Damensattel im Wein geschmeckt, ich dagegen leichtes Ananasaroma und einen Hauch vom Kompost aus dem alten Garten meiner Eltern. Nicht aus dem neuen Garten, da riecht alles überwiegend nach Pferdeapfel, es muss schon der alte sein, wo man noch das Moos und die Zwetschgen und die Walnuss in der feuchten Luft schmecken konnte. Der Herr von schräg gegenüber hat offensichtlich mehr Zeit in Gegenwart eingerittener Damensättel verbracht als ich, er wiederum versteht meinen Vergleich nicht sofort. Wir sitzen am selben Tisch, trinken den gleichen Wein und sehen kein einziges gemeinsames Bild.

Die Erfahrung, die wir beim Essen machen, der Wille, einzelnen Aromen nachzuschmecken, die Bereitschaft, auch neuen Geschmacksrichtungen gegenüber offen zu sein, all das erweitert unser olfaktorisches Spektrum und auch unsere Fähigkeit, unsere geschmacklichen Eindrücke auch in Worte zu fassen. Im Biomarkt konnte man einen Winterkäse kaufen, und obwohl viele Kunden tatsächlich „Der schmeckt nach Weihnachten!“ riefen, wussten doch die wenigsten den recht eindeutig rausschmeckenden Zimt als Verantwortlichen zu benennen. Andere Dinge, die nach Weihnachten schmecken, tun dies weniger wegen des Zimts, sondern eher der Gewürznelke oder des Kardamoms wegen. Und weil die wenigsten wissen, wie Kardamom eigentlich schmeckt, erinnert sie die tunesische Merguez plötzlich auch an Weihnachten, obwohl da in rauen Mengen Kreuzkümmel drin ist, was aber irgendwie auch exotisch ist, gut schmeckt und daher auch wieder wie Weihnachten ist, nur eben mit Palmen. Oder wie man sich eben Exotik vorstellen mag. Die sieht ja bei manchen mehr nach Ananas aus.

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Usus operi
Februar 8, 2011

Bezeichnend, dass ich gerade zu wer_bin_ich.doc  das Passwort vergessen habe.
Alle Versionen meines Namens, die meisten meiner Pseudonyme von 1997, alles, von dem ich heute denke, es sei mir damals wichtig gewesen, habe ich ausprobiert, und doch habe ich keine Ahnung, was ich damals für ein schlaues Passwort hielt, als ich über mich selbst schrieb. Ich weiß nicht einmal mehr, was ich damals schrieb, worüber ich nachgedacht habe, und doch habe ich das unbestimmte Gefühl, dass es wichtig für meine Selbsterkenntnis sein könnte.
Deren Stellenwert ich einerseits natürlich heillos überschätze.
Andererseits habe ich in einem anderen Dokument von 1997, das ich Soultalk nannte, das erste Mal geschrieben, dass ich mich für schwul halte.

20.08.1997
Ich brauche mehr als einen Busen, um meinen Schwanz steif werden zu lassen. Ich bin einfach nicht so fixiert auf Frauen , eher erregt mich der halbnackte Körper eines Mannes, oder der ganz nackte. Aber ich betrachte mich deswegen noch nicht als schwul, wenn dann bin ich bisexuell, denn ich verliebe mich ja nur in Mädchen, aber wie gesagt immer in die falschen. Es ist der Geschlechtsakt an sich, der mich erregt, dabei ist es egal, ob heterosexuell oder homosexuell, Hauptsache es ist mindestens ein Mann dabei.
Ich glaube, ich habe Angst davor schwul zu sein, obwohl im Grunde nichts falsches oder unnatürliches daran ist. Aber für mich ist das nicht so eine einfache Sache mich zu entscheiden. Ich lasse mich einfach nicht gerne festlegen, das ist alles. Das liegt irgendwie in der Zwillingsnatur begründet. Wenn ich mich festlege, dann ist das so als lege ich mich an eine Kette, und ob ich fähig bin, diese Kette irgendwann wieder abzustreifen, weiß ich nicht.

1997!
Vier Jahre vor meinem "offiziellen" Coming Out. Meine Fresse, was hat mich denn da aufgehalten? Ich weiß ja, dass ich in manchen Dingen langsam bin, aber VIER JAHRE?! Andererseits bin ich ja auch 14 Jahre später nicht unbedingt schlauer, denn 1997 hatte ich auch ein massives Problem mit Selbstbefriedigung.

21.08.1997
Während ich hier sitze und eigentlich gar nicht weiß, was ich noch schreiben könnte, da fällt mir plötzlich ein, dass ich schon seit ganz furchtbar langer Zeit kein Gedicht oder ein Stück meines Buches geschrieben habe. Nicht, dass ich dazu jetzt fähig wäre, aber allein der Gedanke, all mein Kreativitätspotential einfach aus mir herausgewichst zu haben, bereitet mir doch einige Kopfschmerzen. Aber dass ich genau das getan habe, macht die Sache noch viel schlimmer für mich, als sie vielleicht scheint. Ich kann es nicht genau erklären, dennoch habe ich das Gefühl, dass ich nicht mehr ganz richtig im Oberstübchen bin, denn welcher halbwegs vernünftige Mensch würde sein einziges wirklich wertvolles Gut, das einzige, das ihm wirklich etwas bedeutet, einfach so zum Fenster rausschmeißen, nur um als Gegengabe einen schalen Abglanz körperlicher Lust zu erhalten.
Erst während ich diese Zeilen geschrieben habe, ist mir wirklich klargeworden, was ich mir dadurch selbst angetan habe: Ich tauschte ein kosmisches Geschenk gegen etwas so schrecklich sterblich vergängliches wie einen Orgasmus, der nicht einmal einer war. Nicht einmal ein richtiger Orgasmus war es, den ich für mein selbstloses Opfer bekommen habe: Auch das war ein bloßer Abklatsch, ein kurzes, fast epileptisches Zucken und Rucken, während meine Hand in meinem Schritt beinahe einen Krampf davon bekommen hätte, die Vorhaut über der Eichel zusammenzupressen, damit auch kein einziges Tröpfchen jedweder Flüssigkeit die schändenden Finger oder das unschuldige Bett benetzen würde. Und nach verrichteter Schandtat war ich auch schon wieder dabei mich wieder vollständig zu bedecken, damit mein Geschlecht nicht noch zu mehr als diesem einlade. Kaum war das getan, da fand ich mich auch schon wieder meine Hände unter fließendem Wasser mit Seife reinigend, um alle sichtbaren Spuren zu vernichten. Jetzt, da ich den gesamten Akt noch einmal aufgeschrieben habe, ist mir, als müsste ich mich übergeben.

Pathos, my ass!
Das alles zu lesen, ist fast schlimmer, als es damals geschrieben zu haben. Nicht der Gedanke, dass ich zu viel gewichst hätte, ein Zuviel kann es da bei 17jährigen auf dem Land ja kaum geben. Den Selbstekel allerdings mit einem nölenden Pathos zu schminken, damit er wirklich brechreizerregend wirkt, das ist wirklich widerlich.
Auch wenn ich kaum mehr weiß, welches Buch ich damals zu schreiben glaubte, seit 1997 bin ich auch in dieser Hinsicht kaum weitergekommen. Seit 14 Jahren weiß ich, dass ich nichts anderes in meinem Leben machen wollte, als Schreiben und doch halte ich mich immer und immer wieder zurück, produziere One-Shots statt Qualität, verweigere mich grundsätzlich der Überarbeitung von Texten und schwülste durch die Gegend, als sei das allein relevant.

Wer aber bin ich wirklich? Und wie unterscheidet sich der 17jährige vom 31jährigen? Suche ich deswegen nach dem Passwort, lässt mich die vermeintliche Diskrepanz zwischen damals und heute herausfinden, was mich wirklich ausmacht, wer ich wirklich bin? Es ist die Sehnsucht nach einer einfachen Lösung, die nicht das erfordert, was ich immer für nötig und ärgerlich hielt: Selbsterkenntnis.

Die ich aber, siehe oben, sicherlich überschätze.
Wrong Password. Try again.

Milchreis, Baby!

Trophisches
Februar 2, 2011

Allein schon für meinen Milchkonsum hat sich der evolutionäre Aufwand gelohnt, auch Erwachsenen noch den Konsum von Milch zu ermöglichen. Tatsächlich gab es zwar eine Phase in meinem Leben, da ich dachte, laktoseintolerant zu sein. Nach einer kurzen Berechnung beendete ich diese Phase allerdings nach etwa fünf Minuten wieder: was ich am Tag an Frischmilch und Käse verzehre, rechtfertigt schon fast die Anschaffung einer mittelstark leistungsfähigen Milchkuh*. Joghurt dagegen… Sagen wir, ich anerkenne seine Berechtigung als Lebensmittel und Zutat zu irgendwas. Mir fällt da grade nichts ein, so lange habe ich nichts mehr mit Joghurt gemacht.

Heute also: Milchreis.

Milchreis ist ein schwieriges Thema. „Kann nicht sein“, wird da hinten gerufen. Und doch ist es so. Viele Menschen (und da geht es ja schon los), mögen Milchreis nicht. Zu breiig, sagen sie, oder aber meistens nicht durch. Wobei beides meistens eher nicht gesagt wird, denn überwiegend werden ja Fertigmilchreisprodukte gekauft. Irritierenderweise auch im Biomarkt. Kunden, denen man dann erklärt, dass Milchreis ganz einfach ist, reagieren dann ganz unwirsch und sagen: „Ich habe dafür keine Zeit, ich bin eine berufstätige Frau**.“
Fertigmilchreis besticht durch seine üppige Cremigkeit und das fast vollständige Fehlen von Körnigkeit. Fertigmilchreis ist eigentlich nur grisseliger weißer Schleim, der seine Konsistenz in der Regel nicht Sahne verdankt, sondern modifizierter Stärke, die ist nämlich billiger. Außerdem kann man durch die Zugabe modifizierter Stärke auch den Reis ersetzen, den ja eh keiner im Fertigmilchreis vermisst. Schlägt man den Kunden, die Fertigmilchreis kaufen, vor, sie könnten ja, wenn sie die Konsistenz von Fertigmilchreis so liebten, ja auch gleich Haferschleim kochen, verziehen sie das Gesicht und sagen: „Ih.“ Und das nicht, weil sie den Hafer nicht mögen, sondern das Wort ‚Schleim‘ abstoßend finden.

Richtiger Milchreis dagegen beinhaltet keine modifizierte Stärke, sondern Milch und Milchreis und evtl. noch Zucker und Vanille. Für die Eiligen darf es dann noch Sahne sein, für die mit mehr Zeit braucht es das nicht, die nehmen mehr Milch.
Und so einfach gehts:

  1. Einen Liter Milch aufkochen.
  2. Ein halbes Pfund Milchreis dazugeben, die Hitze stark reduzieren.
  3. Eine halbe Stunde immer wieder mal rühren, dann alle fünf Minuten probieren, ob der Reis schon weich genug ist.
  4. Wenn der Reis die gewünschte Konsistenz hat, nach Belieben süßen und/oder aromatisieren.
  5. Wer eilig ist, zieht angeschlagene Sahne unter und hat wahrscheinlich noch kernige Körner.
    Wer Zeit hat, nimmt von Anfang an das Eineinhalbfache oder Doppelte der Milch und wartet, bis alles aufgesogen ist.

Jetzt kommen wir zu den berufstätigen Frauen, die Kochen mit Zeitverschwendung gleichsetzen, sonst hätten sie das nicht so wegpriorisiert. Die schalten nach Punkt zwei den Herd aus und den Ofen an und den Topf zugedeckt hinein. Aufheizen auf 120 °C, dann ausschalten und weggehen. Der Reis hat es schön warm und zieht gemütlich nach, bis man ihn dann nach Stunden rausnehmen mag. Dann macht man bei Punkt vier weiter.

Und wer immer noch jammert, weil er ja keinen Herd anmachen mag nur für den Milchreis, der kann auch den Oma-Trick nehmen und den Topf leicht abkühlen lassen und ins Bett bringen. Gesungen muss da nicht werden, nur zugedeckt werden muss er. Da ruht er dann fast so schön wie im Ofen. Man sollte ihn nur vor dem Schlafengehen rausnehmen.

Und jetzt noch zwei Dinge, die geklärt werden müssen.

  1. Ich bin ja im Photographieren nicht so der Heinz, bin aber lernfähig. So habe ich beispielsweise heute gelernt, dass einfach nur so weggeknipster Milchreis aussieht wie Zerebralvomitat. Das ist schlau für ‚erbrochenes Gehirn‘ und unschlau, wenn man eigentlich ein hübsches Bildchen machen wollte. Die Kombination aus Apfelmus, Zimt und Zucker, meine eigentliche Lieblingsaromatisierung von Milchreis, macht das nicht wesentlich besser. Darum also auf dem Bild: Milchreis mit Moro-Orangen-Filets.
  2. Milchreis, den man im Dampfgarer zubereiten will, erfordert wirklich viel Geduld. Am besten lässt man das. Es gibt genügend andere schöne Methoden, wie man Milchreis machen kann.
    Wenn man partout auf den Dampfgarer nicht verzichten kann, weil man ihn sich ja jetzt nun mal angeschafft hat und er sich gefälligst amortisieren soll, dann sollte man den Milchreis nicht in einer Schüssel bedampfen, die gerade mal groß genug ist, um Milch und Reis aufzunehmen. Will man nämlich mal im Verlauf der folgenden drei Stunden kurz durchrühren, um zu sehen, warum da nix passiert, schlabbert man ganz gerne die angeschleimte Milch in den Ofen und hat eine wunderbare Beschäftigung für nachher, wenn der Milchreis dann irgendwann mal fertig ist.

____________

* Ausgehend natürlich von der ursprünglichen Milchleistung von 8 kg Milch, die eine Normalkuh gäbe, und nicht die bis zu 50 kg, die heutige Hochleistungskühe geben können. So viel Milch will ich dann doch nicht.

** Nichts gegen weibliche Berufstätigkeit, aber noch nie habe ich einen Mann sagen hören, dass er keinen Milchreis kochen kann, weil er berufstätig sei.

Aufgeräumt. Alles Klar.

Usus operi
Februar 1, 2011

Ja, gut, ich habe über Black Spark geschrieben.
Andererseits ist das kein Grund, sich davon über zwei Wochen blockieren zu lassen. Dass es das tut, ist offensichtlich, denn die ganze Zeit frage ich mich: "Was sollte das denn? Das ist doch Pornographie und das passt nicht in mein aufgeräumtes Leben!"
Jeden Tag, den ich mit diesem Gedanken konfrontiert bin, denke ich mir: "Ach was. Aufgeräumt. Alles klar."
Was war denn letzte Woche, als ich im Fitness-Studio diesen Typen, der nur gefragt hat, ob ich mit dem Laufband nicht klarkäme, erzählt habe, dass mein Leben irgendwie nicht so rund läuft und ich deswegen nach zehn Sekunden auf dem Laufband denke: 'Bah, wie langweilig'.
Und er dann noch schnell die Kurve kriegen wollte mit: "Das wird wohl am Wetter liegen".
Und ich ihm dann gesagt habe, dass es daran liegt, dass ich mein Potential verschleudere.

Aufgeräumt.
Alles klar.

Pornographie macht es aber auch nicht besser. Und man kann ja über Black Spark sagen was man will (oder glauben, dass er wirklich nicht versteht, wie man seine Filme, in denen dauernd ejakuliert wird, als Pornographie bezeichnen kann), aber die Videos sind wirklich nicht gerade die passende Unterhaltung bei einem Buttercreme-Oma-Abend.
Oder vielleicht gerade da wieder.
Gemeinsam mit seinen Eltern will man sich das zumindest nicht ansehen, und ich finde, dass das als Porno-Definition mindestens so gut, wenn nicht besser passt als Ich erkenne Pornographie, wenn ich sie sehe.

Um über mein Schweigen hinwegzukommen muss ich nun also gestehen: mich erregen die Videos von Black Spark.
Ja, ich weiß, dass das klar war.
Aber sie erregen mich nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Sie entzünden meine Gedanken, legen Flammen an so viele meiner Schutzbehauptungen. Sie führen mir meine Körperlichkeit genauso wie meine vermeintliche körperliche Imperfektion vor Augen (und die Erkenntnis, dass ich da wohl doch nicht drüber erhaben bin). Sie wecken in mir wieder den Wunsch, mit Bildern zu arbeiten, denn Bilder sind ja so einfach, so viel einfacher als Worte, die man umständlich setzen muss, bevor sie auch nur ansatzweise so stehen, dass sie wirken. Und gleichzeitig zeigen sie, dass Kunst viel schwerer zu machen ist, wenn man sie nicht erklären kann.

Vor allem aber denke ich die ganze Zeit an die Maske, die ja momentan auch mein Zeichen und Makel ist. Was Black Spark und mich verbindet, ist ja nicht nur unsere Präferenz für Schwänze, sondern vor allem der paradox anmutende Versuch, sich durch das Tragen einer Maske (sich selbst und anderen) zu offenbaren.
Weiter bin ich dadurch natürlich auch nicht.
Dass ich Pornographie mag, habe ich ja schon mehrfach geschrieben. Dass ich Pornographie nicht immer unbedingt auf mehr als eine Art faszinierend finde, war wahrscheinlich erwartbar. Was also schockiert mich selbst daran, dass ich über Pornographie schreibe, die ja sogar noch den Zusatznutzen des Kunstanspruchs trägt? Gibt ja immerhin genügend Pornographie, über die man unter keinem anderen Gesichtspunkt als dem der Dauer der Erektion schreiben kann.

Natürlich könnte ich anführen, dass ich abgelenkt war, Freunde, Buchprojekt, Bewerbung, nerviger Job, Fitness-Studio, Facebook, Badminton, Dollhouse, Shadowmarch, Schlaf. Aber nur ich habe mich abgehalten, habe meine Worte zurückgehalten. Jedes Mal, wenn ich das erste Bild im Beitrag über Black Spark gesehen habe, dachte ich: "So weit bin ich schon: entblößt bis auf die Haut und teils weiter, doch die Maske sitzt noch genau so fest wie vorher."

Vielleicht aber habe ich auch nur Angst vor dem, was käme, entschiede ich mich endgültig, meine Maske abzunehmen. Ich müsste die dritte Liste machen, aufschreiben, was ich werden, wie ich sein, was ich ändern will. Und ich müsste mich irgendwann an all dem messen lassen, was ich in einem vielleicht schwachen, vielleicht starken Moment als meine mögliche Zukunft definiert habe, und zugeben, dass ich mich (wieder einmal) ge- oder enttäuscht habe. Vor diesem Moment habe ich mehr Angst, als zuzugeben, dass ich Pornographie mag und sie einen weit größeren Anteil an meinem Leben hat als das Schreiben.

Who is Black Spark?

Von der Front
Januar 13, 2011

Das kürzeste seiner bislang zehn Videos nennt er 'Famous'.
Jazmine Sullivan singt darin:

Cause I gotta be famous
I need to be somebody
No one wants to be invisible
Everyone just wants to be seen.
I know one thing is so irresistible
Cause we all need a reason to be.

Black Spark fragt darin:

Is this why I do this?

Black Sparks Videos zeigen nichts als Sex. Durchtrainierte Männer, die alleine, zu zweit oder zu dritt Sex haben. Black Sparks Videos haben keine komplizierte Handlung, seine Schnitte, die härter sein und weniger PowerPoint-artige Überblendeffekte haben könnten, wechseln ohne offensichtliche Assoziation von einer Sexszene zur nächsten, er zeigt Masturbation, Penetration, Ejakulation dabei mit einer Leidenschaft, die andere Filmemacher einer Tischlampe oder einer vom Wind verwehten Plastiktüte widmen könnten.
Black Spark wehrt sich gegen den Titel Pornograph, sieht sich als Künstler, veröffentlicht seine Filme aber auf einer Webseite, die sich als Plattform für 'homemade adult films' versteht, und so sehr man das als 'selbstgemachte Filme für Erwachsene' übersetzen und wertfrei interpretieren möchte, kommt doch nichts anderes raus als Amateurpornos.

Was an Black Spark fasziniert, ist sicherlich der rein pornographische Aspekt seiner Filme, was auch erklärt, warum 99 % seiner über 1300 Freunde auf Facebook männliche Homosexuelle sind. Seine Filme sind aber mehr als nur Orgasmenarchive.
Blacks Kameraführung, sein Spiel mit Licht und Schärfentiefe, die Ausblendung zumeist ins Schwarze, die Auswahl der Begleitmusik sowie seine konsequente Vermeidung, Gesichter direkt oder unmaskiert zu zeigen, verwandeln seine Videos in Projektionsflächen für Interpretation und Introspektion.

Doch auch er selbst bleibt ein Geheimnis. Wie er seinen Darstellern Hintergrund und Identität nimmt, so ist auch Black selbst ein Mann ohne Gesicht, Historie und Identität, durch seine in allen Videos gestellte Frage Who is the black spark? fordert er seine Zuschauer auf, ihn zu ergründen.
Natürlich ist auch das Teil seines Erfolgs, natürlich ist seine künstliche Identitätslosigkeit das Geheimnis seines Erfolgs, die Gerüchte um seine Person, die Diskussion um die Grenze zwischen Kunst und Pornographie, das alles fördert die Verbreitung seiner Filme. Seine Filme, die in der Konzentration auf die Lust, auf den sexuellen Akt weder provozieren noch sich konzentrieren, zeigen Begierde, Selbstvergessenheit, Verletzlichkeit, Macht und Machtlosigkeit, vor allem aber in der Beschränkung auf das Äußere des Aktes auch die damit überdeckte Einsamkeit und den Schmerz des Alleinseins, die nur durch körperliche, nichtemotionale Verbindung mit Anderen überwunden werden kann.

Blacks Filme visualisieren die eigenen unverstandenen Süchte und Wünsche im Versuch, sich sich selbst zu erklären. Black Spark ist damit weder ausschließlich Pornograph noch Künstler, vor allem aber ist er Archivar der Schwulen seiner Zeit. Wie der Regisseur Tim Kincaid , der als Joe Gage mit seiner Kansas City Trilogie  die Schwulen als Kämpfer um die eigene Rolle außerhalb eines konservativen Mann-Frau-Schemas zeigte, dokumentiert Black die Schwulen in einer Zeit, in der sie dank vorheriger Generationen nicht mehr um Freiheit kämpfen müssen, sondern um ihr Selbstverständnis angesichts einer auf Oberflächlichkeit und körperlicher Perfektion getrimmten schwulen Szene, deren Ansprüche selten unter Waschbrettbauch und 20 Zentimetern liegen.

Natürlich zeigen Black Sparks Filme trotzdem kaum anderes als Männer, die Sex haben. Das Pornographie zu nennen, ist daher einfach und nicht verkehrt, trotz allem aber nicht richtig. Denn in der künstlerischen Aufarbeitung eines Aktes, eines noch dazu einer in Zeiten sexueller Entgrenzung, Fetischisierung und Extremisierung fast schon unspektakulären Aktes, distanziert sich jedes Sekunde, jeder Hüftstoß, jeder Spermatropfen trotz ihrer detaillierten Aufnahme von der sexuellen Erfahrung selbst.
Nicht, dass Blacks Videos nicht erregend wären, im Gegenteil.
Sie konfrontieren den Zuschauer in ihrer entblößenden Direktheit aber immer wieder mit dessen eigener unterdrückten Begierde, seinem körperlichen Verlangen, seiner unstillbaren Sucht nach dem einen Körper, der ihm endlich die Gewissheit gibt, zu sein, gut zu sein, richtig, heil und gesund zu sein. Black Sparks Filme stellen dem Zuschauer immer wieder die Frage, die sich auch Black selbst in seinem Video mit dem Titel 'Famous' stellt:

Everyone just wants to be seen. Is this why I do this? 

Unser tägliches Gift gib uns heute

Trophisches
Januar 7, 2011

Hat man eigentlich vor dem aktuellen Lebensmittelskandal jemals über die Produktionsbedingungen der Ware Fleisch nachgedacht? Darüber, dass die fabrikale Prozessierung von Tieren nicht nur den Tieren jegliche Würde nimmt, sondern auch jenen, die sie wie nachwachsende Rohstoffe in Produktionsketten einschleusen, und darüber hinaus auch den Konsumenten, die von der Verarbeitung eines Tiers zum Konsumprodukt Fleisch mittlerweile weniger wissen als von der Herstellung einer Nudel? Darüber, dass der mittlerweile entwickelte Umgang mit Lebensmitteln nichts lebensnahes mehr hat?

Ja. Diese Überlegungen gab es. Nicht nur in Filmen wie ‚We feed the world‘‚Unser täglich Brot‘ oder ‚Food, Inc.‘, nicht nur von Vereinigungen wie Slow Food oder Foodwatch. Diese Überlegungen gab es auch vorher, vor über zehn Jahren, als verunreinigtes Futter erst Tiere und dann Menschen krank machte. In der Folge von BSE, das sich ausbreitete, weil Wiederkäuern Tiermehl aus Wiederkäuern verfüttert worden war, hat sich Deutschland ein Ministerium für Verbraucherschutz gegönnt, die EU schärfere Futter- und Lebensmittelkontrollen verfügt und der innereuropäische Handel mit Fleischabfällen drastisch zugenommen.

Ja, zugenommen.
Man darf Lobbys in diesem Zusammenhang erwähnen, muss es aber nicht. Blinder und bequemer Fortschrittsglaube, wachsender gesellschaftlicher Hunger nach Fleisch, zunehmende Naturentwöhnung des Menschen, diese natürlichen Begleiterscheinungen des sich globalisierenden Kapitalismus haben mehr als jeder Lobbyist dazu beigetragen, dass Lebensmittelpreise wichtiger sind als Lebensmittelqualität und dass die Nachfrage an Fleisch das Angebot bei weitem nicht erreicht.

Der Dioxin-Skandal zeigt, dass das Jahrzehnt seit BSE nicht zu einer grundsätzlichen Verbesserung der Lebensmittelqualität geführt hat, dass die Gesellschaft kein Umdenken in der Erzeugung von Lebensmitteln erzwungen hat, was ihr möglich und eigentlich auch eine Pflicht gewesen wäre.
Der stetig wachsende Anteil an biologisch erzeugten Lebensmitteln, vor allem aber auch die fast reflexartige Empfehlung, statt konventioneller Eier doch Bio-Eier zu kaufen, zeigen dass eine Alternative zur konventionellen Produktion vorhanden, aber noch nicht als ebenbürtig etabliert ist.

Dies ist allerdings kein Plädoyer für die Bio-Industrie, die sich mittlerweile ebenso von der Natur entfernt wie die konventionelle Lebensmittelproduktion. Sicherlich haben Nachhaltigkeit, Naturschutz sowie Verzicht auf Pestizide und Genmanipulation die großtechnische Produktion von Lebensmitteln verändert. Viele Kunden verwechseln deswegen ja auch ‚bio‘ mit ‚gesund‘. Es gibt Fertigsuppen, Süßigkeiten und Weißmehl, und die Kunden eines Bio-Supermarkts wollen von der Erzeugung eines Schweineschnitzels immer noch genauso wenig wissen wie damals, als sie noch konventionell eingekauft haben. Das Umdenken hat nicht stattgefunden. Bio ist – allen positiven Begleiterscheinungen zum Trotz – ein Statussymbol wie die SUVs, die auf vielen Parkplätzen vor Biomärkten stehen. Der biologisch ernährte Mensch ist ein Opfer seiner Convenience-Sucht geworden. Er kann nicht anders. Er ist bequem, und diese Bequemlichkeit ist sein Gift.

Und diesem Gift werden wir immer begegnen, so lange wir dem Irrglauben anhängen, alles prozessierbar, kontrollierbar, massentauglich gestalten zu müssen, so lange wir nicht die Erkenntnis erlangen, dass Nahrung selbst zum Gift werden kann. Und dass uns Nahrung mehr bietet als nur Nährstoffe. Essen bildet nicht nur unseren Körper, sondern auch unseren Geist. Je reflektierter unser Umgang mit Nahrung ist, desto freier werden wir von den Industrien sein, die uns, wie in ‚Food, Inc.‘ zu besichtigen, unsere Nahrungsvorlieben und unser Ernährungswissen vorschreiben wollen. Ob diese Industrie bio ist oder konventionell, ist da auch schon egal.
Denn bewusste Ernährung trägt kein Etikett.

Drei Listen. Zwei.

Usus operi
Januar 3, 2011

Sollte man doch denken, dass die zweite der drei Listen - schlechte Angewohnheiten - leichter falle als die bereits erstellte erste oder die noch ausstehende dritte.
Ist dem aber nicht so.
Denn Ehrlichkeit sich selbst gegenüber schmerzt ja schon dann, wenn man nur an der Oberfläche kratzt; umso schlimmer also, wenn man schonungslos in der Tiefe gräbt, was zweifellos notwendig ist. Der Versuch nun also, das aufzulisten, was in der eigenen Täglichkeit als Schaden oder Nutzlosigkeit erscheint.
Da gibt es viel aufzuschreiben, doch wenig, das gerne gebeichtet wird. Wer will das schon, sich selbst so sehr entblößen auf einer nicht körperlichen, sondern psychologischen Ebene?

Im Durchschnitt zweimal täglich Selbstbefriedigung.
Wohnung nur putzen, wenn sich Besuch ankündigt.
Hungrig einkaufen.
Nicht ins Fitnessstudio gehen, obwohl die Gebühr monatlich eingezogen wird.
Freunde nicht anrufen, bis sich das schlechte Gewissen meldet.
Dann erst recht nicht mehr anrufen, weil nicht das schlechte Gewissen recht behalten soll.
Impulse, die vielleicht nicht gesellschaftskonform sind, unterdrücken.
Die eigene Energie in die Lösung von Problemen anderer statt in die eigene Entwicklung stecken.
In vorauseilendem Gehorsam die eigene Homosexualität verbergen (die Nachfrage des Freundes, ob das denn überhaupt in relevanten Bereichen geschähe, bringt das nächste Stichwort: eine Unterscheidung zwischen relevanten und irrelevanten Lebensbereichen machen.)
Nach einer Bestandsaufnahme: überraschend viel Fleisch essen, dafür ziemlich wenig Gemüse.
Zu wenig trinken, aufkommendes Durstgefühl mit Nahrungsaufnahme überdecken.
Sich Selbsthass unterstellen statt an Selbstliebe arbeiten.
Eigene Wünsche den anderer unterordnen.
Essen ohne Hunger.
Die eigene Bildung für ausreichend und Weiterbildung nur für andere als notwendig erachten.
Pläne unsystematisch angehen und entsprechend unvollständig abschließen.
Dogmen per se verteufeln, aber eigene Dogmen predigen.
Wider besseres Wissen auf den inneren Schweinehund hören.
Zu viel (und zu wahllos) fernsehen.
Anderen vorschreiben, wie sie zu leben haben, weil der eigene Lebensentwurf unzufriedenstellend ist.
An kruden Dingen hängen, die Teil der Vergangenheit sind und keine aktuelle Bedeutung haben.
Diese Vergangenheit idealisieren, weil die Gegenwart (immer) imperfekt ist.
Das Eintreffen der Zukunft befürchten statt an ihrer Gestaltung arbeiten.
Vor dem Spiegel den Bauch einziehen.
Überhaupt: an Spiegeln nicht einfach vorbeigehen können.
Mehr lesen als schreiben.
Mehr Zeit mit Selbstvorwürfen als mit Selbstentwicklung verbringen.
In der Theorie alles können, in der Praxis nichts versuchen.
Zu allem zu spät kommen.
Immer unvorbereitet sein.
Beim Lesen an den Nägeln zupfen.
Ein Kindheitstrauma als Entschuldigung benutzen, so selten wie möglich zum Zahnarzt zu gehen.
Widerworte geben, obwohl man weiß, dass es schaden wird.
Sich abfinden.
Geduldig bis zur Selbstverleugnung sein.
Zorn herunterschlucken.
Eitelkeit.
Selbstmisstrauen.
Halbe Tage nichtsnutzig im Internet verbringen.
Warnsignale ignorieren, solange sie keine direkte Einschränkung der Lebensqualität bedeuten.
Alles analysieren müssen.

Hoffentlich alles.
Wahrscheinlich nicht alles.

Die schlechten Gewohnheiten, die ja nicht immer in die Abgründe der Seele weisen müssen, sind oft nur kleine Macken, manches Mal aber auch zu kontrollierende Süchte. Allen gemein ist, dass sie mir keinen Nutzen bringen, keinen direkten zumindest, zumeist dafür ernsthaften Schaden. Ein wichtiger, der wichtigste Punkt ist wahrscheinlich die Selbstbefriedigung, denn darüber rede ich mit niemandem. Wie kann man auch darüber reden? Nicht einmal mit dem Freund kann ich darüber sprechen, so wie ich mit ihm ja auch kaum über Sex rede. Wir schlafen miteinander, doch wir sprechen nicht darüber.

Überhaupt, und das wird wahrscheinlich der wichtigste Punkt in meinem Plan, mich selbst zu revolutionieren, muss ich gerade über das Intime und Körperliche, dem ich gleichzeitig distanziert und interessiert gegenüberstehe, mehr sprechen lernen. Das Vokabular dazu fehlt mir mitnichten, im Gegenteil. Allein die Übung, über Sex zu sprechen.
Wie es mir ja ohnehin am Sprechen mangelt. Das ist der zweite wichtige Punkt, vielleicht sogar noch wichtiger als der erste, denn was immer ich offenbaren will, ich kann es nicht nur schriftlich tun. S. warf mir einmal vor, ich würde mich hinter Worten verstecken, die ich wie Mauern um mich türme, und nicht einmal sie wusste damals, wie sehr es der Wahrheit entspricht. Worte geben mir die Distanz, die mir nichts anderes gibt, Worte geben mir Identität und im Zweifelsfall ein Alter Ego.
Und das ist das Dritte, was ich lernen muss: Worten und Träumen, Ankündigungen von Projekten Taten folgen zu lassen, Wahrheiten und greifbare Realitäten. Ich muss lernen, weniger zu planen und mehr geschehen zu lassen.

Dem allem liegt der gleiche Wert zugrunde und die gleiche Fähigkeit: Selbstvertrauen und Zu-Sich-Selbst-Stehen. Wer seinen Träumen vertraut, sie als zu Recht gefasstes Ziel anerkennt und nicht als lächerlichen Wunsch einer überdrehten Persönlichkeit, der lässt sich nicht beirren von scheinbar wichtigen Bewertungen der Anderen. Wer seinen eigenen Werten vertraut, muss sich nicht mit dem Maß anderer messen und sich nur vor sich selbst verantworten.

Zwei Meter Papier

Von der Front
Dezember 20, 2010

In meinem Selbstmitleid bin ich natürlich keinen Schritt weiter gekommen. Immer noch trauere ich der blöden Vergangenheit nach, die heißt: besserer Literat.
Heute bin ich das nicht mehr, habe nur noch meinen egomanen Beißreflex, der sagt: ich bin Autor, ich schreibe ein Buch, fick Dich.
So weit ist es schon, dass ich schreibe, ich sagte: fick Dich.
Würde ich natürlich nicht. Das Sagen.
Das Denken würde ich jederzeit und nicht erst seit gestern. Immerhin bin ich Dienstleister.

Meine Texte der letzten Jahre stauben ein, alles Digitale habe ich verholzt und gelöscht. Meine Geschichte besteht aus zwei Metern Papier, gelocht, getackert und abgeheftet, wie ein Bestatter fühlte ich mich und gleichzeitig wie der Bestattete und die Trauergesellschaft.
Naja.
Wie der, der alles erbt und nicht weiß, wohin mit all dem, das vor Worten nichts mehr erzählt und niemandem mehr etwas sagt. Das Gestern war und ist nicht mehr, und so sehr ich auch in den letzten Monaten versucht habe, an das anzuknüpfen, was war: es geht nicht.

Es ist einfach nichts mehr von dem Mann übrig, der sieben Jahre lang schrieb, so wie schon damals der Junge verloren war, der die sieben Jahre zuvor geschrieben hatte.
Die Zeit gibt niemandem eine Wiederholung, keinem eine ewige Fortsetzung. So sind die Legenden nicht gemacht.
Und ich sehe es ja auch: das Internet sagt mir so, wie es ist, nichts mehr, und eigentlich wäre es wohl Zeit, den Spielplatz zu verlassen und ernst zu machen.

Der Krieg um das Internet stünde an, sagen sie, und doch ist es nur ein Erwachsenwerden des Internets. Die Pubertät, in der alles und nichts erlaubt war, in der alles ausprobiert wurde: Sex, Drugs, Rock'n'Roll, Liebe und Krieg, Terror, Wahnsinn und Gesellschaft; diese Pubertät ist vorbei, und nun, da mehr als eine halbe Generation das Internet nicht als virtuelle, sondern digitale Erweiterung ihres greifbaren Lebensbereichs integriert hat, kann man nicht mehr übersehen, dass all jene, die ohne das Internet aufgewachsen sind, sich damit abfinden und ihren Platz suchen müssen. Und dazu gehören auch eben jene, die jetzt zum Krieg um die Netzhoheit aufrufen, die nicht wissen, dass man das Meer nicht besitzen kann, denn es rinnt durch die Finger, die es halten wollen, und der Schnee, den man zu greifen glaubt, schmilzt unter der Berührung davon.
Es können nicht wenige besitzen, was allen gehört.
Man kann sich nur dazu entscheiden, das Beste aus allem zu machen.

Ich werde alt, das weiß ich. Die Haut an meinen Händen sieht aus wie die eines 60jährigen. Ich trinke zu wenig und arbeite zu viel mit den Händen. Das gräbt tiefe Spuren in meine Finger, noch sieht man es meinen Augen, meinen Wangen, meinem Mund nicht an, dass ich verblasse.
Ab 30, sagt man, erfahre der Mensch seine Lebensaufgabe.
Man sagt aber auch, dass ab 30 alles nachlasse, vor allem aber der unbändige Drang zu leben.
Mit Kindern, sagt man, sagen vor allem auch die Mittdreißigermütter, die mir im Biomarkt den Käse abkaufen, erfahre man eine neue Kindheit und wundere sich immer wieder über die Überraschung, den Lernwillen und den Lebenshunger der Menschen und erfahre ihn dann auch bei sich selbst.
Ich stehe dann da und denke mir: ich habe nicht einmal einen Hund, Kinder werde ich nie haben und nie haben wollen. Welchen Hunger soll ich da spüren? Nicht einmal mehr den Käse mag ich essen.

Ich habe mich dagegen entschieden, die alten Texte neu zu veröffentlichen. Ich habe mich gegen die zwei Meter Papier entschieden, denn es sind zwei Meter, die nicht mehr zu mir gehören.

Früher, sagte ich einem Freund, habe ich meine Texte aufs Papier gebrochen und fand sie gut. Auch andere dachten so, mochten mein Erbrochenes und haben es gelobt, die Tiefe, die Komplexität, die faszinierenden Bilder, die sie darin sahen und die sie über Tage verfolgten.
Doch für mich blieb und bleibt es bis heute: Erbrochenes.
Meine eigene Tiefe, meine eigene Komplexität spiegelte es nicht, es hatte mit mir nicht mehr gemein, als dass es Worte waren, die meinem Geist entfallen waren. Und so sehe ich mich auch heute noch: meinem Geist und meinem Weg, meiner eigenen Steuerung entfallen, entgleist, ausgespurt.

Die neuen Texte dienen nur dazu, mir selbst klar zu machen, dass ich so nicht weitermachen kann, und dass es einen anderen Weg geben muss, den ich gehen kann. Es gibt ihn, ich weiß das, denn ich habe schon so oft meinen eigenen Weg zwischen jenen all der anderen gefunden. Immer habe ich mich neu erfunden und neu gefunden.
Neolog nannte ich mich auf Nachfrage damals, einen Neuerungssüchtigen, einen, der immer alles ändern und anders machen muss. Immer noch bin ich so, und wünsche mir doch nur, dass ich endlich damit aufhören kann und endlich wieder schreiben kann.
Aber ich kann nicht.
Ich muss weitermachen wie bisher, bis alles sich geändert hat. Und dann kann ich aus allem wieder das Beste machen.

Drei Listen. Eins.

Usus operi
Dezember 16, 2010

Die schwerste Liste zuerst. Die positiven Gewohnheiten.

Wie fällt es doch schwer, das Gute an sich zu sehen, wenn man ein scharfer, aber unkonstruktiver Kritiker ist: was man an sich mag, ist eine Selbstverständlichkeit, es stört nicht, hindert nicht am Leben, verwächst so sehr mit dem Selbst, dass man es für eine Eigenschaft hält.
Und doch ist es kein Teil des Charakters, sondern eine Gewohnheit.

Morgens und abends Zähne putzen zum Beispiel und bei Bedarf Zahnpflegekaugummi kauen.
In der Frühstückspause lesen statt nur an die Wand zu schauen.
Überhaupt: täglich lesen.
Wöchentlich Badminton spielen gehen.
Täglich Duschen.
Freundlich zu den Mitmenschen sein, ihnen ein Lächeln ins Gesicht zaubern wollen.
Regelmäßig schreiben.
Wöchentlich die Wohnung aufräumen.
Mindestens einmal täglich den Freund umarmen.
Täglich eine Viertelstunde zur Musik singen.
Zur Arbeit nicht mit dem Auto fahren.
Mein eigenes Verhalten hinterfragen.
Dinge kaum noch persönlich nehmen.
Konstruktiv sein wollen.
Geduld haben.
Mich nicht über das Wetter aufregen.
Negative Aspekte einer Sache als Ansatzpunkt für Verbesserungen sehen.
Bei meinen Entscheidungen Rücksicht auf die Interessen Anderer nehmen.
Abwesende verteidigen.
Mich um mich selbst und andere kümmern, mitfühlen.
Über mein Leben nicht jammern.
Dingen auf den Grund gehen, Mechanismen verstehen wollen.
In Entscheidungen sowohl logisch ergründbare Vor- und Nachteile als auch Bauchgefühl und Intuition miteinbeziehen.
Hilfe nicht aufdrängen, Erkenntnisse weitergeben ohne belehren wollen.
Meiner Menschenkenntnis vertrauen, meinen Vorurteilen zu misstrauen.
Offen für Neues sein, Altes nicht als überkommen ablehnen.
Die Nachrichten nicht zu ernst nehmen.
Fehler zulassen und möglichst aus ihnen lernen.
Eine positive Sicht der Welt haben.
Die Wahrheit im Zweifelsfall der Lüge vorziehen.

Wahrscheinlich nicht alles. Hoffentlich nicht alles.

Drei Tage schreibe ich an dieser kurzen Liste, nachdem ich schon über eine Woche lang darüber nachgedacht habe. Und bei vielem bin ich mir nicht sicher, ob es sich wirklich um Gewohnheiten handelt. Mein Test war, ob ich die einzelnen Punkte der Liste in einen Satz packen konnte, der begann mit: "Ich habe mir angewöhnt, ...". Auch dabei kommen teilweise Charakterzüge zum Vorschein, die aber auch zeigen, dass ein Charakter überwiegend aus Gewohnheiten besteht und nicht so sehr aus der Stimme und den Genen.
Wer sich leicht aufregt und rumschreit, wenn ihm etwas nicht passt, der hat es sich vielleicht einfach nur nicht zur Gewohnheit gemacht, die Verhaltensweisen Anderer objektiv zu sehen, deren Standpunkt verstehen zu wollen und sich sachlich auf eine Diskussion einzulassen.
Gleichermaßen kann ein Mensch, dem alles gleichgültig erscheint, es sich wirklich nicht angewöhnt haben, Interesse aufzubringen.

Ich bin mir sicher, dass mir einige Punkte auf dieser Liste, die sicherlich nicht vollständig ist, bei meinen negativen Angewohnheiten wieder begegnen, denn oft ist das, was sich als gute Gewohnheit tarnt, nur ein angewöhntes Vermeidungsmuster. Und so wird aus "Geduld haben" schnell mal "Unsitten nicht gleich im Keim ersticken". Allerdings braucht alles den Kontrast seines Gegenteils, um überhaupt erst sichtbar zu sein

Die Selbst-Entdeckung. Inventur mit Aussicht.

Usus operi
Dezember 7, 2010

Wie soll ich, wie kann ich, wie darf ich, wie aber vor allem will ich mich darstellen und sehen? Wie weit will ich mich offenbaren, wie weit geht meine Angst vor der Entdeckung? Oder ist es die Angst vor der Entdeckung, an der ich vor allem leide, und die vor allem anderen überschattet, wie ich mich selbst sehe?

Die Tage sind kurz, und die Nächte werden wieder länger, vor allem aber präsenter in meinem Leben. Wie in jedem Winter ziehe ich mich zurück und werde schweigsam, karger mit Worten und Gesten, zurückhaltender in allem, was als Lebenszeichen gewertet werden könnte. Ich schweige, so laut ich kann, und weiß doch, dass ich nicht mehr umhin kann, mein Leben nach außen zu tragen.
30 Jahre bin ich alt geworden dieses Jahr und immer noch ist nicht in Sicht, wann ich endlich die Verantwortung für mich übernehme.

Eine Bestandsaufnahme also.

30.
Studiert.
Arbeite unter meinen Möglichkeiten unter dem Vorwand, meine Freizeit mit Selbststudium, Schriftstellerei und kreativer Selbstentfaltung zu verbringen.
Finde darin zum Teil Wahrheiten.
Verbringe zu viel Zeit damit, im Internet nach Antworten, aber auch nach Fragen zu suchen, nach Ablenkung, Pornographie und Inspiration.
Schreibe unregelmäßig, aber beharrlich, empfinde gleichzeitig Angst loszulassen und Überdruss bei der Vorstellung, das literarische Projekt endgültig niederzuschreiben.
Verliere mich in Bildern, Worten und Musik, koche und backe leidenschaftlich gern, bin Fantasy- und Comic-Fan und stehe nicht dazu, weil mir beigebracht wurde, Erfundenes sei nichts wert.
Lüge nicht mehr so oft wie früher, zögere aber immer noch bei der Wahrheit, als müsse ich den Nutzen einer kurzfristigen, aber folgenreichen Lüge mit den Kosten einer vielleicht schmerzhaften Wahrheit abwägen.
Fahre mittlerweile nicht mehr gerne Auto, finde Züge unerträglich, fliege mit der euphorisierenden Gewissheit, nicht an diesem Tag zu sterben, sondern erst 2057.
Bin gleichzeitig Esoteriker und Naturwissenschaftler, gleichzeitig moralisch und bigott, habe gelernt, auch persönlich gemeinte Kritik sachlich aufzunehmen, die Schuld nicht bei Anderen zu suchen und dass Krankheit eine Einstellung ist.
Finde Power Talk, künstlich positive Einstellungen und rückgratlose Katzbuckelei von Dienstleistern widerwärtig.
Will selbstständig arbeiten, nicht aber selbst und ständig, vor allem nicht an Abenden, Wochenenden und nicht 52 Wochen im Monat, kann mich aber zunehmend schlecht unterordnen.
Kritisiere vollkommen unprofessionell die Unprofessionalität meiner Vorgesetzten.
Lebe seit fast fünf Jahren mit meinem Freund zusammen, habe mich in den knapp 9 Jahren unserer Beziehung gleichzeitig zum Beziehungsmensch und zum Individuum erzogen, kann nicht mit meinem Partner über Intimität reden, von Sex ganz zu schweigen.
Nehme viel an, frage nicht nach, weiß alles besser, erinnere mich schlecht.
Gehe gerne ins Kino, schaue ungerne und dennoch zu viel Fernsehen, habe vor allem in letzter Zeit einen zunehmend zu hohen Alkoholkonsum, trinke ansonsten zu wenig und esse aus Langeweile oder verschleiertem Durstempfinden.
Spiele einmal pro Woche Badminton mit wechselnden Partnern, bin seit vier Monaten nicht mehr im Fitnessstudio gewesen, nehme mir aber jede Woche vor, ab der nächsten Woche wieder hinzugehen.
Kann viele Tage hintereinander nach zu wenig Schlaf gut aufstehen, wenn ich zur Arbeit muss, kann aber nicht zwei Tage hintereinander früh aufstehen, um meine privaten Dinge rechtzeitig zu erledigen.
Vermisse meine Freunde, rufe aber niemanden an.
Versuche seit fünf Jahren meinen Handyvertrag fristgerecht zu kündigen, kann mich nicht an das Jahr meines letzten Zahnarztbesuchs erinnern, verweigere fast abergläubisch die Einnahme von Medikamenten mit Ausnahme von Schleimlösern, trinke ungerne Kaffee, esse ungerne Obst, kann mich bei Käse kaum zurückhalten und finde Brot überbewertet.
Bin begeisterter Evolutionist, entwerfe als Einschlafübung Möbel und Kleidung, verweigere mir aber tagsüber die konstruktive Beschäftigung mit kreativen Ideen.
Finde es albern, sich selbst für irgendwas zu hassen, hasse an mir die Bedingungslosigkeit meinen eigenen Dogmen gegenüber, staune immer wieder über meinen Selbsthass.
Hänge immer noch der alten Rechtschreibung nach, mag das scharfe S, habe mittlerweile meine Inkonsequenz bei dessen Verwendung akzeptiert.
Schaue gerne romantische Filme, lehne gleichzeitig in der Realität gezeigtes romantisches Verhalten ab.
Behaupte offen schwul zu sein, verschleiere meinen Kollegen gegenüber gleichzeitig meinen Beziehungsstatus, rechtfertige dies damit, dass es sie nichts angeht.
Erlebe bewusst das Verstreichen von Geburtstagen von Freunden, melde mich dann aus schlechtem Gewissen ein halbes Jahr lang nicht mehr.
Wundere mich darüber, dass ich früher auch ohne triftigen Grund, ohne Gefühl von Verpflichtung und ohne zu besprechende Neuigkeiten mit meinen Freunden telefoniert habe, würge ein Gespräch mittlerweile ab, wenn mir nichts mehr einfällt, das ich erzählen könnte.
Habe Angst vor der Leere in einem Gespräch, achte aber mehr auf die drohende Leere als auf das, was mir erzählt wird.
Kann mich nicht an die letzte Party erinnern, bei der ich nur Spaß hatte und nicht mindestens einmal vorzeitig gehen wollte.
Bezeichne meine beste Freundin mittlerweile als liebe Freundin und ehemalige Mitbewohnerin, weil ich seit einem halben Jahr nicht mehr mit ihr gesprochen habe.
Fühle mich einsam, eingeschlossen und fürchte den alten Grantler in mir, der die Kinder der Nachbarn anschreit, weil sie durchs Treppenhaus rennen.
Belehre die Nachbarn über Mülltrennung, kann mich aber gerade noch zurückhalten, informative Zettel zu schreiben.
Rede in Gesprächen schnell über Politik-, Gesellschafts- oder Gewissensfragen, bewerte beim Wetter immer nur den Feuchtigkeitsgrad der Wärme oder Kälte.
Gebe regelmäßig einen Lottoschein ab, vermute gleichzeitig, es wäre besser, das Geld dafür zu sparen.
Bin ein schneller Denker, ein klarer Beobachter, frage nicht nach, wenn ich etwas akustisch nicht verstanden habe, sondern lächle nur.
Bemerke gleichzeitig wachsenden Wissensverlust und sich ausweitende Menschenkenntnis.
Habe Angst Dinge zu verlernen, weigere mich gleichzeitig, Neues zu erlernen.
Erinnere mich lebhaft und leicht an demütigende Momente meiner Kindheit, muss mir schöne Erlebnisse oft von Dritten wiedergeben lassen.
Mit 20 die erste und einzige Freundin, das erste Mal geküsst, das erste Mal getrennt, das Coming Out, den ersten Freund, den ersten Sex, den ersten One-Night-Stand, den zweiten Freund, die erste Angst vor HIV, kein einziges Mal verliebt.
Mit 30 den ersten HIV-Test seit elf Jahren.
Träge, müde, antriebs-, ehrgeiz-, ruhelos.
Ungeordnet im Denken, penibel auf dem Schreibtisch.
Brauche 20 Minuten morgens im Bad ohne Rasur, eine Stunde länger mit Rasur, bin meistens unrasiert.
Kann stundenlang das gleiche deprimierende Lied hören, dem Schnee beim Fallen zusehen und doch abends verwundert darüber sein, nichts erledigt zu haben.
Spreche mit meiner Friseurin über ihre Arbeit, finde Föngeräusche furchtbar, war aus Protest gegen Termine sieben Jahre nicht beim Friseur.
Habe mir einmal die Haare selbst geschnitten.
Schwitze leicht, stinke dann oft, schäme mich deswegen immer.
Sollte nach dem Wunsch der Eltern Lehrer werden, bin nur Besserwisser geworden.
Finde es schwieriger das Stinken aufzuschreiben als die Pornographie.
Möchte die Welt verändern oder zumindest die Gesellschaft, will eigenes Gemüse anbauen, seit Jahren den Balkon begrünen, glaube, dass man aus Büchern alles, aus dem Internet nichts lernen kann.
Habe eine Orchidee, die das erste mal in zwei Jahren eine zweite Blütenrispe bekommt, bin darüber ganz aufgeregt.
Kann gut autistische Tätigkeiten durchführen, werde unwirsch, wenn man mich beim Nachdenken stört.
Will ständig Veränderung, habe in meinem Freundeskreis die längste Beziehung, die niedrigste Umzugsfrequenz, die längste Arbeitslosigkeit, glaube daran, dass sich das Leben alle sieben Jahre ändert.
Halte Geburtstage bei mir für überbewertet und Altern für keine Leistung, kann nicht verstehen, warum andere ihre Geburtstage nicht feiern, habe meinen eigenen Geburtstag in 30 Jahren zehn Mal gefeiert, das siebte Mal war mein 12. Geburtstag.

Wie negativ darf, kann, soll man über sich selbst schreiben, ohne den Eindruck zu erwecken, therapiebedürftig zu sein? Ich habe nie gelernt, Gutes von mir anzunehmen oder positives über mich zu sagen.
Dabei bin ich intelligent, offen, interessiert, tolerant, reflektiert, adaptionsschnell, sprachlich begabt, belesen, hilfsbereit, altruistisch, freundlich, fürsorglich, aufmunternd, lustig, kreativ, detailverliebt, improvisationsstark, pragmatisch, authentisch, geduldig, gründlich, bescheiden, attraktiv, mutig, unaufgeregt, hingebungsvoll, vernünftig, gastfreundlich, fair, gewissenhaft, ein begabter Koch, ein talentierter Autor, ein guter Lehrer, ein staunender Beobachter.
Ich bin kein schlechter Mensch, ich habe meine Finanzen einigermaßen im Griff, meine Handlungen zielen darauf ab, niemandem zu schaden.
Ich habe gelernt, meine Schwächen zu akzeptieren, wenngleich nicht zu lieben.
Ich bin bereit, an mir zu arbeiten, habe hohe moralische Ansprüche an mich selbst und an andere, ich habe Träume und wenige Ziele. Und ich weiß nicht, ob mich anhand der Dinge, die ich über mich aufgeschrieben habe, jemand aus meinem Bekanntenkreis identifizieren könnte. Soviel zur Authentizität.

Angenommen, ich übernähme die Verantwortung, angenommen, ich entschiede mich, mein Leben bewusst und richtig zu führen, meine negativen Gewohnheiten zu bekämpfen und meine positiven Gewohnheiten auszubauen, vor allem aber, mein Leben auf ein sinnvolles und richtiges Ziel auszurichten, indem ich meine Stärken stärke, meine Fähigkeiten ausbaue und anerkenne, dass jemand, der von allem ein bisschen etwas kann, zwar ein hervorragender Generalist ist, aber immer wieder gegen das Selbsturteil kämpfen muss, eigentlich nichts richtig zu können, angenommen also, ich stellte mich im Alter von 30 Jahren auf meine eigene Seite: was müsste sich, was müsste ich ändern?
Wie sähe mein Leben aus, wie meine Wünsche, wie meine Tage, meine Nächte, meine Beziehungen, ich selbst? Was will ich werden, wie will ich sein, welche Wünsche gestehe ich mir ein, welche Süchte lege ich ab? Vor allem aber: wie öffentlich lebe ich diesen Prozess, wie sehr lasse ich Andere an meiner Entwicklung teilhaben, ohne die, die mir jetzt nahestehen, zu verlieren, zu verlassen oder zu verstoßen?

Der erste Entschluss ist schon gefasst: ich werde meine Veränderung, meine Fort- und Rückschritte öffentlich beschreiben. Ich habe bereits vor zwei Jahren diese Seite zu genau diesem Zweck geschaffen, auch wenn mir das erst seit Kurzem klar ist. Anders Wolf, das Alter Ego, wird sich nicht mehr zensieren, wird nur Namen und Orte nicht nennen; nicht aus Gründen des Eigen- oder Fremdschutzes, sondern weil es irrelevant ist, ob ich Wolfram oder Andreas heiße, in Berlin oder Singen lebe, denn Charakterentwicklung ist nicht namens- oder ortsgebunden.
Alles ist jedem möglich, überall, immer.
Auch mir, auch hier.

Noch etwas der Form halber: Ich bin mir der Form, in der ich schreibe, bewusst und auch der implizierten Publikumstauglichkeit. Wie jeder, der sich selbst im Internet darstellt, sehne ich mich nach anderer Menschen Aufmerksamkeit, die ich weder privat erfahre noch erwidern kann. Ich suche und erwarte andererseits keine Leser, keine Diskutanten, keinen Austausch über das Gesagte. Gleichwohl weiß ich, dass auf Dauer nichts im Internet verborgen bleibt, dass sich jedes Angebot auch seine Nachfrage schafft und dass mich früher oder später auch jemand liest, der mich kennt oder das zumindest annimmt.
Ich will jetzt schon klären (für mich und andere), welche Gedanken ich dazu habe: natürlich sorge ich mich darum, entdeckt zu werden, andererseits werde ich nicht wachsen oder mein Potential erkunden, wenn ich mich immer und überall zurückhalte, aus Angst, die gemachten Erfahrungen könnten meine Beziehungen zu anderen Menschen belasten, meine Arbeit beeinträchtigen oder meine Zukunft gefährden. Ich muss akzeptieren, dass nicht alle, die mich kennen, alles gutheißen, was ich mache, denke, fühle, genauso wie aber auch jene akzeptieren müssen, dass sie ihr Leben leben und nicht meines, wie auch ich akzeptiere, dass die Eigenheiten Anderer mich manchmal negativ berühren, mich abstoßen, in Rage bringen können, und sie doch nicht dafür verurteile.
Von meinen Vorgesetzten einmal abgesehen.

Während des letzten Absatzes ist mir klargeworden, dass es nicht die schlechten Klassenkameraden sind, nicht die alten, treuen Freunde, nicht die guten Bekannten, nicht die entfernten Verwandten sind, deren Reaktionen ich fürchte, sondern dass es die Menschen sind, die mir noch am nähesten stehen: mein Freund und meine Eltern, von denen ich offensichtlich annehme, dass sie ein falsches Bild von mir haben, von meinen guten Eigenschaften, meinen schlechten Gewohnheiten, meinen unerreichten Träumen, meinen undefinierten Zielen.
Gerade jene Menschen, die Seiten von mir kennen, die kein Freund von mir kennt und nicht einmal die eigenen Geschwister, gerade jenen Menschen unterstelle ich Unkenntnis meines Charakters, meiner Hoffnungen und meiner Scham.
Meine Hoffnung ist also nicht, all den Unbekannten, die meine Worte irgendwo zwischen geschwätzig und inspirierend einordnen, etwas über mich, über mögliche Veränderungen und den Nutzen von Wahrhaftigkeit zu erzählen, sondern mich selbst stolz genug auf mich sein zu lassen, dass ich auch jenen Menschen gegenüber aufrichtig sein kann, die es am meisten verdient haben.
Bleibt also die gleiche Frage wie zu Beginn: Wie soll ich, wie kann ich, wie darf ich, wie aber vor allem will ich mich darstellen und sehen?

Danach | 50066

Textualitäten
Dezember 6, 2010

Nikolaus. Es ist vorbei. Eine Woche später habe ich die letzten Worte der Geschichte geschrieben. Ein unbefriedigendes Ende, das ein Ende ist, weil es die Geschichte dahin führt, wo ich sie hinhaben wollte, die aber keine Erklärung für das gibt, was ich sagen wollte. Dies ist umso wichtiger, überarbeitet zu werden, aber nach einer Woche Pause hatte ich fast keine Ahnung mehr, was überhaupt passieren sollte. Schlimm genug, dass ich es kaum wusste, während ich die letzten 10000 Worte vorher schrieb, aber jetzt, da ich eine Woche lang gar nicht in der Geschichte gedacht habe, war alles fort, alle Ziele und Pläne. Das Leben ist einfach weitergegangen, hat nicht darauf gewartet, dass ich noch beende, was ich angefangen hatte.

Und doch musste ich noch die letzten Worte schreiben, noch so weit andeuten, was geschehen sollte, dass ich beruhigt fortgehen konnte, denn es begann bereits ein Weiterdenken in meinem Kopf. Ich habe schon überarbeitet, habe schon nach einem tieferen Sinn gesucht und nach einer Fortsetzung, nach einer Erklärung, die die Geschichte von Yelda mit dem verbinden würde, was ich eigentlich mit Siremon vorhatte. Ich habe eine Verknüpfung gefunden, die Sinn ergibt, doch ich durfte, konnte Yelda nicht einfach mitten in der finalen Konfrontation verlassen. Ich wusste, ich würde es mir nie verzeihen können.

Unabhängig davon wie öde das Ende bislang ist, denn wichtiger war das Ende an sich und nicht die Art und Weise, wie es endete. Die Endfassung der Geschichte wird mit diesem in einem stürmischen Monat geborenen idee nicht mehr viel gemeinsam haben. Alles wird anders sein, nur wenig wie es war. Aber es musste sein, es musste erzählt und geschrieben werden. Nicht nur fr den NaNoWriMo, sondern auch und vor allem für mich, denn ich musste sehen, ob ich das kann: schlecht schreiben, schlecht erzählen, zulassen, dass das gruseligste überhaupt dastehen kann und ich es nicht gleich lösche. Ich musste den Zensor niederschreiben und ich musste diese Erfahrung machen, um weiterzukommen. WEnn ich denn wirklich jemals ein Geschichtenerzähler werden will, dann musste ich das durchhalten und vor allem beenden und das habe ich hiermit getan. Das Projekt 50000 ist vorbei.

Morgen kann kommen.

40 | Das Ende

Yelda
Dezember 6, 2010

Die Energie aller Welten erstarb und für einen endlos scheinenden Augenblick stand alle Bewegung still. Ich sah mich selbst und die drei Jenseitigen verbunden durch einen irrlichternden Strom aus Kraft, der gefroren war in der Zeit, ein Strom, der aus der jenseitigen Welt selbst stammte und durch meinen Körper brach und sich verzweigend Saphir, Rubin und Korund an mich band, uns vier zu einer Einheit machte, aber auch durch ihre Körper hindurchfloss bis zu den nahen Ausläufern der Dunkelheit, wo sie in silbriger Gischt ineinander übergingen.
Und dann endete dieser Moment und die Zeit kehrte mit einem Schlag zurück, die Drei wurden von dem Strom mitgerissen in die Dunkelheit, die ihrerseits höher und weiter anstieg und sich wie eine Springflut über uns erhob und uns und den Riss in der Wirklichkeit unter sich begrub. Ich nahm nichts mehr wahr außer der Gewissheit, dass ich noch etwas wahrnahm, dass ich doch nicht verschwunden war in dem Aufeinanderprallen der Welten, doch fühlte ich auch, dass die Drei immer noch mit mir verbunden waren, dass sie immer noch in dieser Welt waren, die weder dies- noch jenseits war. Wir waren in einem Raum dazwischen, der überall und nirgends war.

Und dann schwand das Dunkel. Als die Flut sich zurückzog, brachte sich mein Bewusstsein zurück ans Licht des Tages und ich sah, dass die Stadt Tharb nicht mehr existierte. Ich kniete auf Gras vor einem Baum, und hinter dem Baum stand ein Turm aus weißem Stein, der in der zurückkehrenden Helligkeit und vor dem zurückweichenden Schatten zu gleißen schien. Ich stand auf und sah mich um, betrachtete den grünen Hügel, auf dem außer dem Turm neben dem Baum noch zwei weitere weiße Türme standen, die sich dem Himmel entgegenstreckten wie Arme, die den Himmel stützen wollen.
Keine zehn Schritte von mir entfernt sah ich drei menschliche Gestalten, und noch ein Stück weiter weg eine weitere Gruppe. Ich ging zu den Dreien, von denen ich wusste, es handelte sich um Saphir, Rubin und Korund. Wie ich trugen auch sie keine Kleidung mehr, sie waren wie ich nicht viel mehr als ihre Körper. Ich wusste es, bevor ich es spürte: dass die Welle abgeebbt war, dass sie unsere Kraft mit sich davon getragen hatte. Wir waren weder sterblich noch unsterblich, wir waren reine Existenz.

„Was ist geschehen?“ fragte Eine.
„Was ist dieser Ort?“ fragte Eine.
„Wer bin ich?“ fragte Einer.
„Ihr seid an einem sicheren Ort.“
„Wer bist Du?“
„Ich bin Yelda. Dies ist Tharb oder war es. Ein Schatten kam und ging.“
Sie sahen mich stumm an. Eine setzte sich wieder ins Gras und blickte in den blauen Himmel. Einer ging zum Baum und legte seine Hand auf den Stamm, schweigend, die Augen geschlossen. Die Dritte sah mir nach, als ich zu der zweiten Gruppe ging. Es waren die Männer und Frauen, die ich im Tempel der Stillen Götter beim Plündern gestört hatte. Sie waren zu sechst und sie sprachen schnell und leise miteinander. Sie waren nicht nackt wie ich und die Drei, sondern trugen die gleiche schmutzige Kleidung, die sie getragen hatten, bevor das Dunkel gekommen und gegangen war.

Sie gingen. Sie verließen die Stadt, denn es gab dort nichts mehr für sie. Alles war fort, die Türme waren nur hohle Felsnadeln, die den Boden durchbrochen hatten. Es gab nichts mehr außer Gras, den Türmen und uns fünf. Ja, fünf, denn Remde war ebenfalls noch hier. Er war in den Buchturm geflohen, als die Flut kam, und er hatte als einziges seine Kraft behalten. Doch er konnte mit ihr nichts anderes anfangen als Trugbilder zu erschaffen. Er verbrachte Tage und Nächte und Wochen und Monate in den Türmen, während Rubin, Saphir und Korund über das Gras schritten und in die Luft starrten. Denn von allem, was vorher war, hatten sie keine Erinnerung mehr. Sie wussten nicht mehr, was geschehen war, sie hatten vergessen, wer sie vor dem Dunkel gewesen waren. Sie hatten sich so sehr verloren, wie ich gewesen war, als ich das erste Mal erwachte. Später zogen sie sich in den einstigen Turm der Folterer zurück, der keine Spuren mehr vom Blut der Misshandelten und Geschändeten trug, sondern so rein und gleißend war wie der Buchturm und der Turm an der Mauer. Ich lebte im Buchturm und sah in die Ebene, die sich mit der Zeit mehr und mehr wandelte. Denn alle Magie, die wir fünf gerufen hatten, war nicht etwa verebbt, sie war über das Land um Tharb gezogen und hatte alles verändert: Bäume standen nicht mehr still, sondern wanderten durch die Ebene, fliehende Schatten und flüsterndes Licht durchzogen die magisch belebte Landschaft. Wesen, die weder ganz von dieser, noch von jener Welt waren, lebten in Eintracht mit farbwechselnden Pferden und haushohen Hummeln.
Oft suchte ich nach Spuren der Welt vor dem Schatten, doch außer dem Fluss und den langsam verfallenden Häusern der Äußeren Stadt von Tharb war nichts mehr zu erkennen. Die Menschen waren geflohen und fort, vielleicht hatte sie auch der Schatten oder die Magie berührt und verändert. Der Zauber wirkte auch fort, denn selbst wie ein Tier zog er durch die Ebene und veränderte immer wieder alles, was er berührte. Ich spürte, das war das einzige, was von meiner Kraft geblieben war, das Lauern der Kraft in der Erde und spürte, dass diese Kraft immer noch und viel mehr als zuvor die Erde durchzog, dass sie in allem wohnte, und alles, mit dem sie verbunden war, befähigte, sich ihrer zu bedienen. Und so formte sich die Welt neu und immer wieder neu um den Felsen von Tharb, der über Jahrhunderte so blieb, wie ich ihn erschaffen hatte: als grünen Hügel mit drei Weißen Türmen, die sich in die Höhe streckten wie Arme, die den Himmel stützten.

39 | Der Fünfte von fünf

Yelda
Dezember 6, 2010

Ich hatte in der jenseitigen Welt, und vor allem in Sobekans Übungen erkannt, dass mein Körper zwar sterblich war, aber dass ich darunter einen weiteren feinstofflichen Körper besaß, der nicht die Grobheit der Relität besaß, sondern das feinmaschige Geflecht der jenseitigen Welt in sich trug. Und es war dieser Körper, der den letzten Rest meiner Magie hielt, jener letzte Rest, den ich aufgab und ausfließen ließ.

Ich sah Korunds wiedergekehrtes Lächeln einen Moment, bevor mein Bewusstsein sich aus meinem Körper löste, und ich spürte ihren Spott in dem Moment, als ihre Kraft in meinen sterblichen Körper einschlug. Den Schmerz spürte ich schon nicht mehr, doch ich erkannte das Zittern der Kuppel über der Stadt, als Korunds Kraft nicht nur Flammen über den Leib ziehen ließ, sondern auch über den silbrigen Himmel tanzen ließ. Ich verstand im Vergehen meines Körpers, dass ich mich getäuscht hatte, und Korund Recht behielt. Ich hatte bis zu diesem Moment tatsächlich immer ihren Plan erfüllt, und sie war es gewesen, die mich imperfekt geschaffen hatte, sie war es gewesen, die geplant hatte und deren Plan aufgegangen war. Und sie wusste, dass sie den Spalt zwischen den Welten nicht schließen brauchte, sie musste nur das von ihr geschaffene Tor, mich nämlich, vernichten, um zu beenden, was ich begonnen hatte. Denn mein Körper war es schließlich noch, der die Zerstörung aller Grenzen zwischen den Welten aufhielt, der die Kuppel hielt und verhinderte, dass die schwarze Welle auch über die Ebene von Tharb hinwegströmte. Mein Körper war es, den Korund vernichten musste, um sich zu retten und die wirkliche Welt der magischen zu unterwerfen.

Schlag um Schlag ließ Korund auf meinen Körper los, der allerdings den Schaden zu einem Großteil immer wieder an den Kuppelschild abgab, und Schlag um Schlag setzten nun auch Saphir und Rubin zu. Und ich sah nur noch eine Möglichkeit, die Welt vor der Vernichtung zu retten: ich musste nicht meinen Körper, ich musste mein Selbst opfern, um die Pläne der Jenseitigen zu verhindern.

Mit jedem weiteren Schlag flackerte das silberne Leuchten der Kuppel über uns, und die schwarzen Wellen aus genichteter Wirklichkeit fraßen sich jetzt in Wellenschlägen den Berg hinauf, während der brennend rot klaffende Riss in der Welt immer weiter auffaserte. Und ich zwang mich, an den letzten dünnen Fasern der Verbindung zu meinem Körper entlang zu folgen, versuchte, was ich schon zweimal gemeistert hatte, wenn auch unter schrecklichen Schmerzen, ich zwang meinen Geist ein letztes Mal in meinen sterbenden Körper, der mit jedem Schlag der drei Jenseitigen schwächer wurde und versehrt. Und doch fand ich zwischen all den Schmerzen und Verletzungen noch einen Teil meiner Selbst und erinnerte mich an das Gefühl, einen Körper zu haben, einen sterblichen Leib und erinnerte mich wieder an die Schmerzen, die ich auf Mandus Insel gespürt hatte, auf das schreckliche und alles auslöschende Gefühl, mehr als nur hier, sondern ein Teil von allem zu sein. Und plötzlich spürte ich das Brennen der Zauber auf meiner Haut und die Verbindung meines Geistes zur wankenden Kuppel über mir und die klaffenden Wunden, die sich jetzt, da ich zurück in meinem Körper war und selbst die Verletzungen tragen musste, in meinem Fleisch auftaten.

Und Korund lachte und rief: „Es ist zu spät für Dich, Yelda. Es ist zu spät für Deine ach so trügerische Heimtücke. Du hast Dein Schicksal besiegelt!“ Und ich fühlte das Aufreißen der Welt in meinem Rücken, als die Fasern der Wirklichkeit unter Korunds Befehl wichen und das brennende Rot der jenseitigen Welt in einem breiten Strom in das Diesseits quoll und an meinen Füßen nagte.
Der Schmerz all meiner Verwundungen drohte mich bewusstlos werden zu lassen, doch ich wusste, wenn das passierte, hätte Korund gewonnen, und so hielt ich mich an meinem Schmerz aufrecht und griff mit meinem Geist nach dem Strom aus Kraft, der mich vernichten sollte, und fühlte die alles übersteigende Macht dieses Stroms, der die reine Essenz jener Welt war, von der Rubin, Saphir und Korund immer nur ein kleiner Teil gewesen waren. Und ich spürte das Vergehen meines Körpers, das Erzittern der Kuppel und das Ansteigen der Wellen und dazwischen die Drei und mich und die Verbindung zwischen all dem, und ich warf meinen Körper und meinen Geist gegen die Drei und zog die Kraft und die verbleichenden Fäden der Wirklichkeit mit mir.

Mit einem Mal und für einen Moment war alles still. Der Schatten brach über uns herein und die rot brennende Welle der Kraft vermischte sich mit den Wogen aus Dunkelheit. Im selben Moment fiel die Kuppel in sich zusammen und an dem Punkt, da sich Schatten, Kraft und Kuppel vereinten, standen Saphir, Rubin, Korund und ich. Und dann explodierte die Stille im Zusammenprall aus Wirklichkeit, Kraft und Nichts und alles verschwand.

One for the road | 48363

Textualitäten
Dezember 1, 2010

Ich habe bis zuletzt gekämpft. Am Ende fehlten mir wahrscheinlich eineinhalb Stunden. Ich habe meinen Word Count von 48363 Worten noch verifiziert, dann den Ablauf der letzten Minute vor Mitternacht betrachtet und mich danach gefragt: Warum habe ich nicht an jedem Tag dieses Jahres so viel geschrieben wie heute?

Ich kann nicht mehr bequem sitzen, ich habe ein vollkommen ausgeleiertes Gehirn, allein die letzte Stunde vor Mitternacht hat sich angefühlt wie Waten in zähem Morast. Und doch habe ich allein heute 9272 Worte geschrieben. Ich hätte noch am Anfang des NaNoWriMos nicht gedacht, dass ich es wirklich schaffen könnte, in die Nähe der 50000 zu gelangen, und noch am Ende der ersten Woche lag ich in meinem Gesamtpensum um einen Tag zurück. Schon da hatte ich schon mehr Worte pro Tag geschrieben als jemals zuvor. Seither habe ich mich immer wieder selbst enttäuscht und überrascht.

An sechs Tagen habe ich überhaupt nicht geschrieben, und an zwölf Tagen mehr als ich gemusst hätte. Auch wenn die Geschichte mitunter einen Hänger hatte, und ich auch mitunter nicht wusste, wie ich weitermachen sollte, habe ich doch nicht aufgegeben. Ich habe zwar das Ziel um 1664 Worte verpasst und damit also die Arbeit eines Tages noch vor mir, aber ich habe trotzdem nicht verloren bei meinem ersten NaNoWriMo. Ich weiß, dass ich mich selbst durch schwierige Phasen manövrieren kann, dass ich selbst Hänger ausgleichen kann, indem ich einfach an einen späteren Zeitpunkt der Geschichte springe. Ich habe am Ende sogar den entnervten Zensor besiegt, der mich beim Schreiben immer wieder gefragt hat: schreibt man das wirklich so? willst du das nicht noch einmal korrigieren? Willst du nicht wenigstens die Tippfehler beseitigen?
Und nein, ich habe dazu einfach keine Lust mehr, wenn ich einen Entwurf schreibe. Ich will nicht vier Worte zurückspringen, wenn es mich eigentlich nach vorne drängt. Ich will nicht darauf warten, dass der blöde Zensor seinen wortästhetischen Orgasmus bekommt, bevor ich in der Geschichte weitergehen kann.

Ich habe nicht gewonnen, wenn es nur um den Gesamtwordcount geht. Aber ich habe an so viel Erfahrung gewonnen, dass ich es kaum glauben kann, dass ich das nicht vorher schon mal gemacht habe. Natürlich bin ich jetzt aber auch ganz schön fertig und meine Geschichte wird genau am Ende ziemlich überarbeitet werden müssen, weil da viel Füllsel drin ist, das da nix zu suchen hat. Ich habe aber gleichzeitig in nur 30 (um genau zu sein 24) Tagen 83 Seiten unformatierten Text geschrieben, der sogar noch Potential hat (meiner Meinung nach). Ich habe damit etwas für mich unglaubliches geleistet und ich bin relativ sicher, dass ich darauf aufbauen kann.

Ich weiß, dass ich mir geschworen hatte, sollte ich die 50000 nicht erreichen, dann würde ich für immer aufhören, Romane schreiben zu wollen. Jetzt aber, da ich so weit gekommen bin, dass gerade einmal ein weiterer Tag nötig ist, um mein Ziel zu erreichen, lässt mich nachdenken darüber, was ich tatsächlich will.

Jetzt allerdings will ich vor allem schlafen. Ich bin so fertig.

38 | Der Vierte von fünf

Yelda
Dezember 1, 2010

Diesmal musste ich mich nicht mehr konzentrieren. Ich ließ einfach los. Ich vergaß die Verbindung, die ich mit den Strömen der Kraft und des Lebens gehabt hatte und befreite mich aus den Bindungen, die sie mir aufgelegt hatten. Ich ließ alles los bis auf die Verbindung zu meinem Schild und ich wusste, dass mich die Drei nicht mehr würden angreifen können. Sie hatten ihre Chance vertan, und nun, da sie in der Falle saßen, waren sie ihrem Untergang geweiht. Ein bisschen tat es mir leid um Remde, der eigentlich für keine seiner Taten wirklich etwas konnte, und den die Geschichte einfach mit sich gerissen hatte. Seine Entscheidungen waren falsch gewesen und er hatte einen meiner Freunde getötet, aber es war keine Absicht gewesen und er zum Zeitpunkt seiner Tat vollkommen unzurechnungsfähig,. Natürlich dachte ich dabei an den Remde, den ich im Wald kennengelernt hatte und nicht den Remde, der auf einer Seite mit denjenigen stand, die mich vernichten wollten. Dieser Remde allerdings spendete nur noch seinen Körper für einen von Macht und Gier zerfressenen Geist. Es tat mir leid um Remde, aber nicht um diesen Fremden.

Ich hielt nicht mehr zurück, was ich die ganze Zeit in mir gehalten hatte. Wie aus einer zerplatzenden Blase die Luft entweicht, floss die Kraft von mir ab, und ich hielt mich ausschließlich noch an das Netz in der Kuppel.
Und dann spürte ich es und ich wusste, dass auch die Drei und Remde es spürten.
„Ich habe Euch eine Falle gestellt. Und Ihr könnt nicht mehr entkommen.“
„Was hast Du getan?“
„Begreifst Du es denn nicht?“
„Halt es auf!“
„Es gibt nichts mehr, was ich aufhalten könnte. Der Schatten kommt, der Schatten, der aus Wirklichkeit besteht. Er wird über uns alle hinwegfegen, er wird uns vernichten, vor allem aber wird er auch über die Verbindung der Welten in Eure Welt einbrechen und er wird sie vernichten, wie Ihr plantet, alles zu vernichten, was in dieser Welt lebenswert ist.“
„Du ahnst nicht einmal die Hälfte von dem, was Du angerichtet hast.“
„Nicht? Warum habt Ihr dann solche Angst, warum richtet Ihr nichts dagegen aus?“ Anstatt auf eine Antwort zu warten, sagte ich: „Weil Ihr nicht könnt. Ihr habt keine weitere Handlungsoption mehr. Euer Spiel ist vorbei, Ihr seid besiegt. Noch nicht einmal, wenn Ihr mich noch vernichtetet, nicht einmal dann könntet Ihr aufhalten, was Euch erwartet.“
Und dann sah ich sie. Die Welle aus Nichts, die sich nicht etwa aus allen Richtungen außerhalb der Stadt auf uns zu bewegte, sondern die innerhalb der Mauern des Inneren Kreises an dem Netz der magischen Kuppel entlang nach oben ausbreitete wie ein sehr schneller Bewuchs mit Efeu oder Wein. Nach und nach stieg die Dunkelheit auf und stieg immer höher und höher, und sie warf ihr dunkles Licht wie schäumende Gischt in die Straßen der Stadt. Noch waren wir am höchsten Punt der Stadt und damit außerhalb der Reichweite der leckenden Wellen, doch war es unmöglich, ihr auf Dauer zu entkommen. Die Zeit arbeitete gegen uns, oder vielmehr gegen die Drei, denn ich hatte mich mit meinem Schicksal schon abgefunden. Ich würde so und so keine Zukunft mehr haben, denn ich wob den fünften, den letzten Zauber.

Ich ahnte nicht, dass es genau dieser Zauber sein würde, der wirklich alles veränderte. Ich hatte vorher gedacht, dass es die Vernichtung der Drei durch die Wellen des Schattens sein würde, doch ich täuschte mich. In fast jeder Hinsicht.

37 | Der Dritte von fünf

Yelda
November 30, 2010

Der dritte Zauber würde der anspruchsvollste von allen sein, und der vierte und fünfte Zauber die einzige mögliche Konsequenz aus dem dritten. Mir war bewusst, dass ich riskierte, die ganze Welt zu vernichten, denn wie Terno es mir erklärt hatte, mussten die Welten voneinander getrennt werden, damit beide überhaupt existieren konnten. Mein Plan bestand darin, diese Grenze einfach aufzuheben und die Quelle der Magie von der anderen Seite von jenseits der Realität in dieser Welt zu verankern, so wie ich mich in beiden Welten verankert hatte. Es schien in der Theorie einfach, und ich hatte auch schon gesehen, wie es funktionieren würde. Das, was Remde Mandu angetan hatte, als er ihre Kraft nahm, entsprach dem, was ich für die Welt geplant hatte. Ich plante das selbe für die dünne Wand zwischen Wirklichkeit und der anderen Welt. Ich hatte in Remdes Erinnerung das Geflecht wiedererkannt, aus dem Mandus Bewusstsein bestand, ich hatte es erkannt als das gleiche Geflecht, als das ich die Oberfläche der Realität erkannt hatte. Ich sagte mir, und darauf allein basierte mein Plan, dass ich im geschützten Raum der Inneren Stadt von Tharb genau das gleiche mit den beiden Welten machen könnte. Ich würde die Ströme der Kraft und des Lebens von ihrer Quelle lösen und sie direkt in Tharb verankern.
Ich ahnte, dass nicht alles meinem Plan entsprechend verlaufen würde. Dass ich mich aber fast vollkommen irren würde, war mir nicht klar.

Ich stieg die Stufen des Buchturms wieder herab. Mit mir nahm ich das unvorstellbare Gefühl, mit diesem riesigen Netz über mir verbunden zu sein, diesem Schild, der alles auffing, selbst wenn er nicht um mich selbst gespannt war, sondern nur alle Angriffe von mir ableiten würde. Ich ahnte zwar nicht, wie die Drei mich angreifen würden, aber ich hoffte, dass der Schild mich dennoch schützen würde, bis ich meinen letzten Zauber gewirkt haben würde.
Das Dunkel im Inneren des Tempels war jetzt leer. Es interessierte mich nicht, ob die Plünderer tatsächlich die Stadt verlassen hatten oder nicht. Tatsächlich hatten sie noch nicht einmal die Nähe des Tempels verlassen, auch wenn ich das jetzt noch nicht wusste. Erst später sollte ich das herausfinden.

Ich ging noch einmal zu Sobekans Grab und kniete mich vor den Stamm des Baumes, der über mir seine Krone an den Buchturm der Stillen Götter lehnte.
„Ach Sobekan“, seufzte ich. „Wenn Du doch noch am Leben wärst. Du könntest mir viele Fragen beantworten. Du wusstest so viel mehr als ich über die Zauberei und die Kraft. Aber wie die meisten, die mich unterstützten, bist Du nicht mehr am Leben.“
Und dort, unter dem Baum, bereitete ich mich auf meinen dritten Zauber vor, der nichts anderes war als das, was mir Terno und Sobekan geraten hatten: Die Änderung aller Regeln, den Umsturz allen, was ich bislang bei meiner Wahrnehmung der Zauberei gespürt und gelernt hatte. Und obwohl ich nicht sagen hätte können warum, wusste ich doch, dass ich es schaffen konnte. Ich war aus dem Urgrund der Magie geboren, mit der Kraft von vier Jenseitigen erschaffen als Kanal für die reine, ungebundene Kraft, wenn jemand das schaffen konnte, was ich erreichen wollte, dann war ich das.
Remde, dessen Kraft nicht seine eigene war und von den Dreien kontrolliert wurde, wäre dazu nicht in der Lage gewesen. Hätten sich Rubin, Saphior und Korund zusammengetan, sie hätten es vielleicht schaffen können, doch wenn ich die Trennung der Welten erst einmal aufgehoben hätte, wären nicht einmal sie in der Lage gewesen, den Spalt wieder zu schließen. So dachte ich.

Ich schloss meine Augen und tastete mit meiner Wahrnehmung nach der Grenze der Wirklichkeit. Ich fühlte es sogleich und spürte auch, dass es sich von dem unterschied, was ich selbst geschaffen hatte. Mein eigenes Gewebe war nur ein dünner Schleier, der aus Kraft bestand und nicht aus der Welt selbst. Ich griff mit meinem Geist nach dem, was wirklich war, und konzentrierte mich auf das, was dahinter lag, zwang meinen Geist durch die dünne Wand, und ich fühlte zwar einen Widerstand, doch mit meiner machtvollen Verbindung zur Quelle der Ströme der Kraft und des Lebens, die direkt durch diese Membran auf mich zuströmten, fiel es mir leicht, einen Spalt zu finden, den ich erweitern konnte.
Als ich die Augen öffnete, sah ich, dass sich nicht nur mein Geist, sondern auch meine Hand durch die Realität gebohrt hatte. Mitten in der Luft vor mir hatte ich meine Hand in einen schmalen Spalt gezwängt, aus dem heraus es düster leuchtete, wie ein Fehlen von Licht und Wärme, das nicht schwarz war, wie die Nacht schwarz ist, sondern in dunklem Rot pulsierte, wie wenn man durch geschlossene Lider ins Licht sieht. Und tatsächlich lief auch ein einzelner schwarzer Tropfen einer Flüssigkeit an meinem Arm herunter, und wo er meine Haut innerhalb der Wirklichkeit berührte, verbrannte er mein Fleisch.

Plötzlich wurde mir die Gefahr meines Plans wirklich bewusst, denn wenn ich plante, die Ströme in diese Welt zu holen, dann würde tatsächlich alles vernichtet werden, was mit ihnen in Kontakt geriet. Andererseits hatte ich genau das geplant, und es sollte eine Falle für die Drei werden, die in ihren von ihrer Kraft geschaffenen Körpern nicht im Stande sein würden, der reinen Kraft zu widerstehen. Sie würden ebenso verzehrt werden wie ich, doch die Welt würde anders sein danach und sie würde frei sein von den Einmischungen jener, die nach einer Herrschaft über eine Welt suchten, die ihnen nicht gehörte und sie, wenn sie jemals ehrlich gewesen wären, auch gar nicht interessierte.

Ich schloss meine Augen wieder und besah mir das Gewebe der Realität erneut. Das geflochtene Muster erinnerte mich stark an mein Werk, und wie dieses sich unter meiner Führung ganz leicht und wie von selbst in seine neue Form hatte bringen lassen, so zerfiel auch das Gewebe der Realität unter meiner Berührung bereitwillig und gab eine breite Öffnung frei, die groß genug war, um ein kleines Kind bequem hindurchschleusen zu können. Ich zog weiter vorsichtig an den Fäden und schnell hatte sich die Öffnung erweitert, dass ein großes Kind, bald ein Junge von Bamars Größe, bald ein Mann von Antejars Statur hindurchgepasst hätte. Als ich die Augen wieder öffnete, hatte ich direkt neben dem Buchturm einen Riss in der Wirklichkeit geöffnet, hinter dem form- und wesenlos das dunkle Licht pulsierte und strömte, sich immer wieder zu fast erkennbaren Formen zusammenballte und wieder auseinander driftete. Ich stand nicht länger in direkter körperlicher Berührung mit der anderen Welt, auch wenn weiterhin an den Rändern die seltsame Flüssigkeit in die Wirklichkeit sickerte. An meiner Hand hatte der Tropfen eine rot brennende Narbe hinterlassen, die zu heilen ich mich aber nicht genötigt sah. Weder hätte ich dafür Kraft aufwenden wollen, wo ich mich schon darauf konzentrieren musste, den Schild an mir zu halten und gleichzeitig den Riss in der Welt nicht noch größer werden zu lassen. Außerdem sah ich nicht, warum ich einen Körper heilen sollte, der ohnehin innerhalb der nächsten Stunden vernichtet werden würde.

Denn damit rechnete ich. Ich hatte Remde einen Zeitrahmen von zwei Tagen genannt, damit die Drei wissen würden, dass sie bald, am besten sofort zuschlagen mussten. Ich wusste, dass sie, hätte es in ihrer Macht gestanden, mich gleich angegriffen hätten, doch durch meine Anwesenheit im Inneren Kreis konnten sie das nicht. Ich musste also warten, dass sie zu mir kamen, und ich wusste, sie würden kommen, sie würden bald kommen, und sie würden nicht erwarten, dass ich ihnen eine Falle gestellt hatte, der nicht einmal sie entkommen würden können.

Und tatsächlich kamen sie bald. Angeführt von Remde näherten sie sich dem Tempel der Stillen Götter. Als sie nahe genug waren, um mich zu sehen, ließen sie Remde zurück und liefen auf mich zu. Ihre Körper waren anders als beim letzten Mal, und sie sahen angestrengter aus, ihre Erscheinungen waren gröber und gleichzeitig auf befremdende Weise falsch proportioniert. Die Augen zu groß, die Münder zu breit, die Arme lang und die Beine zu kurz. Sie hatten nichts mehr von den überirdisch schönen Wesen, als die sie den Dorfbewohnern vor so langer Zeit erschienen waren, und mir wurde klar, dass die Erscheinung damals ein Werk ihrer Magie gewesen war. Sie hatten sich den Erwartungen der Dorfbewohner an übermächtige Wesen angepasst und es nicht gewagt, sich in ihrer eigenen Vorstellung von Macht zu präsentieren. Obwohl die Situation, in der ich mich befand, recht kritisch war, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen, und auch das tat eine gute Wirkung bei den Dreien, die nun, da sie sahen, was ich getan hatte, langsamer wurden und sich nur mit vorsichtigen Schritten näherten.

„Was hast Du getan?“
„Warum lächelst Du?“
„Wir haben Deinen Plan durchkreuzt. Unser Bote hat Dich verraten!“
„Nichts habt Ihr durchkreuzt. Er hat meinen Auftrag genau so ausgeführt, wie ich es wollte.“
Der Blaue wandte sich an Remde, der nun auch endlich angekommen war: „Hast Du uns hintergangen?“
„Nein, Herr, sie hat mir gesagt, sie wollte einen Zauber wirken, Euch zu ihr zu bringen, einen Zauber, dem ihr Euch nicht würdet entziehen können. Ich empfand es als meine Pflicht, Euch zu warnen, Herr.“
Fast hatte ich Mitleid mit Remde, dem offensichtlich gerade aufgefallen war, was er gesagt hatte.
„Wie gesagt: Remde hat seine Rolle gut gespielt. Und ob ich wirklich plante, einen Zauber zu wirken, der Euch zu mir bringt, oder nicht, ist relativ egal, denn hier seid Ihr. Man könnte fast sagen, der Zauber hieße Neugier, sei eine Finte, und Ihr darauf hereingefallen.“
„Scherze ruhig, es wird das letzte sein, was Du tun wirst.“
„Davon gehe ich nicht aus. Meine letzte Tat wird Eure Vernichtung, nicht Eure Verspottung zum Ziel haben. Ich werde Euch antun, was Ihr mir antun wolltet. Ich werde Euch Eure Kraft, Eure Unsterblichkeit, Euch Euer Wesen nehmen. Ich werde Euch zu dem machen, was Ihr zu sein verdient: weniger als die Sterblichen, geringer als sie, schwächer als sie. Ich werde Eure Welt mit dieser Welt verschmelzen, und es gibt nichts, das ihr dagegen tun könnt.“
„Närrin!“
„Du weißt nicht, was Du tust.“
„Oh Doch, ich weiß, was ich tue, und ich weiß, dass ihr versteht, dass ich nicht scherze. Ihr seht den Riss in der Welt vor Euch, und ihr wisst, dass das, was ihr seht, Eure Welt ist. Sie steht den Menschen offen, und die Welt der Menschen steht ihr offen. eine erste direkte Verbindung ist geschaffen und der Riss ist schon zu groß, um sich noch schließen zu lassen.“
Ich tippte weitere Fäden der Realität an, und der Riss verbreiterte sich schnell, als die Fäden sich zurückzogen und das Gewebe sich löste. Ich sah Schrecken in den Gesichtern von Dreien, doch es war auch Remde, der mich entgeistert ansah, und Korund, die mich mit Hohn im Blick ansah.
„Du bist eine größere Närrin, als wir es von Dir gedacht hätten. Es war immer unser Plan, die Welten miteinander zu verbinden. Genau dafür wurdest Du geschaffen. Und auch darum fällt es Dir so leicht, die Verbindungen zu trennen. Ob Du es willst oder nicht, Du entsprichst immer unseren Wünschen, denn du bist nach ihnen geschaffen und geben Dir dein Schicksal vor.“
„Nicht ganz. Ihr habt mich als fehlerhaftes Werkzeug geschaffen, es waren Deine eigenen Worte, du erinnerst Dich daran. Ich bin nicht vollständig, erst seit ich in Eurer Welt war, habe ich gelernt, mich mit ihr zu verbinden. Ich habe selbst getan, was Euch nicht gelang, weil Ihr dumm und arrogant wart. Ich selbst habe die Wirklichkeit vor dem Schatten gerettet, der mir folgt.“
„Geschwätz! Du bist ein unwissendes Kind, das …“ begann Korund, doch ich hatte keine Lust mehr, mich von ihr unterbrechen zu lassen.
„Und so, wie ich den Schatten aufgehalten habe, kann ich ihn auch wieder rufen.“
Zum ersten Mal wich auch in Korunds Gesicht das überbordende Selbstbewusstsein, das sie bislang ausgestrahlt hatte. „Das kannst Du nicht.“
„Und wie ich das kann. Ich bin Herrin über mein eigenes Schicksal. Ihr seid nicht mehr als Wegbereiter. Und wie so viele, die mich auf meinem Weg begleiteten, seid Ihr dem Untergang geweiht.“
Und dann wob ich den vierten Zauber.

36 | Der Zweite von fünf

Yelda
November 30, 2010

Es war Zeit für den zweiten Zauber. Ich machte mich auf den Weg in den Inneren Kreis. Ich wusste, dass weder Remde noch die Drei noch irgendjemand sonst sich einfach innerhalb der Mauern materialisieren konnte. Ich hatte die Kraftfäden eindeutig gesehen, ich wusste, dass sie keine magische Bewegung zuließen. Ich würde die Drei sehen, wenn sie sich näherten, und außerhalb musste ich die Begrenzung der Mauern nutzen. Im Zentrum des Mauerrings stand der Tempel der Stillen Götter und natürlich der Buchturm, den ich an diesem Tag das erste Mal betrat.
Ich spürte, dass ich dort finden würde, was ich brauchte, auch wenn ich nicht wusste, was es war. Erst später war mir klar, dass es die Quelle war, die den Teich speiste, doch zunächst war nur wichtig, dass ich wusste, wo ich meinen Zauber weben musste.

Als ich in den Schatten des Portals trat, erkannte ich Menschen, die im Inneren umherschlichen. Es war dunkel im Tempel, doch ich konnte gut erkennen, dass es sich nicht um Diener von Göttern handelte, denn jene hätten sich nicht verstohlen umgesehen, bevor sie Edelsteine aus Fassungen schlugen oder Wandbehänge herunterrissen. Ich wusste zwar nichts vom Dienst an den Göttern, aber selbst mir war klar, dass das, wovon ich gerade Zeuge wurde, nicht die übliche Praxis war.
„He!“ rief ich und erkannte an den Reaktionen der Menschen rasch, dass sie nicht damit gerechnet hatten, bei dem beobachtet zu werden, was sie gerade taten. „Verschwindet von hier. Ihr habt nichts hier verloren, es sei denn Ihr plant, Eure Leben hier zu verlieren.“
„Was willst Du?“
„Warnen will ich Euch, dass Ihr, wenn Ihr nicht verschwindet wie alle andere Menschen der Stadt – und zwar jetzt gleich und ohne Euer Diebesgut –  ihr von der Vernichtung dieser Stadt ebenso anheimfallen werdet wie alles, was sich innerhalb der Mauern befindet.“

„Uns die Beute streitig machen, das willst Du!“ sagte einer der Gruppe, ein langer, aber nicht großer Mann, dessen graue Haare ihm strähnig bis auf den Rücken fielen. „Wir machen, was wir wollen, und wenn alle weglaufen, ist das für uns noch kein Grund, das ebenso zu tun.“
„Ich habe Euch gewarnt. Ich werde Euch aber nicht bestrafen. Es ist Eure letzte Gelegenheit, die Stadt zu verlassen, bevor Euch der Schatten, der sich über die Stadt legen wird, hinausdrängt.“
Aber der Mann lachte nur, und seine Kumpane stimmten in sein Lachen ein.
„Die Hübsche will sich uns vielleicht aufdrängen?“ fragte ein anderer der Männer und grinste mich an. „Bist ein hübsches Ding, kannst uns wärmen in der Dunkelheit!“
„Wag es nicht, mich anzufassen. Der letzte, der das versucht hat, hat es nicht überlebt.“ Ich ging an ihm vorbei und etwas in meinen Worten oder meiner Ausstrahlung ließ ihn in der Bewegung innehalten.
Ich ließ die Gruppe der Männer hinter mir und ging unter gesichtslosen Statuen weiter dahin, wo ich den Zugang zum Buchturm vermutete.

Die Stufen waren alt und ausgetreten, und es hätte mich nicht gewundert, wenn auch sie älter gewesen wären als der Rest der Stadt. Wie ich später erkannte, war der Turm tatsächlich aus dem gleichen Stein wie die Innere Mauer und auch er schien direkt aus dem Erdboden herauszuwachsen. Das gleiche traf auf den Turm des Todes und den der Inneren Wache zu. Sie waren alle drei uralt und von unzähligen Generationen der Menschen umgestaltet und umgenutzt worden.
An jenem Tag aber fiel mir nur auf, wie ausgewetzt die Stufen waren und wie sich die Stufen in ihrer Höhe von der anderer Stufen, selbst im Tempel der Stillen Götter, unterschied.
Die kreisförmig angeordneten Stufen schraubten sich aus der Tiefe hinauf auf eine Aussichtsplattform, die alle anderen Orte in der Stadt überragte, da auch der Felsen am Fuß des Turms schon höher war als die anderen Stellen im Inneren Kreis. Von der Aussichtsplattform konnte ich die anderen Türme der Inneren Stadt sehen und sogar bis auf die andere Seite der Brücken, die Tharb mit der Ebene auf der anderen Seite des Flusses verband. Dort bewegten sich viele Menschen und auch viele Boote waren flussabwärts unterwegs. Das beruhigte mich, denn das hieß, dass viele meine Nachricht nicht nur verstanden, sondern auch gleich entsprechend gehandelt hatten. Es stimmte mich zudem zuversichtlich, dass meine Wahrnehmung der Kraftfäden mich nicht getäuscht hatte. Ich brauchte sie nämlich für meinen zweiten Zauber noch dringender als für den ersten.

Ich erinnerte mich an die Übung, die mich Sobekan gelehrt hatte: ich verließ meinen Körper und stellte mir vor, wie mein Wesen sich mit allen Fäden der Kraft verbände. Nach und nach wuchsen einzelne Fäden in die Höhe und da, wo sie mich fast berührten, griffen sie nach mir, banden sich an mich und aneinander, knüpften durch mich hindurch ein Netz, dessen Fixpunkt ich wurde. Ich war erstaunt, wie einfach das ging, auch wenn es nur wenige Fäden waren, die sich mit mir verbanden, doch waren sie schon genug, um eine Kettenreaktion innerhalb der Verbindung der Fäden untereinander zu bewirken. Wie sich die Fäden in mir verbunden hatten, strebten sie auch außerhalb meines Wesens aufeinander zu und verwoben kreuz und quer durch und über der Inneren Stadt miteinander, bildeten nach und nach immer mehr immer dichter werdende Netze aus hell schimmernden Fasern, die sich ausbreiteten und sich einander zuwandten und schließlich, wo sie aneinander grenzten, sich miteinander verflochten. Mit den Zentren der Netze verband ich mich selbst, so dass ich schließlich in einem schimmernden Kokon aus Fasern wie eine Spinne in ihrem Netz saß.
Ich war erstaunt, wie einfach es ging. Es war fast, als hätten die Ströme der Kraft nur darauf gewartet, verbunden zu werden, denn ich hatte nur einen kurzen Anreiz geben müssen und fast von selbst, und ohne dass ich noch viel hätte nachhelfen müssen, hatte sich der Himmel über mir geschlossen. Ich hatte ein Werk geschaffen, das ich nicht aufrecht erhalten musste, denn es speiste sich selbst aus der Quelle der Kraft. Es war fast, als hätte ich die Arbeit eines anderen weitergeführt, als hätte es genau so schon immer sein müssen. Oder, dieser Gedanke kam mir erst sehr spät, als hätte es hier schon immer so etwas gegeben, bis ein wie auch immer geartetes Ereignis diese natürliche Ordnung zerstört hätte, und sich der Schirm nicht wieder eigenständig hätte regenerieren können.
Und als ich mit meiner Wahrnehmung an dem Netz entlangstrich, fühlte es sich nicht anders an als es die Mauer getan hatte. Wäre es sichtbar gewesen, das Netz hätte sich mit der Mauer zu einer hell schimmernden Kuppel vereinigt, dessen hellstrahlende Säulen die drei ältesten Türme der Inneren Stadt waren, denn auch von den anderen beiden Türmen stiegen helle Strahlen bis zu der Kuppel auf.
Ich hatte den Boden bereitet. Die Kuppel würde verhindern, dass die Jenseitigen einfach in der Inneren Stadt erscheinen und wieder verschwinden konnten. Die Innere Stadt war der Ort, an dem ich sie besiegen wollte und musste und konnte, und egal, was sie mir entgegenwerfen würden: die Innere Stadt von Tharb würde auf immer ihr Gefängnis werden.

35 | Der Erste von fünf

Yelda
November 30, 2010

Tatsächlich hatte mein Plan darin bestanden, Remde als Boten zu benutzen. Ich war froh, dass er diese Rolle so bereitwillig annahm, ohne zu wissen, dass er am Ende auch von mir als Werkzeug benutzt wurde. Aber er hatte mir ja selbst geraten, ihm nicht zu trauen.
Zunächst hatte ich befürchtet, er könnte mich angreifen wollen, um mir meine Kraft zu rauben und dadurch von Saphir, Rubin und Korund unabhängig werden zu können. Ich war mir aber sicher, dass er mir nicht geglaubt hatte, dass ich mich selbst in der Lage sah, über die Drei zu triumphieren. Mir konnte das gleich sein, das Wichtigste war geschehen, denn entweder als meinen Verbündeten oder als meinen Gegner hatte ich Remde in die jenseitige Welt schicken wollen. Ich glaubte nicht, dass er bei einem Angriff der Drei auf mich teilnehmen würde, im Gegenteil würde er das gleiche tun wie Mandu und all seine Magie nutzen, um sich zu verstecken, denn das war Mandus Spezialität gewesen und ich bezweifelte, dass Remde dies nicht ausnützen würde, wenn es ihm genug Zeit schenkte, vielleicht die Kraft anderer Jenseitiger aufzunehmen.

Zunächst aber würde er die Drei von sich ablenken und auf mich hetzen. Ich war mir nicht sicher, wie viel Zeit ich haben würde, darum wob ich den ersten meiner letzten fünf Zauber. Ich konzentrierte mich auf die Ströme von Kraft und Leben, und dieses Mal war es das erste Mal, dass ich sie in ihrer vollen Stärke in und um Tharb sah. Vorher hatte meine unvollständige Verbindung mit der Quelle meine Wahrnehmung gestört, jetzt aber, da ich erkannte, wie tief meine eigene Kraft reichte, und wo sie an die Grenzen der Wirklichkeit und darüber hinaus reichte, erkannte ich, dass der Felsen unter der Stadt, unter der Erde und allem Boden so unglaublich tief reichte, dass ich sein Ende nicht erfassen konnte. Als ich den Wurzeln der Kraft nachfühlte, erkannte ich viele hundert Kraftfäden, die wie der Fels selbst aus dem Boden kamen und sich in einem weiten Kreis um den Inneren Kreis von Tharb verflochten, an der selben Stelle, an der der Mauerkranz die Stadtteile voneinander trennte. Und ich spürte, dass es dort sein musste, dass ich dort sein musste, wenn ich den Dreien begegnete. Gleichzeitig aber wusste ich, dass ich die Kraft nutzen könnte, dass ich sie auch nutzen musste, wenn ich Erfolg haben wollte.
Und ich nutzte sie für alle meine fünf Zauber. Ich verband mich mit den Fäden und spürte auch, wie sie auf mich reagierten. Wie Blumen und Blüten sich nach der Sonne ausrichten, die über ihnen ihre Bahn zieht, so streckten auch all jene, die mit den Fäden in Berührung standen, ihr Bewusstsein nach mir aus, und sie konnten hören, was ich ihnen auftrug: „Verlasst die Stadt, denn ein Unheil zieht auf, eine Schlacht zwischen Hell und Dunkel, und es wird kein Überleben geben in diesem Kampf für jene, die menschlich sind. Verlasst die Stadt und nehmt alle mit, die Ihr liebt und um deren Wohl Ihr Euch sorgt. Verlasst die Stadt und flieht am Fluss entlang zu seiner Mündung. Verlasst die Stadt, denn die Stadt geht unter.“ Mit an diese Botschaft knüpfte ich die überzeugende Erkenntnis, dass die Zeichen eindeutig waren, dass mein Erwachen im Todesturm ein Zeichen gewesen war und der Kampf gegen Remde ein weiteres.  Ich wusste nicht, ob tatsächlich alle dieser Botschaft folgen würden, doch ich wusste, dass genügend Menschen in der Nähe gewesen waren, als ich gegen Remde gekämpft hatte. Sie würden ebenfalls die Nachricht weitergeben, dass ein Kampf stattgefunden hatte. Ich wusste nicht, wie viel Zeit ich haben würde, ich wusste auch nicht, was ich tun konnte, um möglichst wenig Menschen zu verletzen, doch andererseits wusste ich auch, dass ich keine andere Wahl hatte. Ich musste die Drei und neben ihnen auch alle anderen Jenseitigen ihrer Stärke entheben, ich musste verhindern, dass sie, selbst wenn sie mich besiegten, die Herrschaft über die Menschen übernehmen würden. Ich wusste, sie würden es können, wenn sie erst einmal Remdes Vorschläge für mich erkennen würden.

Ich blickte mich um. Der Platz, an dem ich stand, war übersät von den Spuren des Kampfes zwischen mir uns Remde. Ich suchte nach einer Spur von Baneh, dessen Körper in Flammen und Rauch aufgegangen war, doch ich fand nichts. Für einen Moment überwältigt vor Trauer stand ich nur da und ließ die Tränen, die ich seit seinem Tod zurückgehalten hatte, endlich über mein Gesicht rollen. Ich erinnerte mich an Antejars Worte: dass im Krieg Menschen starben, die mit dem eigentlichen Kriegsgrund, mit den Zielen derjenigen, die den Kampf begonnen haben, eigentlich nichts zu tun haben, außer dass sie zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort waren. Baneh war eindeutig ein solches Opfer, denn er hatte mich nur verteidigen wollen in einer Situation, die mit ihm überhaupt nichts zu tun hatte.
Ich dachte an Bamar, der seinen Bruder, kaum dass er aus seiner Geistesstarre erwacht war, schon verloren hatte. Ich hoffte, dass er irgendwann die Kraft finden würde, mir und seinem Bruder dessen Tod zu vergeben. Bis dahin aber blieb mir nichts anderes als hoffen.
Und dann spürte ich eine Bewegung in den Kraftfäden des Felsens. Stimmen und Worte, Gedanken und Rufe nahm ich war, und als ich genauer hinhörte, ein vielstimmiges Gewirr, dessen Grundgedanke nur ein einziger war: Wir haben verstanden. Wir werden die Stadt verlassen.

34 | Remdes Wandlung

Yelda
November 30, 2010

Undeutlich erinnere ich mich daran, wie Antejar Bamar fortbrachte. Der Junge weinte und schrie und schlug nach dem Schiffahrer, der ihn aber ohne Zögern mit sich hinwegnahm. Als ich Antejar lange Zeit danach wiedersah, berichtete er mir, wie schrecklich es für Bamar danach geworden war, wie unverständlich es für ihn war, dass sein Bruder sich eingemischt hatte, und dass sein Platz immer an Bamars Seite hätte sein müssen. Er, Antejar selbst, habe sich in den folgenden Jahren abwechselnd Vorwürfe gemacht und sich von ihnen freigesprochen. Nie habe er den Jungen festhalten können, er habe nicht mehr damit rechnen können, dass Baneh sich in unseren Kampf einmsichen würde.
Ich versuchte, ihn zu beruhigen, doch fielen mir nur wenige Worte ein, die ich ihm hatte sagen können. Es sei nicht seine Schuld, er könne sich die Verantwortung dafür nicht geben. Der einzige, der wirklich verantwortlich für Banehs Tod war, war Remde. Niemand, nicht einmal ich, die ich nur den Bruchteil eines Augenblicks vorher gespürt hatte, dass Remde Magie gegen den Jungen einsetzen würde, hatte noch etwas tun können.
Bamar sah ich nie wieder. Antejar berichtete mir, dass er zwar mit dem Schiffahrer noch viel herumgereist war, doch irgendwann habe ihn die Erinnerung an seinen Bruder, die er für immer mit Antejar verknüpfte, nicht mehr ertragen können, und sei weiter nach Norden gegangen. Später habe ihn noch einmal eine Nachricht von Bamar erreicht, in der er schrieb, es gehe ihm besser, er arbeite wie Antejar als Bootsführer für den Herrscher des Landes, in dem er lebe. Ich habe nie versucht ihn zu finden, denn ich ahnte, dass er nicht glücklich über meinen Besuch gewesen wäre.

Ich war wie betäubt. Remde hatte vor meinen Augen einen Menschen getötet. Und nicht nur irgendeinen Jungen, sondern Baneh, der mir vertraut hatte. Baneh, der langsame, aber herzensgute Junge, der sein ganzes Leben seinem Bruder gewidmet hatte, und der jetzt erst ansatzweise frei zu werden begann, hatte seine Treue und seine Freundschaft zu mir mit dem Leben bezahlt. Remde hatte ihn getötet, ein Mann, den ich meinen Freund genannt hatte, und der mich offen in Gegenwart des Jungen bedroht hatte. Und ich hatte nichts getan, um ihn zu retten. Alles was ich jetzt noch tun konnte, war ihn rächen.

Doch als ich Remde ansah, als ich seinen Blick sah, der so ungläubig, so entsetzt aussah, erinnerte ich mich an den Ekel, an den Selbsthass, den er verspürt hatte, als er Mandu vernichtet hatte.
„Ich wollte das nicht.“ Remdes Worte waren leise, kaum zu hören, doch die Stille, die uns umgab war so vollständig, dass ich ihn gut verstand. Und ich verstand auch, dass es wirklich nicht in Remdes Absicht gewesen war, Baneh zu verletzen. „Ich wollte das nicht.“
„Ich verstehe, dass Du es nicht wolltest.“
„Ich wollte doch nur, dass er aufhört. Ich habe die Kontrolle verloren.“
„Ach, Remde.“ Das war alles, was ich sagen konnte, denn eigentlich wollte ich ihn anschreien und meine Wut und meine Angst und meinen Schock und meinen Verlust einfach herausbrüllen, obwohl ich wusste, dass es nicht nur nichts mehr daran ändern würde, dass Baneh unwiederbringlich verloren war, sondern dass es vielleicht alles noch schlimmer gemacht hätte.
„Ach, Yelda. Es ist alles wahr. Sie haben mich benutzt! Sie haben mich zu ihrem Werkzeug gemacht, das nur eines kann: töten und vernichten. Ich bin das, was sie von Dir erwarteten: eine Waffe, die sie gegen ihre Feinde einsetzen könnten.“
Ich kniete mich neben ihn und wollte meine Hand auf seine legen, doch er wehrte mich ab.
„Du solltest mir nicht vertrauen. Ich würde es auch nicht tun. Ich habe nur begrenzt Kontrolle über meine Kraft. Sie haben mir nicht alles verraten, sie haben mir gesagt, ich müsste Deine Kraft an mich nehmen, um meine …“ Er machte eine Pause, in der er seine Hände auf sein Gesicht drückte.
Er hatte recht, das wusste ich, wenn er mich warnte, mich ihm zu nähern ohne vorsichtig zu sein. Also legte ich einen Schild um mich, der alles, was er gegen mich richten konnte, auf ihn zurück würfe.
„Ich müsste Deine Kraft an mich nehmen, um Mandus Kraft vollständig zu meistern. Ich habe ihre Kraft an mich genommen, aber ich habe auch ihre Erinnerungen. natürlich wusste ich, dass sie geflohen ist, ich wusste, dass sie eine Verfolgte war und ich verstand auch endlich ihre Motive, als sie Dich sterblich machen wollte.“
„Mandu hatte Angst.“
„Ja. Sie hatte Angst, und Du solltest sie auch haben. Die Drei sind entschlossen, Dich zu vernichten, sie werden nicht eher ruhen, bis sie ihr Ziel erreicht haben.“
„Wir können sie besiegen.“
„Nein. Keiner kann sie besiegen. Sie sind drei der mächtigsten Jenseitigen. Smaragd, den Du als Terno kennst, war mächtiger als sie es sind, und durch seinen Tod sind sie nur stärker geworden.“
„Sie haben ihn nicht besiegt, weil sie stärker gewesen wären als er. Terno hat sich geopfert, um mich zu retten.“
Remde blickte auf. Überraschung überzog sein Gesicht. „Hat er das wirklich?“
„Er hat mir einen Teil seiner Kraft gegeben, damit ich wieder in die wirkliche Welt zurückkehren kann.“
„Wenn das stimmt, dann könnte es sein, dass sie doch besiegbar sind.“
„Das sind sie. Warum sonst haben sie mich wohl nicht angegriffen, seit ich wieder in dieser Welt bin? Ich bin ein leichtes Ziel, so wie Du mich gefunden hast, könnten auch sie mich finden. Sie haben Angst vor mir. Sie wissen, dass ich sie in dieser Welt so sehr schwächen kann, dass sie nicht mehr in der jenseitigen Welt Stärke finden könnten.“
„Wie sicher bist Du Dir damit?“
„Sehr. Ich erkenne die beiden Welten besser, seit ich in beiden verankert bin. Ich habe durch den Kampf mit Rubin, Saphir und Korund meine Fähigkeiten besser verstanden und entwickelt. Sie können mir hier nicht mehr viel anhaben, denn da ich einen sterblichen Körper habe, bin ich hier stärker als sie, die einen Teil ihrer Kraft dafür aufwenden müssen, sich einen Körper zu erschaffen.“
„Aber wenn sie das wissen, wie willst Du sie dann besiegen? Sie würden sich nie wieder in Deine Reichweite begeben!“
Remde sah mich interessiert an, und ich musste zugeben: „Ich habe keine Ahnung, wie ich sie in diese Welt zwingen kann, und Du hast sicher recht, dass ich sie in ihrer Welt nicht besiegen kann.“
„Was also nun?“
„Ich habe einen Plan. Und dazu müssen sie nicht hier sein. Ich werde einfach die Spielregeln ändern. Ich weiß wie, ich weiß, was getan werden muss. Und ich muss nur noch wenig vorbereiten, damit ich meinen Plan umsetzen kann. In zwei Tagen bin ich bereit, die Existenz von Saphir, Rubin und Korund für immer zu beenden.“
„In zwei Tagen bereits?“ Remdes Augen verengten sich für einen Moment. „Was wirst Du tun?“
„Ich werde einen Zauber mit den anderen magisch begabten von Tharb wirken, der sie in diese Welt zwingt. Sie werden sich nicht wehren können.“
„Und dann willst Du sie besiegen?“
„Dann werde ich sie besiegen. Bist Du an meiner Seite?“ Ich hielt ihm meine Hand hin.
Doch er sagte: „Nein.“
Und er verschwand vor meinen Augen.

33 | Baneh, Bamar und Antejar

Yelda
November 30, 2010
Und dann ließ er ab von mir. Das plötzliche Fehlen seiner mich kurzzeitig überwältigenden Präsenz erzeugte eine Art Sog, die mir die Konzentration nahm und meinen Schild in sich zusammenbrechen ließ. Doch statt nun gänzlich von Remde besiegt zu werden, fiel er auf die Knie und starrte mich an. Tränen liefen über sein von den Flammen gezeichnetes Gesicht, und ich sah, dass er Schmerzen litt. Ich wusste, dass auch er die Bilder von Mandu gesehen hatte, aber auch die Bilder, die ich von der Welt hatte, die ich von meinem Kampf mit den Dreien hatte, die ich von Antejar, Bamar, Baneh, Sobekan hatte. Vor allem aber die Erinnerungen, die ich an ihn hatte. Ich hatte mich an meine Verwirrung bei unserer ersten Begegnung erinnert, an die endlosen Fragen, die ich ihm gestellt hatte, an meine lächerlichen Versuche, Verstehen zu zeigen, wo ich durch seine Erklärungen nur noch mehr irritiert war und neue Fragen sich in meinen Geist drängten. Er sah wie ich auch gesehen hatte, wie wir an Mandus Quelle saßen, sah meine Ohnmacht und meine Vision und sah, dass es meine Verbindung zu ihm gewesen war, die ich nicht als Liebe verstand, nicht verstehen konnte, die mich zu ihm geführt hatte, als das Dunkel ihn zu verschlingen drohte, und er musste erkennen, dass ich, obwohl ich unfähig gewesen war zu verstehen, dass ich ihn liebte, ihn doch geliebt hatte. Und es war diese Erkenntnis, die ihn zu Tränen und Reue rührten.

So fanden sie uns. Antejar, Bamar und Baneh, die sich solche Sorgen um mich gemacht hatten, weil sie seit Stunden auf mich gewartet hatten, hatten mich gesucht. Als sie einen Passanten anhielten, der von einer unerklärlichen Art Kampf berichtete, bei der überwiegend keine offensichtlichen Schläge ausgetauscht wurden, aber die gesamte Umgebung in Mitleidenschaft gezogen wurde, war ihnen schnell klar, dass sie schnellstens dorthin mussten.
„Yelda?“ Antejars Stimme über mir klang sorgenvoll und, als ich meine Augen öffnete, sah ich, dass sein aufmunterndes Lächeln nur unzureichend die Angst in seinem Blick verschleierte. „Yelda? Bist Du verletzt?“
„Antejar?“ Ich musste mich knozentrieren, um sprechen zu können. Die verstörenden Bilder aus Remdes Erinnerung lagen wie ein Film über allem. „Bamar? Baneh? Was macht Ihr hier?“
Baneh sagte: „Wir haben von dem Kampf gehört, und wollten Dir helfen!“
„Mir helfen? Wie wollt Ihr das tun? Es ist kein Kampf für jene, die nicht zaubern können.“
„Aber wir sind Deine Freunde“, sagte Bamar, und der Ton, in dem er das sagte, ließ mich trotz meiner Erschöpfung lächeln.
„Gerade weil Ihr meine Freunde seid, müsst Ihr fort von hier. Es ist nicht sicher hier für Euch, und Ihr könnt nichts tun.“
„Wir bringen Dich fort von hier.“
„Nein, Baneh, das wird nicht möglich sein.“ Ich wies auf Remde, der keine drei Schritte von uns entfernt am Boden kauerte und weinte.
„Ist das Terno?“ fragte Antejar.
„Nein, das ist Remde. Er ist ein alter Freund. Ich habe ihm viel zu verdanken, denn er hat mich damals im Wald gefunden.“
„Aber habt Ihr nicht gegeneinander gekämpft?“
Bamar sah sich die zerstörten Gebäude um uns an und sagte: „Ist es so gefährlich, mit Dir befreundet zu sein?“
Ich lächelte ihn an und sagte: „Manchmal entfernen sich Freunde so sehr voneinander, dass sie nicht mehr wissen, ob sie auf der gleichen Seite stehen. Und so wie Ihr aufgrund unserer Freundschaft gekommen seid, mir zu helfen, muss ich Remde helfen, sich wieder an sich selbst zu erinnern, wenn es noch nicht zu spät ist.“
„Dann wirst Du nicht mit uns kommen?“
„Nein Antejar. Ich kann nicht.“
„Dann bleiben wir bei Dir.“
„Das geht nicht. Es ist nicht sicher, das sagte ich doch schon. Ihr müsst fliehen, um unserer Freundschaft willen müsst Ihr mich verlassen.“
„Aber entfernen wir uns denn dann nicht auch voneinander?“
„Ja und nein. Antejar, Du verstehst, was ich meine, nicht wahr?“
„Ja. Ich verstehe es, und ich bin mir nicht sicher, ob ich gut finde, was Du vorhast. Und doch weiß ich, dass manchmal eine Aufgabe alleine erledigt werden muss. Ich habe einen Krieg hinter mir, ich weiß, was es bedeutet, eine Schlacht ohne Rücksicht auf sich selbst zu schlagen, wenn man die, die man liebt, dadurch retten kann.“
„Dann erkläre es den beiden bitte. Bring sie so weit weg wie möglich. Folgt dem Fluss an sein Ende und kehrt nicht mehr hierher zurück. Ich werde Euch folgen, so bald ich kann.“
„Ich kümmere mich um die beiden, versprochen.“
„Was heißt das?“ mischte sich Baneh ein.
„Das heißt, dass wir jetzt gehen, Junge.“
„Aber wir können doch nicht …“
„Wir können und wir müssen. Komm jetzt.“
„Bitte Baneh, vertrau mir. Ich will nicht, dass Ihr verletzt werdet.“
Ein freudloses Lachen machte mich wieder auf Remde aufmerksam, der nicht mehr auf dem Boden kauerte. Er war aufgestanden, seine Augen noch verquollen, aber nicht mehr traurig. „Du magst diesen Satz, nicht wahr?“
„Remde? Ich sage nur die Wahrheit. Ich will niemanden verletzen.“
„Als ob Du nicht wüsstest, dass Du genau das doch am besten kannst.“
„Was meinst Du?“
„Was ich meine? Dass Du in Kauf nimmst, dass die, die Du Deine Freunde nennst, umkommen. Statt sie selbst zu beschützen, verlässt Du sie unter dem Vorwand, sie damit schützen zu wollen. Dabei entfernst Du sie doch nur aus Deinem Einflussbereich, damit Du Dich besser verstecken kannst. Du stößt die Menschen von Dir wie lästige Tiere.“
„Remde, das ist nicht wahr und Du weißt es.“
„Ist es denn nicht wahr, dass Du mich verlassen hast, kurz bevor die Jenseitigen mein Dorf zerstörten?“
„Geht“, sagte ich zu Antejar und den Brüdern. „Verschwindet.“
„Ja, schick sie nur fort, damit sie nicht die Wahrheit über Dich erfahren.“
„Sie sollen verschwinden, damit ihnen nicht das Gleiche geschieht wie Dir. Du hast recht, dass die Menschen, die mir nahe sind, viel zu oft zu Schaden kommen. Aber nicht, weil ich das will, sondern, weil ich ein zu deutliches Ziel abgebe.“
„Nein, weil Du die Schläge, die Dich treffen sollen, auf andere ablenkst!“
„Geht! Bei den Göttern, geht!“ rief ich Antejar zu, und er zog sich zurück, jeden der Brüder an einer Hand. Zu Remde gewandt sagte ich: „Ich weiß, was in Dir vorgeht, Remde. Ich gebe zu, ich habe Dich und Dein Dorf verlassen, kurz bevor das Dunkel über Euch hereinbrach. Aber wäre ich nicht gegangen, wäre Dein Dorf vollständig verschwunden gewesen. Es wäre nichts weiter als ein schwarzer Fleck in der Landschaft gewesen.“
„Und was ist es jetzt? Alle Menschen, die ich kannte, sind tot. Mein gesamtes Leben ist auf einen Schlag ausgelöscht, Deinetwegen!“
„Aber Du lebst!“
Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Antejar fast weit genug weg war. Ich hoffte, er würde schnell genug mit den beiden Jungen vorankommen, um sich und sie zu retten.
„Ich lebe? Du weißt doch nicht einmal, was das heißt! Du hast doch keine Ahnung, was Leben ist und Leiden, was Liebe ist! Du bist doch nur eine Hülle, der Schatten eines Menschen!“
„Nimm das zurück!“ Ich hatte ihn nicht bemerkt, hatte nicht gesehen, wie er sich von Antejar losgerissen hatte, hatte nicht gesehen, wie er die Hände seines Bruders abgeschüttelt hatte, hatte nicht gesehen, wie er sich auf Remde gestürzt und ihn mit sich zu Boden gerissen hatte.
„Nimm das zurück! Nimm es zurück!“ Immer wieder schlug Baneh mit seinen Fäusten auf Remdes Kopf und seinen Oberkörper ein.
„Baneh! Nicht!“ rief ich, doch der Junge, der im Gerangel mit Remde nicht auf mich achtete, hörte mich nicht. Ich stürzte auf die beiden zu und sah aus den Augenwinkeln auch Antejar, der mit langen Schritten näherkam, doch wir beide kamen zu spät.
Ich spürte, wie Remdes Kraft sich Bahn brach und sich durch den Körper des Jungen entlud. Baneh wurde ein Stück in die Luft geworfen, und grüne Flammen umzüngelten ihn, bevor er sich in Staub auflöste. Remdes ungezügelte Kraft hatte Baneh vollständig verzehrt.
Baneh war tot.

32 | Der Riss im Schild

Yelda
November 30, 2010
Remde verfügte über mehr Macht, als ich gedacht hatte. Seine Zauber waren nur zu Beginn des Kampfes einfache Schläge gewesen, die selbst an meinem simplen Schild einfach abprallten. Ich spürte die Erschütterungen und auch die Macht, die nach unten in den Boden floss, wie das Wasser nach einem Regenguss einfach versickert. Doch nach und nach fühlte ich eine Veränderung in Remdes Schlägen, wie ein Gewitter, das sich zunächst nur durch Wind und leichten Regen angekündigt hat, nach und nach aufgeladener, kräftiger, aggressiver wird. Remdes Angriffe prallten nicht länger nur ab, sie knisterten über meinen Schild, überflossen ihn in alle Richtungen, als suchte Remde unter seinen Schlägen nach einer Schwachstelle in meiner Verteidigung. Mir wurde klar, dass Remde sehr viel erfahrenere Lehrer gehabt hatte als ich, und dass auch sie es gewesen sein mussten, die ihm zu der Finte der einfachen Angriffe geraten hatten. Das Ziel dahinter wurde mir klar: ich sollte, um einen langsamen Kampf zu vermeiden, Remde schnell, aber nicht tödlich überwinden oder es zumindest glauben, damit er mich dann im Nachgang noch besiegen könnte. Ich sollte meinen Schild für einen Angriff meinerseits fallen lassen. Dass ich es nicht getan hatte, erschien mir nun, da ich erkannte, wie gut er seine Kraft beherrschte, wie ein Segen.

„Sie haben Dich gut instruiert“, rief ich zwischen den Schlägen und hörte das Summen meines Schildes, das durch die darauf tanzenden Magieblitze erzeugt wurde.
„Ich wusste, Du würdest mich unterschätzen.“ Remde sah nicht angestrengt aus, als er gleichzeitig sprach und weiterhin seine Zauber auf mich warf. „So wie Du mich eigentlich ohnehin nie wirklich beachtet hast, wusste ich, dass Du mich auch diesmal nicht wirklich sehen würdest. Mir war klar, dass dies Deine größte Schwäche sein würde. Und es wird Dein Ende sein.“
„Also gibst Du es zu!“
„Dich töten zu wollen? Deine Kraft zu wollen? Natürlich gebe ich es zu.“ Er lachte. „Sie ist doch verschwendet bei Dir. Du verdienst nicht, was Du hast, Du weißt es ja nicht einmal richtig zu schätzen. Du weißt nicht, wie es ist, machtlos zu sein, schwach zu sein. Niemand, der so viel Kraft besitzt, sollte mit ihr so sparen, wie Du es tust.“
„Was sollte ich denn mit ihr machen?“
„Was denn nicht? Du könntest alles damit erreichen! Du könntest die Herrscherin über alle Menschen werden. Du kannst Reiche errichten und zerstören. Aber das weißt Du nicht, nicht wahr?“
„Was sollte das bringen? Was soll ich mit dem Leid von Menschen?“
„Du bist so edel. Kein Mensch, der über die Kraft verfügte, die Du besitzt, würde sich diese Frage stellen. Diese Kraft ist dazu geschaffen, dass man sie einsetzt.“
„Das ist nicht wahr!“ rief ich, doch am Rande meiner Wahrnehmung bemerkte ich etwas, ein Zittern in meinem Schild, eine Unregelmäßigkeit. Ich wollte meine Aufmerksamkeit dahin richten, doch dann lenkte mich Remde ab: „Du hast diese Kraft nicht verdient! Alles, was Du verdienst, ist der Tod!“
Ich war so schockiert von diesen Worten, die Remde, mein Remde, der mich gerettet hatte, und der mich geliebt hatte, aussprach und offensichtlich so meinte, dass ich einen Augenblick zu spät reagierte, und der Zauber, der knapp unterhalb meiner Wahrnehmung durch einen Spalt in meiner Verteidigung gedrungen war, mich treffen konnte. Ich wollte mich noch verteidigen, doch alles, was ich vermochte, war, die Kraft zu zerstreuen, die sich auf mich legte, und in meinen Geist eindrang. Mir wurde schlagartig klar, dass die ganzen ersten einfachen Angriffe, deren Kraft nur versickert war, in Wahrheit nur der erste Teil eines viel größeren Zaubers war, der mich jetzt zu überwältigen drohte. Ich spürte, wie ich später auch das Aufsteigen des Wassers unter dem Buchturm der Stillen Götter spürte, wie Remdes Kraft sich aus der Tiefe wieder nach oben arbeitete, wie ein steter Fluss aus Kraft durch den Spalt in meiner Verteidigung drang und von innen meinen Schild aufzubrechen drohte. Gleichzeitig überzog auch mich sein Zauber wie eine schillernde Haut, fesselte und lähmte mich und versuchte auch in meinen Geist einzudringen. Ich spürte Remdes Kraft auf meinem Wesen wie ich die Finger des Soldaten auf meinem Körper gefühlt hatte, doch ich wusste, dass ich diese Verletzung nicht würde heilen können, wenn ich sie zuließ. Ich wusste, dass Remde mir meine Kraft nehmen würde und nicht nur meinen Körper verletzen würde. Ich spürte seinen tastenden Geist und sah auf einmal die Bilder, die seine Erinnerung davon gemacht hatte, wie er Mandus Seele ausgeweidet hatte.

Mandu, die alte Frau, die eine der Jenseitigen gewesen war und die ihr Heil in der Flucht in die Wirklichkeit gesucht hatte. Ich sah noch weiter zurück, erkannte, was Remde in Mandu gesehen hatte, wie er sie schon lange vor meiner Ankunft im Dorf erst gefüchtet, dann bewundert, dann beneidet hatte, wie er in jungen Jahren einmal bei ihr gewesen war, als seine Schwester im Sterben lag. Sie, die weise Frau, die Uralte vom See, sollte helfen, und obwohl sie nicht gegen das Schicksal, das den Menschen auferlegt eingreifen konnte, so hatte sie es doch vermocht, die Familie ein letztes Mal zueinander zu führen und Remdes Schwester friedvoll einschlafen zu lassen. Remde war von Mandus Macht schon immer angezogen worden, wie ein Nachtfalter dem Mond zustrebt, und als dann später der Verlust Remdes Familie zerstörte, wünschte er sich oft, Mandus Macht zu haben und seine Schwester wieder zurückbringen zu können, damit seine Eltern sich nicht  über den Tod der Tochter gegenseitig zerstörten. Und so sah ich Remde in seiner eigenen Erinnerung am Ufer des Sees stehen und ins Dunkel über dem Wasser zu starren, doch all sein Flehen und seine Bitten wurden nicht erhört, weder von Mandu noch von den Göttern, an die zu glauben er sich immer weniger vorstellen konnte.
Und ich sah Mandu, als ich ihre Insel zerstört hatte, am selben Ufer sitzen und über das Wasser starren. Hinter ihr standen die Drei, Rubin, Saphir und Korund. Sie sprachen nicht, und doch war ihre Botschaft klar: Mandus Flucht habe ein Ende gefunden, sie könne sich nicht mehr, nie wieder verstecken. Sie, die sie mit den Menschen gelebt habe, müsse entweder ihre Macht freiwillig abgeben oder sie sich nehmen lassen. Und Mandu spottete, sie hatte nichts mehr zu verlieren, und sie wusste, dass die Drei mit ihrer Macht nichts anzufangen wüssten, denn sie war gebrochen und nichts an ihr konnte jenen noch etwas geben außer die Erinnerung an so viel Leben unter Menschen. Doch als Remde, dessen Verbrennungen vernarbt waren und dessen Körper gleichzeitig dünner und stärker schien, in ihr Blickfeld kam, erstarb das Lächeln auf ihrem Gesicht.
„Nicht er“, sagte sie, und doch konnte ich selbst noch in der Erinnerung, die mich streifte, erkennen, dass sie sich nicht mehr wehren würde. Sie wusste um die Unabwendbarkeit ihres Schicksals und darum, dass es keine Alternative gab. „Bitte“, sagte sie, die nie um etwas gebeten hatte, „nehmt meine Kraft selbst, lasst nicht ihn es tun.“
Doch Remde, den die Drei nicht nur körperlich geheilt hatten, sondern ihm auch genug Kraft gegeben hatten, Mandus Gegenwehr zu überwinden, und die ihm gezeigt hatten, wie er dem Wesen der Jenseitigen anhe genug kommen konnte, um ihnen ihre Stärke zu nehmen, griff nach ihrem Arm und nach ihrem Geist, drang wie durch die Oberfläche des Wassers durch den Spiegel ihres Bewusstseins und löste die Knoten, mit denen sie in sich verbunden war. Er zerrte gewaltsam an den Fäden ihrer Kraft und zerriss das Gewebe ihres Selbst, und ihr Selbst zerfloss in ihrem Geist, bis nur noch die Essenz ihrer Kraft in ihr blieb und Remde nahm sie in sich auf wie ein Verdurstender an der Quelle trinkt.
Es war beängstigend, dies in Remdes Erinnerung zu sehen und seine Wildheit zu spüren, seine Faszination über das, was er durchmachte, und gleichzeitig auch die Abscheu, die ihn ergriffen hatte, als er Mandu verschlang, und ich spürte den gleichen Selbstekel jetzt auch bei ihm, als er seine Kraft auf das Gewebe meines Selbst legte.

31 | Nochmals über Tharb

Yelda
November 30, 2010
Was Antejar mir über Tharb erzählt hatte und was ich später selbst aus den Aufzeichnungen im Buchturm der Stillen Götter erfuhr, waren alles nur Hinweise auf das, was Tharb und der Fels, auf dem die Stadt lag, tatsächlich darstellten. In meinen Jahren ohne Zahl in der Stadt der Drei Türme, wie sie von jenen, die ihre lebensbedrohliche Reise durch das versehrte Land nach Tharb überlebt hatten, genannt wurde, entdeckte ich mehr, viel mehr über den Ort, der so viele hundert Jahre meine Heimat werden sollte.

Als die Menschen die Stadt verließen, blieb ich zurück. Ich musste in Erfahrung bringen, was ich im Kampf gegen Remde gespürt hatte, was ich vielleicht auch geweckt hatte. Im Brunnen unter dem Turm erfuhr ich viel, denn das Wasser, in dem ich mir oft den Staub der sterbenden Straßen vom Körper wusch, entsprang nicht etwa einer vom Fluss gespeisten Grundwasserquelle, sondern arbeitete sich aus viel tieferem Grund empor, einem so tiefen Grund, dass er schon fast die Grenzen unserer Wirklichkeit berührte.
Und auch das erfuhr ich erst später: dass es neben unserer Wirklichkeit und der jenseitigen Welt noch viele andere Welten und Realitäten gibt, die alle ihre eigenen Regeln und Verbindungen zueinander finden. Ich habe niemals einen Weg in eine andere Welt als die jenseitige gefunden, habe allerdings nie wirklich danach gesucht. Auf meinen zahllosen Wanderungen durch die Verwüstung des Wilden Zaubers, den ich entfesselt hatte, spürte ich oft die Nähe einer anderen Welt, die Möglichkeit einer Passage, allein, es wäre mir unmöglich gewesen, denn meine Kraft hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon lange erschöpft. Ich hätte Kontakt zum Strom haben müssen, doch das blieb mir auf ewig verwehrt, nachdem ich Ternos Rat befolgt und alle Spielregeln geändert hatte.
Und auch nie strebte ein Wesen der anderen Welten in die Unsere, als wisse es, dass der Wilde Zauber es verzehren könnte, wie er alles verzehrte, was ihm zu nah kam. Ich dachte oft an Sobekan und daran, dass er die Stadt nicht mehr wiedererkennen würde, nicht mehr wissen würde, wie die Ruinen, die die kaum noch erkennbaren Straßen säumten, vor seiner Gefangenschaft und seinem Tod ausgesehen hatten. Ich verbrachte viel Zeit bei dem Baum, unter dem wir Sobekan begraben hatten, und dieser Baum, der niemals dem Schatten anheim fiel, der nach und nach alle Pflanzen und Tiere in und um Tharb versehrte, war mir oft Trost und Schutz. Er erinnerte mich an die Tage meines frühesten Bewusstseins, als ich unschuldig und rein wie der frisch gefallene Schnee unter den Bäumen, die ich Familie nannte, erwacht war.

Der Innere Kreis von Tharb war wie der Fels im Moor, wie die kahle Anhöhe, wie die rot leuchtende Grotte ein Sicherer Ort, einer von jenen, von denen Terno wusste, dass sie die Ströme der Kraft ablenkten und all jene, die sich bei ihnen aufhielten, vor jenen, die aus der Kraft heraus nach ihnen suchen würden, verbarg. Doch Tharb war mehr als einer der gewöhnlichen Sicheren Orte, denn der Felsen der Stadt war gleichzeitig ein Schild und ein Brennglas. Erst später, als ich meinen ersten richtigen Sturm miterlebte, entdeckte ich, was die Menschen unter dem Auge eines Orkans verstanden. Tharb war das Zentrum einer riesigen Machtumwälzung und es war die uralte Mauer, die aus den Gebeinen der Erde selbst stammte, die bewirkte, dass der Innere Kreis unversehrt blieb. Vielleicht aber war er auch überhaupt erst für den Orkus verantwortlich, in dem die Kraft um die Stadt wirbelte.

Später habe ich auch oft versucht, meine Kraft, die ich im Kampf mit den Drei geopfert hatte, wieder zu gewinnen oder wenigstens Kraft aus dem Felsen selbst zu ziehen, doch nie mehr konnte ich gestalten. Meine Wahrnehmung konnte ich ausdehnen, ich konnte gezielt nach den Fäden der Kraft greifen und ihre Spur verfolgen, doch die Manipulation der Wirklichkeit, eine wirkliche Ausdehnung des Einflussbereichs außerhalb meiner körperlichen Kräfte waren mir unmöglich. Andererseits, und das war für mich selbst viel überraschender, konnte auch mir selbst nichts mehr etwas anhaben. Ich stand wie schon zu Beginn meiner Bewusstwerdung außerhalb aller Regeln. So gesehen hatte ich nur eine kurze Zeit, in der ich tatsächlich den Spielregeln der Wirklichkeit unterstellt war, nämlich von jenem ersten Schluck aus Mandus Quelle bis zu jenem Kampf mit den Dreien, der ihre Existenz grundlegend veränderte und mich gleichzeitig befreite und unterjochte. Diese Wochen waren die einzige Zeit in meiner Existenz, da ich wirklich nach den Regeln der Welt und nach der Definition der Menschen gelebt habe. Vorher und nachher war ich unangreifbar, unantastbar, unverwundbar. Und es war erst in jenem Kampf gegen Remde, der seine Seele für geborgene Macht eingetauscht hatte, da mir klar wurde, wie machtvoll ich wirklich war, da ich noch eins in mir war, dass ich noch heil und gesund war. Remde war in sich gebrochen, zerbrochen, in ihm wütete ein eigener Wilder Zauber, der wie in der Ebene von Tharb alles verschlang, was noch geblieben war von dem Mann, der mich einst im Wald gefunden und dann in sein Dorf gebracht hatte.
Ich erkannte das bereits während des Kampfes mit Remde, und es war dieses Mitleid, mit dem ich Remde am Schluss überwand. Es war meine Liebe zu ihm, die ich damals noch nicht verstand und nicht erkannte, und selbst wenn ich sie damals erkannt hätte, es wäre zu spät gewesen. Remde hatte in dem Moment sein Leben verwirkt, als er in den Dienst der Drei getreten war. Er erkannte das aber nicht. Er wollte es vielleicht auch nicht sehen. Er konnte es nicht sehen wollen.

30 | Der Kampf beginnt

Yelda
November 29, 2010
Erst viel später lernte ich das Konzept von Liebe kennen und noch viel später in meinem Leben erfuhr ich am eigenen Leib, was Liebe mit einem Menschen machen kann, wie viel Kraft und Freude eine erfüllte Liebe gibt, wie viel Hass und Wut einen Menschen erfüllen können, dessen Liebe unerwidert bleibt. Mittlerweile habe ich verstanden, dass es diese unerfüllte Liebe war, die Remde in den Untergang trieb. Er liebte mich seit dem ersten Moment, als er mich im Wald gefunden hatte, ich aber, die ich kaum das Konzept des Lebens begriffen hatte, konnte mit den gesellschaftlichen Eigenheiten der Menschen, deren erster Vertreter für mich Remde war, noch weniger anfangen. Remdes Liebe konnte in mir keinen Widerhall finden, doch er konnte das nicht verstehen und so wandelte sich seine Liebe zu Begehren und verzehrender Lust, die, als ich ihn schwerverletzt in seinem dem Untergang geweihten Dorf zurückließ, zu einem Dorn wurde, der nach und nach seine Seele vergiftete.

Remde hatte keine andere Möglichkeit, als für Rubin, Saphir und Korund zu morden, denn sie versprachen ihnen im Gegenzug dafür Macht, die meiner ebenbürtig sei. Er versprach sich dadurch, mich für sich zu gewinnen, und verstand doch nicht, dass ich nicht bereit für romantische Gefühle sein konnte. Dass ich ihn, der so viel getan hatte, um mir näher zu kommen, der solche Opfer gebracht hatte, dass ich ihn also noch mehr dafür ablehnte, was er getan hatte, als damals, als er keine Macht hatte, trug vielleicht mehr zu seinem Untergang bei als alle erdenklichen Zauber das vermocht hätten.

Remdes Attacken abzuwehren wäre nicht schwer gewesen, wenn wir uns nicht inmitten einer belebten Stadt befunden hätten. So aber musste ich mich vor allem darauf konzentrieren, dass seine abprallenden Zauber keine Unbeteiligten treffen würden. Den Großteil der Energie leitete ich in den Boden ab, doch der eine oder andere Zauber riss klaffende Löcher in die Mauer hinter mir. Bald standen wir alleine in der Straße, wo Remde mich gefunden hatte, da selbst magieunkundige Menschen mitbekamen, wenn etwas geschieht, das ihnen Schaden zufügen kann.
Durch seine Angriffe erkannte ich viel besser, dass es nicht seine Macht war, die er verwendete. Jedem seiner Zauber haftete eine Spur der jenseitigen Welt an, die sich als blasser Schatten um ihn bildete, und ich konnte die Grenze zwischen dieser und jener Welt vibrieren spüren mit jedem Schlag, den Remde auf mich abgab. Meine größte Sorge bestand darin, Remde könnte womöglich aus Versehen die Grenzen ganz durchbrechen und den Schatten, den so viele in meiner Folge erwartet hatten, selbst hervorrufen.

Damals wie heute bin ich nicht sicher, ob meine Vision des Dunkels, das Remde verschlang, doch noch in Erfüllung gegangen ist. Ich versuche meine Zweifel oft damit zu beruhigen, dass nicht ich es war, die ihm seine Entscheidungen aufzwang, doch letztlich brachte ich durch mein Auftauchen im Wald bei Remdes Dorf ihn erst in Berührung mit der Magie, die auf ihn wirkte wie eine Droge, die er sich selbst nicht beschaffen konnte. Remde war süchtig nach der Erfahrung der Magie, und als er erst einmal damit Kontakt hatte, als er sie durch sich durchfließen spürte, vor allem aber all seine Ängste und Zweifel durch eine Demonstration seiner neuen Fähigkeiten, deren Grenze und Kosten er noch nicht erahnen konnte, beiseite wischen konnte, hätte er nicht mehr davon lassen können. In Remde hatten die Drei ein perfektes Opfer gefunden, das sich ihnen willig auslieferte, weil es nicht ermessen konnte, was der scheinbare Gewinn tatsächlich für ein Verlust war.

„Remde, hör auf!“ rief ich, doch glaubte ich nicht, dass er sich so leicht geschlagen geben würde. „Du kannst nicht gegen mich gewinnen.“
In dem Moment, als ich es aussprach, wurde mir bewusst, welch missliche Worte ich ausgesprochen hatte. Doch wie man einen entflogenen Vogel nicht allein durch Wünsche in einen Käfig bringen kann, ließen sich auch diese Worte nicht ungesagt machen.
„Wie hochmütig Du bist“, rief Remde, doch seine Stimme klang schon gepresst, als bemerke er erst jetzt langsam die Anstrengung, die ein andauernder Angriff erforderte. Ich hatte diese Erfahrung im Kampf mit den Dreien gemacht, und damals war ich der Kraft näher als es Remde jemals sein konnte.
„Ich will nur Dein bestes.“
„Wie auf Mandus Insel, als Dein Feuer mich versengte?“
„Remde, versteh doch, Du kannst nicht meine eigene Kraft gegen mich wenden. Nicht hier, nicht jetzt, nicht so!“
„Was weißt Du schon?“
„Ich weiß mehr als Du, ich kenne die wahre Form der Drei, ihr wahres Gesicht und all ihre Niedertracht. Remde, Du weißt nicht, mit wem Du es zu tun hast, und vor allem kannst Du nicht erahnen, welchen Preis Du zahlen wirst.“
„Ich kenne den Preis. Und diesmal ist er geringer als bei Mandu.“
„Also wirst Du mich nciht töten?“
„Ich habe Mandu nicht getötet.“
„Also hat sie Dir ihre Kraft aus eigenem Antrieb überlassen?“
„Woher willst Du wissen dass es ihre Kraft ist?“
„Ich kenne Mandu, ich erkenne ihre Kraft wie ich auch ihre Stimme ode ihren Gang erkennen würde. Daher weiß ich auch, das Mandu Angst hatte, dass sie um das fürchtete, was sie zu schützen bereit gewesen war, als sie ihre Existenz in jener Welt gegen ein Leben in der Wirklichkeit eintauschte. Mandu hätte das Sanktuarium ihres Baumes niemals freiwillig jenen geöffnet, die sie fürchtete. Du allerdings musstest sie vernichten, um an die Quelle ihrer Macht zu gelangen.“
„Ich habe sie nicht …“
„Alle Deine Zauber tragen ihre Handschrift. Es ist, als ob Du ihr Agent wärat, da alle Macht, die Du in Dir zu tragen glaubst, Teil der Welt ist, die sie schaffen wollte. Sp wenig ich auch über Zuaber wissen  mag, ich bin nicht blind, auch wenn Du es mitunter wahrscheinlcih so empfinden magst. Nur weil ich Dich nciht gesehen habe, wie Du es wolltest …“
Meine Worte gingen in einem Hagel aus Zaubern unter, die Remde auf mich schleuderte. Ich musste aufhören zu sprechen, da mich sonst meine Konzentration verlassen hätte. Und ich wusste, dass Remde nicht lange zögern würde, fände er die richtige Gelegenheit. Er würde jetzt, da ich ihn gedemütigt hatte, nicht mehr zurückweichen. Der Kampf begann.

29 | Das Wiedersehen

Yelda
November 29, 2010
Remde war dort. Die Stadt spuckte ihn eines Tages vor mir aus. Ich war auf der Suche nach Antejar und den Brüdern. Wir hatten uns nach meiner Befreiung wiedergefunden, Antejar war schlecht behandelt worden, allerdings hatte man ihm kein körperliches Leid zugefügt. Die Brüder hatten sich für ihn eingesetzt und überraschenderweise auch seine Freilassung bewirkt. Nach dem allerdings, was Antejar über den vermeintlichen Freund, der uns verraten hatte, erzählte, hätte es nun doch einen Grund gegeben, ihn einzusperren.

Die Lage in der Stadt hatte sich ein wenig verändert. Die Nachricht von meiner Befreiung war wie ein Lauffeuer durch die Straßen gegangen. Diejenigen, die wie Sobekan Verbindung zur Magie hatten, hatten alles gespürt, hatten meine Anwesenheit ebenso wie meinen Kampf auf der anderen Seite mitbekommen. Offensichtlich hatte allein schon der Kampf und Ternos Opfer die Machtverhältnisse deutlich verschoben. Dadurch, dass die Drei einen meiner anderen Schöpfer vernichteten, ermöglichten sie es erst, dass ich wirklich Teil beider Welten wurde. Die Magier spürten das, und bei einigen war diese Wahrnehmung das einzige, das sie mit der Macht verband. Sie fanden mich in der Unterstadt, wo ich mich mit Antejar und den Brüdern zurückgezogen hatte. Wie ein Leuchtfeuer zog ich jene an, die sehen konnten. Und mit ihnen auch Remde.

Ich umarmte ihn stürmisch.
„Du lebst!“
Remde löste sich aus meiner Umarmung und mit einem schiefen Blick sagte er: „Sollte ich nicht leben?“
„In einer Vision habe ich gesehen, wie die Drei das Dorf zerstörten. Ich befürchtete, auch Du wärst ihnen zum Opfer gefallen.“
„Sie haben das Dorf nicht zerstört. Sie haben jene bestraft, die gegen sie waren.“
„Bestraft? Remde, was sagst Du? Sie wollten nur, dass die Drei wieder gehen.“
Remde lachte, doch ohne Freude. „Und das ist kein Widerstand, den es zu bestrafen gilt?“
„Sie wollten doch nur in Frieden gelassen werden.“ Ich ging einen Schritt zurück. Fremd war mir dieser kalte Ton an ihm, das Fehlen von Herzlichkeit in seiner Stimme, von Freude. „Remde, was ist Dir geschehen?“
„Was sollte geschehen sein?“
ich blickte ihn an, und dann fiel mir auf, was ich unbewusst schon die ganze Zeit wahrgenommen hatte. Er strahlte Kraft aus, Stärke, Magie. „Was haben sie Dir angetan?“
„Nichts haben sie mir angetan.“
„Du trägst ihre Kraft. Sie haben Dich verändert.“
„Sie haben mich stark gemacht, das ist wahr. Ich war verletzt, verbrannt, falls Du Dich erinnerst.“
„Remde, es tut mir leid, ich wollte Dich nicht verletzen, erinnere Dich, ich habe Dich gebeten, Dich von mir fernzuhalten …“
„Als ob Du nicht gewusst hättest, dass ich das nicht konnte. Ich habe Dich geliebt, Yelda, ich habe nur für Dich gelebt.“
„Und jetzt lebst Du für die Drei?“
„Ich lebe für mich.“
„Nein. Du magst es vielleicht nicht sehen, aber ich bin nicht so blind wie Du.“
„Nenne mich nicht blind! Du weißt, dass ich es nicht bin, dass ich sogar noch weit mehr sehe als Du! So wie es immer schon gewesen ist. Du bist diejenige ohne Vergangenheit, ohne Wissen über sich selbst und die Welt. Ich musste Dir alles beibringen!“
„Remde, bitte höre mir zu. Die Macht, über die Du zu verfügen glaubst …“
„Du zweifelst an mir? Soll ich mich Dir beweisen?“
„Remde, nein! Ich zweifle nicht an Dir, ich bezweifle, dass Du weißt, welchen Pakt Du geschlossen hast.“
„Glaub nicht, dass Du mir überlegen bist. Woher willst Du wissen, welchen Preis ich zahlen musste, um zu erlangen, was ich jetzt habe?“
„Mandu“, sagte ich leise.
„Was?“
„Mandu. Du hast sie getötet. Du hast Deine Seele mit ihrem Blut befleckt. Du hast das letzte genommen, was ihr geblieben war.“
Er starrte mich an, und ich wusste, dass ich recht hatte.
„Es war ihre Bedingung. Sie haben Dich vor die Wahl gestellt, ob sie Dich tötet oder Du sie. Du hättest nicht wählen müssen.“
„Was meinst Du?“ Sein Ton war ruhiger, verletzlich vielleicht, denn ich hatte mit allem recht und auch seine Zweifel geahnt.
„Sie hätten niemals Mandu gewählt. Sie hätten Mandu nicht die Kraft geben können, die ich ihr bereits genommen hatte. Mandu war am Ende ihrer Kraft, der Kampf mit mir hat sie mehr gekostet als den Schutzwall um ihre Insel. Es hat sie selbst zerstört.“
„Es macht keinen Unterschied. Sie haben mich gewählt, sie haben mir Kraft gegeben, die selbst Deine Kraft übertrifft.“
„Aber wozu, Remde? Ich weiß, wie begierig Du das haben wolltest, was ich nicht nutzen konnte. Du hast heimlich geübt zu lauschen, hast versucht, die Kraft zu spüren, den Zauber zu finden. Du wolltest sein wie ich.“
„Nein, ich wollte niemals sein wie Du. Armselig, einsam, traurig, unwissend. Was mir die Drei gegeben haben, ist mehr als ich mir jemals erträumt habe. Ich bin einer der ihren geworden.“
„Also bist Du einer der Drei?“
„Nein, natürlich nicht.“
„Wieso glaubst Du dann, einer von ihnen zu sein, wenn sie Dich nur als Handlanger sehen und nicht als Ebenbürtigen?“
„Ha! Ich verstehe, was Du willst. Du willst mich doch nur verunsichern.“
„Ich will Dir die Augen öffnen.“
„Du lügst!“
„Ich lüge nicht! Terno, der zuerst nach mir gesucht hat, er war wirklich einer von ihnen.“
„Und darum meinst Du, diejenigen zu erkennen, die zu ihnen gehören oder nicht?“
„Sie haben ihn vernichtet, als er ihnen nicht mehr nutzte.“
„Er hat sie verraten.“
„Er hat mich beschützt.“
„Gegen die Drei.“
„Ja, gegen die Drei, die mich vernichten wollten.“
„Sie wollten Dich nicht vernichten, sie wollten Dich schützen. Und sie wollten die Welt vor Dir schützen.“
„Sie wollten sich selbst vor mir schützen.“ Ich atmete tief durch. Remde sah einerseits müde aus, als hätte er seit Wochen nicht mehr geschlafen, andererseits aber so aufgedreht, als tränke er gerade direkt von der Quelle der Kraft. „Remde, siehst Du denn nicht, was sie sind? Sie benutzen Dich als Werkzeug, wie sie mich als Werkzeug benutzen wollten. Sie wissen, dass sie nur noch in ihrer Welt gegen mich bestehen können, darum brauchen sie jemanden, der mich in dieser Welt angreift.“
„Weder bin ich ihr Werkzeug, wie Du es auszudrücken wünschst, noch plane ich einen Angriff auf Dich.“
„Warum bist Du dann hier?“
„Ich habe Dich gesucht, um Dich davon zu überzeugen, Dir von den Dreien helfen zu lassen. Sie wollen Dir nichts Böses, es ist allein die Welt und die Wirklichkeit, um die sie sich sorgen. Sie haben einen schrecklichen Fehler bei Deiner Erschaffung gemacht, den wollen sie wieder gut machen. Dir wird dabei nichts geschehen, wenn Du Dich nicht wehrst.“
„Hör Dir doch selbst zu, Remde. Du bist das Sprachrohr ihrer Drohungen geworden. Siehst Du denn nicht, dass Du nur benutzt wirst?“
„Ich bin ihr Bote, das ist wahr, aber nur, weil sie in dieser Welt nicht existieren können.“
Ich sah, dass es zwecklos war, Remde zur Räson bringen zu wollen. Die Drei hatten ihn mit dem Geschenk von Mandus Macht korrumpiert. Ich konnte es nachvollziehen, denn was war erfüllender, als endlich das zu besitzen, das man sich schon seit langem wünschte. Und dann wurde mir Remdes tatsächlicher Auftrag klar.
„Haben die Drei Dir verraten, warum Mandu sich dafür entschieden hat, in dieser Welt zu leben? Haben Sir Dir verraten, warum sie nicht mehr auf der anderen Seite war, sondern bei uns?“
„Ich wüsste nicht, welche Rolle das spielt.“
„Sie ist geflohen, Remde. Sie hat sich vor den Dreien versteckt. Sie hatte Angst, Angst vor der Dunkelheit, die ich bringen würde, Angst vor den Verfolgern, die ich ihr an die Schwelle ihres Reiches gebracht habe. Darum hat sie mit allen Mitteln versucht, mich daran zu hindern, ihren Schutzwall zu durchbrechen.“
„Mandu ist tot, und das ist das einzige, was zählt. Ihre Taten sind ebenso unwichtig wie die Dinge, die sie wollte.“
„Haben die Drei Dir gesagt, dass sie einen Krieg in ihrer Welt führen? Ihre Art bekämpft sich, und die Drei sind jene, die am wenigsten Rücksicht auf ihre eigene Art nehmen. Mandu wusste das, Mandu wusste es, und erkannte mich sofort. Darum hat sie mir einen sterblichen Körper gegeben, darum hat sie mich an ihre Insel gebunden. Sie wollte sicherstellen, dass ich nicht mehr gefunden werden kann, nachdem Du mich zu ihr gebracht hattest.“
„Mandu wollte das Dorf vor der Dunkelheit schützen, die Dir folgte. Nichts anderes wollen die Drei. Sie wollen Dich Deiner wahren Bestimmung zuführen.“
„Und die wäre?“
„Du sollst den Ausgleich schaffen zwischen den Welten. Du sollst sie miteinander verbinden, damit sie sich nie wieder voneinander lösen. Du sollst sie unsterblich machen.“
„Du irrst Dich, Remde. Ich soll die Drei unsterblich machen und unbesiegbar. Sie wollen nicht nur in ihrer Welt unbesiegbar sein, sondern auch in dieser Welt. Sie wollen nichts anderes als Herrschaft über alles Leben. Ich sollte ihr Tor sein, ihre Brücke, ihr Agent. Und jetzt haben sie Dich.“
„Nicht ich bin es, der sich irrt. Du gehst fehl in allem, was Du sagst.“
„Nein. Und Remde, erinnere Dich an etwas, das ich Dir vor langer Zeit sagte: ich höre nicht nur die Worte, die gesprochen werden, sondern auch das, was ungesagt bleibt. Ich kenne Deine wahren Gründe, warum Du mich gesucht hast. Und ich kann Dir sagen, es wird Dir nicht gelingen.“
Zum ersten Mal schien Remde wirklich zu zögern. „Was meinst Du?“
„Tu doch nicht so. Was könntest Du wollen, jetzt wo Du hast, was Du wolltest?“
„Ich habe nicht, was ich wollte, ich habe, was ich mir verdient habe.“
„Du hast mit einem Mord etwas erkauft, was nicht für Dich bestimmt war. Und es reicht nciht, habe ich recht?“
„Yelda, ich weiß nicht, was Du meinst.“
„Sie haben Dir genug Macht gegeben, um Mandu zu besiegen, und sie haben Dir genug Macht gegeben, um zu spüren, was Du noch werden könntest.“
„Ich habe, was mein ist.“
„Sie haben Dir meine Kraft in Aussicht gestellt, wenn Du mich ihnen zuführst.“
„Yelda, das ist nicht wahr.“
„Du sollst das Werkzeug sein, das meine Existenz vernichtet.“
„Sag das nicht, hör auf.“
„Du sollst mit mir das gleiche machen wie mit Mandu.“
„Yelda, zum letzten Mal, sei still.“
„Du sollst mich vernichten.“
Halb hatte ich mit dem Angriff gerechnet, die Hoffnung allerdings, dass ich mich täuschte, machte mich träge. Sein Gedankenschlag brannte in mir, doch konnte ich die schlimmste Wirkung ablenken, so dass ich zwar getroffen, aber nicht ernsthaft verletzt war. Seine weiteren Angriffe konnte ich mit einem einfachen Schild abblocken, durch den ich zwar nicht angreifen würde können, wenn Remde darauf wartete, doch vorerst hatte ich nicht vor, Remde zu verletzen.
Noch nicht.

Noch nicht aufgeben | 36340

Yelda
November 28, 2010
13660. Eine schwierige, eine schlimme Zahl, vor allem, wenn man die 2 auf der anderen Seite der Liste sieht. 13660 und 2.

Ich kann nicht glauben, wie schnell die Zeit verging. Wie schnell 30 Tage vorbei sind. Wie schnell auch die letzten beiden Tage vorbei sein werden. 13660 Worte in 2 Tagen. Unmöglich für mich, denn es hieße 6830 Worte pro Tag. Mein Leistungsmaximum waren 4762 Worte an Tag 24, die mir mehr abverlangt haben, als die ganzen Wochen davor. An 6 Tagen habe ich nichts geschrieben. Keine Zeile, kein Wort. Nicht einmal eine Entschuldigung habe ich dafür.

Natürlich könnte ich sagen, die Arbeit habe mich abgelenkt, aber gerade in den Wochen, in denen ich viel gearbeitet habe, habe ich auch viel geschrieben. Es ist nicht die Arbeit, es ist die gähnende Leere meines Alltags, die Verlockung der Serien, die gesehen werden müssen, die Ablenkung der Musik und des Schlafens, die Notwendigkeit, Tee zu kochen und Stollen zu backen. All die Dinge, die ich immer mache, machen wollte, machen musste, aber nie so unbedingt wirklich wahrhaben wollte. Vor allem aber ist es ein Fehlen von Disziplin, von Selbstvertrauen und Selbstwert, ein Mangel an Erfolgreich-Sein-Wollen. Ein Mangel, in der Tat.

Ich tue mir selbst leid. Und dadurch natürlich auch Leid. Bemerkt man als unreflektierter Geist vielleicht nicht, dass da tatsächlich ein Unterschied besteht, merkt man auch nicht, will man nicht wissen, ist auch egal, hilft ja niemandem was, ist ja nur Kleinkram, dessen Erwähnung andere nervt. Wie der Untergang des eigenen Intellekts, der sich seit Jahren nun schon um nichts anderes bewegte als um die eigene Unfähigkeit zur Selbstverwirklichung. Mein Thema schon immer und in jeder Facette: Selbst-Werden. Veränderung durch Blickwinkelwandel und Wahrhabenwollen. Niemals habe ich das stärker erlebt, diesen Niedergang und diesen Wandel – nicht zum Besseren – im Gespräch mit Freunden, deren Leben so viel geradliniger verläuft.

Sie machen sich keine Gedanken darum, dass ihr Intellekt verblassen könnte. Sie stehen aber auch nicht den ganzen Tag an der Käsetheke und müssen sich das attraktive Ausrichten der Käsestücke in der Selbstbedienungstheke als kreativen Akt schönreden.

Eben erkannt, wie sehr ich meine Zeit, wie sehr ich mich selbst da vergeude. Ich reibe mich auf zwischen Kunden und unfähiger Geschäftsführung, reibe mich auf zwischen gegeneinander intrigierenden Supermarktmitarbeitern, reibe mich auf in der Überbrückung des klaffenden Spalts zwischen Brotberuf und Traumberuf. Und mehr denn je ahne ich, dass ich das Schreiben aufgeben sollte. Mehr denn je. Auch so eine Floskel, die sich in meine Sätze eingeschlichen hat wie das ständig selbtmitleidige Pathos meines Zensors, der immer wieder darauf herumreitet, dass ich damals, als ich es mir noch leisten konnte zu schreiben, es nicht getan habe, und dass ich jetzt, wo ich mein Potential vergeude, indem ich gestressten LOHAS überteuerte Molkereiprodukte als Teil ihres Bio-Lifestyles andrehe, nicht immer noch glauben sollte, dass Schreiben so einfach wäre wie den Stift in die Hand zu nehmen.

Mehr noch aber ärgert mich die letzte Zahl, auf die ich jeden Abend blicke, wenn ich mein Tagessoll in meine verschiedenen Listen eintrage. Heute sind es 500000. Eine halbe Million Worte in 28 Tagen. Ich frage mich immer, wie das gehen soll. Wie man bei einer solchen Quantität tatsächlich Qualität erreicht. Ob das dann noch ein Ziel sein kann. Ob man eine solche Zahl an Worten wirklich noch einmal lesen will. Ob es der Wahrheit entspricht.
Teils ist es natürlich auch Neid, der da spricht. Joyce angeblich habe pro Tag nur einen Satz geschafft, manchmal nur ein Wort. Natürlich eine falsche Anekdote, eine literarische Legende, die mich aber mehr beruhigt als mich die 500000 Worte motivieren.

13660 und 2, ein so ungleiches Paar, dessen volle Tragweite ich erst übermorgen Abend völlig ermessen kann, wenn ich mit dem geringsten Anspruch, den ich je an meine Sätze hatte, so viel Text wie möglich produziere. Schon jetzt sträuben sich alleine bei der Vorstellung daran alle meine Haare, denn das ist das einzige, was schon immer zwischen mir und jedem Erfolg stand: die Unfähigkeit zu akzeptieren, dass ich nicht immer das beste aufs erste Mal geben kann.

Goethe angeblich habe nie einen seiner Texte überarbeitet. Woher man das weiß, ist mir nicht bekannt, genauso wenig der Wahrheitsgehalt. Wichtig aber ist die Legende, die meine Großmutter mir erzählte. Dass Goetheblut in unserer Familie sei, dass in jeder Generation unserer Familie mindestens ein überkreativer Angehöriger gewesen sei, der nicht nur hervorragend schreiben, sondern auch in anderen kreativen Bereichen großartig gewesen sei. Sie selbst war ein Beispiel dafür, dichtete sie doch und malte anrührende Bilder. Die Legende trug mich durch meine Pubertät und ließ mich meine Andersartigkeit ertragen. Ließ mich verstehen, warum ich so seltsame Dinge dachte und sprach, warum es mir immer eine Notwendigkeit war, zu schreiben, meine Gedanken auszubreiten und zu sezieren, bis ich sie so sehr verdichtet hatte, dass ein Reim, ein Vers, eine Strophe geboren war. Und es bot mir die Aussicht auf ein Leben wie Goethe es hatte. Bis zum Ende der Pubertät, als ich erkannte, dass meine Andersartigkeit sich auf auf anderen Lebensbereichen bezog. Und je mehr ich mich selbst akzeptierte, umso weniger wünschte ich mir, anders zu sein, und mehr das zu sein, was die anderen waren: gleich und ohne Ambition. Unliterarisch.

Die letzten 28 Tage haben viel in mir bewegt, haben viel in meinen Gedanken bewirkt und haben mir vor allem gezeigt, dass ich stolz sein kann, wenn ich schreibe. Nicht alles, was ich schrieb, hatte Hand und Fuß, aber es war vor allem auch nicht alles Mist. Ich muss anerkennen, dass ich eine Geschichte aus dem Boden gestampft habe, deren Ende absehbar, aber noch nicht geschrieben ist, deren Figuren nicht ganz so platt wie ich befürchtet habe, die dummerweise aber auch überwiegend aus Dialog und Rückblicken besteht. Vor allem aber haben sie mir noch einmal vor Augen geführt, dass mir das Schreiben wichtig ist, dass es mir aber offensichtlich nicht so wichtig ist, dass ich ihm alles opfern würde. Welchen Schluss ich daraus ziehe, ist noch offen.
Vor zwei Wochen habe ich mir selbst auferlegt, das Schreiben aufzugeben, alle literarischen Ambitionen zu begraben, wenn ich nicht die 50000 in 30 schaffen würde. Jetzt, da ich in 28, oder eigentlich ja nur 22 Tagen mehr an einer Geschichte geschrieben habe als jemals zuvor, will ich diesen Pakt nicht mehr einhalten müssen. Ich befürchte aber, dass es außerhalb meiner Entscheidung liegt. Wie sehr ich an den kommenden zwei Tagen bereit bin, meine Geschichte zu beenden und 13660 Worte zu schreiben, wird, ob ich will oder nicht, entscheidend sein für mein literarisches Leben, vor allem aber für mein Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl.

28 | Im Schatten des Buchturms

Yelda
November 27, 2010

Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob es wirklich meine Schuld war, was mit Tharb geschah. Vor allem in den ersten Jahren, als die Folgen des Wilden Zaubers nach und nach alles das Land ringsum vernichtete und nur den Bereich im Inneren der Alten Stadtmauer verschonte, machte ich mir viele Gedanken und Vorwürfe. Ich hätte wissen müssen, sagte ich mir oft, wenn ich allein durch die verlassenen Straßen schlich, dass der letzte Kampf gegen Rubin, Saphir und Korund nicht auf dem Gebiet der Menschen hätte stattfinden dürfen. Ich hätte wissen müssen, sagte ich mir damals, dass der Ort, an dem ich den Wilden Zauber, der die Spielregeln für immer ändern würde, so tiefgreifend die Strukturen beider Welten verändern würde, lange Zeit nicht mehr nichtzauberische Menschen geeignet sein würde.
Damals dachte ich das, doch heute weiß ich, dass weder eine Wahl hatte, noch dass mir die möglichen Folgen meines Tuns wirklich bekannt waren. Ich habe meine Zauber immer intuitiv gewoben, den Wilden Zauber, den letzten, den ich zu geben hatte, habe ich in fast völliger Unkenntnis der Nebenwirkungen gewirkt. Nur das Ziel meines Zaubers war klar: ich wollte die Macht der Drei in der Wirklichkeit und, wenn ich konnte, auch in ihrer eigenen Welt, brechen. Ich wollte die Drei und alle ihrer Art an diese Wirklichkeit binden und gleichzeitig ihre Verwurzelung in der Kraft beenden. Es schien mir die einzige Möglichkeit, und auch heute, knapp 3000 Jahre später, bin ich davon überzeugt, dass es keine andere Möglichkeit als den Wilden Zauber gab.
Und wäre nicht überraschend Remde in Tharb aufgetaucht, ich denke nicht, dass es die Stadt so hart getroffen hätte. Ich hätte die Konfrontation in ihrer Welt gesucht, die Schlagwellen des Zaubers wären wahrscheinlich durch alle Tore zwischen den Welten gestoßen und hätte sicherlich auf ganz Thera Schaden verursacht, doch dieser wäre weitaus geringer ausgefallen als es durch die Konzentration des Zaubers auf einen einzigen Ort. Dadurch aber, dass Tharb das Zentrum des Wilden Zaubers wurde, konnte er wachsen und nach weiterem Land ausgreifen, so lange und so stetig auch nach dem Sanktuarium der Inneren Stadt, bis auch dieser letzte Schutzraum nach 1000 Jahren fiel, und ich endlich die Stadt, die ich in den Untergang getrieben habe, doch noch verlassen musste.
Und spät, erst sehr spät in meinem Leben, fiel mir auf, dass die Bestimmung, die mir meine Erschaffer unbeabsichtigt mitgegeben hatten, doch noch eingetreten war, obwohl ich dachte, meinem Schicksal entflohen zu sein: das Dunkel war mir noch immer gefolgt, auch wenn die Zerstörung durch den Wilden Zauber kein entlebtes Land hinterließ, dann aber wohl doch ein Land, in dem zu leben schwierig war, das selbst für jene, die zauberkundig und stark waren, zum Verhängnis werden konnte. Heimtückisch hat der Wilde Zauber noch alle Seelen jener in Besitz genommen und vernichtet, die sich für unangreifbar, für unveränderlich, für stark hielten. Er hat sie verändert und gebrochen, und keiner, der mit dem Wilden Zauber in Berührung kam, sah die Welt und die Wirklichkeit noch annähernd so, wie er sie vorher gesehen hatte. Der Wilde Zauber hat die Welt verändert, ich habe die Welt verändert. Ich verband zwei Welten auf eine Weise miteinander, dass sie zu einer wurden, und ich kann nur hoffen, dass die Saat, die ich vor so langer Zeit gepflanzt habe, nun doch noch endlich dazu führt, dass der Wilde Zauber und damit alle Magie wieder aus der Wirklichkeit verschwinden. Ich hoffe, dass die Saat aufgeht und ich endlich sterben kann.

Wir begruben Sobekans Leiche unter einer Cathanie  im Schatten des Buchturms der Stillen Götter. Ich ahnte damals nicht, dass ich in diesem Turm mehr über mich und die Welt erfahren würde als mir jemals jemand hätte sagen können. Ich ahnte nicht, dass die Prophezeihungen der Menschen mich schon vor Jahrhunderten vorhergesehen hatten. Vor allem aber gaben mir die Aufzeichnungen endlich das Wissen, dass meine Entscheidungen nicht willkürlich geschahen, sondern unausweichlich waren. Es war mir, das hatte Mandu einst gesagt, vorherbestimmt, die Ströme der Kraft aus der Welt außerhalb in und durch die wirkliche Welt fließen zu lassen. Es war mir vorherbestimmt, das Dunkel zu rufen, die Unsicherheit, die Wandelbarkeit. Ich war und bin die Hüterin des Schattens, und heute, wenn ich sehe, wie die letzten Geschöpfe der Jenseitigen sich in den letzten Zügen ihres nun schon Jahrhunderte andauernden Kampfes befinden, an dessen Ende sie sich gegenseitig ausgelöscht haben werden und auch ihre Schöpfer, dann kann ich für eine Weile den Schmerz vergessen, der mich zerfrisst und den ich doch nicht ablegen kann wie den ersten Schmerz des Körpers. Denn dieser Schmerz ist so viel anders: er erinnert mich nicht an das, was ich bin, er verbindet mich nicht mit den Welten. Dieser Schmerz ist der eines ewigen Auseinandergerissenwerdens, es ist der Schmerz, der entsteht, wenn man sich zwischen die Welten stellt und beide miteinander verbindet.
Ich weiß noch nicht, ob mein Ende auch das Ende der wirklichen Welt ist, ich ahne aber, dass es das Ende der anderen ist. Die Jenseitigen sind dann für immer hier gefangen, für immer aber vor allem machtlos. Sie, die nur durch ihre Verbindung mit den Strömen jemals stark waren und nicht durch ihre eigene Leistung oder Fähigkeiten, sie haben dann endlich bekommen, was sie verdient haben.

Der Soldat musste mir erst die Bedeutung und die Vorgehensweise einer Beisetzung erklären, und als ich einfach durch Verändern der Wirklichkeit ein Loch schuf, schalt mich der Soldat: „Das ist falsch. Man muss das Loch graben, nicht einfach entstehen lassen.“
„Aber Sobekan hätte es auch so gemacht, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre.“
„Das denkst Du, aber ich glaube es nicht. Wir sind ehrfürchtige Menschen und auch Sobekan hätte die Rituale nicht verachtet, egal, was ihm geschah.“
„Woher willst Du wissen, was Sobekan von Ritualen hielt?“
„Ich weiß es nicht. Ich kann mir aber nicht denken, dass jemand, der Wert darauf legt, dass sein Körper, den er schon vor so langer Zeit verlassen hat und den er wohl nach eigener Aussage nicht wieder betreten, aber eben auch nicht verlassen konnte, begraben wird, dass eben jener Mensch nicht auch die Rituale wertschätzt, die mit dem Akt des Begrabens verbunden sind.“
„Obwohl verwirrend ist Deine Argumentation durchaus einleuchtend.“ Ich ließ das Loch wieder veschwinden. „Als einer jener, die ihn gefangen hielten, solltest Du auch graben, zumal der Junge ja auch zu schwach ist.“

27 | Zurück

Yelda
November 25, 2010

Die Soldaten waren wieder aufgestanden, derjenige, der mir mit seinem Knie die Hand gebrochen hatte, stand mit offener Hose vor mir. Ich blickte an mir herab, Blut lief an meinen Beinen herab, fast schmerzhaft rot vor dem Weiß meiner Haut. Die Kleider, die ich seit dem Dorf getragen hatte, waren schmutzig und zerrissen. Der Soldat, der mich vergewaltigt hatte, als ich zu mir kam, nickte seinen Begleitern zu: „Fesselt sie, ich bin noch nicht fertig.“
„Wagt es nicht, mich noch einmal anzufassen.“
Die Soldaten lachten. Ich hob meinen Arm, dessen Hand in ungesundem Winkel abstand, spürte den Schmerz, ging ihm nach und wollte, dass er vorbeiging, wollte, dass meine Hand wieder in Ordnung war. Mit einem Knirschen und Schaben, das erstaunlich laut war, glitten alle Splitter zueinander, gerissene Sehnen verbanden sich wieder, Knorpel heilten. Außer einem blauen Schatten auf meiner Haut war nichts mehr von meiner Verletzung zu sehen. Die Soldaten, die eben noch nach mir hatten greifen wollen, verharrten.
„Habt Ihr nicht gehört? Fesselt die Hure!“
Ich zog mir die Fetzen der Kleidung vom Körper und trat auf den Soldaten zu. „Was willst Du?“ fragte ich. „Willst Du leben?“
„Ich will ficken, Hure. Und wehe Du wehrst Dich. Die letzte musste ich auf eine Bank nageln, damit sie still hielt. Das hat ihr nicht gefallen.“ Er blickte an mir herab, musterte meinen nackten Körper und fügte hinzu: „Aber wenn Du mitmachst, werde ich Dir vielleicht  auch ein bisschen Spaß bereiten, bevor ich Dich an meine Männer weiterreiche.“
Er hob die Hand, um meine Brust zu berühren, doch er zögerte, als er meinen Blick bemerkte. „Ich warne Dich ein letztes Mal davor, mich anzufassen.“ Doch er zog nur seine Lippen auseinander und enthüllte ein zahnfleischiges Grinsen. Dann presste er seine Hand auf meine Brust. Als er sie berührte, erstarb sein Grinsen. Der Soldat runzelte die Stirn und versuchte seine Hand zurückzuziehen, doch ich griff nach seinem Arm und presste ihn fest gegen meinen Körper. Er konnte spüren, wie ich seinem Körper Kraft entzog, um mich weiter zu heilen, die Wunde zwischen meinen Beinen zu schließen, er spürte, wie er schwächer und ich stärker wurde.
„Du benutzt Deine Macht, um Dich über andere zu stellen und weißt nicht, wie die anderen, die schwächer sind als Du, durch Dich noch schwächer werden. Ich werde Dich schonen, wenn Du versprichst, Dich zu bessern.“
Da lachte er. „Du bist nicht nur eine Hure, sondern auch eine Heilige?“ Sein Lachen ging in ein Stöhnen über, als ich ihm noch mehr Kraft entzog. Er fiel auf die Knie, doch konnte er seine Hand nicht von mir lösen. Seine Soldaten wichen ein Stück zurück statt ihm zu helfen.
„Du sollst keine Macht mehr haben über andere Menschen, du bist schwach und wirst nie wieder stark sein.“ Als er das Bewusstsein zu verlieren drohte, ließ ich ihn los, und sein Körper sackte in sich zusammen und fiel auf den Boden. Die anderen Soldaten starrten mich an.
„Sobekan“, sagte ich. „Wo ist seine Zelle?“
„Wer?“ Der jüngste der Soldaten hatte als einziger noch Mut zu sprechen. „Ich kenne keinen Sobekan.“
„Er ist schon lange hier, Ihr kennt ihn nicht. Zeigt mir die Zelle, die nie neu belegt wird.“
Der junge Soldat war der einzige, der nicht davonlief, sondern mir tatsächlich die anderen Zellen zeigte. Ich rief immer wieder laut und in Gedanken nach Sobekan, doch er antwortete nicht auf meine Rufe.
„Sobekan, wo bist Du nur?“
In der dritten Zelle, die mir der Soldat öffnete, fanden wir einen jungen Mann, der bleich und zitternd auf dem Boden seiner Zelle lag. Als ich mich über ihn beugte, um ihm ins Gesicht zu sehen, sagte der junge Soldat: „Er hat gestern aufgehört zu schreien. Seit der letzten Unterredung ist er so.“
„Du meinst Folter. Ihr habt ihn an den Rand des Todes gebracht, und ich bin nicht sicher, ob es nicht besser für ihn wäre, weiterzugehen.“
„Die Befrager wollten nur, dass er seine Kraft beweist.“
„Womit hätte er das tun sollen?“ fuhr ich ihn an. „Hätte der Junge auch nur einen Funken Kraft gehabt, Ihr hättet ihn nie erwischt. Er ist ein zufälliges Opfer.“
„Ich wollte das nicht.“
„Du hast aber auch nichts dagegen getan. Du hättest ihn retten können.“
„Dann wäre ich an seiner Stelle.“
„Wäre das schlimm?“ fragte ich, doch wartete nicht auf seine Antwort. Ich legte meine Hand auf den Körper des Jungen, suchte nach dem Rest seines Selbst. Ich war erstaunt, als ich seinen Körper wie leer und unbewohnt fand, nur ein Rest seiner Angst war noch verblieben, der mir verriet, dass er zwar geflohen war, aber nicht verloren. „Wo bist Du?“ flüsterte ich in seinen leeren Körper hinein, doch erwartete keine Antwort. „Du kannst zurückkommen, ich werde Deinen Körper heilen. Du brauchst keine Angst mehr haben.“
Zu dem Soldaten sagte ich: „Wenn Du einen Teil Deiner Schuld abtragen willst, dann wache hier über ihn. Zieh Dich aus, dass er Dich nicht als Soldat erkennt. Tu ihm nichts, wenn er erwacht, sondern beruhige ihn. Ich bin gleich zurück.“
„Ich werde tun, was Du sagst.“
Ich verließ die Zelle des Jungen und sah in die anderen, die alle leer waren bis auf die letzten beiden. In der einen lagen verschmutztes Stroh und ein kaputter Eimer, in der anderen auf nassem Boden ein schmächtiger alter Mann. Er atmete kaum noch und seine Hände waren zu Fäusten geballt. Sein Körper war fast nackt, das Haar, das noch nicht ausgefallen war, war schütter und schmutzig grau.
„Sobekan“, sagte ich, doch der Mann reagierte nicht. Ich ging zu ihm hinein und berührte seinen Körper, der kalt war und restlos verlassen. „Sobekan“, sagte ich erneut, doch der Körper reagierte nicht. Am Rand meines Bewusstseins allerdings spürte ich etwas, ein Aufleuchten, ein heller Schatten. „Sobekan“, rief ich ihm zu, und dann spürte ich die Berührung seines Geistes wie die Flügel eines Schmetterlings. „Sobekan“, sagte ich ein drittes Mal und endlich bekam ich eine Antwort von ihm.
„Yelda, Du bist zurück. Ich glaubte Dich verloren, ich fürchtete, Du würdest das Schicksal teilen, das ich erlitten habe.“
„Sobekan, warum bist Du nicht in Deinem Körper?“
„Ich kann nicht mehr zurück. Ich habe es versucht, doch er will mich nicht mehr. Ich kann ihn nicht mehr betreten.“
„Ich kann Dir helfen.“
„Es ist nicht nötig, Yelda. Mich erwartet nichts mehr. Ich hielt mich nur noch an ihn gebunden, weil ich auf Dich wartete. Ich weiß, was kommen wird, und für mich ist in dieser Welt kein Platz mehr.“
„Ich kann Dir einen Platz bereiten. Dir habe ich zu verdanken, dass ich meine Kraft beherrschen kann. Ich werde Dir helfen, wie Du mir geholfen hast.“
„Nein, Yelda. Du kannst mir nicht helfen. Manchmal muss man das Ende eines Weges akzeptieren. Ich war schon alt, als ich gefangen wurde. Ich will nicht mehr in einem Körper sein, der nichts mehr bietet außer Schmerz. Ich habe nur noch Deinetwegen nicht aufgegeben. Ich will jetzt loslassen können.“
„Aber Sobekan …“
„Nur eine Bitte habe ich noch. Lass meinen Körper nicht hier. Nimm ihn mit Dir in die Freiheit und begrabe ihn an einem schönen Ort. Ich will nicht hier verfallen.“
„Ich verspreche es Dir, Sobekan.“
„Ich danke Dir. Du hast alles geändert. Ich sehe es an Dir. Du bist nicht länger unsichtbar, Du strahlst wie die Sonne. Das ist alles, was ich wollte.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, was ich hätte sagen können, um seine Entscheidung zu ändern. Ich wollte ihn nicht verlieren, und doch verstand ich ihn.
„Lebe wohl“, sagte Sobekan und verstummte. Nur Augenblicke später hörte der Körper auf zu atmen. Sobekan war tot.

26 | Smaragd

Yelda
November 24, 2010
Bevor ich die jenseitige Welt gesehen hatte, war sie in meiner Vorstellung wie der Grund eines Sees: erahnbar und doch weit fort, mit Formen und Farben, die bis an die Wasseroberfläche heranreichten und nur selten darüber hinaus. Alles, was dort unten, oder eben jenseitig, vorging, blieb demjenigen, der am See stünde und die Oberfläche betrachtete, verborgen.

Von der anderen Seite aber, von unten, könnte man, so dachte ich, sehen, was an Land geschehe, man beobachte genau, ohne gesehen zu werden, man handle, ohne dass die eigenen Handlungen Einfluss auf das Leben in der Wirklichkeit haben müsse. Erst wenn man sich entscheide, den Spiegel zu durchbrechen, könne man außerhalb der Tiefen etwas bewirken.
Tatsächlich aber ist die jenseitige Welt etwas, das uns überall wie eine zweite Haut begleitet. Es haftet allen Dingen an wie ein Wasserfilm, den Nebel auf die Landschaft legt. In allen Dingen liegt ein Tor zur anderen Welt, man muss nur hindurch zu gehen vermögen. Mittlerweile weiß und kann ich das, doch im Kampf mit den Dreien, Rubin, Saphir und Korund, konnte ich das noch nicht sehen, zu verzweifelt versuchte ich, mich zusammenzuhalten und nicht meinen Geist in den Strömen der Kraft, die mich in Richtung der Drei durchbrachen, zu verlieren. Mit dem, was ich heute weiß, hätte ich den Kampf gewinnen können. Andererseits musste ich diesen Kampf verlieren, um später gewinnen zu können.

Mein Wesen zerfaserte immer mehr. Von dem, was mich, was Yelda ausgemacht hatte, war unter den reißenden Angriffen der Drei wenig geblieben. Mit Anstrengung nur noch konnte ich drei Worte fassen: Ich bin Yelda. Ich bin Yelda. Ich bin Yelda.
Zuletzt bestand meine Gegenwehr nur noch daraus: zu schreien.
„Ich bin Yelda! Ich bin Yelda! Ich bin… Ich…“
„Yelda!“ Der Ruf verwirrte die Drei, die immer noch in Schwaden um mich wirbelten und meine Essenz an sich zogen. „Yelda!“
Und dann, nur Momente, bevor ich vernichtet gewesen wäre, erschien in einem strahlend grünen Licht, Smaragd und Sommergras, Terno. Er warf sich in den Kampf, schlug nach Saphir und Korund, die erschüttert zurückwichen. Ich spürte im Zurückfließen der Kraft zu mir ihren Ärger und ihre Verwirrung, doch auch Widerwillen, einen der ihren zu bekämpfen.
„Terno!“ Ich konnte nicht anders, ich musste seinen Namen rufen, bevor ich schrie: „Ich bin Yelda!“
„Yelda“ rief er: „Du musst fliehen, Du musst zurück. Du darfst nicht hier sein, dies ist nicht der Ort Deiner Stärke. Hier kannst Du sie nicht besiegen.“
Er wich einem roten Hieb aus. „Zu dritt sind sie zu stark für mich. Flieh! Ich kann sie nicht aufhalten, nur verlangsamen.“
„Ich kann nicht zurück, ich bin verloren.“
„Du bist nicht verloren, Du bist nur weit fort. Ich kann Dir helfen!“
„Du wagst es?“ Es war nun Saphir, dessen Angriff Terno traf. Das grüne Leuchten flackerte für einen Moment, dann gewann es wieder an Stärke. „Ich wage es! Ihr seid keine Herrscher über mich, Ihr könnt mich vernichten, aber nicht besiegen!“
„Narr!“ rief Korund, deren gelbes Schimmern über uns stand, während Rubins Rot unter uns glomm. „Du bindest Dich an Nichts, an einen Fehler im Gewebe.“
„Yelda ist kein Fehler! Wir haben sie geschaffen, alle Fehler, die sie sein und haben könnte, wären und sind unsere.“
Ich war schockiert. Terno und die Drei hatten mich erschaffen? Als die Drei gesagt hatten, ich wäre ihr Geschöpf, hatte ich Ihnen nicht geglaubt. Dass dies aber stimmen sollte und, viel schlimmer, auch Terno an meiner Erschaffung Anteil haben sollte, erschütterte mich. Auf der anderen Seite erklärte es seine Flucht damals am Fluss. Er hatte Angst, ich würde herausfinden, dass ich sein Werkzeug sein sollte.
„Unser einziger Fehler war die Allianz mit Dir. Wir hätten nicht auf Dich hören sollen, als Du uns rietest, unsere Macht zu vereinigen. Sie ist das Ergebnis Deiner Täuschung!“
„Yelda ist das Ergebnis Eurer Angst vor dem Untergang.“
„Still!“ Rot überflutete uns.
„Ihr hattet Angst vor Eurer Endlichkeit!“
„Es war genauso Deine Angst!“
„Es ist auch Deine Endlichkeit!“
„Ich habe keine Angst mehr davor, zu enden. Ich habe keine Angst mehr vor Euch. Yelda ist nicht mehr Euer Werkzeug, sie ist es nie gewesen.“
„Sie wird nach Dir vernichtet werden!“
„Sie wird hier enden!“
„Sie kann nicht fliehen!“
„Sie kann nicht fliehen, aber ich kann sie retten!“
Rubin, Saphir und Korund stießen auf uns herab, doch Ternos grünes Leuchten wich nicht zurück, sondern dehnte sich aus, umfasste mich, schützte mich vor den Angriffen der Drei, die stärker und stärker wurden, von Schlag zu Schlag wurde Ternos Selbst mehr erschüttert, so sehr, dass ich die Einschläge bald auch selbst spürte. Sie raubten mir keine Kraft, aber sie machten mir Angst. Vor allem aber fürchtete ich um Ternos Leben, denn er war sichtlich unterlegen, er wehrte sich kaum, schlug nicht zurück, sondern formte nur einen Schild um mich, als gäbe es nichts anderes, was ihm noch etwas gälte.
„Yelda“, fühlte ich seine Stimme in meinem Geist. „Ich werde Dich zurückbringen. Es ist alles, was ich noch für Dich tun kann. Es tut mir leid, dass ich Dir nicht mehr die Antworten geben kann, die ich Dir schuldig bin.“
„Du hättest sie mir am Fluss geben sollen.“
„Ich hatte Angst, Du könntest mich hassen, Du könntest Dich gegen mich wenden, wenn Du erkennst, welche Rolle ich wirklich gespielt habe bei Deiner Erschaffung.“
„Terno, ich hatte keine Vergangenheit, mich machte immer nur aus, was ich tat und wie ich mit den Konsequenzen umging. Du hast mich gerettet, im Dorf und vielleicht schon vorher und jetzt erneut. Ich bin Dir dafür dankbar, und ich wäre Dir noch dankbarer gewesen, hätte ich die Wahrheit gekannt.“
„Auch wenn sie Dein Vertrauen in mich erschüttert hätte?“
„Schweigen und Lügen schaden mehr als die Wahrheit es vermocht hätte.“
„Du hast recht. Umso wichtiger ist, was ich Dir jetzt noch mitgeben kann.“
„Sie werden Dich vernichten, wie sie mich vernichten wollen, habe ich recht?“
„Ich bin von ihrem Verbündeten zu ihrem Feind geworden, sie werden mich nicht schonen. Dazu geht es um zu viel. Als wir Dich schufen, solltest Du sicherstellen, dass die Ströme der Kraft und des Lebens nicht versiegen. Mit Dir wollten wir sie aneinander binden, sie miteinander verknüpfen.“
„Wie hätte ich das gemacht? Und was ist schiefgegangen?“
„Um das zu erklären fehlt mir die Zeit. Nur so viel: es gab keinen Fehler mit Dir, allein der Gedanke war falsch. Wir hätten uns nicht in die Struktur der Wirklichkeit einmischen dürfen. Seit wir das getan haben, seit Du in der Welt bist, verliert unsere Welt an Struktur, an Essenz. Mit Deiner Erschaffung haben wir ein Loch ins Gewebe der Wirklichkeit gerissen, durch das wir seither Kraft verlieren.“
„Was kann ich tun?“
„Du musst die Regeln ändern. Ich weiß nicht genau wie. Wir wollten unsere Welt sicherer machen und haben sie der Zerstörung preisgegeben. Irgendwie musst Du das Netz wiederherstellen, sonst werden sie Dich vernichten wollen.“
„Um mich zu retten, muss ich diejenigen retten, die Dich vernichten werden?“
„Du musst die Regeln ändern. Es ist nicht gesagt, dass die Drei danach gerettet sind. Du musst entscheiden, ob Du Dich opferst oder die Welten näher aneinander führst.“
„Es ist zu spät. Kraft strömt in die Welt, die Zahl der Zauberer nimmt zu. Sobekan hat es mir gesagt, er sieht die Ströme, er sieht auch mich. Er ist ein Gefangener, wie ich auch gefangen wurde.“
„Dich zu opfern wird ihn nicht retten. Du hast keine Wahl mehr. Ändere die Regeln.“
„Ich werde es versuchen.“‚
„Versuchen wird nicht reichen. Jetzt geh.“
„Wie?“
„So!“
Ternos Grün hüllte mich für einen Moment vollständig ein wie eine Haut, dann fühlte ich einen Stoß, als er sich von mir löste und all seine Kraft gegen Rubin, Saphir und Korund richtete. Als ihre Energien gegeneinanderstießen, fühlte ich einen weiteren Stoß, der mich immer weiter in die Lichtlosigkeit am Rand der jenseitigen Welt drängte. Und es war vor diesem Hintergrund und dank der Erfahrung, auf das Wesentliche meiner Essenz reduziert gewesen zu sein, erkannte ich eine schwache Verbindung zur wirklichen Welt. Ich konnte mich wieder spüren, konnte den kalten Stein unter meinem Körper spüren und die Hände von Soldaten, die auf ihm lagen. Zwischen meinem Geist und meinem Körper lag eine dünne Schicht aus Wirklichkeit, die mich noch trennte, und ich fühlte Sobekans Geist auf der anderen Seite und hörte die Schreie des Jungen in seiner Zelle und fühlte plötzlich den Schmerz in meinem Körper, den mir die Soldaten zufügten, einen Schmerz, der mich zu Bewusstsein hätte bringen müssen, wäre ich noch in meinem Körper gewesen. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie es gewesen war auf Mandus Insel, wie es in meinen Visionen gewesen war und während der Übungen mit Sobekan, als ich wieder und wieder Besitz von meinem Körper genommen hatte, selbst als ich erschöpft und müde war. Doch ich konnte die hauchdünne Barriere der Wirklichkeit nicht durchbrechen, ich fühlte immer noch Rubin, Saphir und Korund in meinem Rücken, spürte, wie sie gegen den letzten Rest von Ternos Essenz kämpften, und ich dachte an sein Opfer und seine Worte und daran, dass ein Teil von mir sterben würde, wenn ich seinen Tod hier erleben würde und nicht auf der anderen Seite.
Und dann brach mir einer der Soldaten die Hand, und der Schmerz zog mich so rasch durch die Wand zwischen den Welten, dass mein Körper sich aufbäumte und die Soldaten von mir geworfen wurden. Ich war nackt und verletzt, die Soldaten aufgebracht und verwirrt, und obwohl ich nicht genau wusste, was vorgefallen war, wusste ich, dass ich mir nichts mehr gefallen lassen musste. Ich hatte den Kampf gegen die drei Anderen verloren, und Terno hatte sein Leben gegeben, um mich zu retten, damit ich die Regeln änderte.
Und vielleicht war es sein Tod gewesen oder einfach nur der Umstand, dass ich bar aller Eigenschaften nur noch ich selbst in der jenseitigen Welt gewesen war, doch ich spürte, dass sich etwas geändert hatte. Was ich seit meinem Erwachen unter den Bäumen immer gespürt hatte, das Lauern von Kraft in allen Schatten der Welt, die Drohung von Dunkel und Verderben, es war verschwunden. Das erste Mal seit meinem ersten Gedanken in dieser Welt fühlte und wusste ich, dass ich meine Kraft einsetzen konnte, ohne die Welt zu zerstören.
Und das tat ich.

25 | Rubin, Spahir und Korund

Yelda
November 24, 2010
Später, viel später würden die Ruinen von Tharb einen sicheren Hafen für all jene verlorenen und verirrten Menschen in jenem Teil der Welt darstellen. Die Brücken und Häfen waren da schon verbrannt und zerstört, die Gebäude außerhalb der ältesten Stadtmauer kaum mehr als verwitterte Stümpfe eines sturmversehrten Waldes. Allein drei Türme im Inneren des Mauerrings blieben über all die Zeit nahezu unversehrt: der Wachturm der Inneren Garde an der östlichen Mauer, von dem aus ich später oft die wandelhafte Landschaft auf der anderen Flussseite beobachtete; der Buchturm der Stillen Götter, in dessen Tiefen ich nicht nur viel über Glaube und Angst der Menschen erfuhr, sondern auch einen Teich zum Schwimmen und Trinken fand; den Turm des Todestrakts, in dem mein Körper beinahe gestorben wäre, weil ich meinen Kampf für einen Moment aufgegeben hatte und mich von dem trügerischen Versprechen auf Freiheit durch Aufgeben hatte verführen lassen.

In der Leere außerhalb meines Körpers erinnerte ich mich an Sobekans Beschreibung meines Selbst: dass ich nicht sichtbar, nicht spürbar, nicht auffindbar sei, wenn ich es nicht wollte. Und tatsächlich konnte ich mich nicht mehr spüren, allein die Erinnerung an die Schmerzen, die ich durchlitten hatte, um in eben jenen Körper zu gelangen, und dass Wissen, dass es diese Schmerzen durchaus wert waren, sich wieder dorthin zu kämpfen, gaben mir die Sicherheit, dass ich eine Aufgabe hatte, zu der zurückzukehren es galt, auch wenn ich nicht wusste, wie mir das gelingen sollte. Wie sollte man etwas finden, das nicht existent schien?
Und dann fiel mir noch etwas anderes ein, das Sobekan gesagt hatte: man würde mich nur finden, wenn ich gefunden werden wollte, ich müsste jene, die mich finden wollten, rufen. Irritierend fand ich das, denn ich wusste nicht mehr, ob das schon vorher so gewesen war. Hatten mich die Drei, hatte mich Terno finden können, weil ich sie gerufen hatte? Oder hatte erst der Aufenthalt auf Mandus Insel oder das Versenken im Fluss und der Welt mich unauffindbar gemacht? Wenn ich mich nicht verändert hatte, dann musste ich vorher schon das Bedürfnis gehabt haben, sie zu sehen, zu hören oder einfach nur zu treffen. Und noch mehr: ich musste offenbar gewollt haben, dass man mich findet.
Ob ich getan hätte, was ich tat, wenn ich die Folgen nicht nur erahnt, sondern auch gefürchtet hätte?

Ich rief. Ich rief mich, ich rief Terno, ich rief die Drei. Ich rief, so laut ich konnte, dachte mir eine laute Stimme, dachte mir, meine Rufe wiederhallen zu hören, dachte daran, wie meine Rufe in meiner Zelle erschallen würden. Ich rief alle, die mich hören konnten: „Findet mich, ich will gefunden werden, ich gebe das Versteckspiel auf!“ Und dann hatte ich plötzlich Augen und ich öffnete sie und sah: Farben, Schatten, Töne. Ich sah die Schatten von Bäumen und Seen, die Laute von Vögeln und Fischen, die Bewegung von Baumkatzen und Käfern, die Erinnerung an alles, was war und wurde. Und ich sah mich selbst, Splitter meines Selbst und das Echo meines Schreis. Und dann sah ich sie: Rubin, Saphir und Korund, rot, blau und gelb auf mich zustürzen. Ich erwartete einen Aufprall, einen Schlag, einen Schmerz, doch statt dessen hörte ich nur ihre Stimmen und spürte ihre Kraft, die mich zu begraben drohte.
„Sie ist da!“
„Sie ist unser!“
„Sie ist verloren!“
„Ich habe keine Angst mehr! Ich werde nicht mehr fliehen! Ich werde gegen Euch kämpfen!“ rief ich und hoffte gleichzeitig, ich müsste nicht kämpfen.
„Lüge!“
„Trug!“
„Wahn!“
Das Dunkel um uns fiel zurück wie die Nacht in der Dämmerung versinkt, und aus der Tiefe tauchten die Gesichter aus, die ich in meiner Vision bereits gesehen hatte: die hartblickende Frau in Rot, die gelbe Frau mit dem zusammengekniffenen Mund, der Blaue mit dem spöttischen Grinsen. Und erst aus der Nähe fiel mir etwas auf, das ich durch meine Vision von ihnen nicht erwartet hatte: sie sahen sich nicht nur verblüffend ähnlich, sie hatten alle drei das gleiche Gesicht wie Terno.
„Was werden wir mit ihr machen?“
„Was werden wir von ihr übriglassen?“
„Wir werden sie zerstören. Wir sind im Krieg. Wir haben keine Wahl.“
„Es gibt immer eine Wahl!“
„Dann wähle Dein Ende. Du hast keine Zukunft.“
„Die Welt will Dich nicht.“
„Die Welt braucht Dich nicht.“
„Dein Kampf ist vorbei.“
Und dann spürte ich den ersten Schlag. Ich hatte ihn teils befürchtet, teils erhofft, auf jeden Fall aber erwartet. Hätte ich mich nicht konzentriert, hätte mich der Angriff wie ein Sturm gefällt. Doch so konnte ich mich ihm entgegenstemmen, die Wucht ableiten und ausweichen, auch wenn mir nicht bewusst war, wie ich in einer Welt ohne Zeit und Raum und Richtung einen Angriff so abwehren konnte.
Dem ersten folgte ein zweiter, ein dritter Schlag. Ich sah sie kommen und konnte ausweichen, doch meine Konzentration ließ nach. Selbst einzeln könnten sie mich leicht besiegen können, da ich die Ausweichmanöver nicht ewig durchführen könnten. Zudem war ich schwach. Mein Körper hatte seit langem nichts mehr gegessen oder getrunken, ich wusste, selbst wenn ich den Angriff der Drei überleben würde, müsste ich doch bald wieder an den Strömen der Kraft bedienen.
„Sie will kämpfen!“
„Sie will siegen!“
„Sie wird verlieren!“
Und dann erkannte ich, dass ich mich nicht mehr zurückhalten musste. Ich befand mich nicht mehr in der Wirklichkeit, ich musste keine Rücksicht mehr nehmen, ich musste nicht befürchten, gefunden zu werden. Ich gab meine Angst auf, ich sperrte mich nicht mehr gegen den Wunsch, kraft- und machtvoll zu sein. Ich öffnete meinen Geist für die Ströme um mich, ich lud sie ein, mich zu überfluten, und spürte ein leichtes Kribbeln, ein zunehmendes Brennen und dann ein wildes Jagen der Kraft durch meine Gedanken. Ich spürte, dass diese Kraft der meiner Angreifer entsprach, dass sie sich der gleichen Macht bedienten, und dass sie mich, wenn ich mich der Kraft hingab, mich nicht verletzen konnten.
Der nächste Schlag traf mich, doch er schwächte mich nicht, wieder und wieder griffen die Drei an, doch ich fürchtete sie nicht mehr.
„Ich werde nicht verlieren!“ rief ich.
„Du wirst, und Du wirst darum betteln, aufgeben zu dürfen.“
„Du wirst darum betteln, verlöschen zu dürfen.“
„Du bist schwach, Du bist weich, Du bist nichts.“
„Nein! Ich bin Yelda, ich bin stark und lebendig. Und Ihr seid nichts als Träume einer schrecklichen Wirklichkeit.“
„Sie spottet!“
„Sie spielt!“
„Sie hat keine Ahnung.“
„Sie soll es wissen!“
„Sie muss es erfahren!“
„Was muss ich wissen?“
Doch die drei antworteten nicht, sie umkreisten mich, ihre Gesichter verwischten zu farbigen Schemen. Ich versuchte, ihren Bewegungen zu folgen, doch waren sie zu schnell. Ihre Attacken hatten ausgesetzt, doch wagte ich nicht zu glauben, sie hätten für immer aufgehört. „Was muss ich wissen!“
Ich zuckte zusammen, als mich ein Hieb traf, den ich weder erwartet hatte noch abwehren konnte. Es fühlte sich anders an als die vorigen Schläge, mehr als würde der Schlag von mir selbst ausgehen statt auf mich zu stoßen. Sie hatten mich verletzt, das spürte ich, und die Wut darüber brach sich in einem Gegenschlag Bahn: ich konzentrierte mich auf den Kraftstrom, der durch mich hindurchfloss und stellte mir vor, wie ich ihn nahm, ausholte und nach den Schemen schlug. Tatsächlich spürte ich Widerstand und hörte den Schmerzenslaut des Blauen, doch ich ahnte, dass es mehr die Überraschung als der Schmerz war, der ihn hervorgelockt hatte.
„Was muss ich wissen?!“
Und dann standen die Gesichter der Drei wieder still, und mit einer Stimme sagten sie: „Du bist der Traum und wir sind die Träumer. Du bist unsere Erfindung, unser Mittel, Du bist nichts als Gestalt unseres Willens. Du kannst uns nicht besiegen, denn wir wissen mehr über Dich als Du selbst.“
„Ich glaube Euch nicht!“
„Wir haben Dich geschaffen für einen Zweck wie die Menschen einen Hammer bauen, um Häuser zu bauen. Du bist ein Werkzeug und Du bist fehlerhaft!“
„Das ist nicht wahr! Ich bin kein Werkzeug, ich …“
„Du bist Yelda, Du bist die Schattenbringerin, Du bist die Vorhut der Dunkelheit. Dein Reich ist das Vergessen, Dein Wesen ist Untergang, Dein Schicksal ist es, nicht gegen das Unvermeidliche zu kämpfen.“
„Ich bin Yelda, die Hüterin, die Heilerin, die unsichtbare Masche im Netz. Ich gehöre nicht zu Euch!“
„Sie leugnet, was sie weiß!“
„Nein! Hört auf!“ Erneut griff ich nach dem Strom und hieb nach den Dreien, doch sie lachten nur. „Sie kann uns nicht treffen, wenn wir es nicht wollen.“
„Hört auf!“
„Wir hören auf, wenn Du uns zuhörst. Du musst wissen, warum Du vernichtet wirst.“
„Ich höre Euch zu, bevor ich Euch vernichte.“
„Du wurdest geschaffen, um die Distanz zwischen den Strömen und der Wirklichkeit zu erhalten.“
„Du wurdest geschaffen, um die Kraft nicht in die Welt fließen zu lassen.“
„Du wurdest geschaffen als einziges Tor. Du wurdest geschaffen mit einem Fehler. Du bist das Tor, das nichts und alles verbindet. Und darum wirst Du zerstört.“
Ich verstand nicht. „Habt Ihr mich geschaffen?“
„Wir haben Dich erschaffen, Du bist ein Teil von uns. Greifst Du uns an, verletzt Du Dich selbst. Du bist nichts ohne uns.“
„Aber was kann ich tun, was Ihr nicht könntet?“
„Du wurdest geschaffen aus Teilen beider Welten, Du solltest sicherstellen, dass die Ordnung erhalten bleibt.“
„Doch du bist geschaffen mit Fehlern, die die Ordnung beider Welten zerstören kann.“
„Aber das heißt doch nicht, dass ich die Welt zerstören werde!“
„Wirst Du nicht vernichtet, wirst Du Deine Kraft nutzen, und das wird die Welten zerstören. Es gibt nur einen Weg: Du musst vernichtet werden vor der Welt.“
„Ich lerne, ich habe schon lange nichts mehr vernichtet.“
„Sie hat gelernt.“
„Sie hat gelogen.“
„Sie hat schon immer versagt.“
„Für Fehler gibt es keine Verwendung. Es gibt keine Alternative.“
„Selbst wenn es Euch gelänge, mich zu vernichten: vernichtet Ihr Euch nicht dabei selbst?“
„Dich zu vernichten, gibt uns zurück, was wir bei Deiner Erschaffung gaben. Wir verlieren nicht.“
„Ihr werdet verlieren. Ich werde nicht aufgeben, ich werde mich wehren!“
„Wehr Dich, es wird nichts nützen.“
Und dann setzten die Schläge wieder ein, überzogen meinen Geist mit einem Feuer, einem Brand, der alles zu ersticken drohte, was an Erinnerung und Gefühlen in ihm war. Remdes Gesicht zog an mir vorbei, sein Hemd, seine Hand, seine Narben. Mandu, Terno, Bamar und Baneh, die Brüder, Sobekan, mein letzter Lehrer. Ich nahm alle Kraft, die ich bündeln konnte, und kämpfte gegen den Strudel an, der sich in meinem Geist auftun wollte, ich hielt an der Kraft fest, die mich mit allem verband. Und doch spürte ich mich schwinden. Ich rang nach mehr Kraft, zog an mich, was ich konnte, doch verlor gleichzeitig alle Konzentration und vergaß Dinge, vergaß, was ich gelernt hatte, was ich gemocht hatte an der Welt, an der Wirklichkeit. Ich spürte, wie mein Geist in Nebel überging, in Rauch und Schatten und wie die Kraft, die ich an mich gezogen hatte, einfach durch mich hindurchfloß und meine Peiniger stärkte. Ich versuchte nachzudenken und konnte doch nichts anderes spüren als Angst, mich hier zu verlieren, zu zersplittern zwischen Rubin, Saphir und Korund.

24 | Sobekan

Yelda
November 23, 2010

Und dann ging alles ganz schnell. Antejar brachte uns bei einem alten Bekannten, der uns allerdings verriet. Antejar und ich wurden gefangen genommen, Bamae und Baneh allerdings konnten fliehen. Wäre dem nicht so gewesen, sie hätten Antejar unmöglich rechtzeitig befreien können. Ich hatte Glück im Unglück. Als „zauberisches Wesen“, wie es der Befehlshaber der Soldaten nannte, die uns in Gewahrsam nahmen, kam ich in einen Trakt der inneren Burg, wo bereits Menschen waren, die im Verdacht standen, Zauberei auszuüben. Tatsächlich waren dort lauter unbequeme Menschen untergebracht, die unter Folter beweisen sollten, was nicht möglich war: Zauber zu bewirken. Natürlich überlebte niemand diese Behandlung, wenn nur das Präsentieren einer Fähigkeit, die man nicht besaß, das eigene Leben hätte retten können.

Dass mein Gefängnis also ein Todestrakt war, erfuhr ich von Sobekan, der in der Zelle neben mir saß und noch nicht gefoltert worden war, weil er tatsächlich über eine gewisse Form von Zauber verfügte. Er konnte sich übersehen lassen. Diese Fähigkeit ging nicht soweit, dass er dank ihr hätte fliehen können, aber immerhin ersparte sie ihm die Folter lange genug, um mir helfen zu können. Denn Sobekan wusste, wie man seinen Geist hinter Wirklichkeit verankerte, er tat es, wie er sagte, unbewusst, wenn er nicht gesehen werden wollte, und doch konnte er mir sagen, was er fühlte, wie er die Kraftfäden sah, die an ihm hingen und die ihn überströmten, wenn er nicht gesehen werden wollte. So hatte er mich auch wahrgenommen, als ich noch im Hafen war, denn er hatte viel Zeit gehabt, den Kraftströmen zu folgen und sie zu beobachten und dabei hatte er bemerkt, „wie die Kraftströme sich an einem Punkt stauten, wie ein Fluss um einen Felsen fließt“. Später hatte er auch von einem Knoten gesprochen, dieses Bild aber nicht zutreffend genug gefunden, um es zu mögen.

Trotz der Aussicht auf seinen Tod war Sobekan ein erstaunlich wohlgelaunter Zellengenosse. er führte es auf die Verbundenheit aller Dinge zurück, doch tatsächlich glaube ich, dass er ein bisschen verrückt war. Ihn hätte diese Einschätzung wahrscheinlich nicht gestört, da er immer wieder selbst darauf hinwies, wie wenig sich seine Erfahrungen mit den Strömen von Kraft und Leben sich mit dem gesunden Menschenverstand vertrügen.

Als er mir sagte, wie er seine Kraft gefunden hatte und einen Weg, sich mit ihr zu verbinden, erkannte ich meine eigenen Versuche wieder und auch das, was mir Mandu und Ternu bezubringen versucht hatten, vor allem aber erkannte ich, was ich bislang immer als gegeben hingenommen hatte und nicht als meine Verbindung mit der Kraft an sich. Sobekan zeigte mir, dass ich nicht etwa ohne Verbindung zu den Strömen stand, sondern so sehr Kraft aufgestaut hatte, die keinen geordneten Fluss fand, dass ich mich natürlich nicht verankern konnte, da ich surch die Störungen der Kraft viel zu sehr abgelenkt wurde.
Ich fragte mich, warum mir meine bisherigen Lehrer das nicht hatten mitteilen können, bis mir auffiel, dass sie selbst es nicht hätten verstehen oder sehen können, da sie selbst so sehr Teil der Kraft waren, dass sie mich zwar wahrnehmen konnten, aber nicht meine eigene Präsenz in der jenseitigen Welt identifizieren konnten. Sobekan, der von außen auf die Kraft sah, war dies möglich, da er sich auch selbst in der Kraft widergespiegelt fand.
Er beschrieb meine Instanz als eine Masche in einem Netz, die man nur wahrnehmen konnte, fand man sich außerhalb des Netzes stehend war. Jemand, der wie Mandu und Terno Teil des Netzes waren, konnten mich nur finden, wenn ich an den Fäden des Gewebes riss. Ich musste sie rufen oder zu ihnen kommen, wollte ich sie wiedersehen. Im Fall von Terno war ich tatsächlich versucht, genau das zu tun.

Gleich nach meiner Ankunft im Todestrakt nahm Sobekan Kontakt zu mir auf.
„Du bist es!“ Die Stimme war sehr aufgeregt, gleichzeitig nah und weit weg. Sie war nicht gesprochen worden, und ich fühlte, dass es in der Gegenwart der Soldaten nicht ratsam schien, selbst zu sprechen. „Ich habe Dich beobachtet! Ich kann es nicht fassen, dass Du hier bist.“ Ich sah mich unauffällig um, doch außer den Soldaten, die mich begleitet hatten, sah ich niemanden, der mir noch Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Ich überlegte, ob derjenige, der sprach, meine Gedanken würde erkennen können.
„Ich kann Dich hören, wenn Du an mich gerichtet denkst, so wie Du mich hören kannst. Ich bin Sobekan. Bis Du kamst, dachte ich, ich würde hier sterben.“
Ich war irritiert, dachte aber: „Sobekan, ich bin Yelda. Musst Du jetzt nicht mehr sterben?“
Die Stimme lachte. „Natürlich muss ich immer noch sterben, vielleicht aber nicht hier. Erst durch Deine Ankunft hier habe ich Anlass zu glauben, dass ich das hier überlebe.“
„Ich bin gefangen genommen worden.“
„Aber sie wissen nicht, wen sie gefangen haben. Und sie werden es bereuen.“
„Was ist das hier?“
„Es ist die Strafe für Anderssein. Die Menschen draußen haben Angst vor dem, was sie nicht kennen oder verstehen. Sie können nicht mit den Menschen umgehen, die nicht sind wie sie. So wie sie auch nicht mit Dir umgehen können.“
„Weil ich anders bin.“
„Weil Du machtvoll bist.“
„Ich habe keine Macht.“
„Du hast mehr Macht als Du Dir zugestehen willst. Du hast Angst vor Deiner Macht.“
„Du hättest auch Angst vor Deiner Macht, wenn sie Zerstörung nach sich zöge. Terno sagte, ich sei nicht richtig mit der Wirklichkeit verbunden und zerstöre sie daher.“
„Wer immer Terno ist, ich denke er hat recht, denn es erklärt viel. Und doch hat er nicht wirklich recht, denn Du bist mit nichts wirklich verbunden. Ich spüre Dich als Masche in einem Netz, als Lücke zwischen zwei Bäumen, als den Himmel zwischen Wolken. Du bist da, aber man nimmt Dich nicht wahr als das, was Du bist, sondern nur als das, was sich Deinetwegen begrenzt.“
„Ich verstehe nicht, was Du sagst.“
„Du wirst es verstehen.“
„Das glaube ich nicht. Ich weiß kaum etwas über mich und über meine Kraft. Alles, was ich weiß, habe ich von anderen erfahren, und ich bin mir nie sicher, wie viel von dem, was jene mir sagten, tatsächlich stimmt.“
„Wer kann das schon wissen? Ich bin seit langem unsichtbar und doch sichtbar. Ich bin der Schatten meines Schattens. Ich weiß kaum noch, wie ich war, bevor ich Zugang zu meiner Kraft fand, und doch fühle ich, dass ich irgendwann einmal auch anders gewesen bin. Die Wirklichkeit ist das, was wir sehen wollen, was wir formen, was wir wünschen.“
„Warum bist Du dann noch hier?“
„Weil meine Wünsche nicht stark genug sind. Weil meine Wünsche keine Mauern versetzen, keine Tore öffnen können. Aber Du kannst das!“
„Nicht, ohne alles zu zerstören, was um mich ist. Terno wollte mich lehren, meine Kraft gefahrlos einzusetzen, doch er konnte mir nicht wirklich helfen. Vielleicht wollte er es auch nicht wirklich.“
„Was ist mit ihm geschehen?“
„Er ist verschwunden.“
„Warum bist Du ihm nicht gefolgt?“
„Er ist nicht gegangen, er ist einfach verschwunden. Seine Art kann das. Sie verlassen die Wirklichkeit und kehren in die Ströme von Kraft und Leben zurück.“
„Terno ist ein Jenseitiger?“
„Ich kenne das Wort nicht, doch nach dem, was er von seiner Art erzählt hat, dass sie der jenseitigen Welt entstammen und von dort nach hier wandern können, nehme ich an, dass man sie so nennen könnte.“
„Es gibt einige Legenden über sie. Viele sagen, dass sie von den Göttern selbst abstammen, aber …“
„Es gibt keine Götter, sagt Terno.“
„Genau! Er muss ein Jenseitiger sein!“
„Dann konnte ich ihm darum nicht folgen, denn ich bin nicht von seiner Art.“
„Du könntest es aber sein.“
„Wenn ich die Welt zerstöre?“
„So weit wollen wir mal nicht gleich gehen. Fürs Erste reicht es vielleicht, wenn Du Deine Kraft beherrschst, ohne Dinge mit ihr anzurichten, die Du nicht geplant hast.“
„Das wäre gut. Ich kann nicht ewig davonlaufen. Mal von Hunger und Durst abgesehen.“
„Ich habe länger nichts mehr gegessen, als ich mich erinnern kann.“
„Du beziehst Deine Stärke aus der Kraft.“
„Ja. Warum machst Du das nicht?“
„Weil sie mich dadurch finden können. Wenn ich mich von der Kraft nähre, bin ich auffindbar.“
„Wer verfolgt Dich? Außer den Soldaten der Stadt offensichtlich.“
„Andere von Ternos Art. Sie wollen mich vernichten. Ich weiß nicht warum.“
„Umso wichtiger ist es also, dass Du Deine Kraft anzuwenden lernst. Ich kann es Dir beibringen.“
„Wie willst Du etwas schaffen, woran schon zwei andere gescheitert sind, deren Kraft für mehr ausreichend war als Unsichtbarkeit?“
„Weil ich Dich benutzen will, um mich zu befreien. Wir teilen das Interesse, Deine Kraft zu entwickeln aus zunächst gleichen Gründen. Wir wollen beide nicht hierbleiben, und um zu fliehen, muss ich Dich lehren, was Du noch nicht lernen konntest.“
„Dann lass uns beginnen. Folge meiner Stimme.“

Sobekan hielt Wort. Zuerst war es ein irritierendes Gefühl, meinen Körper bewusst hinter mir zu lassen, doch Sobekans Stimme und damit wahrscheinlich auch sein Wille zogen an mir und halfen mir damit über die ersten Schwellen hinweg, bis tatsächlich mein Körper nur ein Gedanke, eine Erinnerung, ein Kleidungsstück war, das in der Zelle zurückblieb. Ich erinnerte mich an Mandus Baum und den Eintritt in meinen Körper damals und fragte mich, ob es wieder so schmerzhaft werden würde, wie damals, doch gleichzeitig mit Sobekans beruhigenden Worten, dass es nicht so sein würde, erinnerte ich mich an Ternos und Mandus Worte, dass es nie wieder so sein würde. Gleichzeitig aber war die Verlockung groß, nie wieder in meinen Körper zurückzukehren, denn wozu, fragte ich mich, brauchte ich denn einen sterblichen Körper, wenn ich meinen Geist auch einfach von ihm lösen konnte.
„Versuche es nicht“, warnte mich Sobekan. „Dein Geist ist nur so stark wie Dein Körper. Verlass nicht Deinen Körper mit dem Wunsch, nicht zurückzukehren, oder er wird Dich erwarten wie ein verschlossenes Haus.“
Ich dachte zurück an meinen Körper und spürte mich ihm gleich näher und auch den Sog, den der Körper auf meinen Geist ausübte, der ihn lockte, sich in ihn fallen zu lassen, statt die Anstrengung aufzubringen, sich von ihm fern zu halten. „Vertraue Deinem Gefühl“, sagte Sobekan, „und kehre zurück, wenn Dein Körper nach Deinem Geist ruft. Je besser er versteht, dass Du ihn nicht auf immer verlässt, sondern immer wieder zurückkehrst, desto eher wird er auch Deine Abwesenheit ertragen. Geh zurück.“
Und ich ging. Tatsächlich glitt mein Geist in meinen Körper wie Remde mich vor so scheinbar langer Zeit in sein Hemd gekleidet hatte. Und wie damals fühlte es sich an, als säße nicht alles richtig. Sobekan wusste das, denn er sagte: „Du musst Dich richtig strecken, damit Du alle Bereiche Deines Körpers erreichst. Mit mehr Übung wird Dir das besser gelingen, am Anfang aber ist es eine wichtige zu wiederholende Übung.“

In den nächsten Stunden übte ich das Verlassen un Betreten meines Körpers bis zur Erschöpfung. Ich hätte nicht gedacht, dass das rein geistige Reisen so anstrengend sein würde. Als ich das Sobekan gegenüber erwähnte, stimmte er mir zu. „Es ist wirklich anstrengend, doch unerlässlich, um Dich selbst auch dann wiederzufinden, wenn Du Dich verlierst. Wenn Du Teil dieser und der jenseitigen Wirklichkeit werden willst, musst Du Dich vertraut machen mit den Gegebenheiten in und außerhalb Deines Körpers.“
„Ist es gefährlich?“
„Ja. Es ist sogar sehr gefährlich. Du kannst, wenn Du unachtsam bist, vertrieben werden oder einfach nur den Kontakt zu Deinem Körper verlieren. Auch darum musst Du üben, denn je sicherer Dein Körper Deinen Geist erkennt, umso stärker ist Eure Verbindung, und irgendwann kannst Du vielleicht umkehren, was ich sagte: dann wird nicht Dein Körper die Stärke Deines Geistes bestimmen, sondern Dein Geist Deinen Körper tragen können, auch wenn er selbst keine Kraft zu haben glaubt.“

In dieser Nacht schlief ich nicht gut. Ich schreckte oft hoch, weil ich Stimmen gehört hatte, weil ein Geräusch neben mir war oder ich einfach nur Hunger hatte. Doch jedesmal, wenn ich aufwachte, war Sobekans Stimme da, die mich beruhigend wieder in den Schlaf wiegte.
Der Morgen brachte Schreie. In der Nacht hatten die Soldaten einen jungen Mann gebracht, der um sein Leben bat, bettelte, der schrie und weinte, doch die Soldaten hatten ihn einfach in eine Zelle geworfen und ihn dort liegengelassen. Sobekan berichtete mir das, woher er es wusste, fragte ich nicht nach, immerhin war er die ganze Nacht über wach gewesen, ich hatte nicht mitbekommen, wie Türen geöffnet oder geschlossen worden waren. Ich hörte nur am Morgen die Schreie, die zu diesem Zeitpunkt schon lange angedauert hatten, wie Sobekan sagte.
„Können wir ihm nicht helfen?“
„Was willst Du tun?“
„Kannst Du ihn nicht beruhigen? Ihm Mut machen?“
„Was soll ich ihm sagen? Dass alles gut wird? Dass er überlebt? Der Junge hat keine starke Verbindung zur Kraft, ich könnte ihn nicht einmal etwas lehren, wenn er es wollte. Er wird hier sterben.“
„Das darf er nicht!“
„Das wird er aber, wenn er nicht gerettet werden kann.“
„Dann werde ich auch ihn retten.“
„Zuerst musst Du Dich selbst retten. Alle anderen müssen warten. So wie auch ich gewartet habe und warten werde, bis Du genug gelernt hast.“
Als die Schreie des Jungen in Schluchzen und dann leises Weinen überging, waren wir in unserem Unterricht schon weiter gekommen. Sobekan musste mich mitunter sogar bremsen, wenn er das Gefühl hatte, dass ich mich zu rasch von mir fortbewegte. Einmal hörte ich nicht auf ihn, sondern testete, wie weit ich meinen Körper hinter mir lassen konnte, ohne ihn nicht mehr zu spüren. Ich glitt fort von mir, fühlte die wachsende Distanz, und eine seltsame Aufregung erfasste mich, gemischt mit Neugier und Angst. Denn ich wusste, dass das, was ich tat, gefährlich war, denn ich hatte keinen anderen Halt als die seltsam blasse Erinnerung an meinen Körper, der im Dunkel einer Zelle lag. Und dann hörte ich fern Sobekans warnende Stimme wieder, die mich rief, die bat und bettelte, die mir befehlen wollte, doch ich konnte ihm nicht Folge leisten, ich wollte frei sein, wollte mich nicht wieder in diesen Körper begeben, wollte nicht weiterleiden. Ich wollte fort von diesem Ort und das Jenseitige erreichen, ich wollte alles tun, was ich nicht konnte und doch: ich brachte es nicht über mich, wirklich zu gehen.
Und so fasste ich den Entschluss, zu bleiben, so lange zu bleiben, bis ich mich befreit hatte, Sobekan und den Jungen befreit hatte, und ich würde herausfinden, was ich musste, um nicht mehr Gejagte zu sein, sondern Jägerin zu werden. Ich würde, sobald ich genug gelernt hätte, die Drei herausfordern und gegen sie kämpfen, gegen das, was sie mein Schicksal nannten, ankämpfen. Ich würde ihnen das Schlachtfeld nicht alleine überlassen. Ich musste zurück. Und langsam und zäh tastete ich mich zurück, zwang mir das Bild meines im Dunkeln liegenden Körpers vor Augen, streckte mich aus und weiter und tastete mich langsam voran, langsamer, und je langsamer ich wurde, umso furchtsamer, denn ich fand keinen Weg, ich fühlte keinen Körper, ich sah kein Zurück. Ich war zu weit gegangen.

23 | Die Straßen von Tharb

Yelda
November 21, 2010
Die Straßen von Tharb waren voller Menschen, Staub und Lärm. Zwischen den engstehenden Häusern, über denen nur schmale Streifen eines blaßblauen Himmels zu sehen waren, drängten sich grau und braun gekleidete Menschen in allen Größen und Formen aneinander vorbei und drängten uns vier, die wir aus dem Hafendistrikt kamen, sofort wieder an das Tor zum Hafen zurück.

„Wie werden wir das Brückentor finden?“, fragte ich Antejar, doch der schüttelte nur den Kopf und sagte: „Gar nicht, denn wir werden keinen Heiler aufsuchen. Kein Heiler kann Dir helfen, denn Du brauchst, wie Du sagst, einen Zauberer. Und die finden wir nicht am Brückentor.“
„Wo finden wir sie dann?“
„Das“, sagte Antejar, „ist eine gute Frage.“
Doch ich hatte nicht auf ihn gehört, sondern gleich eine ältere Frau, die uns in diesem Moment passierte, gefragt: „Kannst Du uns sagen, wo wir einen Zauberer finden?“ Die Frau machte nur ein seltsames Zeichen mit der Hand und eilte weiter.
„Tu das lieber nicht“, sagte Antejar zu mir. „Überhaupt sollten wir uns hier wegbewegen. Ich bin mir relativ sicher, dass der Hafenmeister uns die Geschichte, die wir ihm erzählt haben, nicht glaubt. Solange die Neuigkeit von Deiner Ankunft noch nicht den Hafen verlassen hat, sind wir auf jeden Fall sicher. Danach werden wir wahrscheinlich nicht mehr sicher sein.“
„Nicht sicher?“
„In den Städten der Menschen wirst Du etwas begegnen, das du noch nicht kennst, das aber die Menschen ausmacht. Sie schaden sich gegenseitig auf manchmal unvorhergesehene Weise, und je länger die Menschen in einer Stadt leben, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie ihren eigenen Vorteil über das Wohl anderer setzen.“
„Du meinst, er wird anderen sagen, dass wir da sind? Warum?“
„Weil Du wirklich eine besondere Besucherin der Stadt bist. Du weißt selbst, dass Du nicht aussiehst wie die Menschen.“
„Ich bin größer und habe eine andere Haarfarbe, das schon. Aber so sehr anders als Ihr Menschen bin ich doch nicht.“
Bamar lachte.
„Warum machst Du das?“ fragte ich ihn.
„Weil selbst ich, der ich mich nicht an mehr als fünf Menschen erinnern kann, weiß, dass Du anders bist als andere. Du bist blasser, größer, vor allem aber strahlst Du etwas aus, das andere verunsichern kann, das sie aber auch Dir zuzieht. Die Menschen sehen, dass Du anders bist, wie ein Tier ein anderes als nicht zu seiner Art gehörig erkennt.“ Er holte tief Luft. „Und gerade diese Andersartigkeit, die die Menschen anzieht wie die Motten das Licht, hat mich aus der Tiefe meines Selbst geholt. Ich weiß nicht, was Du getan hast, aber bevor ich im Körper eines jungen Mannes erwacht bin, nachdem ich in meiner Kindheit eingeschlafen bin, habe ich Dich gespürt, habe Deine Energie wie einen Lichtstrahl gespürt, dem nachzugehen ich mich nicht weigern konnte. Du hast mich gerettet, und viele andere Menschen, die gerettet werden wollen oder müssen, spüren, dass Du das kannst. Wieder andere fürchten, dass Dein Licht etwas in ihnen beleuchtet, das sie nicht sehen wollen oder das andere nicht sehen sollen. Sie wollen lieber im Schatten leben und darum fürchten sie Dich. Sie sind es, die Dir schaden wollen.“
„Dann sollten wir mich vielleicht lieber irgendwo unterbringen, wo ich nicht gesehen werde?“ schlug ich vor, auch wenn mir eher danach war, durch die Stadt zu gehen und mir diese vielen unbekannten Dinge anzusehen, die die Stadt sicherlich für mich bereit hielt. Allein schon in der kurzen Zeit, die wir hier am Hafeneingang standen, war mir schon so vieles aufgefallen, das ich mir gerne näher angesehen hätte, aber nicht konnte, da ich wusste, meine drei Begleiter würden nicht mitkommen wollen.
„Das sollten wir allerdings“, sagte Antejar. „Und ich habe auch schon eine Idee, wo wir einen Unterschlupf finden könnten.“

22 | Ankunft im Hafen

Yelda
November 19, 2010
Der Nordhafen von Tharb breitete seine breiten Arme um unser Boot und öffnete uns das ruhige Hafenbecken. Antejar steuerte uns mithilfe eines Ruders auf einen schmalen Steg zu, an dem schon weitere Boote vertäut waren. Ein Mann, der uns offensichtlich schon von weitem gesehen hatte, winkte uns, ihm näher zu kommen. Als wir nahe genug waren, warf er uns ein Seil zu, das Baneh fing, und an dem entlang er und sein Bruder das Boot den restlichen Weg bis zum Steg zogen.

Der Mann ließ uns auf den Steg klettern, bevor er uns fragte: „Wie lauten Eure Namen und warum seid Ihr nach Tharb gekommen?“
„Ich bin Baneh, das ist mein Bruder Bamar. Wir sind nach Tharb gekommen, um hier zu arbeiten. Und dies ist“, er zeigte auf Antejar, „Antejar, der uns mit seinem Boot hierhergefahren hat.“
„Ich bin Antejar Schiffahrer.“
Der Mann der Stadt sah mich an, und sagte: „Und wer bist Du? Du siehst anders aus als andere Menschen.“
„Ich bin Yelda.“
„Was willst Du hier?“ Seine Worte kamen schnell, als wollte er mich damit verletzen. „Was führt jemanden wie Dich in die große Stadt Tharb?“
„Ich bin auf der Suche nach einem …“ begann ich, doch Antejar unterbrach mich: „Nach einem Heiler. Yelda sieht nur anders aus, weil sie eine seltsame Krankheit hat, sie hofft, dass ein Heiler der Stadt Tharb ihr helfen kann.“
„Ist das wahr?“ fragte der Mann mich, doch bevor ich antworten konnte, sagte Bamar: „Natürlich ist das wahr. Der Schiffahrer lügt nicht. Die Götter hätten sein Boot vor Tharb versenkt, hätte er geplant, in Tharb Lügen auszusprechen.“
„Und welchen besseren Beweis für die Wahrhaftigkeit von Antejars Worten könnte es geben als unsere unversehrte Ankunft im schützenden Hafen der großen Stadt Tharb?“ fügte Baneh hinzu. Ich verstand nicht genau, was das sollte, immerhin hatte Antejar nicht die Wahrheit gesagt und sein Boot war untergegangen, doch das konnte der Mann nicht wissen. Als der Mann der Stadt Baneh ansah, blickte Antejar mich an und zog die Augenbrauen hoch, als wollte er mir ein Zeichen geben.
„Ist das wahr?“ fragte der Mann der Stadt mich erneut, und diesmal sagte ich nichts, sondern nickte bloß, wie Antejar es mir hinter dem Rücken des Mannes vormachte. „Dann sei es so. Ihr findet Heiler nahe dem Hafen am oberen Brückentor. Werdet ihr das finden oder soll ich jemanden bestellen, der Euch führt?“
„Wir werden es finden.“
„Ihr habt drei Tage, bevor Euer Boot beschlagnahmt wird. Kommt Ihr nicht vorher zurück, um Bericht über Eure Fortschritte zu erstatten, gehört Euer Boot der Stadt Tharb und Ihr werdet, wenn aufgefunden, der Stadt verwiesen.“
Er ließ Baneh und Antejar noch ihre Säcke aus dem Boot nehmen, dann sagte er: „Nun geht.“

21 | Kurzes über Tharb

Yelda
November 18, 2010
Vor allem aber blieben mir die Menschen im Gedächtnis. Die größte Ansammlung von Menschen, die ich bisher gesehen hatte, war ebenfalls das Dorf gewesen mit seinen zwanzig Familien. In Tharb dagegen lebten, so schätzte Antejar, 20000 Menschen, was mir später, als ich allein in der Stadt lebte, noch unwahrscheinlicher vorkam als zum Zeitpunkt meiner Ankunft mit dem Schiffahrer und den Brüdern.

Ich weiß nicht mehr, was ich gedacht habe, wie es in der Stadt sein würde, wie ich weitermachen würde und was danach käme. Ich glaube nicht, dass ich erwartet habe, was kam. Vom ersten Moment an, da ich den Boden von Tharb betrat, waren alle vorher gemachten Pläne bedeutungslos.

Antejar hatte mir eine Sage erzählt, nach der Tharb die erste Stadt der Menschen sei, dass aber nicht die Menschen die ersten Lebewesen seien, die hier lebten. Als die ersten menschlichen Siedler hierhergekommen seien, hätten sie schon befestigte Mauern von enormer Größe vorgefunden, die auch heute noch das Fundament des innersten Rings der Stadt bildeten. Lange Zeit blieb jener Bereich innerhalb der Mauern auch unbebaut, da man dachte, die Götter selbst hätten sich diesen Ort zu ihrem Sitz erkoren. Erst in späterer, weniger göttergläubiger Zeit, habe man dann auch den inneren Ring bezogen, da man erkannt habe, dass die Mauern selbst einen Schutz böten, den man außerhalb niemals bekommen würde. Zunächst hatte man nur den Göttern geweihte Gebäude errichtet, bis später auch weltliche Gebäude hinzukamen.
Die Gewissheit aber blieb, dass die Götter den Hügel von Tharb berührt hätten, und selbst wenn man, wie Antejar es von sich sagte, nicht an die Existenz von Göttern glauben wolle, könne man doch nicht leugnen, dass die Stadt an einem besonderen Ort erbaut worden war.
Wie besonders dieser Ort war, dessen waren sich die wenigsten Bewohner der Stadt tatsächlich bewusst.

20 | Kurz vor Tharb

Yelda
November 17, 2010
Tharb war die erste Stadt, die ich je sehen sollte, und auch wenn ich später noch andere, größere Städte sehen sollte, war ich nie wieder so überwältigt von einer menschlichen Siedlung wie von Tharb.

Wir hatten einen weiteren Tag auf dem Fluss verbracht. Baneh erzählte Bamar viel über ihre Eltern und die Zeit, die vergangen war seit Bamars Sturz, Antejar steuerte das Boot, und ich dachte über das nach, was Antejar mir erzählt hatte. Ich hatte Fragen gehabt und Fragen beantworten müssen. Antejar glaubte mir, dass ich vieles nicht wusste, dass ich vieles, was die Menschen als selbstverständlich hinnehmen, nicht verstand. Vor allem aber versuchte Antejar mehr als alle anderen Lehrer, die ich bisher gehabt hatte, Remde, Mandu und Terno, dies nicht nur zu respektieren, sondern auch auf Basis meiner Unkenntnis zu argumentieren.
„Krieg“, hatte er mir erklärt, „ist wie ein Streit. Du hast Dich mit Terno gestritten, sagst Du, als weißt Du, was das bedeutet. Krieg allerdings ist größer als jeder Streit, den Du je mit Terno haben könntest. In einem Krieg sterben Menschen.“ Er machte eine Pause, suchte nach Worten. „Und die Menschen, die sterben, sind selten jene, die der eigentliche Streit betrifft. Ein Krieg ist ein Streit, der statt mit Worten mit Toten geführt wird.“
„Das klingt furchtbar.“
„Es ist schlimmer als es klingt. Alle Worte, die man benutzen kann, um zu beschreiben, dass Menschen, die man kannte, mit denen man getrunken, gelacht und geliebt hat, vor den eigenen Augen von Fremden ermordet werden, können nicht das Grauen der Wirklichkeit umfassen, die hinter den Worten stecken.“ Er verstummte.
„Du hast bereits Kriege erlebt.“
„Einen. Und auch dieser ist einer zuviel.“
„Worum ging es in diesem Krieg?“
„Um Land, um Reichtum, um Neid, ich weiß es nicht genau. Meine Heimat wurde überfallen von Kriegern eines anderen Landes, vielleicht gab es auch Provokationen von unserer Seite. Oft kann man nach einem Krieg nicht mehr sagen, wer wann den Grundstein gelegt hat. Und man kann auch nie wirklich sicher sein, wer den Krieg gewonnen hat, denn am Ende haben alle Seiten verloren.“
„Zu welcher Seite gehörte Tharb im Krieg? Zu Deiner?“
„Tharb liegt weit fort von meiner Heimat. Der Krieg ist nie bis hierher gekommen und wird es hoffentlich auch nie. Man kann allerdings nie wissen.“ Mit einem Blick auf Bamar fügte er hinzu: „Es sind schon unwahrscheinlichere Dinge geschehen.“

Tharb, erklärte mir Antejar, sei eine mittelgroße Stadt, die auf einem Hügel in einer Flussschleife liege. Auf drei Seiten war es von Wasser umgeben, auf der vierten Seite von einer großen Mauer. Die Zugänge in die Stadt bildeten neben einem großen und zwei kleinen Toren auf der Landseite drei Brücken über den Fluss sowie je ein Hafen im Norden und im Süden. Auf der anderen Flussseite lagen viele kleine Dörfer und Bauernhöfe, die den Menschen in der Stadt Nahrung lieferten und dafür Waren bekamen, die sie selbst nicht herstellen konnten oder wollten. Das erschien mir sinnvoll, wenngleich ich mir nicht genau vorstellen konnte, was die Stadt bieten konnte.
War ich naiv.

Als wir Tharb erreichten, war ich zunächst überwältigt von der Menge an unbewachsenem Stein, die sich vor uns erhob. Da die einzigen Bauwerke von Menschenhand, die ich bisher gesehen hatte, die Holzhäuser von Remdes Dorf waren, erschienen mir die hohen Häuser und Türme, die wie graue Zähne in den Himmel bissen zunächst befremdlich, wie ein enorm großer, versteinerter Igel, der sich vor so langer Zeit zum Schlafen niedergelegt hatte, um nie wieder aufzuwachen, dass mittlerweile ein Fluss seine Beine überspült hatte.
Ich konnte mit lange nicht vorstellen, dass Menschen all dies erbaut haben sollten, nur mit der Kraft ihrer Hände. Ich nahm an, dass die Türme so gewachsen und dann ausgehöhlt worden waren, was an sich schon eine enorme Leistung dargestellt hätte. Dass tatsächlich aber die Menschen selbst so viel Gestein, Holz und Lehm aufeinander getürmt hatten, dass diese prachtvollen Gebäude entstanden waren, erschien mir mehr als unwahrscheinlich.
Später, sehr viel später, habe ich natürlich andere Städte gesehen, die reicher und protziger waren als die einfachen Steintürme von Tharb. Und auch wenn ich goldbemalte Wände im Sonnenuntergang habe leuchten sehen und juwelenverzierte Königspaläste, hat mich von allen Orten menschlicher Machart doch immer noch Tharb am meisten beeindruckt und geprägt.

19 | Bamars Traum

Yelda
November 16, 2010

Tatsächlich fanden wir den Proviant bald wieder, die Zweige einer ausladenden Weide hatten ihn vor dem Weitertreiben bewahrt. Antejars Boot fanden wir am folgenden Tag, angespült auf einer Sandbank, die mitten im Fluss lag. Antejar schwamm hinüber und brachte es an unser Ufer. Wir setzten die Reise nach Tharb im Boot fort und erreichten die Stadt nach zwei Tagen Fahrt.

Bamar und Baneh waren jung, wie ich erfuhr. Zusammen erreichten sie nicht Antejars Alter. Seit ihrer Kindheit hatte sich Baneh um Bamar gekümmert, seit jeher war Bamar ein Träumer gewesen, unfähig, auf sich selbst zu achten. Baneh liebte seinen Bruder sehr, auch wenn er ihn nie wirklich verstand. Vor allem aber seine Träume machten ihm Angst. Sie machten uns allen Angst.
Seitdem das Boot gekentert war, fuhr Antejar nicht mehr nachts, so dass wir an Land schlafen konnten. Meistens blieb Baneh wach, so dass er es auch war, der Bamars Traum als erster wahrnahm.
„Bamar“, flüsterte er, „Bamar, wach auf, Du hast einen schlimmen Traum. Bamar.“
Doch Bamar wachte nicht auf, also schüttelte ihn Baneh ohne Erfolg, bis Bamar anfing lauter zu sprechen und unverständliches zu rufen.
„Bamar, sei ruhig. Du weckst noch die anderen.“
„Zu spät Junge“, brummte Antejar, und auch ich war bereits wach geworden.
„Was ist los?“
„Bamar träumt. Er will aber nicht aufwachen. Es ist kein guter Traum.“
„Dann lass ihn Träumen, Junge. So schlimm scheint er ihm nicht zu bekommen, wenn er nicht aufwachen will.“
„Ich glaube, er kann nicht.“
Ich ging hinüber zu den beiden. Bamar sah wirklich nicht aus, als wäre sein Traum angenehm. Die Muskeln in seinem Gesicht waren angespannt und die Hände zu Fäusten verkrampft. Ich nahm eine seiner Hände und spürte das Zittern seiner Muskeln. Als ich seine Faust aufbog, sah ich, wie sich seine Fingernägel in die Handfläche gegraben hatten, sie hatten dunkelrote Halbkreise hinterlassen. Ich legte ihm Bamar meine freie Hand auf die Stirn, um ihn zu besänftigen, doch dann blitzte ein Bild in meinem Bewusstsein auf. Ich schrak zurück und brach die Verbindung zwischen Bamars Haut und meiner Hand. Die Vision war verschwunden, doch Bamar wälzte sich immer noch wimmernd auf dem Boden.
Baneh, der meine Reaktion bemerkt hatte, sagte: „Was ist los? Ist etwas nicht in Ordnung?“
„Ich weiß nicht. Ich habe etwas gesehen. Ich weiß nicht was?“
„Hast Du gesehen, was ihm Angst macht? Konntest Du seinen Traum sehen?“
„Ich glaube ja. Ich habe etwas Leuchtendes in großer Dunkelheit gesehen, und diese Dunkelheit näherte sich diesem Leuchten, als würde es gerufen.“
„Wird Bamar verschlungen?“
„Nein, ich glaube nicht, dass er es ist“, sagte ich zögernd.
„Können wir ihn dann nicht einfach träumen lassen?“ Antejar klang nicht mehr schläfrig.
„Ich glaube nicht.“ Ich hatte die Befürchtung, den Ursprung der Dunkelheit zu kennen, und auch, was es bedeuten könnte, hätte sie Bamars Geist erreicht. „Irgendwie müssen wir ihn wecken.“ Ich hatte kaum ausgeprochen, als Antejar schon an meiner Seite stand und Wasser aus einem Beutel in Bamars Gesicht spritzte. Baneh und ich sahen ihn an, und Baneh sagte: „Ich glaube nicht, dass das wirkt.“
„Hätte ja sein können“ grummelte Antejar.
„Ich glaube, ich kann ihm helfen.“
„Wie? Was wirst Du tun?“
„Ich weiß nicht genau, wie ich es tun werde, aber ich werde versuchen, seinen Geist davon zu überzeugen, den Traum loszulassen.“
„Das kannst Du?“
„Vielleicht. Vielleicht bringe ich uns alle damit in größere Gefahr, als wir durch Bamars Traum jetzt schon sind, aber wenn ich es nicht wenigstens versuche, dann könnte Bamar sterben. Und vielleicht wäre er nicht der einzige.“
„Wir sind in Gefahr, weil der Junge träumt? Wieso das denn?“
„Ich kann es nicht erklären. Noch nicht. Ich glaube, mir bleibt nicht viel Zeit.“
Ich wartete nicht darauf, dass Baneh oder Antejar etwas sagten, sondern legte Bamar meine Hand auf die Stirn.

Diesmal wusste ich, was passieren konnte, und zuckte nicht zurück, als mein Bewusstsein von dem leuchtenden Punkt in der wallenden Dunkelheit angezogen wurde. Ich fühlte, ich kam näher, und je näher ich kam, desto besser konnte ich erkennen, was das Leuchten verursachte. Es war ein Kind, Bamar, weit jünger als jetzt, und er hielt einen Gegenstand fest. Tatsächlich war es nicht der Junge, der leuchtete, sondern der Gegenstand, der sein Licht durch den Körper des Kindes hindurchstrahlte.
„Bamar“, sagte ich, und tatsächlich blickte der Junge von dem schimmernden Gegenstand auf, der sein Gesicht fahl leuchten ließ.
„Yelda. Du bist hier.“
„Wir sollten nicht hier sein.“
„Das Dunkel kommt.“
„Ja. Darum müssen wir fort.“
„Nein. Wir müssen bleiben.“
„Aber wird uns das Dunkel nicht verschlingen?“
„Vielleicht.“
„Was passiert, wenn uns das Dunkel in Deinem Traum verschlingt?“
„Es ist kein Traum. Es ist die Wirklichkeit. Schau.“ Und er hielt mir die leuchtende Kugel so, dass ich hineinsehen konnte. Ich sah mich, über einen Körper gebeugt, neben mir Antejar und Baneh.
„Warum sind wir hier?“
„Ich habe Dich gerufen.“
„Du hast mich gerufen? Warum?“
„Damit Du die Wahrheit erkennst. Damit Du erkennst, dass Du Dich nicht verstecken kannst.“
„Was meinst Du?“ Plötzlich schien Mitleid nicht das Gefühl zu sein, das ich Bamar entgegenbringen wollte. Im Gegenteil machte er mir Angst, und ich war mir nicht sicher, ob es eine weise Entscheidung gewesen war, mich den Männern anzuschließen.
„Ich weiß, dass Du Angst vor dem Dunkel hast. Aber Du kannst nicht verhindern, dass es Dir folgt. Wenn Du immer davonläufst, wirst Du nie gewinnen können.“
„Ich weiß nicht, was ich gewinnen oder verlieren werde. Ich weiß nicht, wovon Du sprichst.““
„Natürlich weißt Du es nicht, denn Du willst nicht sehen.“ Er hob den Blick von der Kugel in seiner Hand und wandte mir sein Gesicht zu, das ich bisher nicht hatte erkennen können. Seine Augenhöhlen waren leer, die Löcher, wo einmal seine Augen gesessen hatten, waren blutverkrustet und schwarz. „Glaub mir, nicht sehen zu wollen, kann schlimme Folgen haben.“
„Was ist mit Dir geschehen?“
„Das ist nicht wichtig.“ Er drehte seinen Kopf wieder zurück, als wolle er erneut in die leuchtende Kugel sehen. „Was zählt ist, dass Du lernen musst, Deine Augen zu öffnen.“
„Du bist nicht Bamar.“
„Und doch ist er Herr über sich selbst.“
„Sind wir in seinem Geist?“
„Wir sind in der Welt hinter der Wirklichkeit. Bamars Geist hütet ein Tor dorthin. Wir schaden ihm nicht, wenn wir hier sind.“
„Wie kann es sein, dass er ein Tor ist? Er ist ein Mensch!“
„Sein Geist wandert zwischen so vielen Möglichkeiten, er kann nicht ahnen, dass er die Möglichkeit eines solchen Dunkels in sich trägt.“
„Wie kann ich ihm helfen?“
„Du bist nicht hier, um ihm zu helfen, noch wäre es möglich.“
„Kannst Du es?“
„Nein.“
„Dann sag mir wenigstens, wer Du bist.“
„Ich bin Teil der Welt hinter der Wirklichkeit. Wir haben uns nicht in dieser Zeit getroffen, und doch kenne ich Dich besser als Du Dich selbst.“ Er lachte leise, ein Lachen, das nicht zu dem Kind passen wollte, aus dessen Körper es kam. „Nicht dass das schwer wäre.“
„Du weißt, wer ich bin?“
„Ja.“
„Dann sag es mir.“
„Das kann ich nicht tun. Es ist Teil Deiner Geschichte, Teil Deines Wesens, es selbst zu erfahren. Alles, was ich Dir sagen würde, hinderte Dich daran, Deine Bestimmung zu erfüllen.“
„Was kann ich tun, um mehr über mich zu erfahren?“
„Du bist auf dem richtigen Weg. Du hattest die richtigen Lehrer. Du musst zwei Dinge noch lernen: Deine Kraft zu lenken und den Schatten, der Teil Deiner Kraft ist, nicht zu fürchten.“
„Aber wie sollte ich ihn nicht fürchten, wenn er alles auslöscht, das um mich ist?“
„Wenn Du den Schatten fürchtest, behält er seine Macht über Dich. Der Schatten überzieht die Welt mit Deiner Angst und löscht nur darum alles aus, was ist. Wenn Du dem Dunkel Macht gibst, wird es sie haben und benutzen.“
„Wird mir die Dunkelheit denn nicht schaden?“
„Sie ist kein eigenständiges Wesen, sie ist Teil Deiner Macht. Du trägst sie in Dir. Wenn sie über Dich kommt, wird sie Dir nicht Dein Selbst nehmen, aber sie nimmt Dir, worum Du fürchtest.“
„Warum gibt es sie?“
„Du kennst die Antwort. Bamar erwacht bald, wir haben nicht mehr viel Zeit.“
„Werden wir wieder miteinander sprechen?“
„Vielleicht. Diese Art der Kommunikation ist nicht ungefährlich, denn sie verrät Dich und mich. Momentan erwartet es noch niemand, darum brauchen wir hierfür keine Strafe zu erwarten.“
„Strafe?“
„Es gibt Unsrige, die Dich fürchten und vernichten wollen. Sie bestrafen auch jene, die Dir helfen wollen, wenn sie es herausfinden.“
„Sind darum Deine Augen verletzt?“
„Es spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass wir uns in einem Krieg befinden, und alle Parteien das Schlachtfeld verlassen haben. Der Kampf tobt im Geheimen weiter und es scheint, als fiele Dir eine entscheidende Bedeutung zu.“
„Ein Krieg? Was bedeutet das?“
„Die Dunkelheit ist nicht alleine eine Sache der menschlichen Welt. Wir alle gewinnen und verlieren. Die Zeit ist vorbei. Du hast Freunde auf dieser Seite, geliebte Yelda, vergiss das nicht, Du bist nicht allein.“
„Was bedeutet das alles?“ rief ich, doch die Dunkelheit, die uns umgab, flutete über mich hinweg. Gleichzeitig wurde mir bewusst, dass jemand neben mir auf mich einredete, und ich drängte die verwirrenden Gedanken über das Gespräch in den Hintergrund, um mich mehr auf die Stimme zu konzentrieren, von der ich wusste, dass sie mich zurück an die Oberfläche meines Bewusstseins bringen würde und an das Ufer des Flusses. Und dann war ich dort.

Bamar war wach, sein Bruder hatte sich über ihn gebeugt und umarmte ihn. Antejar stand ein Stück abseits, er hatte ein Feuer entzündet, das Wärme und Licht spendete. Sein Schatten flackerte über den Fluss in seinem Rücken, sein Blick aber war auf Bamar und mich gerichtet. Noch immer hielt ich Bamars Hand, doch ich spürte, dass das Tor, das in seinen Gedanken gewesen war, nun geschlossen und nicht mehr erreichbar war.
„Baneh?“ Bamars Stimme klang anders, als ich sie bislang gehört hatte, so als sei er überrascht darüber, wo er war. Als sei er überrascht darüber, überhaupt am Leben oder wach zu sein. „Baneh? Wo sind wir? Was ist passiert? Wo sind die Bäume?“
„Welche Bäume meinst Du?“
„Bin ich denn nicht … Habe ich etwa geträumt?“
„Was hast Du geträumt?“
„Ich war hoch auf einem Baum, wir haben einander zu übertreffen versucht und ich war so weit nach oben gekommen wie noch nie zuvor, als der Ast unter mir brach und ich fiel. Ich fiel tiefer als der Baum hoch gewesen war.“
„Das war kein Traum, Bamar. Du bist gestürzt, wir dachten, Du wärst tot. Doch wie durch ein Wunder hatte Dein Körper kaum schaden genommen.“ Banehs Augen füllten sich mit Tränen und er hatte Schwierigkeiten weiterzusprechen. „Dein Verstand aber… Mutter sagte immer, die Götter hätten ihn bei sich behalten, bevor Du gefallen bist. Es sei… der Preis dafür, dass Du ihnen zu nah gekommen wärst.“
„Mutter… wo ist sie? Warum ist sie nicht hier?“
„Sie ist gestorben.“
„Was? Wann? Ich bin doch…“
„Dein Unfall ist acht Jahre her, Bamar. Wir waren noch Kinder und jetzt sind wir Männer. Mutter und Vater sind lange schon tot und begraben, wir beide sind fern unserer Heimat. Es ist acht Jahre her.“ Tränen strömten über seine Wangen und er umarmte seinen Bruder, der offensichtlich nicht glauben konnte, was er gerade gehört hatte.
„Wie kann das sein? Wie kann ich acht Jahre geschlafen haben?“
„Du hast nicht geschlafen“, sagte ich.
Bamar sah mich überrascht an, er hatte mich bisher nicht wahrgenommen. Jetzt aber sah er mich mit einem Ausdruck des Misstrauens an, als wollte er mich verantwortlich für seinen Gedächtnisverlust machen.
„Wer ist das?“ fragte er an Baneh gerichtet.
„Du kennst sie nicht?“
„Nein. Sollte ich sie kennen? Sie sieht anders aus als andere Menschen, habe ich recht?“
„Sie heißt Yelda. Und sie ist Deinetwegen hier. Du hast sie gerufen, bevor Du wieder aufgewacht bist. Ich glaube, sie hat Deinen Geist geheilt.“
„Was war vorher? Wie war ich?“
„Du hast Dich benommen wie ein vergessliches Kind. Ich hatte immer Angst um Dich. Ich kann nicht glauben, dass Du Dich daran nicht erinnern kannst.“
„Ich kann mich an vieles nicht erinnern. An unsere Kindheit habe ich Erinnerungen und an unsere Eltern, aber an alles seit meinem Sturz nicht mehr.“
„Ich werde es Dir erzählen.“
„Das wäre gut.“
Ich stand auf und ließ die beiden allein. Ich ging zu Antejar ans Feuer und sagte: „Wie auch immer die bisherige Reise mit ihm war, jetzt wird sie anders verlaufen.“
„Ich weiß nicht, was Du getan hast, Yelda, ich denke, es war gut. Niemand sollte so sehr in sich eingeschlossen sein, wie der Junge es war. Vielleicht hatte er so sehr Angst davor, auf dem Boden aufzuschlagen, dass sein Geist sich in ihm versteckt hat aus Angst, die Schmerzen zu spüren, die der Sturz verursacht hätte. Wie auch immer Du ihm diese Angst genommen hast, Du hast ihm einen sehr großen Gefallen getan.“
„Ich weiß nicht, was ich getan habe. Aber ich glaube, es ist umso wichtiger, dass ich in die Stadt komme und jemanden finde, der mir mehr über mich erzählen kann.“
„Wir werden die Stadt morgen erreichen, dann helfen wir Dir alle suchen. Es sollte nicht schwer sein, in Tharb jemanden zu finden, der Fragen beantworten kann.“
„Ich danke Dir. Darf ich Dir eine Frage stellen?“
„Natürlich.“
„Was ist Krieg?“

Kurz nach der Halbzeit | 26021

Yelda
November 16, 2010
Plötzlich ist es schwierig geworden, die Geschichte zu fassen. Ich habe so viele Ideen gleichzeitig und doch keinen Anhaltspunkt, wo ich die ausfransenden Fäden wieder einbinden kann. Der Hintergrund der Geschichte wird komplexer als eigentlich gedacht, die Motive der Antagonisten bekommen einen völlig anderen Ton. Ich weiß nicht mehr so recht, was ich eigentlich mit der Geschichte sagen wollte. Vielleicht aber ist das genau der Punkt, wohin man in der Mitte einer Geschichte kommt, die man nicht plant und deren Verlauf man nicht vorhersehen kann.

Ich habe die letzten Tage über Schwierigkeiten gehabt, überhaupt an der Geschichte zu schreiben, da ich fortsetzen wollte, was bislang geschehen war. Doch das geht so nicht, da ich von einer anderen Prämisse ausgegangen bin. Wenn man jetzt dem Rohtext folgt, dann sind dort viele Sprünge, Ungereimtheiten und Widersprüche, teilweise auch nur dumme Entwicklungen enthalten, und ich muss mich zurückhalten, nicht auch neue Ideen für frühere Stellen dort einzufügen, wo ich sie später haben will.

Ich notiere mir die Stromschnellen, die Schwachpunkte, die Scheinwehen der Geschichte, mehr kann ich nicht tun, um die Weiterentwicklung des eigentlichen Plots nicht zu gefährden. Ich bin in einer hochgradig fluktuierenden Phase, denn jetzt nähert sich die Geschichte langsam dem Wendepunkt, wo Yelda genug über sich weiß, um von der Verlorenen und Gejagten zur Gestalterin ihres eigenen Schicksals zu werden. Es ist schwierig, sich diese Entwicklung so von der Protagonistin aus der Hand nehmen zu lassen, dass ich es noch mitbekomme und erzählen kann.
Es ist schwierig, aber ich gebe nicht auf.

18 | Antejar, Baneh, Bamar

Yelda
November 15, 2010

Ich hätte mir die Namen der drei Männer nicht über all die Zeit behalten, hätte ich sie nicht wiedergetroffen. Antejar, der Schiffahrer, wie er sich gerne nannte, obwohl er nie mehr als ein Boot sein eigen nannte und erst wenige Jahre vor seinem Lebensende sein erstes echtes Schiff bestieg, war ein großer Mann in jeder Hinsicht. Jene, die Angst vor ihm hatten, wenn sie ihn das erste Mal sahen, brachte er zum Lachen, jene, die schwach waren, stützte er. Vor allem aber erkannte er jene, die beides brauchten. Antejar wusste um seine Gutherzigkeit und schalt sich oft dafür, doch ist er friedvoll gestorben, was nicht jeder Mann von sich sagen kann, den andere fürchten und doch lieben.

Baneh und Bamar wurden Antejars beste Freunde, so sehr Antejar jemandem Freund sein konnte. Bamar war einige Jahre jünger als Baneh, sein Geist aber hatte sich irgendwo in sich verloren. Später in unseren Leben konnte ich ihm ein Stück seiner Selbst wiedergeben, doch Baneh, der sich dies mehr als alles andere gewünscht hatte, konnte es nicht mehr sehen. Baneh hatte immer den Beschützer für Bamar gespielt, und am Ende das getan, was er immer getan hätte: sein Leben für ihn gegeben.

Ich lernte die Drei weit vor der Stadt Tharb kennen, denn ihr Boot kenterte wenig nachdem ich sie nicht mehr hatte hören und sehen können. Antejar verfluchte Bamar oft dafür, dass er ihn sein Boot gekostet hatte, doch war er es gewesen, der ihm nachgetaucht war, als er in den Fluten des Flusses unterzugehen drohte. Baneh wollte nicht sagen, was genau geschehen war, doch Antejar schimpfte so oft darüber, dass ich fast das Gefühl hatte, dabeigewesen zu sein, als Bamar aufstand, an Land starrte und aufgeregt etwas rief. Antejar, der ohnehin schon gereizt war, schrie Bamar an, dann Baneh, doch bevor einer der Drei noch hätte reagieren können, lief das Boot auf einen Felsen auf, kippte und drehte sich. Baneh konnte sich aus eigener Kraft aus dem Wasser ans Ufer ziehen, doch Bamar, der niemals schwimmen gelernt hatte, ging unter. Antejar entschied sich gegen sein forttreibendes Boot und für Bamar, er tauchte dem Jungen nach und schleppte ihn gegen die Strömung schwimmend an Land. Lange bevor Antejar in der Lage gewesen wäre, seinem Boot zu folgen, war es schon außer Sicht- und Reichweite.
So fand ich sie, Antejar fluchend, Bamar weinend, Baneh leise auf seinen Bruder einredend, alle drei durchnässt und mitgenommen im hohen Gras neben dem Fluss sitzend. Vielleicht aber war es auch umgekehrt, denn kaum, dass ich in Sichtweite war, drehte Bamar sein Gesicht in meine Richtung und sagte etwas. Hätte er mich nicht gesehen, ich wäre an ihnen vorbeigegangen, denn immer noch war ich mir nicht sicher, ob ich mich wieder anderen anvertrauen wollte oder nicht. Ich brachte, so dachte ich, nicht vielen Lebewesen Glück und die wenigen, die glaubten, dass es anders wäre, stieß ich von mir aus Angst, sie zu verletzen. So aber entdeckte mich Bamar, wie er mich auch später immer wieder fand, selbst wenn ich nicht gefunden werden wollte.
„Da!“ Er stieß seinen Bruder an, der ihn beim ersten Mal nicht verstanden hatte. Er stand auf, während sein Bruder noch versuchte ihn aufzuhalten, rief: „Da ist sie!“ und lief in meine Richtung. Dann sah mich auch Baneh und er ging ein paar Schritte auf mich zu, während ich noch überlegte, ob ich weglaufen sollte. Dann aber war Antejar schon mit wenigen langen Schritten herangekommen und hielt Bamar drei Schritte vor mir mit einer Hand fest.
„Laß mich“, sagte Bamar, aber er sagte es, als meine er es nicht. Gleichzeitig sah er mich mit einem Blick an, der mich an Bukon erinnerte, der mich für eine Tochter der Götter gehalten hatte, von denen ich bislang auch nicht viel mehr wusste als dass es sie wohl gab, aber sie niemand je gesehen hatte. „Laß mich los, lass mich los.“
Antejar ließ ihn nicht los, im Gegensatz zog er ihn einen Schritt fort. „Ich habe Dich einmal zu oft losgelassen, Junge. Das hat mich mein Boot gekostet. Glaub nicht, ich mach den gleichen Fehler mehrmals.“
Baneh war mittlerweile auch bei uns angekommen und griff nun auch nach Bamar.
„Tut ihm nichts“, sagte ich. „Er hat mir nichts getan.“
Doch Antejar lachte und erwiderte: „Dir vielleicht nicht, Schätzchen, einige von uns sind aber seinetwegen ziemlich nass und böse.“
„Mutter hat …“
„Und sie werden noch böser, wenn Du nicht die Klappe hältst, Junge.“
„Komm Bamar.“ Baneh zog seinen Bruder von uns weg. Was bei Antejar einfach ausgesehen hatte, schien Baneh fast zu überfordern, denn Bamar wehrte sich heftig, so dass Baneh sein ganzes Körpergewicht gegen seinen Bruder lehnen musste, um ihn ein paar Schritte zurückzudrängen. „Lass mich! Lass mich!“
„Was ist geschehen?“
„Nichts, was Dich interessieren muss. Wer bist Du? Bist Du allein?“
„Ich wurde Yelda genannt. Terno hat mich geführt, er ist aber fort.“
„Yelda also. Ich bin Schiffahrer Antejar. Momentan ohne Boot wegen Nichtsnutz und Holzkopf dahinten.“
„Wer ist Nichtsnutz und wer ist Holzkopf?“
Antejar brüllte vor Lachen. „Du gefällst mir, Schätzchen. Der Lange, der mehr zappelt als ein Fisch auf dem Trockenen, heißt Bamar, und der Dicke, der an ihm hängt wie eine Kugel, ist Baneh.“
„Lass mich!“
„Halt still!“
„Schnauze!“ brüllte Antejar die beiden an, die so überrascht von seiner Lautstärke waren, dass Baneh seinen Bruder losließ, der aber gleichzeitig aufgehört hatte, sich zu wehren und darum einfach zu Boden fiel. In normaler Lautstärke sagte Antejar zu mir: „Besser. Wenn nicht bald Ruhe gewesen wäre, hätte es ungemütlich werden können.“
Er zog sein Hemd über den Kopf und drückte es mit den Händen aus. Sein Oberkörper war mit mehr Narben übersät als es der von Remde gewesen wäre. Gleichzeitig ging mir der Gedanke durch den Kopf, dass Remde auch nicht so kraftvoll ausgesehen hatte, denn dessen Körper war schlank und schnell gewesen wie ein schnellender Zweig. Antejars Körper allerdings verriet selbst bei kleinen Bewegungen eine Kraft, die die der Brüder bei weitem übertreffen würde.
„Wir sind gekentert“, sagte er mit einem Blick auf sein nasses Hemd. Zu den Brüdern gewandt sagte er: „Macht Euch mal nützlich und sucht Feuerholz, wir müssen trocknen, bevor wir uns auf den Weg machen können.“
Baneh zerrte an Bamar und zog ihn hinter sich her. Bamar, der mich immer noch anstarrte, sich aber nicht mehr gegen seinen Bruder wehrte, trottete hinter ihm in den Wald.
„Was machst Du hier, Yelda? Und was ist mit Deinem Freund passiert?“
„Wir folgten dem Fluss, wir haben uns gestritten, dann ist er verschwunden. Und nun folge ich dem Fluss alleine.“
„Einfach so verschwunden? Tja, Schätzchen, Männer sind so, wenn die See zu stürmisch wird, sucht man sich ruhigeres Wasser.“ Er grinste. „Nicht dass andere Wasser nicht auch gefährlich werden könnten.“
„Du meinst, er ist zurück an den See? Das ergäbe doch keinen Sinn.“
„Ich weiß ja nicht, von welchem See Du redest, aber einen Sinn ergibt wenig. Glaub mir, Schätzchen, ich bin nicht erst seit gestern Schiffahrer, und noch länger bin ich Mann. Trau keinem, vor allem nicht, wenn er Dir sagt, Du solltest es tun.“
„Aber Terno hat mich gerettet.“
„Sicher hat er das. Oder es behauptet. Der einzige Mensch, der Dich wirklich retten kannst, bist Du selbst, glaub mir das.“
„Du hast Bamar gerettet.“
„Nichts da. Mit dem Holzkopf wäre er einfach nur flussabwärts getrieben. Ich hab ihn nur rausgezogen, damit ich ihn anschreien kann.“
Ich glaubte ihm nicht, doch bevor ich etwas sagen konnte, kamen Baneh und Bamar wieder aus dem Wald. Sie stritten sich.
„Nicht schon wieder“, murmelte Antejar und ging ihnen entgegen. Ich folgte in einigem Abstand.
„Was ist denn jetzt schon wieder?“ rief Antejar ihnen entgegen.
„Es gibt kein Holz.“
„Natürlich gibt es Holz, Bamar. Und Du weißt, dass wir ein Feuer brauchen, um uns aufzuwärmen.“
„Mir ist warm.“
„Junge, Dir ist vielleicht warm, wir anderen dagegen werden uns aber den Tod holen, wenn wir uns durchnässt auf den Weg laufen.“
„Außerdem ist Dir nicht warm, Bamar, Du zitterst ja.“
„Tu ich nicht. Außerdem ist sie endlich da.“
„Wer?“ fragte Antejar. „Sie? Das Schätzchen? Kennt Ihr Euch?“ Er sah mich an, aber ich sagte: „Ich kenne ihn nicht.“
„Natürlich kennst Du Bamar nicht. Er sagt, er hätte von Dir geträumt.“
„Geträumt? Du bist gut, Junge. So viel wie Du träumst, weißt Du doch gar nicht, ob Du wach bist oder nicht.“
„Jetzt bin ich wach. Und sie ist da. Wie in meinen Träumen.“
„In Deinen Träumen, was? Und was macht sie da? Singen?“
„Sie ist einfach nur da. Sie lauscht.“
„Lauscht, was? Jetzt lausch mir mal, Junge: Deinetwegen habe ich mein Boot verloren, ich hab die Schnauze voll von Deinen Träumereien. Mir ist kalt, ich habe Hunger und echt keine gute Laune.“
„Antejar, nicht. Du weißt, er ist nicht … “
„Halts Maul, Baneh. Hätte ich kein Versprechen gegeben, ich würde Euch einfach hier sitzen lassen. Da Schiffahrer Antejar aber ein Mann von Ehre ist, bringe ich Euch nach Tharb, und wenn es das letzte ist, was ich tue.“
„Könnt Ihr Euch nicht einfach von der Sonne trocknen lassen?“ warf ich ein, doch Antejar schnaubte. „Welche Sonne?“
Er hatte recht. Die Dämmerung war gekommen, doch Wolken hatten den Himmel dunkelgrau gefärbt, und es sah aus, als könnte es jederzeit anfangen zu regnen. „So gesehen auch nicht schlecht“, sagte Antejar. „Vergesst das Feuer. Wir werden ohnehin bald wieder nass.“ Sein Körper entspannte sich ein wenig.
„Wohin wolltest Du dem Fluss folgen, Yelda?“
„Dorthin, wo viele Menschen sind. Ich suche einen Zauberer.“
„Einen Zauberer, was? Ich bin nur von Irren umgeben.“ Er schnaubte. „Na aber egal, was Du in der Stadt wolltest. Du solltest mit uns kommen.“
„Wohin geht Ihr?“
„Nach Tharb.“
„Tharb?“
„Die näheste Stadt hier am Fluss. Eigentlich wollten wir in drei Tagen dort sein, ohne Boot werden wir aber länger brauchen, als gedacht. Wenn Du uns begleitest, muss ich aber wenigstens nicht immer nur mit Holzkopf und Nichtsnutz streiten.“
„Ich muss am Fluss bleiben.“
„Wir auch. Vielleicht haben wir Glück und mein Boot ist irgendwo angelandet. Vielleicht finden wir sogar unseren Proviant wieder.“
„Dann komme ich mit Euch, wenn ich darf.“
„Klar, Schätzchen. Der Träumer hier würde eh nie verkraften, wenn wir Dich nicht mitnähmen. Und Baneh tut, was Bamar ihm sagt.“
„Gar nicht wahr!“
„Ach, halts Maul.“

17 | Aufbruch

Yelda
November 14, 2010
Ich überlegte, was ich tun sollte. Ich konnte hierbleiben und hoffen, dass Terno irgendwann zurückkommen würde. Er würde mich nur hier finden und nur hier erwarten. Sobald ich den Fluss verließ, würde er mich nicht mehr finden können, so lange ich meine Kraft verbarg. Und das würde ich tun, denn ich hatte Angst vor dem, was passieren würde, wenn ich mich nicht konzentrierte. Ich hatte den dunklen Ort, an den meine Kraft gebunden war, schon einmal gesehen, war in ihm erwacht und wollte ihm nie wieder begegnen. Das Dunkel damals und die Lebensferne, die Ferne von allem hatte mir so sehr Angst gemacht, schon bevor ich gewusst hatte, dass ich sie selbst über mich gebracht hatte.

Andererseits jedoch konnte ich nicht hierbleiben. Ich ahnte, dass ich auf mich allein gestellt meinen Körper unterversorgen würde, und er sich dann wieder an der alten Quelle seiner Stärke bedienen würde. Die Drei lagen immer noch auf der Lauer und warteten genau darauf. Das durfte nicht geschehen. Ich musste jemanden finden, der mich lehren könnte, zu überleben und, viel wichtiger, meine Kraft endlich wirklich zu beherrschen. Ich musste einen jener Menschen suchen, die den Strömen von Kraft und Leben nachforschten, ich musste einen jener Menschen finden, die sich Terno zufolge Zauberer nannten.

Ich beschloss, am nächsten Morgen aufzubrechen und dem Lauf des Flusses zu folgen. Terno hatte einmal über die Menschen gesagt, dass sie gerne am Wasser lebten und sich doch gleichzeitig so sehr davor fürchteten, dass sie alles taten, um es nicht berühren zu müssen. Ich hatte Terno gefragt, woher er so viel über die Menschen wisse, und er hatte es mit reiner Neugier für alles Kleine begründet, doch ich bin heute mehr als damals davon überzeugt, dass er die Menschen um ihre Kleinheit beneidete, und dass alles, was er für mich vor und nach dem Fluss tat, dem Ziel folgte, ihn näher an die Menschen zu bringen, die er gleichzeitig verspottete und beneidete.
Ich schlief wenig in dieser Nacht, denn trotz Ternos Behauptung, das Strömen des Wassers würde den Strom der Kraft verwirbeln und mich so verbergen, selbst wenn er nicht anwesend wäre, misstraute ich meinen eigenen aufgewühlten Gedanken und meiner eigentlichen Sehnsucht, Terno wiederzufinden. Nicht so sehr, weil ich in Terno einen Führer und Erklärer gefunden hatte, sondern weil ich nicht alleine sein wollte, ohne zu wissen, wer ich war, warum ich in dieser Welt war und wohin ich gehen sollte, um wenigstens auf eine meiner Fragen eine Antwort zu erhalten. Um mich wachzuhalten, dachte ich an Remde, daran, dass die Drei ihn in ihrer Gewalt hatten, denn dass sie ihn getötet hatten wie die anderen Menschen seines Dorfs, wollte ich nicht glauben. Ich konnte nicht glauben, dass jener Mensch, der mir vom ersten Augenblick, da er mich gesehen hatte, nur Freundlichkeit entgegengebracht hatte und immer für mich dagewesen war, nun verschwunden sein könnte, dass seine Kraft in die Welt gehen würde wie der Staub, den der Wind aufwirbelt und verweht.
Ein Laut weckte mich, ein leises Flüstern über dem Wasser, dessen stetes Rauschen mich gegen meinen Willen doch noch in den Schlaf gelockt hatte. Stimmen, die gleichzeitig nah und fern waren, formten Worte, die laut genug waren, gehört, aber zu leise waren, um verstanden zu werden.
Ich widerstand der Versuchung, mich aus der Verzweiflung einer Verlassenen heraus zu erkennen zu geben. Ich schwieg, ich lauschte.
Mandu hatte mich gelehrt auf die Geräusche der Welt zu hören, auf die kleinen und großen Geräusche, auf das auf und ab des Lebens und alles andere, mich vor allem und die Gedanken, die Ängste, die Unsicherheit, das Wollen und Wünschen, das Hoffen und Bangen, einfach zurückzustellen, um zu hören, wie die Welt wirklich sprach, wie die Wirklichkeit klang und wie sie zu mir sprach. Jetzt nutzte ich diese Fähigkeit, deren eigentlichen Sinn ich damals nicht verstanden hatte und erst durch Ternos Erklärung wirklich zu schätzen wusste, um meine aufgewühlten Gedanken und die ebenso unruhigen Wellen des Wassers aus meiner Wahrnehmung auszublenden und auf das zu hören, was dahinter lag. Ich konzentrierte mich nur noch auf die Worte, die irgendwo im Dunkeln gesprochen wurden, denn ich wusste, sie würden mir eine Antwort auf zumindest eine Frage geben: wohin ich mich wenden konnte, um in die Gesellschaft von sprechenden, denkenden Wesen zu gelangen.

„Wie lange noch?“
„Vor drei Tagen waren es sechs Tage, vor zwei Tagen noch fünf und gestern vier. Wie viele werden es wohl jetzt noch sein, Hohlkopf?
„Fünf?“
„Bei den Himmeln! Drei! Drei Tage bis zur Stadt. Drei Tage noch, bis ich Dich und Deinen Nichtsnutz von einem Bruder endlich los bin. Was nur habe ich den Göttern getan, dass sie mich so bestrafen?“
„Mutter hat immer gesagt, die Götter sehen alles.“
„Ja, meine Mutter hat das selbe gesagt. Das hat sie nicht daran gehindert, sich hinter Fons Tempel mit einem der Priester zu paaren wie eine läufige Hündin. Bestraft haben sie die Götter jedenfalls bislang noch nicht dafür.“
„Mutter hat gesagt, die Götter bestrafen die, die böse waren. Warst Du böse?“
„Nicht mehr als Könige und Priester. Und trotzdem habe ich Euch zwei Nichtsnutze am Hals.“
„Wie lange noch?“
„Baneh! Er tut es schon wieder! Bring Du ihn zum Schweigen oder ich muss es tun! Baneh!“ Und ein drittes Mal, so laut, dass ich erschrak: „Baneh!“
„Was ist denn los?“ Die dritte Stimme war leise und schleppend. „Was ist denn los? Kann man nich mal nachts in Ruhe schlafen?“
„Nichtsnutz“, zischte der Laute. „Der Hohlkopf hier spielt wieder sein Spiel!“
„Er spielt nich, Antejar. Er ist nur nich schlau wie Du, Antejar. Er meint es ja nich böse.“ Und zu seinem Bruder: „Du meinst es nich böse, oder Bamar?“
„Mutter hat gesagt, sei nicht böse, Bamar. Und ich war niemals böse.“
Antejar schnaubte und Baneh sagte: „Siehst Du, Antejar, er hat es nich böse gemeint.“
„Schaff ihn mir trotzdem vom Hals. Es ist schwer genug ohne ihn, in der Dunkelheit auf Kurs zu bleiben.“
„Wir hätten ankern können, Antejar, glaub mir, wäre besser gewesen.“
„Mein Boot, meine Entscheidung. Je früher wir in Tharb sind, umso früher bin ich Euch los. Wenn ich dafür nachts fahren muss, ist es mir das wert. Kümmer Du Dich um den Holzkopf, und ich kümmere mich um unsere Fahrt.“
„Wird gemacht, Antejar, wird gemacht. Komm, Bamar, ich sing Dir ein Lied vor.“
„Ein Lied! Ja!“
„Singt, aber singt leise.“ Und nach einer kurzen Pause fügte Antejar hinzu: „Und wenn Ihr das Lied vom alten Euter noch einmal singt, schmeiße ich Euch über Bord, egal, wie viel Ihr mir noch zahlen wollt.“

Irgendwann während des Gesprächs waren die Sprecher sichtbar geworden. Unter dem Sternenhimmel, der noch weit von der Dämmerung entfernt schien, konnte ich den Fluss erkennen, der stetig nach Norden strömte, und darauf lag eine Art Floß mit hochgezogenen Rändern, an dessen einem Ende ein Mann saß und am anderen zwei. Der Gesang der beiden war nach dem Gespräch das Einzige, was ich noch hören konnte, bis die drei nicht mehr zu sehen und zu hören waren.
Ich machte mir auch nicht mehr die Mähe, sie weiter mit meinen Gedanken zu verfolgen. Drei Tage auf dem Fluss bis zu einer Stadt. Terno hatte mir gesagt, dass Städte ein Ort wie Remdes Dorf sei, dass dort aber viel mehr Menschen lebten. Ich hatte mir gedacht, dass Terno vorgehabt hatte, die Nähe von Menschen zu suchen, doch wie weit wir tatsächlich schon gekommen waren, hatte ich nicht gewusst.
Andererseits fragte ich mich jetzt aber auch, warum nicht auch Terno und ich ein solches Floß benutzt hatten, denn diese Art des Reisens schien viel weniger anstrengend und auch schneller zu sein. Während ich nur nachgedacht hatte, dass ich den drei Männern würde folgen müssen, waren sie schon fast wieder außer Sicht gelangt.
Ich beschloss, nicht bis zum Morgen zu warten, sondern sofort aufzubrechen, und am Fluss entlang so schnell wie möglich dem Boot zu folgen. Ich ahnte, dass es nicht einfach sein würde, in jener Stadt einen Zauberer zu finden, also würde ich diese drei Männer um Hilfe bitten müssen.
Umso wichtiger war es, dass ich sie nicht aus den Augen verlor. Ich brach auf.

16 | Am Fluss

Yelda
November 12, 2010

"Das Ende der Welt? Wie kann denn die Welt enden?"
"Um das zu verstehen, muss ich weit ausholen. Aber wir werden noch eine Weile laufen, vielleicht kann ich es erklären."
Bevor wir wieder aufbrachen, trank ich noch einmal ausgiebig aus dem Fluss, dann gingen wir los.
"Das, was wir als diese Welt sehen, das worauf wir gehen, diese Wirklichkeit, ist eine Oberfläche der Kraft. Unter dieser Oberfläche und mit ihr verbunden, fließen die endlosen Ströme des Lebens und sie alle haben einen gemeinsamen Ursprung."
"Das ist der Ursprung der Kraft, aus dem auch Du entstammst?"
"Aus dem alles entstammt. Alles, was Du um Dich siehst, jedes Leben, und sei es noch so klein, hat eine Verbindung direkt zur Quelle. Nicht alle Wesen sind sich dieser Verbindung bewusst, und nicht alle Wesen können selbst aus der Quelle schöpfen."
"Können die Menschen es?"
"Manche Menschen sind sich der Verbindung zur Quelle bewusst, aber nur sehr wenige von ihnen ahnen, dass es möglich ist, die Verbindung zu verstärken. Es fordert den Menschen viel Konzentration und Disziplin ab, sich der Quelle so zu nähern."
"So wie es mich Kraft kostet, mich von ihr zu entfernen."
"Auf eine andere Art und Weise, ja."
"Ich habe mit der Kraft des Ursprungs die Hummel geheilt und meinen Wald zerstört. Ist es das, was die Menschen erreichen wollen, wenn sie die Quelle suchen?"
"Eine gute und berechtigte Frage. Ich kenne keinen dieser Menschen, aber ich glaube, die meisten suchen nach Macht, nach Stärke. Sie fühlen sich anderen unterlegen und fühlen sich darin gekränkt. Und darum wenden sie sich verstärkt dem zu, was sie von jenen anderen unterscheidet." Er dachte kurz nach und sagte dann: "Im Grunde ist das bei allen Wesen so: jedes von ihnen stärkt die Fähigkeiten, die es von anderen unterscheidet. Meine Art ist da nicht anders. Obwohl wir doch alle den gleichen Ursprung haben, versuchen wir doch alles, um uns durch Stärkung unserer speziellen Fähigkeiten voneinander abzugrenzen."
"Was unterscheidet Dich von den anderen?"
"Außer dass ich Dich vor der Vernichtung rette, die die Drei über Dich bringen wollen?"
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, aber Terno hatte nichts erwartet, denn er sprach sofort weiter: "Ich erkenne Unterschiede und ich kann diese Unterschiede zu Grenzen aufbauen und diese Grenzen nutzen, um mich und andere abschirmen. Darum bin ich bei Dir und nicht die Drei. Sie können uns nicht sehen, so lange wir zusammen sind, da sie mich nicht fassen können, obwohl wir den gleichen Ursprung haben."
"Wie machst Du das?" fragte ich, obwohl ich wusste, dass er es mir nicht sagen würde. Aber etwas anderes, das er gesagt hatte, war mir in den Sinn gekommen, und darüber wollte ich erst nachdenken, bevor ich ihn damit konfrontierte.
"Ich werde es Dir zeigen, aber wir sollten zurück zu dem, was ich eigentlich erklären wollte: den Ursprung der Wirklichkeit in der Quelle der Kraft."
"Und dem Ende der Welt."
"Bevor wir dazu kommen, müssen wir uns ihren Beginn betrachten. Viele Menschen glauben, die Welt wurde von Göttern, übermächtigen Wesen geformt, in deren Kämpfen die Welt um sie herum ihre Form bekam, die sie sehen. Tatsächlich aber formte sich die Welt selbst aus den Strömen der Kraft und des Lebens."
"Aber hat ein Stein Leben oder Kraft?"
"Sag Du es mir." Er bückte sich, löste einen Stein aus der Erde und legte ihn mir in die Hände. Der Stein war auf der einen Seite abgerundet und glatt, auf der anderen Seite rauh, gebrochen und voller Erde. "Sag mir, ob Du etwas in ihm fühlst."
Er sah, dass ich zögerte, und sagte: "Keine Angst, es kann nichts geschehen."
Ich schloss meine Augen und konzentrierte mich auf den Stein in meiner Hand. Ich fühlte sein Gewicht, seine Kälte, die langsam in meine Finger eindrang, die feuchte Erde, die an ihm klebte, die glatte und scharfkantige Oberfläche. Ich fühlte aber nichts im Stein, konnte nicht erkennen, ob etwas darin war. Lag es an mir? War ich schon so sehr von der Kraft entfernt, dass ich sie nicht in einem Stein fühlte? Nein, es musste an dem Stein liegen, in ihm war kein Leben.
"Such nicht so sehr im Stein selbst. Betrachte ihn als das, was er ist, als Teil der Welt", sagte Terno leise. Und ich begriff: Der Stein selbst war so wenig lebendig wie die Luft um uns oder das Wasser im Fluss. Doch wenn ich Ternos Rat befolgte, dann konnte ich einen Berg sehen, größer als alles, was ich je gesehen hatte, durch den ein Riss wuchs, dessen Oberfläche aufbrach und kippte, und aus dem Bruch floss eine träge, glühende Masse, die Bruchstücke des Berges unter sich begrub. Dann ein noch gewaltigeres Aufbrechen und der Berg verschwand in Staub, Rauch und Asche. Scharfkantige Felsen schleuderte er von sich wie ein nasser Fuchs das Wasser aus seinem Fell schüttelt. Und dann kam Regen, Wasser, das allen Staub vom Land mit sich nahm und auch die großen wie kleinen Brocken aus Stein. Und ich sah, wie das Wasser zu Tal stürzte, alles mit sich zog, was in seinem Weg lag, Steine gegeneinander und gegen die Welt rieb, wie es sich machtvoll in die Ebene fraß und auch dort Stein zu sand und Staub mahlte und davontrug. Und dann endete der Strom des Wasssers und das Flussbett trocknete aus. Der Matsch, der Staub gewesen war, wurde fest und hart wie Stein. Doch auch jetzt waren schon wieder die ersten Risse zu sehen, und mir war klar, was Terno mir hatte zeigen wollen, und sagte: "Der Stein selbst mag nicht lebendig scheinen, aber er ist Teil von Werden, Wachsen und Vergehen. Er hat kein Leben, ist aber Teil davon und trägt daher zwar keine eigene Spur des Lebens in sich, hinterlässt aber eine Spur im Strom des Lebens."
Als ich meine Augen wieder öffnete, sah ich Überraschung in Ternos Gesicht und fiel aus der Freude über meine Erkenntnis: "Habe ich etwas falsches gesagt?"
"Ganz im Gegenteil." Er lachte. "Ich bin nur überrascht, mit welcher Sicherheit Du die Worte der Menschen beherrscht, die Du erst vor einem halben Mondlauf kennengelernt hast."
"Ich lerne schnell", sagte ich und lächelte.
"Ja", sagte Terno. "Du lernst schnell." Und obwohl er sein Mund immer noch lächelte, sah ich doch, dass seine Augen einen Zug annahmen, den ich bei ihm noch nicht gesehen hatte. Kennengelernt hatte ich ihn allerdings bei Remde, und es war Sorge gewesen, Sorge und Angst.

"Die Welt formte sich also selbst aus den Strömen der Kraft und des Lebens", sagte ich, als wir weitergingen.
"Und sie formt und verändert sich auch weiterhin, auch wenn man lange die Welt beobachten muss, um das zu erkennen. Gebirge wachsen und Täler vergehen, Flüsse ändern ihren Lauf und Wälder überwuchern Sümpfe. Nichts bleibt stehen, nichts sieht sich ewig gleich."
"Betrifft das auch den Strom des Lebens selbst?"
Terno antwortete erst nicht, dann sagte er: "Natürlich verändert auch er sich, denn er ist die treibende Kraft hinter allem. Wäre der Lebensstrom nicht, nichts veränderte sich. Tod, nein, Stillstand wäre die Folge."
"Aber kann er denn nicht enden?"
"Nein."
"Aber jede Quelle kann versiegen, warum nicht auch diese?"
"Weil diese Quelle kein Wasser führt. Warum fragst Du das, wenn wir beide wissen, dass Du die Antwort kennst?" Als wollte er weiteren Fragen asuweichen, ging er schneller, aber ich wusste jetzt, was mich irritiert hatte, und wollte jetzt nicht aufgeben.
"Weil ich nicht verstehe, warum es so ist. Wenn sich alles ändert, dann kann man sich doch nichts sicher sein. Auch nicht, ob die eigene Existenz ewig ist."
"Meinst Du etwas bestimmtes?" Doch Ternos Frage klang nach einer Antwort.
"Ich denke an Deine Art. Ihr entstammt der Kraft und seid in ihr verankert. Woher aber wisst Ihr, dass Ihr nicht wie ein Fluss austrocknen könnt? Woher wisst Ihr, dass Ihr nicht wie die Blätter eines Baumes im Herbst fallen werdet?"
"Wir wissen es." Seine Stimme hatte jede Wärme verloren, doch ich beachtete das nicht. Ich spürte, dass ich einer Wahrheit näher kam, die er nicht aussprechen wollte.
"Woher? Was gibt Dir die Gewissheit? Woher willst Du wissen, dass Du, der sich so gut abgrenzen kann, nicht ebensogut von der Kraft abgegrenzt werden kannst? Dass sie Dich von sich wirft wie der Berg die absplitternden Felsen?" Ich atmete schwer. Wir waren mittlerweile so schnell, dass wir fast rannten, und ich wusste, dass ich dann keine Fragen mehr stellen könnte.
"Ich weiß es. Und Du weißt, dass ich mehr dazu nicht sagen kann."
"Dass Du es nicht willst", rief ich und blieb stehen. Ich wollte und konnte nicht mehr rennen.
Terno blieb einige Schritte von mir entfernt stehen.
"Glaub nicht, dass ich nicht wüsste, dass Du mir nur sagst, was ich Deiner Meinung nach wissen soll. Wir beide wissen, wie schnell ich lerne. Ich habe mich von Mandu anlügen lassen, erinnere Dich. Und ich weiß, dass sie eine von Euch ist oder war."
"Sie ist es nicht!"
"Doch sie ist es. Die Drei Deiner Art haben es gesagt, und aus welchem Grund hätten sie nicht die Wahrheit sagen sollen? Ich hätte eine der Ihren beinahe vernichtet, sagten sie. Wer, wenn nicht Mandu könnte das gewesen sein?"
"Und das ist Dein Beweis? Etwas, was die Drei in einem Traum gesagt haben?"
"Es war kein Traum! Es war wirklich!"
"Es ist kein Beweis!"
"Nein, dass wir hier stehen und Du mich anschreist, weil ich eine Wahrheit ausspreche, die Du nicht sehen willst, ist der Beweis! Du hast Angst vor mir, Angst, dass ich etwas herausfinden könnte, eine Angst, die mit mir und den Strömen von Kraft und Leben zu tun hat. Du hast Angst davor, dass ich herausfinde, warum ich existiere, warum ich beobachtet wurde, und Du hast Angst, dass ich herausfinde, warum Du mich beobachtet hast!"
Terno sagte nichts, sondern starrte mich nur an. Und von einem Moment zum nächsten war er verschwunden und ich blieb alleine am Fluss.

Ich wartete bis zum Abend und ich wartete bis zum nächsten Morgen. Ich hatte Angst davor, einzuschlafen, fürchtete, er könnte wiederkommen, ohne dass ich es erfuhr. Doch als die Sonne am nächsten Morgen aufging war er nicht gekommen, und ich wusste, dass ich nicht länger warten musste.

Zweite Woche | 20787

Yelda
November 12, 2010
Was für eine Woche. Ich kenne das ja eigentlich vom Wandern so, dass der dritte Tag der schlimmste ist. Dass aber die zweite Woche NaNoWriMo noch anstrengender ist als der dritte Tag an einem steilen Berg, das hat mich dann doch überrascht. Vorangetrieben hat mich vor allem eine subtile Panik, den Anschluss an das Gesamtsoll zu verlieren, und – noch eine Überraschung – Schokolade. Ich esse sonst gar keine Schokolade.

1. Was hast du bisher schon geschafft?
Ich habe mein Schreibtempo erhöht und mein Defizit von 1000 Wörtern in ein leichtes Plus verwandelt, so dass ich mich an keinem Tag darum sorgen musste, im Gesamtsoll zurückzufallen, sollte ich keine 1667 Wörter schaffen.

2. Was hast du für die nächste Woche vor?
Da ich am Samstag wohl gar nicht werde schreiben können, muss ich das nächste Woche nachholen. Vor allem aber will ich mich nächste Woche weniger ablenken. Ich bin diese Woche ganz gut durchgekommen, mit weniger Ablenkung wäre der Ritt aber weniger holprig gewesen. Mal sehen, ob das nächste Woche besser klappt.

3. Wie läuft es so, macht es dir noch Spaß?
Diese Woche hatte ich große Probleme, die Richtung der Geschichte zu erkennen, was mich ein wenig demoralisiert hat. Die Pep-Talk-Mails haben aber viel geholfen, und dass ich mich heute noch einmal gegen meine Trägheit aufgelehnt habe und eine mich selbst überraschende Wendung in die Geschichte bekommen habe, hat mir Lust gemacht, gleich weiter zu schreiben. Dummerweise muss ich gerade jetzt zur Arbeit.

4. Welche Tipps hast du für andere Teilnehmer?
Weiterschreiben, weiterschreiben, weiterschreiben. Immer im Hinterkopf behalten, dass jedes Plotloch ein Später hat, und dass man, um dahinzukommen, weiterschreiben muss.

5. Was wirst du nächstes Jahr besser machen?
Mir mehr Notizen beim Schreiben machen, damit ich nicht immer zwischen den Zeilen meiner Rohfassung lesen muss, um zu erfahren, was ich mir beim Schreiben eigentlich gedacht habe. Moment, das kann ich ja schon nächste Woche machen.

15 | Von der Quelle

Yelda
November 11, 2010
Die nächsten Tage verliefen in beruhigender Eintönigkeit. Terno leitete uns von einem sicheren Ort zum nächsten. Nachdem wir den Felsen verlassen hatten, rasteten wir unter den ausladenden Ästen eines himmelhohen Baums, auf einer erhöht liegenden Lichtung und an einer kleinen Quelle. Von dort entsprang ein Bach, dessen schlängelndem Fluss eine sanft abfallende Ebene hinab wir folgten.

„Für einige Zeit können wir dem Fluss folgen“, sagte Terno. „Auf geraume Länge ist er selbst ein sicherer Ort, so dass wir keine Sorge tragen brauchen, entdeckt zu werden.“
Direkt am Wasser zu gehen, löste auch das Trinkproblem. Auf dem bisherigen Weg hatte mir Terno zwar essbare Früchte, Beeren und Samen zeigen können, doch Wasser fanden wir nur sporadisch. Das Wasser des Flusses war kalt und floss rasch, doch es stillte meinen Durst, der jetzt, da ich langsam lernte, mich vom Kraftfluss abzuschotten, jeden Tag deutlicher für mich spürbar war.
Während wir liefen, zeigte mir Terno verschiedene Pflanzen und Tiere und nannte mir die Namen, die die Menschen ihnen gegeben hatten. So erfuhr ich nicht nur die Namen der Bäume, die ich als meine Familie gesehen hatte, sondern auch, dass sie nicht einzigartig waren, sondern dass es in dieser Welt noch unzählige Buchen, Cathanien, Birken und Eichen standen.

Noch immer gelangte ich nicht mit meinem Geist an den Ursprung der Kraft, und auch wenn Terno mir versicherte, ich würde Fortschritte machen, fühlte ich mich doch kein Stück näher als auf dem Felsen im Moor. Terno sagte, ich könne das Erwachen der menschlichen Bedürfnisse Hunger und Durst als Gradmesser für meinen Erfolg sehen, doch so recht überzeugend fand ich das nicht.
Ich träumte nicht in diesen Tagen. Terno sah auch das als gutes Zeichen, wie er auch gut fand, dass ich am Ende jedes Tages, wenn wir über eine weite Strecke gelaufen waren, noch bis zur Erschöpfung versuchte, meinen Geist in die Landschaft um mich herum versinken zu lassen. Ich wusste, dass er mich beobachtete, dass er meine Verbindung zum Ursprung der Kraft überprüfte, und was er sah, schien ihn darin zu bestätigen, dass ich besser wurde. Ich wurde vor allem aber immer erschöpfter, immer schwächer. Je weiter ich mich von der Kraft entfernte, umso mehr kehrten auch die Schmerzen meines Körpers zurück. Wenn ich morgens erwachte, fühlten sich meine Glieder steif und taub an, und ich musste mich recken und strecken, bevor wir aufbrechen konnten. Vor allem aber, und das rief in mir einen nie gekannten Zorn hervor, musste ich Terno, je weiter wir kamen, immer öfter um eine Pause bitten, da mich Hunger und Durst manchmal so sehr plagten, dass ich mich kaum noch darauf konzentrieren konnte, weiterzugehen. Immer öfter saßen wir also am Fluss, der mittlerweile sich mittlerweile so tief und breit in die Landschaft gegraben hatte, dass eine Überquerung unmöglich schien.
In einer dieser Pausen fragte ich Terno, ob wir noch verfolgt würden.
„Sie haben nicht aufgegeben, wenn Du das meinst.“
„Aber sind sie uns noch nahe?“
„Nein, aber das spielt auch keine Rolle.“
Ich sah ihn fragend an, sagte aber nichts.
„Falls die Drei wüssten, wo wir sind, könnten sie selbst große Distanzen schneller zurücklegen als Du. Entfernungen sind für meine Art nicht, was sie für Menschen oder Dich sind. Erinnere Dich: Wir stammen von jenem anderen Ort. Wir können jederzeit an einem anderen Ort in die Wirklichkeit treten.“
„Könnte ich das auch, wenn ich nicht an diesen Körper gebunden wäre?“
„Nein. Du bist Teil dieser Welt, ob Dein Leib sterblich ist oder nicht.“
„Das heißt, ich bin immer auf die Wege und Weisen der Menschen angewiesen? Ich kann nicht Kraft meiner Gedanken größere Strecken zurücklegen, ohne so erschöpft zu sein, wie ich es bin?“
„Das heißt es. Aber ich beneide Dich auch darum. Wir wissen nicht, wie es sich anfühlt zu träumen, zu schlafen, müde oder hungrig zu sein.“
„Wärst Du gerne sterblich?“
„Die Frage habe ich mir noch nie gestellt, denn es gäbe keine sinnvolle Antwort darauf. Es wird mir nie möglich sein. Ich werde ewig ein Teil der Kraft sein, ich werde ewig bestehen.“
„Es sei denn, die Kraft erlischt.“
„Das wird nie geschehen.“
„Warum nicht?“
„Es wäre das Ende der Welt.“

14 | Nach Norden

Yelda
November 11, 2010

Am nächsten Tag erst brachen wir auf. Den ganzen vorigen Nachmittag über hatte Terno mir beizubringen versucht, meine Kraft zu kontrollieren. Ternos Worte erinnerten mich sehr an Mandus, denn auch Terno forderte mich immer wieder auf, meine Sinne auf scheinbare Unwichtigkeiten zu lenken, auf Details, auf Schattierungen des Felsens. Dabei geschah etwas seltsames, das ich auch bei Mandus Lauschen verspürt, aber nicht hatte erklären können: mein Geist verlor sich in dem, was ich betrachtete. Ich konzentrierte meine Wahrnehmung so sehr auf Dinge außerhalb von mir, dass ich meinen Körper nicht mehr wahrnahm, sondern mich fühlte wie der Felsen, wie der Spalt, der ihn durchzog, wie die Pflanzen, die darin wuchsen. Und ich spürte, dass ich kurz davor war, etwas wichtiges darüber hinaus oder vielmehr dahinter zu spüren.
Ich berichtete Terno von meinen Empfindungen und er sagte: „Du machst gute Fortschritte. Dein Ziel ist es, unter die Oberfläche der Wirklichkeit zu gelangen, hinter die Strukturen, die die Kraft bildet zu sehen.“
„Was ist dort?“
„Der Ursprung aller Kräfte, die die Welt durchziehen. Wenn Du Deine Kraft einsetzt, berührst Du diesen Ort. Von ihm stammt die Energie, die Du einsetzt, um die Welt zu verändern.“
„Und warum will ich dorthin gelangen, wenn ich doch meine Kraft nicht einsetzen will?“
„Im Moment ist Dein Wesen nicht an jenem Ort verankert, darum zerreißt jedes Einsetzen Deiner Kraft die Wirklichkeit. Und darum können Andere, die Deine Kraft kennen und ihre Spur lesen können, Dir folgen.“
„Wie verankere ich mich dort?“
„Eines nach dem anderen. Zunächst musst Du in der Lage sein, überhaupt an jenen Ort hinreichen zu können.“
„Bist Du dort verankert?“
„Mehr noch: ich entstamme jenem Ort. Mein Wesen ist Teil der Kraft, eigenständig und doch dauerhaft mit ihr verbunden.“
„Und woher entstamme ich, dass ich weder Teil dieser Welt bin noch Teil dieser anderen?“
„Das gehört zu den Dingen, die ich Dir nicht sagen kann. Du wirst es selbst erfahren, wenn die Zeit soweit ist.“
Ich war mir nicht sicher, ob Terno es nicht sagen konnte oder nicht sagen wollte, doch ich verstand, dass er sich nicht weiter dazu äußern würde. Und so versenkte ich meinen Geist in die Aspekte der Wirklichkeit um mich und suchte nach der Struktur hinter allem Lebenden, bis mein Geist müde wurde und der Abend dämmerte. Die Müdigkeit, die meinen Körper in den Schlaf zwang, war das einzige Zugeständnis an seine Sterblichkeit. Ich hatte den ganzen Tag weder gegessen noch getrunken. Terno hatte mir erklärt, dass mein Körper sich von meiner Kraft nährte, und daher nicht auf Speise oder Trank angewiesen war.
Was das hieß, erfuhr ich am nächsten Morgen.
„Wir werden auf unserer weiteren Reise Nahrung für Deinen Körper finden müssen.“
„Warum? Ich verspüre nicht das, was die Menschen Hunger nennen.“
„Solange Du Dich von Deiner Kraft nährst, verbindest Du Dich unbewusst mit ihrem Ursprung. Wir müssen diese Verbindung kappen und Dich mehr mit dieser Welt verbinden, als Du es bisher bist.“
Ich nickte. „Remde hat mir die Verbindung zwischen Nahrung und Menschsein erklärt.“
„Dieser Remde war ein weiser Mann.“
„Als Mandu mich aus ihrer Quelle trinken ließ, litt ich später Schmerzen. Werden diese Schmerzen stärker werden, wenn ich wieder esse und trinke, nachdem ich es jetzt so lange nicht getan habe?“
„Ich glaube nicht. Diese Schmerzen zeigten nur die Sterblichkeit Deines Körpers. Wenn Du diesen Schmerz einmal erfahren hast, wird er so nicht wieder auftreten.“
„Gut. Ich fürchte den Schmerz nicht, wenn er mich rettet, doch wenn ich ihn nicht fürchten muss, ist es mir umso lieber.“
„Dann fürchte ihn nicht, denn die Furcht vor etwas ist meistens weniger erträglich als das, wovor man sich fürchtet.

Mit der aufgehenden Sonne zu unserer Rechten brachen wir auf. Terno erklärte, wir würden nach Norden wandern und erzählte dann viel über die Angewohnheit der Menschen, allem Namen zu geben.
„Das verstehe ich gut“, sagte ich. „Auch ich habe das getan, als ich das erste Mal erwachte, um mich abzugrenzen von allem um mich herum.“
„Wir Wesen der Kraft tun das nicht. Wir übernehmen die Bezeichnungen der Menschen für die Dinge in der Welt, da wir wissen, dass alles um uns herum in seinem Wesen mit dem Ursprung der Kraft und damit mit uns verbunden ist. Eigene Namen für etwas zu haben, das ein Teil von uns ist, erscheint uns daher unnötig.“
„Mir hat es geholfen, mich in der Welt zu verorten, als ich erkannte, dass ich nicht war wie die Wesen um mich herum. Dass ich nicht war wie …“ Ich verstummte. Blieb stehen. Wie hatte ich das vergessen können? Wie hatte ich nicht sehen können, was ich getan hatte, obwohl Terno es mir doch vor Augen geführt hatte?
Terno blieb ebenfalls stehen und sah mich an. „Yelda? Was ist? Hast Du Dich an etwas erinnert?“
„… meine Familie.“
„Deine Familie?“
„Ich habe sie vernichtet.“ Meine Stimme hörte sich hohl an, und auch Ternos Worte kamen wie aus weiter Ferne: „Was meinst Du? Die Hummel?“
„Meine Familie. Hüterin, Regentrinker, Sämling und Späher. Sie waren die Bäume, unter denen ich erwacht bin. Sie haben mich beschützt, und ich habe sie vernichtet.“ Meine Worte verbrannten meinen Geist, fraßen klaffende Löcher in meine Hände, brachen meinen Körper auf und gaben mein Wesen schutzlos dem Sturm der Erkenntnis preis, von dem ich wollte, dass er mich vernichtete, mich ausriß wie die Stürme aus Hüterins Geschichten die Bäume entwurzelt hatten. Und dann hatte ich plötzlich wieder einen Körper, ein Gesicht, das Tränen überflossen, und ich spürte Ternos Arme um mich, die mich an seinen Körper zogen, als ich mich selbst nicht mehr aufrecht halten konnte. Ich fühlte die Einsamkeit wieder, die mich erfasst hatte, als ich an jenem entlebten Ort aufgewacht war, doch diesmal spürte ich auch die schmerzhafte Wissen, dass ich an jenem Ort nicht etwa fern meiner Familie erwacht war, sondern dort, wo ich ihre Essenz aus dieser Welt getilgt hatte. Und in diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass mein früheres ich niemals jenen Ort verlassen hätte, sondern dass ich dort geblieben wäre, einsam vielleicht, aber ohne das Wissen, dass ich mich selbst in diese Einsamkeit gestürzt hatte.
„Yelda, nicht.“ Ternos Stimme war sanft, aber eindringlich. „Gib Dir keine Schuld an dem, was geschehen ist. Du konntest nicht wissen, was geschehen würde. Du hast keine Schuld.“
Doch ich konnte, wollte Terno nicht glauben. Ich hatte so lange gedacht, dass ich meine Heimat wiederfinden würde, dass ich zurückkehren könnte unter die schützenden Arme meiner Bäume, ich hatte so sehr darauf gehofft, dass der Verlust dieser Hoffnung noch viel tiefer schnitt als das Erwachen in der Einsamkeit. Ich hatte keinen Ort mehr, an den ich würde zurückgehen können. Warum sollte ich also überhaupt noch irgendwohin gehen?
„Ich habe Schuld“, sagte ich, und die Worte kamen kaum gegen meine Tränen, meine Hoffnungslosigkeit und die Leere an, die meine Stimme lähmten.
„Schuld“, sagte Terno, und seine Stimme klang so warm dabei, dass weniger seine Worte als der Klang seiner Stimme den Strom meiner Tränen verlangsamte, „haben diejenigen, die gegen das handeln, was sie für richtig halten. Du aber fühlst den berechtigten Schmerz eines Verlustes, den Du nicht für Dich verantworten darfst. Niemand, nicht einmal die, die Dich beobachtet haben, hatten erwartet, was geschehen ist.“
Ich weinte immer noch, doch langsam konnte ich wieder atmen, wich diese schneidende Enge aus meinem Körper, die ich für immer mit Trauer und meiner Heimat verbinden würde.
„Wir müssen nach vorne sehen, Yelda, ich werde Dich lehren, Deine Kraft zu beherrschen, damit so etwas nie wieder geschehen kann. Ich werde Dir beibringen, wie Du Deine Kraft dazu einsetzen kannst, die Welt mit deinem Wesen zu bereichern ohne Angst vor den Folgen haben zu müssen.“
Obwohl ich immer noch weinte, wollte ich ihm glauben, dass er recht haben könnte. Ich wollte glauben, dass Terno, dessen Arme mich hielten, als ich in einer Konfrontation mit mir selbst verloren hatte, recht behalten würde. Ich spürte die Stärke seiner Umarmung und wollte, dass diese Nähe nie wieder enden würde. Ich wusste, dass ich ihm würde glauben müssen, um bei ihm bleiben zu können.
Ich glaubte ihm.

13 | Die Drei

Yelda
November 10, 2010

Unter mir lagen wieder der See und das Dorf. Aus großer Höhe sah ich darauf hinab. Das Wasser glitzerte im Sonnenlicht, und ich konnte kaum glauben, dass ich diesen friedlichen Ort mit den leicht erregbaren Menschen beinahe vernichtet hätte. Ich sank tiefer, immer näher an den Boden, wo ich bald erkannte, dass die Hütten, die dem See am nächsten standen, Schäden davongetragen hatten, als der Nachhall des flammenden Baumes über sie hinweggezogen war. Die Männer und Frauen des Dorfs halfen einander, die Dächer zu flicken.
Ich hielt Ausschau nach Remde, denn ich hoffte, ihn irgendwo unter den Menschen des Dorfs zu erkennen, doch suchte ich ihn vergebens. Für einen Moment dachte ich, vielleicht sei er doch gestorben, bis mir bewusst wurde, dass Terno mich nicht belogen hatte, als er sagte, dass Remde überleben würde.

Meine Aufmerksamkeit und die einiger Menschen wurde auf den Waldrand gezogen, denn dort waren zwei Frauen und ein Mann erschienen. Der Mann trug einen langen blauen Mantel, die eine der beiden Frauen eine gelbe Hose und ein kurz geschnittenes Hemd in derselben Farbe, die andere einen langen Rock aus fließendem roten Stoff und darüber einen ebenso roten kurzen Mantel. Sie gingen ohne Zögern auf das Dorf zu, wo sich schon einige Menschen versammelt hatten. Bukon konnte ich nicht darunter entdecken. Als die buntgekleideten Fremden auf Rufweite herangekommen waren, rief ein großer Mann, der kein Hemd trug, sondern nur einen schweren Hammer: "Verschwindet!"
Ich war verblüfft. Waren das die gleichen Menschen, die noch vor wenigen Tagen vor mir auf dem Boden gelegen hatten? Ganz eindeutig hatten sie den Respekt vor jenen, die Bukon als Hohe bezeichnet hatte, verloren.
"Wir wollen Euch hier nicht. Verschwindet!" rief der große Mann erneut.
Doch die drei Neuankömmlinge machten keine Anstalten zu gehen. Im Gegenteil näherten sie sich weiter dem Dorf. Der blaue Mann schlug seinen Mantel auf, seine Kleidung darunter war ebenfalls blau, doch so dunkel, dass sie fast schwarz aussah. Das Licht spiegelte sich in dem Material, als er näher kam.
"Wir sind gekommen, weil wir jemanden suchen", sagte er  leise, und doch war seine Stimme so deutlich zu hören, dass selbst jene, die am weitesten weg standen, es gehört zu haben schienen.
"Wir suchen", sagte die gelbe Frau, "eine junge Frau. Sie ist vor einigen Tagen in dieses Dorf gekommen. Sie hat gestern einen Menschen verletzt und eine der unseren beinahe vernichtet."
"Wo ist sie?" fragte die Frau in Rot.
"Sie ist fort. Und ihr solltet ebenfalls verschwinden, wenn ihr wisst, was gut für Euch ist." Der Mann mit dem Hammer trat ein Stück vor. "Dies ist unser Land, wir werden nicht mehr zulassen, dass Fremde alles zerstören."
Einzelne Männer und Frauen, die hinter ihm standen, nickten.
"Droht uns nicht, wir haben Euch nichts getan."
"So lange Ihr immer noch in Sichtweite seid, werde ich diesen Hammer nicht aus der Hand legen."
"Wir werden gehen, wenn Ihr unsere Fragen beantwortet: Wohin ist die Fremde gegangen?"
"War sie alleine?"
"Was ist geschehen?"
"Verschwindet! Wir werden keine Fragen beantworten!" Der Mann mit dem Hammer trat noch einen Schritt auf die drei zu. "Ich habe Euch oft genug gewarnt. Wir wollen keine Fremden hier und wiaaaah ..." Sein Satz endete in einem gutturalen Schrei, als er auf die Knie fiel und sich das Handgelenk hielt. Die gelbe Frau trat einen Schritt vor und sagte: "Niemand droht uns."
Und die Frau in Rot rief, um die Schreie des Mannes zu übertönen: "Wohin ist sie gegangen?"
Doch die Menschen des Dorfs schwiegen. Sie waren ein Stück zurückgewichen und starrten auf den sich krümmenden Mann, dessen rechte Hand nun nicht mehr den Hammer umklammerte, sondern dessen Arm direkt in den Griff des Werkzeugs verwachsen war. Immer noch schrie er und noch immer kamen die Drei näher.
"Niemand wird leiden, wenn Ihr uns Auskunft gebt, wie wir es wollen."
"Und wenn nicht?" fragte ein junges Mädchen, die Stimme vor Angst bebend.
"Dann werdet Ihr wünschen, Ihr hättet uns nicht abgewiesen." Der Blaue lächelte sie an, dann schnippte er mit den Fingern, und das Mädchen fiel zu Boden und rührte sich nicht mehr. "Wird uns jetzt jemand antworten?"
Doch sie warteten keine Antwort ab, sondern verloren ihre Form, umflossen wie farbiger Rauch die Menschen, hüllten sie ein und drängten ihnen in Mund und Nase, Augen und Ohren. Ich wusste, sie brauchten nicht die Worte der Menschen, um zu erfahren, was mit mir geschehen war, und wer mich begleitete. Sie würden alles erfahren, was sie wissen mussten.
Dienjenigen, die vom Nebel berührt worden waren, brachen leblos zusammen, einige bluteten aus Augen und Ohren. Es tat mir weh, mitansehen zu müssen, dass das Dorf, das ich verlassen hatte, um es vor dem Schatten zu retten, nun von diesen grausamen Wesen zerstört wurde.
Hätte ich in diesem Moment einen Körper gehabt, ich hätte Tränen um diese Menschen vergossen und Tränen auch um mich, die ich den Untergang über sie gebracht hatte.
Und dann hörten sie einfach auf. Die farbigen Rachfahnen verdichteten sich wieder und zu dritt standen sie vor dem größten Haus des Dorfs. Die Tür stand offen, so dass ich hineinsehen konnte. Remde lag dort auf einem Lager aus Tierfellen. Er hatte die Augen geöffnet und sah die drei Fremden an.
"Willkommen", sagte er mit rauher Stimme. Eine Brandwunde bedeckte die linke Seite seines Gesichts und sein linkes Auge war schwarz verbrannt. Und als er weitersprach, war seine Stimme wie Rauch und seine Worte wie Flammen, die sich in meine Wahrnehmung brannten: "Ich heiße Euch willkommen. Mandu sagte Euer Erscheinen voraus. Lasst mich Euch helfen."

Als ich meine Augen öffnete, stand Terno am Rande des Steins und blickte in die Ferne. Ich stand auf und versuchte zu erkennen, was er sah, doch außer Bäumen und Büschen konnte ich nichts erkennen.
"Hast du gut geschlafen?" Terno blickte immer noch ins Leere und sah mich nicht an.
"Ich hatte eine Vision", sagte ich. "Zumindest fühlte es sich an wie eine. Aber ich glaube, dass sie die Wahrheit war."
"Das, was die Menschen Visionen nennen, sind zumeist die Wahrheit, wenngleich nicht immer, wie sie sich den Menschen später präsentiert."
Er sah mich an, und der Blick seiner strahlend grünen Augen wärmte mich wie die erste Frühlingssonne die Erde nach dem langen Winter wärmt. "Du bist beunruhigt. Was hast du gesehen?"
"Drei Wesen von deiner Art. Sie haben das Dorf zerstört." Ich musste mich zwingen, weiterzusprechen. "Ich glaube, sie haben Remde getötet."
"Du bist sicher, dass es kein Traum war?"
"Warum sollte ich so etwas träumen?"
"Träume spiegeln oft die Ängste der Menschen wieder. Nicht alles, was die Menschen träumen, erfreut sie." Er zog die Augenbrauen hoch und legte den Kopf schief. "In der Tat glaube ich, dass die wenigsten Menschen angenehme Träume haben."
"Es war kein Traum, ich bin mir sicher."
"Dann glaube ich dir. Und wenn im Dorf geschehen ist, was ich glaube, dann sollten wir bald weiter."
"Du sagtest, dieser Ort sei sicher."
"Er ist es noch. Doch die drei sind Wesen meiner Art, sie wissen, wo wir uns voreinander verstecken können."
"Das ist etwas, was ich dich ohnehin fragen wollte. Warum verfolgen sie dich?"
"Ein alter Streit. Auch wenn wir von der gleichen Art sind, heißt das nicht, dass wir die gleichen Dinge wünschen. Oder dass wir einander schonen, wenn es um ... Dinge geht, die uns am Herzen liegen."
Die Art, wie Terno das gesagt hatte, fand ich merkwürdig, doch ich beschloss, nicht weiter darauf einzugehen. Wir hatten dringlichere Aufgaben.
"Können die Drei uns aufspüren, wenn wir nicht an sicheren Orten sind?"
"Sie können unseren Spuren folgen, wenn wir welche hinterlassen."
"Dann müssen wir mehr auf Laub und weniger im Matsch gehen", sagte ich, als ich mich daran erinnerte, wie tief die Spuren gewesen waren, die ich am frühen Morgen hinterlassen hatte.
Zum ersten Mal lachte Terno, ziemlich unpassend, wie ich fand, andererseits sprang sein Lachen auf mich über und ich lächelte ihn breit an.
"Ich meinte andere Spuren. Natürlich könnten die Drei auch deinen Fußstapfen folgen, doch sie würden sich nicht damit aufhalten, wenn sie gleichzeitig auch dem Signalfeuer unserer Kraft folgen können."
"Aber ich benutze meine Kraft nicht." Und nach dem, was mir Terno in der Nacht gesagt hatte, wollte ich es auch nie wieder.
"Das ist wahr, allerdings müssen wir auch sicherstellen, dass deine Kraft nicht dich benutzt. Deine Visionen beispielsweise ..."
"Ich habe sie doch nicht absichtlich!" unterbrach ich ihn, doch er lächelte nur und sagte: "Das glaube ich dir auch. Du kannst sie aber auch nicht kontrollieren. So lange wir an sicheren Orten sind, sind sie ungefährlich, doch nicht immer werden wir einen solchen Ort vorfinden können."
"Dann werde ich mich stärker konzentrieren."
"Vergiss nicht, du hast jetzt einen sterblichen, einen erschöpfbaren Körper. Er wird Schlaf brauchen und deine Konzentration unterbrechen."
"Dann musst du mich wachhalten."
"Dann werde ich dich wachhalten." Er machte eine Pause und sah mich an. "Und ich werde dich lehren, deine Kraft zu kontrollieren."
"Mandu hat mich gelehrt zu lauschen und zu sehen."
"Das ist gut."
"Also hat sie mir doch nicht schaden wollen?"
"Das sind zweierlei Dinge. Sie hat dich unterrichtet, um sich selbst zu schützen. Sie wollte nicht, dass du entdeckt wirst."
"Oder, dass ich meine Kraft einzusetzen lerne?"
"Dass du deine Kraft überhaupt einsetzt. Sie wusste wahrscheinlich seit eurer ersten Begegnung, dass sie dir unterliegen würde, käme es zu einem Kräftemessen. Das konnte sie nicht riskieren."
"Und doch hat sie es letztlich getan."
"Ich glaube, sie wollte, dass dich der Schatten am Ende doch verschlingt, wenn sie dich schon nicht besiegen konnte."
"Mit dir hatte sie nicht gerechnet."
"Nein. Ich hatte meine Kraft vor ihr verborgen."
"Kannst du mich das auch lehren?"
"Ich kann und ich werde. Und ich muss, wenn wir unerkannt reisen werden."
"Wann fangen wir an?"
"Jetzt."

12 | Terno

Yelda
November 9, 2010

Wir rannten, und während wir rannten, überschlugen sich die Gedanken in meinem Kopf. Ich hatte meine Kraft mit der Mandus gemessen – und gewonnen! Ich hatte Remdes Leben gefährdet – und ihn beinahe getötet. Der Fremde kannte meinen Namen – und schien nicht daran zu zweifeln, dass ich ihn kannte. Und wirklich kam er mir vage bekannt vor, wie jemand, den ich gekannt hatte, und der sich in der Zeit, die wir uns nicht gesehen hatten, sehr stark verändert hatte. Das wiederum erschien mir seltsam, denn die einzigen Menschen, die ich jemals kennengelernt hatte, lebten in diesem Dorf. Noch zumindest, denn wenn der Fremde recht hatte, dann würde bald ein Schatten über das Dorf hereinbrechen und alles vernichten. Ich spürte, dass er recht damit hatte, und so hatte ich nicht lange gezögert, mit dem Fremden zu fliehen. Remde würde überleben, das zählte jetzt, da er bei meiner Auseinandersetzung mit Mandu verletzt worden war. Natürlich wäre ich lieber geblieben oder hätte ihn mit mir genommen, doch ich spürte, dass das nicht möglich war. Nicht nur, weil wir mit dem verletzten Remde nicht schnell genug gewesen wären, sondern auch, weil Remde nicht zu mir gehörte. Und nicht zu dem Fremden, der mir vertraut schien wie ein Teil meiner Selbst.

Die Nacht näherte sich der Morgendämmerung, als wir anhielten. Schon vor einiger Zeit hatte ich die Orientierung verloren, wichtig war, dass wir das Dorf so weit wie möglich hinter uns ließen. Ich vertraute der Führung des Fremden so wie ich Remdes Führung vertraut hatte. Beim Gedanken an ihn ergriff mich für einen Moment Bedauern und Scham, dass ich ihn verletzt hatte, doch dann sagte ich mir, dass die Schuld bei Mandu lag, die mich hätte freigeben können, die sich und Remde hätte unversehrt lassen können.
Der Fremde hatte sich auf einen umgestürzten Baum gesetzt und beobachtete mich.
„Du kennst meinen Namen“, sagte ich. „Wer bist du?“
„Erkennst du mich nicht?“
„Nein. Aber ich glaube, ich sollte es. Ich weiß, dass ich dir näher war, als ich es Remde oder Mandu jemals hätte sein können.“
„Mandu war ein machtvolles Wesen.“
„Ist sie tot?“
„Besiegt, aber nicht tot. Du hast gezeigt, dass du stärker sein kannst als sie, doch die alte Mandu ist zäh.“
„Kanntest du sie?“
„Ja, vor langer Zeit sind wir uns schon einmal begegnet. Aber das ist eine Geschichte, die ein andermal erzählt werden soll. Jetzt müssen wir über dich sprechen.“
„Und über dich. Wie ist dein Name? Ich kann Dich nicht grüner Fremder nennen.“
„Warum nicht? Ich hatte schon absonderlichere Namen.“ Ich konnte sein Lächeln spüren. „Nenn mich Terno.“
„Ist dies dein wahrer Name?“
„So sehr wie der deine Yelda ist. Namen sind nur Laute, die nichts mit den Wesen zu tun haben, die sie tragen. Ein Name, eine Wolke, ein Sonnenstrahl. Das Sein ist mehr als ein Name.“
„Du bist kein Mensch.“
„So wie du kein Mensch bist.“
„Ich bin sterblich, weil Mandu mich essen und trinken ließ.“
„Dein Körper ist darum sterblich. Dein Wesen allerdings ist es nicht. Dein Wesen steht immer noch außerhalb der Regeln dieser Welt.“
„So wie deines?“
„Mein Körper ist nur eine Hülle, die ich wähle, wenn ich in dieser Welt erscheinen muss. Mein Wesen aber bleibt außerhalb und unterliegt nicht den Regeln der belebten Welt.“
„Bin ich wie du?“
„Nein.“ Etwas hinter mir schien seine Aufmerksamkeit erregt zu haben. Ich drehte mich um, doch sah ich nichts. Terno stand auf. „Lass uns weitergehen. Wir können auch unterwegs sprechen.“
„Was hast du gesehen?“ fragte ich, als ich ihm folgte.
„Ich habe etwas gespürt, das uns folgt.“
„Ist es der Schatten? Mandu sprach von ihm, ich wurde von ihm in einer Vision verschlungen.“ Als er nicht gleich antwortete, fügte ich hinzu: „Du hast ihn am See erwähnt.“
„Was uns folgt, ist nicht der Schatten. Du hast recht, ich habe ihn erwähnt, auch wenn ich ihn nicht fürchte. Doch die Leben dieser Menschen bedrohte er, und darum mussten wir fliehen.“
„Warum folgt er mir? Was habe ich ihm getan?“
„Nicht ihm hast du etwas getan. Es ist die Welt, die du verletzt, wenn du deine Kraft einsetzt.“
„Ich verletze die Welt?“
„Du brichst ihre Regeln, du veränderst die Wirklichkeit. Wenn du einen Stein in eine Pfütze wirfst, veränderst du die Pfütze, Wellen breiten sich auf, Schlamm wird aufgewühlt. Keine Handlung bleibt ohne Folgen.“
„Ich habe eine Hummel geheilt.“
„Ich habe es gespürt. Die Hummel ist nicht mehr. Und nichts mehr, was um sie war.“
„Der entlebte Ort?“
„Ein Teil der Welt, der unter den Schatten gefallen ist.“
„Meinetwegen. Weil ich meine Kraft eingesetzt habe?“
„Es ist etwas geschehen, das nicht hätte geschehen dürfen. Die Verbindung deines Wesens mit der Welt war nicht, wie sie hätte sein sollen.“
„Und darum verlebt alles, was ich mit meiner Kraft berühre?“
„Die Wirklichkeit sucht sich selbst zu heilen, wenn du sie verändert hast. Sie verliert dabei allerdings sich selbst.“
„Aber Mandu hat den Schatten ferngehalten, als ich das erste Mal meine Kraft eingesetzt habe. Und du sagtest, ich könne das Dorf retten, wenn ich es verließe. Hast du mich angelogen?“
„Du bist der Fokus, die Wirklichkeit braucht dich als Fixpunkt, doch wenn du dich außerhalb der Welt befindest, verliert die Wirklichkeit das Ziel.“
„Aber dies ist der gleiche Wald, durch den ich schon einmal ging. Er ist nicht außerhalb der Welt.“
„Der Wald ist Teil der Welt. So lange du aber bei mir bist, bist du nicht Teil der Welt. Unsere Körper sind es, doch unser Wesen befindet sich nicht in dieser Welt.“
„Und warum gehen wir dann noch weiter? Warum hätten wir dann nicht im Dorf bleiben können?“
„Weil der Schatten nicht das einzige ist, das uns folgt.“
„Uns?“
„Weitere Wesen, die sind wie ich, suchen auch nach dir. Es ist wichtiger als alles andere, dass sie dich nicht finden.“
„Warum?“
„Sie wollen deine Vernichtung.“
„Aber du hast gesagt, nur mein Körper sei sterblich. Warum sollte ich sie also fürchten?“
„Weil ihnen dein Tod nicht genug ist. Sie wollen deine gesamte Existenz, dein Wesen auslöschen.“
„Wieso? Wegen des Schattens?“
„Ich kann es nicht sagen. Besser ist es, ihnen gar nicht erst die Möglichkeit zu geben.“
„Müssen wir also immer weiter fliehen?“
„Wir haben bald einen Ort erreicht, an dem sie uns nicht finden können, dort können wir anhalten und unsere weiteren Schritte planen.“
„Das klingt gut. Ich glaube, mein Körper möchte schlafen.“
„Du hast recht. Ich habe vergessen, dass ein sterblicher Körper sich erschöpft. Es ist nicht mehr weit.“
„Gut. Lass uns trotzdem schneller gehen.“

Ternos Ort sah kaum anders aus als der restliche Wald, der durch die mittlerweile goldfarbene Dämmerung wie mit Honig überzogen wirkte. Knorrige Bäume, deren verdrehte Äste bis fast an den Boden heranreichten, hatten uns schon die letzte Zeit über begleitet, als wir über sattfeuchten, schweren Boden liefen. Schließlich wurde der Boden weicher, nasser und meine Füße sanken bei jedem Schritt ein wenig ein. Ternos Schritte dagegen hinterließen keine Spur, denn er ging über den Matsch ebenso wie vorher über die trockene Erde. Wir erreichten einen mannshoch aufregenden Felsen, der groß genug war, um zehn oder mehr Menschen darauf bequem liegen zu lassen. Ich wusste sofort, dass dies der Ort war, von dem Terno gesprochen hatte. Denn obwohl der Felsen aussah, als gehörte er zum Wald wie Boden und Bäume, umlief ihn alle Kraft, als sei er nicht in der wirklichen Welt vorhanden. Hätte ich ihn nicht direkt vor mir gesehen, hätte ich gedacht, dass er ähnlich Mandus Baum war, doch dieser war nicht sichtbar gewesen, solange man den schützenden Schleier nicht lüftete.

„Ich helfe dir hinauf“, sagte Terno, der schon ein Stück weit hinaufgeklettert war und mir seine Hand hinhielt. Ich ergriff sie, und er zog mich hoch. In dem Moment, als ich den Felsen berührte, durchzog ein nicht unangenehmes Prickeln meinen Körper, das mich für einen Moment an die Schmerzen denken ließ, die ich bei meinem ersten Erwachen auf Mandus Insel gespürt hatte, doch dann war es ebenso schnell und spurlos vorbeigegangen wie es gekommen war.
„Hier sind wir für einige Zeit sicher.“ Terno sah sich um. „Schlaf, wenn du möchtest.“
Ich wollte. Ich ließ mich in meine Erschöpfung fallen wie einen Stein ins Wasser.

11 | Der Fremde

Yelda
November 8, 2010

In den folgenden Tagen verblasste der Schmerz. Remde saß bei mir und beantwortete viele meiner Fragen, erklärte mir viel über das alltägliche Leben der Menschen, über sein Leben, über seine verlorene Schwester, deren Namen er mir gegeben hatte.
Ich genoss seine Gegenwart, wenngleich ich spürte, dass eine Distanz zwischen uns war, die nichts überbrücken würde. Besonders klar wurde mir das in den Momenten, da Mandu ihn fortschickte, um mich zu lehren. Remde war begierig zu erfahren, was ich lernen sollte, doch ich konnte es ihm nicht zufriedenstellend beschreiben.
Aber wie soll man beschreiben, was unbeschreibbar ist? Mandu lehrte mich vor allem, nichts zu tun, meinen Atem fließen zu lassen, die Welt wahrzunehmen, aber nicht versuchen, sie zu erreichen.
„Es würde dir ohnehin von hier aus nicht gelingen.“
„Warum ist deine Insel anders?“
„Die Insel ist ein Anker in der Welt, der sich selbst schützt. Hier fließen alle Kräfte anders, auch Raum und Zeit sind anders als außerhalb. Wenn hier Tage vergehen, dann vergehen an Land Wochen, manchmal nur Momente. Die Insel steht außerhalb der Regeln.“
„Wie ich?“
„Wie du.“
„Gilt dann auch für mich, dass ich von der Welt abgegrenzt bin?“
„Natürlich. Du kannst nicht erreichen, was nicht da ist.“
Und obwohl Mandu sicher geklungen hatte, musste ich es versuchen, griff mit meinen Gedanken nach allem, was da war. Und spürte doch nur mich.

Das beeindruckendste in diesen Tagen war sicherlich der Hunger. Bis ich begriffen hatte, dass dieses neue Gefühl, das unter dem Schmerz lag, keine emotionale Leere war, untersuchte ich das jeden Tag stärker werdende Bedürfnis. Überhaupt hatte ich nie Bedürfnisse gekannt, weder Kälte noch Wärme gespürt. Meine vorige Existenz erschien mir angesichts all ihrer Taubheit für mich selbst immer weniger wie ein Leben, das zu führen sich lohnte. Ich pries Mandu in Gedanken dafür, dass sie mir die Möglichkeit gegeben hatte, sterblich zu werden.
Ich entdeckte, dass Mandus Quellle nicht nur den Durst löschte, sondern auch den Hunger stillte. Ich entdeckte aber auch, dass die roten Früchte an den Bäumen essbar waren, und ich genoss es, die Kugeln aufzubrechen und in ihrem Inneren einen Schatz aus geronnenen roten Wassertropfen zu finden, die, nahm man sie in den Mund, sauer und gleichzeitig süß waren, und kaute man sie, unter den Zähnen aufplatzten und den Mund mit ihrem Saft füllten. Sie stillten den Hunger und den Durst, und weckten gleichzeitig Lust, mehr zu essen, noch mehr, bis meine Hände klebten und rötlich schimmerten.

„Was hast du heute gelernt?“, fragte Remde, als er mich am Abend besuchte. Er hatte es sich angewöhnt, auf der Insel zu schlafen und erst nach Sonnenaufgang aufs Festland zurückzukehren. Mandu schien nichts dagegen zu haben, ganz im Gegenteil hatte sie es sogar vorgeschlagen. Es würde mir gut tun, sagte sie, jemanden zu haben, der mir meine unzähligen Fragen beantworten würde.
„Ich habe gelernt, zu hören.“
„Konntest du denn nicht schon hören?“
„Ich habe Laute wahrgenommen, aber ich habe nicht gehört. Mandu hat es so erklärt, und ich weiß nicht, wie ich es besser sagen könnte.“
„Du hast nicht gelauscht?“
„Wenn das heißt, dass ich nicht versucht habe, zu verstehen, was ich höre, dann habe ich wohl zu lauschen gelernt heute.“
„Und was hast du erlauscht?“
„Ein wehendes Blatt und eine Welle, die sich über den See bewegt.“
Remde sah nicht aus, als sei er beeindruckt. Ich hatte das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. „Es war nicht leicht“, fügte ich hinzu.
„Gerade, wo Wellen auf dem See so selten sind.“
„Sind sie nicht.“ Ich war verwirrt. „Soll ich dir eine zeigen? Wir könnten ihr gemeinsam lauschen. Lauschen ist ein schönes Wort.“
„Nein, Yelda, ich habe nur einen Scherz gemacht. Und ja, es ist ein schönes Wort.“
Ich dachte, er wollte noch etwas hinzufügen, darum schwieg ich und sah ihn an. Sein Blick ging an mir vorbei zwischen en Bäumen hindurch. Er sah das Dorf vor sich, das wusste ich. Als er eine Weile lang gestarrt hatten, sagte ich: „Was ist geschehen?“
„Was sollte geschehen sein?“ Doch er sagte nicht, was er eigentlich sagen wollte.
„Remde, ich habe heute gelernt, zu lauschen, auf das zu hören, was ist und was nicht ist. Und selbst wenn Mandu meint, dass ich noch viel lernen müsste, so merke ich doch auch, wenn manches, das gesagt werden müsste, nicht gesagt wird. Ich spüre die Pausen, das Denken.“ Ich nahm seine Hand. „Du denkst so laut, dass ich es fast hören kann.“ Ich lächelte ihn an.
„Du hast ja recht. Ich muss mit Mandu sprechen.“
„Warum sprichst du nicht mit mir darüber.“
„Weil du nicht weißt, was zu tun ist.“
„Das kannst du gar nicht wissen.“ Und obwohl ich wusste, dass er recht hatte, hatte mich die Bestimmtheit, mit der er meine Unwissenheit ansprach, doch getroffen.
„Yelda, du weißt immer noch kaum etwas über dich oder die Welt, das ist kein Geheimnis. Mandu dagegen beobachtet diese Welt schon länger als ich überhaupt lebe. Sie hat mehr Antworten als du und ich zusammen.“
„Dann geh doch und frag sie.“
„Ich denke, du solltest mitkommen.“
„Obwohl ich nicht helfen kann?“
„Ach Yelda, ich wollte dich nicht verletzen. Vergib mir. Was ich mit Mandu zu besprechen habe, könnte dich betreffen, womöglich könnte es dich sogar gefährden. Darum solltest du dabei sein, wenn ich Mandu um Rat frage.“
Nicht vollständig überzeugt nickte ich. „Dann sollten wir sie wohl gemeinsam suchen. So groß ist die Insel nicht."

Wir fanden Mandu an ihrer Quelle.
„Ein Fremder war im Dorf.“
„Ein Fremder?“
„Ja. Bukon hat sich ihm gleich zu Füßen geworfen, weil dieser Fremde kunstvoll gefertigte Kleidung trug.“
„War es ein Hoher?“
„Erinnere dich, Yelda: die Götter und ihre Kinder kämen nie zu Bukon.“
„Was wollte er?“
„Er hat jemanden gesucht. Er hat gefragt, ob wir schon einmal Besuch hatten.“
„Aber natürlich hattet ihr. Ich bin zu Euch gekommen.“
„Was hat Bukon gesagt?“
„Nichts. Ich habe statt seiner gesprochen, da er immer noch auf dem Boden lag und vor Ehrfurcht nicht sprechen konnte. Ich habe ihm gesagt, dass niemand im Dorf sei, der nicht dorthin gehöre.“
„Warum hast du ihm nicht gesagt, dass ich hier bin?“
„Weil es ihn nichts angeht.“
„Aber er sucht nach mir!“
„Das können wir nicht wissen.“
„Außerdem bist du hier sicher.“
„Aber wenn er nun weggeht?“
„Was, wenn er es nicht tut?“
„Er ist nicht gegangen. Er hat darum gebeten, außerhalb des Dorfes zu übernachten, damit er morgen weitersuchen kann. Er rechnet damit, dass jemand in der Nacht zu ihm kommt und Yelda verrät.“
„Bukon hat ihn gewähren lassen?“
„Er hat ihn sogar eingeladen, in seiner Hütte zu übernachten. Natürlich wird er von Yelda erzählen.“
„Aber warum auch nicht? Warum soll der Fremde nicht von mir erfahren?“
„Ich denke, dass Remdes Skepsis nicht unangebracht ist.“
„Was soll schon passieren?“
„Er könnte dich mitnehmen.“
„Er könnte dich verletzen.“
„Er könnte die verletzen, die … dir nahestehen.“
„Erinnere dich an deine Vision, Yelda. An das Dunkel, das dir folgte. Wie sicher kannst du sein, dass nicht dieser Mann das Dunkel ist, das du fürchtest?“
„Wie kann ich denn sicher sein, was dieser Mann ist, wenn er nicht bleiben soll, und ich keine Möglichkeit habe, ihn zu befragen?“
„Vertrau mir.“
„Wie kann Vertrauen allein die Antworten ersetzen, die mir dieser Fremde vielleicht geben kann? Bukon mag nicht besonders geeignet dazu sein, Fremde und Götter zu unterscheiden, wenn er aber das Gefühl hat, dass der Fremde und ich irgendwie zusammen gehören, dann sollte ich …“
„Du gehörst nicht zu ihm!“ Remdes Stimme war überraschend laut. „Er gehört nicht hierher und du nicht zu ihm. Er muss verschwinden, er bringt Gefahr, verstehst du das nicht?“ Etwas ruhiger, aber noch mit bebender Stimme, fügte er hinzu: „Für das Dorf natürlich. Er birgt Gefahr für das Dorf.“
„Remde hat recht. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass dieser Mann gute Nachrichten mit sich führt. Die Überlieferungen und deine Vision kündigen ein Dunkel an.“
„Ich soll die einzige Möglichkeit verstreichen lassen, mehr über mich herauszufinden?“
„Er wird ohnehin von dir erfahren. Dann wird er zu uns kommen. Hier wird er keine Macht über dich haben.“
„Ich soll warten?“
„Wir werden gemeinsam warten.“
„Wir warten.“

Die Dämmerung war so rot wie die Früchte von Mandus Baum. Ich sah in den Himmel und gab vor, den fernen Vögeln zu lauschen, die an der untergehenden Sonne vorbeizogen. Während Mandu und Remde sich leise unterhielten, dachte ich nach. Ich wusste, dass der Fremde Antworten auf meine Fragen hatte, die weder Remde noch Mandu mir jemals würden geben können. Selbst wenn die beiden behaupteten, dieser Mann habe nichts mit mir zu tun, wusste ich, dass sie beide nicht daran glaubten. Allein schon der Gedanke, dass er eine Gefahr für mich darstellen könnte, verriet sie. Hätte er nichts mit mir zu tun, wie sollte er mir schaden?
Nein, sagte ich mir, sie wollten mich einfach nur von ihm fernhalten. Sie wollten verhindern, dass ich die Insel verließ. Wie eine Spinne Beute in ihrem Netz hält, sollte mich die Insel aus irgendeinem Grund an Mandu binden. Sie mochte meine Kraft fürchten und den Schatten, den ich angeblich warf, doch warum lehrte sie mich dann nicht, meine Kraft wirklich zu kontrollieren statt sie nur zu vergessen?
In diesem Moment, dachte ich, erzählt Bukon dem Fremden von mir, und wäre ich dort, ich könnte sofort erfahren, wer ich bin. Und zum ersten Mal kamen mir auch Zweifel an Mandus Wissen über mich. Vielleicht war ich nicht die, von der diese Überlieferungen sprachen. Ich hatte nur vergessen, wer ich war, Mandu hatte keinen Beweis für ihre These außer meiner, wie sie es nannte, Vision.
Konnte es nicht doch nur ein Traum gewesen sein? Auch Träume fühlten sich mitunter so wirklich an. Und doch konnte ich mich dahingehend nicht belügen: es war kein Traum gewesen. Das Dunkel war gekommen und hatte Remde verschlungen; und Mandu, die mich sterblich gemacht hatte und sich weigerte, mich zu lehren, hatte mir versichert, ich trage die Verantwortung für den Schatten.
Ich betrachtete sie in der zunehmenden Dämmerung. Bei unserer ersten Begegnung war sie zornig gewesen und auch später hatte immer wieder Zorn in ihren Zügen gestanden, Boshaftigkeit, als sie mich aufforderte, aus ihrer Quelle zu trinken, Bosheit, als sie Remde fortgeschickt hatte, Spott, als sie vorgab, ich müsse erst lernen, zuzuhören. Mandu hielt mich zurück, sie sperrte mich ein, Mandu war die Spinne und die Insel ihr Netz. Ich wusste, was ich zu tun hatte.

„Ich werde gehen“, sagte ich laut, und sofort brachen Remde und Mandu ihr Gespräch ab.
„Das darfst du nicht!“ Remde sah mich an, und plötzlich fíel mir wieder ein, dass uns die Sorge umeinander verbunden hatte in meiner Vision, und ich wusste, dass Remde diese Liebe wirklich spürte, doch auch, wenn ich fähig zur Liebe gewesen wäre, ich hätte nicht bleiben können. Nicht einmal ihm zuliebe.
„Remde, ich muss gehen. Diese Gelegenheit bietet sich mir nicht wieder.“
„Du hast Mandu gehört. Er wird zu uns kommen.“
„Sie wird ihn fernhalten. Ich werde die Antworten, die ich brauche, nicht bekommen, wenn es nach Mandu geht.“
„Yelda! Wie kannst du so von Mandu sprechen? Sie hat dir nichts getan!“
Mandu, die bislang geschwiegen hatte, sagte ruhig: „Du kannst nicht gehen.“
„Ich kann, und du weißt es.“
„Versuche es, doch die Insel wird dich nicht gegen meinen Willen gehen lassen.“
„Also gibst du zu, dass du mich hier gefangen hältst?“
„Ich gebe zu, dich zu deinem eigenen und zum Schutz der Welt daran zu hindern, die Insel zu verlassen.“
„Du wirst mich nicht aufhalten können.“ Bis zu diesem Augenblick war ich dessen nicht sicher gewesen, doch das kurze Aufflackern von Zorn oder Angst in Mandus Gesicht gab mir die Bestätigung, die ich brauchte. „Du kannst mich gehen lassen oder ich werde wirklich Gewalt benutzen.“
„Du weißt nicht, worum du bittest, Kind. Es wird nicht nur dein Untergang sein, wenn du deine Kraft gegen mich richtest.“
„Aber du bist dir doch selbst nicht sicher, ob alles, was du mir über mich erzählt hast, stimmt.“
„Die Überlieferungen …“
„Es gibt keine Überlieferungen, die von mir sprechen. Ich bin – dank dir – ein lebendes Wesen. Wovon auch immer deine Geschichten handeln, sie betreffen mich nicht.“
„Es sind keine Geschichten!“
„Und deine Vision? Du sagtest, das Dunkel würde mich vernichten!“
„Diese Vision ist eine Möglichkeit. Und sie spricht keine wahreren Worte als Mandu. Vielleicht steht das Dunkel für die Zukunft, in die wir nicht sehen können. Vielleicht ist es das, was die Vision mir zeigen sollte: dass ich die Insel verlassen muss, um in eine Zukunft zu gelangen.“
„Vielleicht aber vernichtest du mich. Ist Dir das egal?“
„Nein, das ist es nicht, Remde. Ich verdanke dir viel, doch vielleicht wäre es besser gewesen, du hättest mich im Wald zurückgelassen.“
Ohne Mandu oder Remde die Möglichkeit zur Erwiderung zu geben, fügte ich hinzu: „Ich werde gehen. Haltet mich nicht auf.“
Dann drehte ich mich um und ging.
„Yelda!“
„Lass sie. Sie wird nicht weit kommen.“
Ich hörte Remdes Schritte hinter mir, dann spürte ich seine Hand an meinem Arm. Ich blieb stehen und wandte mich ihm zu.
„Remde, lass mich gehen.“
„Ich kann nicht.“
„Du musst.“
„Ich kann dich nicht gehen lassen.“
„Du willst mich nicht gehen lassen. Du musst es aber tun. Du kannst mich begleiten, wenn du willst, ich werde es dir nicht verbieten.“
„Sie wird es nicht zulassen.“
„Dann musst du bleiben. Ich kann nur mich gegen ihren Willen befreien.“
„Du musst das nicht tun.“
„Lass mich gehen.“ Ich schloss die Augen. „Ich will dich nicht verletzen.“
Remde sah überrascht aus, ließ aber tatsächlich meinen Arm los. „Bleib hier.“ Tränen füllten seine Augen. „Bitte.“
„Leb wohl.“ Ich drehte mich um und ließ ihn hinter mir, als ich weiterging. Ich kam nur wenige Schritte weit, als sich die Luft zu verdichten schien, an mir klebte wie Schweiß in heißen Nächten.
„Mandu“, rief ich, „lass auch du mich gehen.“
„Niemals!“ Ihre Stimme kam nicht mehr von der Quelle, sondern schien aus dem Boden selbst zu stammen.
„Du kannst mich nicht aufhalten!“
„Wie sicher bist du dir?“
Doch statt zu antworten, schloss ich die Augen. Ich suchte nach dem Strom aller Kraft, und fand nur mich. Nun würde sich zeigen, ob meine Vermutung richtig war. Ich konzentrierte meinen Geist auf mich selbst, versuchte zu erkennen, wie die Kraft, die von mir ausging, floss. Ich folgte den schimmernden Linien der Kraft, die mich umgaben wie ein Kokon, mich einschlossen, mir eine Form gaben, die nicht meine war. Denn das wurde mir plötzlich klar: was ich bislang für meine eigene Kraft gehalten hatte, gehörte nicht zu mir. Wie Mandu mich gelehrt hatte zu hören, sah ich nun, dass meine Kraft nicht rötlich und träge an mir herab und in den Boden floss, sondern dass unter dieser Schicht ein helleres Feld lag, dessen Streben nicht der Erde, sondern dem Himmel galt und das von Mandus Kokon gefesselt wurde. Ich fühlte der Kraft nach, wanderte mit dem Strom nach unten, unter meinen Füßen hinweg in den Boden, im Boden, der nur aus Ästen bestand in Richtung von Mandus Quelle und von dort in den eigentlichen Stamm des übergroßen Baumes, der die Insel tatsächlich war.
Ich hörte Mandus Stimme, und ich spürte, wie sich der Strom im Baum sich gegen mich wehrte, doch Mandu hatte mich zu lange unterschätzt, sie würde mich jetzt nicht mehr aufhalten können. Ich erinnerte mich an die erste Begegnung mit Mandus Schleier auf dem See, und daran, wie sie den Nebel gelichtet hatte. Damals hatte es mich davon abgelenkt, tiefer zu gehen, doch diesmal wusste ich, dass ich Mandu besiegen musste, um von ihr fortzukommen. Selbst wenn sie mir jetzt gestatten würde, zu gehen, würde ich doch nie von ihr frei sein.
Ich glaube, sie wusste, dass ich sie nicht schonen würde, hätte sie aufgegeben. Darum wehrte sie sich bis zuletzt mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft. Doch ich ging weiter. Während ich in meinem Geist den Wurzeln des Baumes immer näher kam, löste sich die Klebrigkeit der Luft von mir, und ich konnte weitergehen. Ich musste nicht sehen, wohin ich ging, denn selbst mit geschlossenen Augen würde ich nun an mein Ziel kommen, wenn ich Mandu besiegte.
Und dann befand sich mein Geist an der rotglühenden Wurzel des Baumes und ich ließ meine Kraft fließen. Wie silberne Fäden umspannen sie das rote Wurzelwerk, das sich zunächst noch wehrte, doch je mehr Fäden ich auslegte, umso schwieriger wurde es für Mandu, sich gegen mich zu wehren. Und dann hatte meine Kraft sämtliches Rot überlagert. Wie in meiner Vision hatte sich ein silbernes Gleißen über die Wurzel gelegt und über den gesamten Stamm des Baumes bis hoch an die Krone. Und ich flüsterte: „Gib mich frei.“ Und ich war frei.

Ich stand am Ufer des Sees und sah auf die Hütten des Dorfs, die vom Mond beleuchtet waren. Dann drehte ich mich um und sah, dass es kein Mond war, sondern dass das Gleißen des Baums über den See strahlte, das Dorf, die Ebene und den Wald fahl leuchten ließ. Dann erlosch das Bild des Baumes, und nur einen Augenblick rollte ein Donnerschlag über das Wasser, dem ein machtvoller Windstoß folgte, der mich zwang, einen Schritt zurückzugehen.
Ich starrte noch auf den jetzt dunklen See, als sich Schritte und leise Stimmen näherten. Ich beachtete sie aber nicht, denn etwas auf dem See hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Es war ein Körper, den die Wellen des aufgewühlten Wassers rasch näher trugen, bis er schließlich fast am Ufer lag. Ich ging zu ihm hin und beachtete das Wasser nicht, das kalt an meinen Beinen zog, sondern griff nach Remdes Körper, und versuchte ihn aus dem Wasser zu ziehen. Er war ohne Bewusstsein, doch er atmete.
„Hilfe!“ rief ich. „Helft mir, ihn herauszuziehen!“ Und tatsächlich näherte sich jemand und griff mit starken Händen nach Remdes Körper. Gemeinsam zogen wir ihn ans Ufer, wo wir ihn auf den Rücken legten. Teile seines Gesichts waren verbrannt, seine Kleidung hing nur noch in nassen Fetzen an seinem Körper. Ich fiel auf die Knie. Ich wusste, ich konnte ihn heilen, ich hatte die Hummel geheilt, ich würde auch Remde wieder unversehrt sein lassen.
Eine Stimme sagte: „Dafür ist keine Zeit.“
„Ich werde ihm helfen.“
„Wir haben keine Zeit. Er wird leben, doch wir müssen fort.“
Zum ersten Mal sah ich den Mann an, der neben mir stand und Remdes Körper mit mir getragen hatte. Er trug aufwendig gearbeitete, frühlingsgrüne Kleidung, und seine Augen leuchteten im selben Grün. „Yelda“, sagte er, „wir müssen fort. Wenn du diese Menschen retten willst, dann müssen wir fliehen, bevor das Dunkel uns alle vernichtet.“

10 | Yelda

Yelda
November 7, 2010

„Du bist wach. Gut.“
Remde saß neben mir und hielt meine Hand.
Der Schmerz in meinem Körper war leiser geworden, er fühlte sich mehr als vorher an, als gehörte er zu mir wie die Hand, die Remde hielt.
„Du lebst“, sagte ich.
„Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Ich wusste nicht, warum du das Bewusstsein verloren hast. Ich habe eine Erklärung von Mandu verlangt, doch sie wollte mir keine geben.“
„Du warst fort.“
„Mandu hat mich fortgeschickt. Sie meinte, ich könne nichts für dich tun außer warten.“
„Warst du im Wald?“
„Nein, ich habe ein paar Sachen aus meiner Hütte geholt. Vielleicht können wir sie hier brauchen.“
„Ich habe dich gesehen, du warst im Wald, ich habe dich gesucht, dann hat dich Dunkelheit verschluckt.“
„Du hast geträumt.“
„Es war kein Traum, ich weiß, dass es kein Traum war.“
„Ich habe keine Dunkelheit gesehen außer der Nacht, die kam und ging. Du hast im Schlaf geschrien.“
„Ich habe dich gerufen, ich wollte dich warnen.“
„Es war ein Traum, es muss ein Traum gewesen sein, nichts hat mich versehrt.“
„Es war kein Traum.“ Mandus Stimme war überraschend nah. Ich hatte sie nicht gesehen, und auch Remde sah sich überrascht um, denn er hatte sie ebenfalls nicht herankommen hören. „Du hast gesehen, was hätte sein können. Was gewesen wäre, hätte Remde dich nicht zu mir gebracht.“
„Woher weißt du das?“
„Kind, das Dunkel folgt dir wie die Nacht dem Tag, doch auf meiner Insel bist du vor ihm verborgen.“
„Was bedeutet das, geehrte Mandu? Was wisst Ihr?“
„Warum folgt mir das Dunkel?“
„Ich weiß, dass meine Insel nur erreichen kann, was ich einlasse. Euch habe ich eingelassen, weil du, mein Kind, mit Gewalt meine Grenzen erschüttert hast. Hätte ich nicht nachgegeben, das Dunkel hätte uns längst verschlungen.“
„Ich habe niemandem Gewalt angetan!“
„Es lag nicht in deiner Absicht, denn du weißt nicht, wer du bist oder wozu du in der Lage bist. Umso wichtiger ist, dass du bei mir bist, so wenig ich es mir auch wünschen mag.“
„Fürchtest du mich?“
Remde sah mich entsetzt an, doch Mandu lächelte und sagte: „Ich fürchte die Kraft, die in dir wohnt, und den Schatten, der dir folgt, und den Sturm, den du entfesseln kannst. Doch dich fürchte ich nicht, denn du bist ein Kind und kennst dich nicht.“ Sie kniete sich auf meine freie Seite. „Ein weiterer Grund, warum du bei mir sein solltest. Ich kann dich lehren, deine Kraft zu beherrschen, ich kann dir helfen, dem Schatten zu entgehen. Und ich kann dir einen Teil Deines Selbst geben: Deinen wahren Namen.“
„Aber Remde gab mir einen Namen.“
„Remde gab Dir den Namen einer Toten, die Du nicht bist. Du hast einen eigenen, einen wahren Namen. Du heißt Yelda.“
„Yelda? Wer hat mir diesen Namen gegeben?“
„Ich weiß es nicht, wer ihn dir zuerst gab, und auch weiß ich nicht, wer ihn dir in Zukunft noch geben wird. Dein Leben wird sich wiederholen, du wirst dich wieder verirren und wieder gefunden werden, du wirst erneut erkannt und erneut benannt werden.“
„Wer ist Yelda? Wofür steht ihr Name?“
„Woher weißt du, was mich erwartet?“
„Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich diese Zukunft ist, die dich erwartet. Wir alle folgen einem vorgezeichneten Weg, doch wissen wir zu keiner Zeit, an welchen Ort er führt. Ich erkenne in dir alte Geschichten, Überlieferungen, wenn man so will. Sie erzählen von einem strahlenden Wesen, dem die Dunkelheit folgt. Viele haben darin die Sonne, der die Nacht folgt, viele Sommer und Winter, viele sehen Leben und Tod.“
„Ich kenne diese Geschichten nicht.“
„Natürlich kennst du sie nicht, Remde. Es ist eine Geschichte, die Mütter ihren Kindern über den Tod erzählen. Wer hätte sie dir erzählen sollen?“
Remde schwieg, doch ich sah, dass Mandus letzte Worte ihn traurig gemacht hatten.
„Nie hätte ich gedacht, dass eines Tages dieses strahlende Wesen der Überlieferung meine Insel betreten würde. Und ich habe es nicht geglaubt, bis du aus meiner Quelle getrunken hast. Erst da wurde mir klar, wen ich wirklich vor mir hatte.“
„Ist sie denn doch eine Hohe?“
„Keine Hohe, aber ein Wesen weit über den Menschen. Direkt mit der Welt und dem Leben verbunden, darum kannte sie weder Hunger noch Durst, denn sie war nie sterblich.“ In Mandus Gesicht stahl sich ein abwesender, hoffnungsloser Zug ein.
„Sie war nie sterblich?“ Wie Remde das eine Wort betonte, beunruhigte mich fast so sehr wie die Wut, die wieder in seinem Gesicht stand.
„Remde? Was meint sie?“
„Ich glaube, Mandu will sagen, sie hätte dir deine Unsterblichkeit genommen.“
„Was bedeutet das?“
„Es bedeutet, Dein Leben wird irgendwann enden.“
„Aber jedes Leben endet irgendwann. Ein Baum stürzt und stirbt, Rehe und Käfer, Vögel und Füchse, sie alle sind irgendwann nur noch kalte Körper und nähren dann die, die zurückbleiben. Ihre Kraft wird weitergegeben, ihr Leben ist nicht verloren.“
„Bei dir war das anders. Dein Leben war nicht bestimmt zu enden.“
„Das weiß niemand. Dass sie nie sterblich war, heißt nicht, dass sie unsterblich war. So wie die Sonne nicht stirbt oder die Nacht, stand Yelda immer außerhalb der Begriffe von Leben und Tod.“
„Bis sie aus deiner Quelle trank?“
„Es hätte an jeder Quelle geschehen können, doch erst hier, erst nach der Begegnung mit mir, wurde ihr etwas angeboten, was sie nicht kannte. Nie hatte sie Hunger oder Durst, sie existierte außerhalb von allen Notwendigkeiten, die die Menschen kennen. Ihr Körper war nicht darauf angewiesen, sich wie der eines Menschen zu ernähren.“
„Und dadurch, dass sie menschengleich getrunken hat, wurde sie menschlicher?“
„Das weiß ich nicht. Sie hat dadurch auf jeden Fall den Weg verlassen, dem sie bisher gefolgt ist.“
„Remde hat recht.“
„Was?“
„Du hast recht: ich bin sterblich geworden. So weit ich zurückdenken kann, bin ich Teil der Lebenskraft, die alles durchfließt, doch nachdem ich aus Mandus Quelle getrunken habe, spüre ich den Strom nicht mehr, dem ich durch die Welt folgte. Ich kann sehen und hören, doch ich fühle seither weniger das, was um mich ist, als nur mich.“
„Darum auch die Schmerzen.“
„Welche Schmerzen? Warum habe ich nicht mitbekommen, dass Yelda Schmerzen hatte?“
„Ich habe dich fortgeschickt, bevor sie einsetzten. Du solltest nicht sehen, wie sie darunter litt, wieder in die Welt einzutreten.“
„Hast du jetzt noch Schmerzen?“
„Ich spüre sie noch, doch ich weiß, dass sie zum Leben dazugehören. Der Schmerz sagt mir, dass ich einen Körper habe, dass ich in der Welt bin, so wie ich vorher die Kraft des Lebens um mich spürte.“
„Yelda fühlt das, was alle Wesen zu Beginn ihres Lebens spüren.“
„Als wäre sie neugeboren?“
„Ja.“
„Nein, ich bin das erste Mal überhaupt geboren. Das erste Mal in meiner Zeit bin ich sterblich. Doch mich schreckt das nicht. Ich werde mich an die Schmerzen gewöhnen und wenn mein Leben endet, werde ich mich von meinem Körper verabschieden und die Schmerzen loslassen, und ich werde als Teil des Lebensstroms anderen Wesen meine Kraft geben.“
„Dann bist du nicht traurig?“
„Nein. Aber ich denke, ich möchte ein wenig schlafen.“
„Dann schlaf. Wir sind hier, wenn du erwachst.“

9 | Wieder im Wald

Yelda
November 7, 2010

„Du bist wach.“ Mandu lächelte. „Gut.“
Ich versuchte mich zu bewegen, doch der Schmerz ließ das nicht zu. Ich hatte kaum Kontrolle über meinen Körper. Ich konnte Mandu noch nicht einmal anschreien, ihr eine Erklärung abzufordern, was sie mir angetan hatte.
„Es tut weh, ich weiß. Kämpf nicht dagegen an, er wird nicht verschwinden, aber Du wirst Dich daran gewöhnen.“
„Remde?“ Das eine Wort war so anstrengend, dass ich es nur flüstern konnte.
„Er ist fort.“
Fort? Remde hatte mich mit Mandu alleine gelassen? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er freiwillig gegangen war. Er fühlte sich verantwortlich für mich, das wusste ich, das hatte ich gespürt, bevor mein Geist meinem Körper entflohen war. Mandu musste ihm etwas angetan haben.
„Er ist zurück zum Festland geschwommen.“ Mandu ließ meine Hand los und stand auf. „Dein Geist ist jetzt sicher. Schlaf, wenn Du kannst. Es wird den Schmerz erträglicher machen.“
Wahrscheinlich hatte sie recht, dass der körperliche Schmerz erträglicher werden würde. Meine Wut auf Mandu und das Entsetzen über Remdes Abwesenheit hatten den Schmerz ein Stück weit verdrängt. Ich wusste, durch meine Wut würde ich den Schmerz besiegen können, durch meine Gefühle konnte ich stärker werden. Und dann würde ich Mandu zur Rechenschaft ziehen.
Mit diesem Gedanken schlief ich ein.

Diesmal wusste ich nicht, ob es Traum war oder Wirklichkeit, die ich im Traum sah. Wie vorher fühlte sich das, was ich erlebte, wie die Wirklichkeit an, doch es konnte nicht sein, es durfte nicht sein.
Wieder schwebte mein Geist über dem See, wieder blickte ich weit in die Ferne über den Wald. Doch diesmal färbte ein dunkler Schatten den noch tagblauen Himmel, der ferne Horizont war in der aufkommenden Schwärze nicht mehr auszumachen. Es war nicht die Nacht, die sich dort näherte, zu früh und zu schnell brach sie über den Wald ein, und weit vor der tatsächlichen Abenddämmerung würde sie den See erreichen und die Zweibeine, die dort lebten.
Und ich wusste, dass dieses Dunkel aus dem See in der Lichtung im Wald die gleiche entlebte Ebene machen würde, in der ich vor so scheinbar langer Zeit erwacht war. Ich hatte Angst; nicht so sehr um mich, denn ich hatte - obwohl ich Mandu immer noch und wahrscheinlich zu Recht misstraute - nicht das Gefühl, dass sie mich darüber belog, dass ich hier sicher sei. Ich hatte Angst um die Zweibeine und vor allem um Remde, der, sollte Mandu wahr gesprochen haben, sich bei den Seinen befand, und den das Dunkel verschlingen würde. Ich musste ihn, ich musste alle warnen, die dort am Ufer des Sees lebten, vor allem aber musste ich Mandu davon überzeugen, auch dem Dorf ihren Schutz zu geben.
Kaum hatte ich diesen Gedanken gedacht, näherte ich mich auch schon dem Dorf, dessen Wohnhöhlen rasch größer wurden. Ich wusste noch nicht, wie ich Remde würde warnen wollen, wenn ich ihn gefunden hatte, denn ich nahm an, dass er mich wie bei meinem Nicht-Traum nicht würde wahrnehmen können. Doch darüber würde ich mir Gedanken machen, wenn ich bei ihm war. Wo würde er sein?
Ich konzentrierte mich auf Remde, auf sein Gesicht, seinen Körper, aber viel mehr noch auf das, was ich nicht mit den Augen, sonden mit meinen Gedanken gesehen hatte. Seine Verblüffung, seine Wut, seine Sorge, sein Unverständnis, seine Geduld und seine ihn selbst überraschende Ungeduld. Vor allem aber auf seine Angst um mich, denn diese leuchtete am hellsten von all seinen Gefühlen, und diese Angst würde mich zu ihm führen, das wusste ich, denn auch ich empfand Sorge und Angst um ihn, und ich wusste, diese Ängste würden einander lindern können.
Mein Geist ging zwischen den Wohnhöhlen hindurch, rief trotz der Unwahrscheinlichkeit, dass er es hören würde, nach ihm. Ich blickte in die größte der Höhlen hinein, und sah Erdboden, den unzählbare Schritte gefestigt hatten, und darauf Felle von Tieren, an den Wänden unnatürlich gerade Äste mit daran befestigten Steinen, ich sah irdene Schalen und Steine und Federn, seltsam geformtes weißes Holz, und zwischen all dem Zweibeine, groß und klein, manche mit langen, manche mit kurzen Haaren. Nur drei von ihnen sprachen miteinander, doch ich verstand sie nicht, obwohl die Sprache, in der sie sich unterhielten, keine andere sein konnte, als die, in der ich selbst schon mit ihnen gesprochen hatte.
Da ich Remde nicht unter den Zweibeinen in der Höhle sah, ging ich weiter, obwohl ich gerne länger geblieben wäre, um herauszufinden, was all die Gegenstände zu bedeuten hatten. Vor allem das weiße Holz, das mich an etwas bestimmtes erinnerte, warf Fragen auf, deren Beantwortung, wie so vieles andere, würde warten müssen.
Ich ging weiter, rief sporadisch nach Remde und wusste doch, dass ich ihn hier im Dorf nicht finden würde. Meine Angst um ihn sagte mir, dass ich ihn der Dunkelheit am nächsten finden würde, und so verließ ich das Dorf und ging die ansteigende Ebene hoch, auf den Waldrand zu.

Nun, da ich aus dem Hellen unter den Schatten der Bäume treten sollte, immer im Wissen, dass hinter diesem Dunkel eine viel größere, gefährlichere Schwärze lauerte, war mein Zögern größer als damals, als ich mit Remde das erste Mal freiwillig den Wald verlassen hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich nichts anderes gekannt als die Stimmen des Waldes, doch jetzt wusste ich auch, dass die Weite des Himmels keine Gefahr bot, sondern die größte Gefahr von den Lebewesen ausging, die sich unter der Weite versammelten. Ich fürchtete, dass im Wald, wo sich Wesen unerkannt bewegten, die Gefahr viel größer sein würde als auf der freien Ebene.
Denn trotz meines Wissens, dass nur mein Geist durch den Wald ging und mein Körper sicher auf Mandus Insel lag, war ich mir nicht sicher, ob ich nicht doch verletzt werden konnte. Wer wusste, was in diesem Wald lebte, und auf welche Art und Weise es mich oder andere verletzen konnte.

Als ich unter den Bäumen hindurch ging, spürte ich kaum den Boden unter meinen Füßen und nicht den Wind, der die Blätter bewegte. Und wenn ich meine Gedanken ausstreckte, um nach der Kraft des Lebens zu greifen, nahm ich nichts wahr außer mir selbst. Je weiter ich voranging, umso dunkler wurde es, nicht nur, weil die dichter und höher stehenden Bäume das Tageslicht immer weiter aussperrten, sondern auch, weil grauer Nebel aus dem Boden aufstieg, der das wenige Licht in sich aufzunehmen schien. Ich brauchte kein Licht, um meinen Weg zu finden, und doch wich mit der abnehmenden Helligkeit auch meine Selbstsicherheit und die Gewissheit, dass ich Remde finden würde. Dass ich ihn würde warnen und retten können.
Ich ging schneller, immer schneller in die Richtung, in der ich den Schatten erwartete. Immer wieder streckte ich meine Gedanken aus, auf der Suche nach irgendeinem Zeichen von Leben, und hätte angenommen, dass ich nichts spürte, weil ich von meinem Körper getrennt war, hätte ich nicht am Ende doch etwas gespürt. Direkt vor mir musste eine gewaltige Kraft sein, die sich mit der Unaufhaltsamkeit der Nacht voranschob, die alles überstrahlte, was dort hätte sein können. Während ich den Wald mit meinen Gedanken als bleiche Version seiner selbst wahrnahm, legte sich diese Kraft wie ein schwarzer Film über alles, und wie Wasser, das Sand und Staub mit sich nimmt, zerrann alle Form unter der Wirkung des Schattens. Denn ihn hatte ich gefunden, den Schatten, der sich lautlos über den Wald legte und ihn unter sich begrub. Und dann, kurz vor der gähnenden Leere, die den Schatten begleitete, ein flackerndes Strahlen, das nur einem gehören konnte: Remde, der nur wenige Schritte vor der dunklen Wand stand und sie doch nicht sah, denn er war ruhig und blickte in meine Richtung. Ich weiß, dass er mich sehen konnte, denn er winkte mir zu und rief etwas, das ich nicht verstand, denn ich war noch zu weit fort, um ihn zu hören.
„Remde! Komm her!“ Ich schrie, versuchte, die Distanz kraft meiner Stimme zu überbrücken. „Hinter Dir! Lauf!“
Doch Remde hörte mich nicht, er stand da und winkte mir zu, während der Nebel schon seine Füße verbarg und die Bäume direkt hinter ihm schon schwarz anliefen.
Ich versuchte, noch schneller zu laufen, ohne zu wissen, was ich tun würde, wenn ich ihn erreicht hätte, wie ich ihn würde mit mir nehmen können, wie ich ihn retten würde. Ich schrie seinen Namen, als die Bäume hinter ihm verschwunden waren, ich schrie seinen Namen, als der Nebel zu seinen Füßen schwarz wurde, und ich schrie seinen Namen, als er hinter sich sah, nur einen Moment, bevor sein ganzer Körper von Schwärze umhüllt wurde. Ich schrie seinen Namen noch, als er längst verschwunden war und die Wand aus Nichts auch mich verschlang.

8 | Kein Schlaf, kein Traum

Yelda
November 6, 2010

Ich hatte Schlaf kennengelernt und Träume. Dies war anders.
Den Schlaf hatte ich nicht gespürt, erst durch das Erwachen hatte ich erfahren, dass ich vorher nicht wach gewesen war. Und Träume? In ihnen gab es Möglichkeiten, die es außerhalb nicht gab. In einem meiner Träume hatte ich fliegen können, als ich es in der Welt außerhalb versucht hatte, war ich gescheitert. Träume und Schlaf kannte ich. Dies kannte ich nicht.
Ich spürte, dass ich nicht wach war, dass mein Körper kein Bewusstsein hatte. Dennoch wusste ich, dass, was immer ich sehen würde, der Wahrheit entspräche. Dass mein Körper auf dem stammgeborenen Boden von Mandus Insel lag, Remde sich über mich gebeugt hatte, meine Hand genommen hatte und Mandu zornige Worte entgegenschleuderte, die regungslos mit dem Rücken zum Stamm saß und Remde und mich ansah, aber nichts sagte. Was Remde sagte, ich hörte es nicht, seine Sorge allerdings konnte ich spüren, seinen Zorn auf Mandu, seinen Zorn auch auf sich selbst, dass er ihr vertraut hatte. Es war seltsam, die Empfindungen eines anderen Wesens so deutlich zu spüren, deutlicher und bestimmter als ich meine eigenen Empfindungen jemals gespürt hatte. Gleichzeitig mit Remdes Wut erfuhr ich, obwohl ich nie selbst Wut gefühlt hatte, was Wut war und dass ihr die Angst um mich zugrunde lag. Es war, als erinnerte ich mich an etwas, das ich nicht vorher gekannt hatte, als entdeckte man einen dritten Arm an sich.
Ich wollte Remde trösten, wollte ihm sagen, dass es mir gut ging, dass ich nur gerade nicht wach, nicht ansprechbar war, doch so klar ich wahrnahm, was außer mir war, so sehr war ich außerhalb von allem, so abseits und fern aller Mitteilungswege.

Und dann wurde der nur fühlbare Schleier, der mich von ihm trennte, dichter, sichtbar. Wie aufkommender Nebel füllte er meine Sicht, nahm mich meinem reglosen Körper fort, zog mich aus der Eingrenzung von Mandus Insel. Mein Blick wurde nach außen gelenkt, auf den See und das Ufer und das Dorf und die Ebene dahinter, die an den Wald, den mir so fremden Wald grenzte, und dann darüber hinaus. Bald konnte ich sehen, dass der See sehr wohl begrenzt war, dass ich nur durch Mandus Nebel hindurch die andere Seite nicht hatte sehen können, auf der die Bäume bis ans Ufer reichten. Der Wald selbst war dicht und weit, es gab keine weiteren Lichtungen, keine weiteren Seen in der Nähe, nichts, was auf andere Dörfer schließen ließ, vor allem aber nichts, was dem entlebten Ort glich, der eine weite, schwarze Ebene sein musste. Sie hätte ich nicht übersehen. Ich streckte meine Gedanken aus, suchte nach dem Strom des Lebens, den ich immer um mich gespürt und der mich immer geleitet hatte.
Doch ich spürte nichts. Ich spürte kein Leben, nicht nur nicht in der Höhe über dem See, sondern auch nicht im Boden tief unter mir. Es war, dachte ich, während mein Geist immer weiter den Sternen entgegen stieg und ich immer mehr vom endlosen Wald entdeckte, als hätte sich die entlebte Ebene nur mit dem Wald und dem See und dem Dorf bedeckt, wie die Zweibeine sich mit Kleidung bedeckten. Es war, als wäre ich niemals von dort weggegangen. Und obwohl ich wusste, dass mein Körper sicher neben Remde auf Mandus Insel lag, fühlte ich erneut, wie damals in der Ebene, eine Einsamkeit, die so viel größer war als ich, dass sie meinen Geist unter sich begraben würde, gäbe ich auf, durch sie hindurch die Kraft des Lebens zu suchen. Und doch, obwohl ich das erste Mal fühlte, dass ich um mein Leben fürchten sollte, gab ich auf.

„Wird er sie finden?“
„Wie sollte er das können?“
„Er wird sie nicht finden. Sie ist fort.“
„Fort? Was heißt das?“
„Sie ist außerhalb unser aller Reichweite. Selbst wenn wir es zusammen versuchten, selbst wir könnten sie jetzt nicht finden.“
„Woher weißt Du das?“
„Wieso weißt Du das nicht?“
„Was heißt, wir könnten sie jetzt nicht finden?“
„Wir haben sie erschaffen, wir haben einen Teil unserer Essenz gegeben, um ihr Wirklichkeit zu geben. Wir sind immer mit ihr verbunden gewesen.“
„Wir hätten sie also jederzeit finden können?“
„Wir haben einen Teil unserer Essenz gegeben? Ich fühle mich aber ganz und ungeteilt.“
„Wie kann das sein?“
„Erläutere das.“
„Mir fehlt nichts, meine Essenz ist intakt.“
„Wir haben sie aus uns erschaffen, aus unserem Wesen. Ein Stück von Dir sollte sich in ihr wiederfinden.“
„Seit sie in der Welt ist, sind wir mit der Welt durch sie verbunden. Spürst Du das nicht?“
„Nein. Ich sehe die Welt und ich weiß, dass sie existiert, doch ich spüre sie nicht.“
„Wieso mussten wir darauf warten, dass sie uns findet, wenn wir sie jederzeit hätten finden können?“
„Es ist ihr Schicksal uns zu finden, wir haben ihr dieses Schicksal erschaffen, als wir ihr Gestalt gaben.“
„Falls sie anders beschaffen sei, als wir sie zu erschaffen beabsichtigten, hat denn das Schicksal, das wir zu geben beabsichtigten, Bestand?“
„Was?“
„Erläutere das.“
„Jeder von uns sollte einen Teil seiner Essenz verwenden, um sie zu erschaffen. Offensichtlich gab nicht jeder einen Teil von sich.“
„Ich wusste nicht …“
„Wenn sie also nun anders beschaffen ist als gedacht, kann sie dann überhaupt die Aufgabe, für die sie geschaffen war, erfüllen?“
„Könnte sie nicht mehr das richtige Werkzeug sein?“
„Sie ist es nie gewesen.“
„Darum konnte sie vernichten, was sie beschützen sollte?“
„Darum wird sie, wenn wir sie nicht finden, alles vernichten.“
„Wir müssen sie finden?“
„Wir müssen sie aufhalten.“
„Wir müssen sie zerstören.“

Der Wiedereintritt in meinen Körper war schmerzhaft. Oder vielmehr war der Körper, in den ich zurückkehrte, voller Schmerzen. Ich litt, wie ich noch nie gelitten hatte, weil ich noch nie gelitten hatte. Es gab keinen Einzelschmerz, sondern nur das schmerzende Bewusstsein, dass ich einen Körper hatte. Und wenngleich ich ahnte, dass ich mein restliches Leben lang mit diesem Schmerz verbringen müsste, zwang ich meinen Geist dazu, wieder Besitz von mir zu nehmen, denn ich hatte Fragen, auf die ich Antworten bekommen wollte. Ich hangelte mich an den Schmerzen entlang wie ich in der entlebten Ebene dem stillen Strom gefolgt war, bis ich mich in mir selbst wiederfand, eingehüllt in meine Schreie und Tränen. Und ich spürte eine Hand in meiner Hand, und ich wusste, noch bevor ich meine Augen geöffnet hatte, dass mich Remde nicht verlassen hatte, sondern bei mir geblieben war, während ich außer mir gewesen war.
Ich zwang mich, nicht mehr zu schreien, und öffnete die Augen. Ich hatte schmerzhaft helles Licht erwartet, doch die Sonne war schon untergegangen, sanfte Dämmerung lag über Insel. Ich blickte zur Seite, um Remde anzusehen. Doch er war nicht da, nicht er hatte meine Hand gehalten. Es war Mandu.

7 | Mandus Insel

Yelda
November 5, 2010

Mandu schien nicht glücklich. „Was wollt Ihr hier?“
„Wir brauchen Hilfe, geehrte Mandu.“ Remde hielt sich am Floß fest, offensichtlich hatte er keinen Grund unter den Füßen. Er war sichtlich erschöpft davon, mich über das Wasser zu ziehen.
„Ich suche meine Familie.“
„Wieso sollte ich Euch helfen?“
„Remde sagte, nur Du könntest wissen, wo meine Familie ist.“
„Sie hat den Verstand verloren und sich selbst, geehrte Mandu.“
„Und darum verschafft Ihr Euch mit Gewalt Zutritt zu meiner Insel?“
Remdes zeigte, kurz bevor er unterging, Verblüffung. Nach einem Moment durchstieß sein Kopf wieder die Wasserfläche. „Gewalt?“ Wasser floss von seinem Gesicht. „Sie kann nicht schwimmen, daher nahmen wir das Floß …“
„Es ist nicht das Floß, Remde, und sie weiß es. Du weißt nicht, wen Du bei Dir hast. Dass sie es auch nicht weiß, macht es nicht besser.“
„Bukon meinte, sie sei eine Tochter der Götter.“
Mandus Gesicht erhellte sich. „Eine Hohe?“
„Das sagte er, ja. Und die anderen schienen seiner Meinung zu sein.“
„Dieser Narr. Er ist so besessen, mehr zu sehen als den See, den Wald und den Himmel, der beides umfängt, dass er in jeder Fremden ein Zeichen der Götter sieht.“
„Also ist sie keine Hohe?“
„Wandelten die Götter oder ihre Kinder jemals unter uns, sie kämen nicht zu Bukon. Die Götter brauchen nicht die, die glauben wollen. Es sind die Zweifler, die den Göttern mehr als alles andere nutzen.“
„Also bin ich keine Hohe, weil ich Bukon gesehen habe? Remde, was hast Du getan?“
„Du bist keine Hohe, mein Kind, aber sei darüber nicht traurig und zürne auch Remde nicht. Ich weiß nicht, ob es recht von Remde war, Dich zu mir zu bringen, doch nun seid Ihr hier. Ich kann Euch nicht zurückschicken.“ Sie sah erst Remde an, dann mich, dann blickte sie über den See zurück auf das Dorf und vielleicht darüber hinaus, denn Mandus Blick schien nicht zu sehen, was dort am Ufer war. „Ich werde Euch nicht fortschicken. Ihr seid hier sicher.“ Sie sah zu Remde. „Du hast Leid über Dich gebracht, weißt es noch nicht und kannst auch nichts mehr dagegen tun. Du bist ein Blatt im Wind.“ Dann sah sie zu mir: „Und Du, mein Kind, bist der Sturm.“

Sie bedeutete Remde, auf den Stamm des Baumes zu klettern, auf dem sie bisher gestanden hatte, und auch mir auf den Baum zu helfen. „Lasst das Floß treiben. Es ist niemandem mehr von Nutzen.“ Remde, der es eben an einem Ast befestigen wollte, blickte verwundert auf. „Werden wir die Insel denn nicht mehr verlassen?“ Doch Mandu antwortete nicht, sondern ging voran. Remde ließ das Floß treiben und folgte ihr. Ich sah noch einmal zurück zum Dorf am Ufer, das vom langsam wieder einsetzenden Nebel meinem Blick entzogen wurde. Dann drehte ich mich um und folgte Remde und Mandu.

Mandus Insel schien keinen irdenen Grund zu besitzen. Statt dessen gingen wir auf Bäumen und zwischen Bäumen auf einem Boden entlang, der aussah wie auf der Erde liegende Baumstämme, die erst spät wieder zum Himmel strebten. Zwischen den Stämmen auf dem Boden wuchsen Moose und Farne, aber auch buntblühende Büsche und Blumen mit Rispen gelber Blüten und Trauben von Rot. Hinter Remde gehend sah ich, dass Mandu etwa so groß sein musste wie ich, wie die Zweibeine im Dorf hatte sie ihren Körper verhüllt, ihre Kleidung, die nur aus einem langen Hemd ohne Arme bestand, war schwarz wie die mondlose Nacht. Oder, fiel mir plötzlich ein, wie der entlebte Ort. Mandus Insel aber, sagte ich mir, war so voller Leben, dass sie unmöglich etwas mit dieser Art von Schwärze zu tun haben konnte.
Sie führte uns durch ihren Wald zu einer Lichtung, auf die, wie ich später erkennen sollte, alle Baumstämme der Insel zustrebten, um dann in einem einzelnen riesigen Stamm zu münden. Es schien, als bestünde Mandus Insel nur aus diesem einen Baum, dessen Äste glänzend grüne Blätter trugen und Blüten von einer so lebendigen roten Farbe, wie ich es noch nicht gesehen hatte. Was andererseits nicht viel heißen musste.
Mandu bedeutete uns, auf dem Boden Platz zu nehmen. Sie setzte sich kurz danach zu uns, nachdem sie vier große braunrote Früchte geholt hatte. Erst als sie vor sich, Remde und mich je eine der Früchte hingestellt hatte, erkannte ich, dass die Früchte nicht vollständig waren. Sie waren leer, nur noch die Schale. Aus der vierten Frucht, die ebenfalls ausgehöhlt, aber mit einer roten Flüssigkeit wieder gefüllt worden war, füllte sie die drei leeren Schalen, dann setzte sie ihre an die Lippen und goss sich etwas davon in den Mund.
Remde tat es ihr nach, doch ich zögerte. Wozu sollte das gut sein? Ich hielt meine Schale in der Hand und sah den wogenden Bewegungen der Flüssigkeit zu, bis mir bewusst wurde, dass Remde und Mandu mich ansahen.
„Trink“, sagte Remde. „Hast Du keinen Durst? Mandu will uns nichts Böses.“
„Durst?“ fragte ich, und Remde sah mich mit diesem Blick an, den er immer hatte, wenn ich etwas nicht verstand, das ihm vertraut war.
Auch Mandu musterte mich, doch ihr Blick deutete keine Verwirrung an oder Unverständnis. Ihr Ausdruck erinnerte mich viel mehr an unsere erste Begegnung, als sie uns abweisen wollte, an Zorn, wie ich später verstand, Zorn und Bosheit, beides Gefühle, die ich erst später kennenlernen und noch viel später verstehen sollte.
„Hast Du denn noch nie etwas getrunken?“ Remdes Frage lenkte mich von Mandus Gesicht ab.
„Ich weiß nicht.“
„Menschen trinken, um unseren Durst zu stillen, so wie wir essen gegen unseren Hunger. Weißt Du das auch nicht?“
„Ich kenne keinen Durst und keinen Hunger. Sind das gute Dinge?“
„Ich glaube schon, ja. Sie erinnern uns daran, dass wir aus dieser Welt sind, und dass wir essen und trinken, und das verbindet uns mit der Erde und den Tieren und den Pflanzen und damit der Welt.“
„Aber sie sind doch immer da, die Welt ist immer da.“
„So wie der Hunger und der Durst, wenn wir nicht essen und trinken. Und wenn Hunger und Durst zu stark werden, werden wir schwach und sterben, weil nichts anderes von uns übrig ist als Hunger und Durst.“
„Ich verstehe das nicht.“
„Du musst auch schon gegessen und getrunken haben. Wovon solltest Du sonst leben?“
„Ich lebe, weil die Kraft des Lebens mich erfüllt. Ich spüre sie zu jeder Zeit, ich muss mich nicht verbinden mit der Kraft des Lebens, denn durch sie lebe ich.“
Mandu sagte: „Du solltest trinken, mein Kind. Du hast Dich selbst verloren, vergiss das nicht. Nicht unbedingt ist das, was Du über Dich zu wissen glaubst, auch richtig. Du hast gewiss schon früher getrunken und gegessen und weißt es nur nicht mehr.“
Ich sah Remde an, der nickte. Dann sagte ich: „Wie geht also dieses Trinken?“
„Du setzt die Schale an Deine Lippen, lässt die Flüssigkeit Deinen Mund füllen und schluckst sie. Vertraue Deinem Körper. Er wird wissen, was zu tun ist.“
Noch zögerte ich, bis Remde hinzufügte: „Ich habe auch getrunken und es hat mir nicht geschadet, das hast Du gesehen.“
Ich setzte die Schale an meine Lippen, öffnete den Mund und ließ die Flüssigkeit in meinen Mund fließen. Kälte überzog das Innere meines Mundes, Taubheit erfasste meine Zunge, aber auch andere Gefühle, die ich nicht einordnen konnte, die mich an den Geruch von Blüten und den des Holzes im Wald erinnerten. Und als ich mich noch fragte, wie dieses Schlucken passieren sollte, geschah es schon. Mein Körper wusste, was zu tun sei, und ich spürte, wie die Flüssigkeit aus meinem Mund in meinen Körper wanderte, tiefer durch meinen Hals in meinen Bauch. Und ich war so überrascht, als mir die Schale den Fingern entglitt, als meinen ganzen Körper Taubheit erfasste, als ich das Bewusstsein verlor, dass ich fast nicht mehr hörte, dass Mandu sagte: „Ich musste es tun.“

Erste Woche | 7368

Yelda
November 5, 2010

Nachdem ich mich ja am Montag mit meiner Entscheidung, beim diesjährigen NaNoWriMo mitzumachen, selbst überrascht habe, wo ich doch eigentlich endlich mein geplantes Buch schreiben wollte, habe ich im Folgenden meine ersten Eindrücke festgehalten. Und das nicht nur für die Blogparade.

  1. Was hast du bisher schon geschafft?
    Jeden Tag mindestens zwei Stunden am Stück geschrieben. Mein Teekonsum ist rapide gestiegen. Da ich nur 500 Worte pro Stunde schaffe, habe ich derzeit ein Minus von 1000 Worten.
  2. Was hast du für die nächste Woche vor?
    Nächste Woche werde ich weniger Zeit haben als diese. Also muss ich wohl entweder früher aufstehen, konzentrierter schreiben, weniger Zeit mit Teekochen verbringen oder später ins Bett gehen, um das bisherige Minus nicht größer werden zu lassen.
  3. Wie läuft es so, macht es dir noch Spaß?
    Montag dachte ich noch: worüber soll ich 30 Tage lang schreiben? Seither weigert sich die Geschichte, den Weg einzuschlagen, den ich erwarte. Mittlerweile weiß ich nicht mehr, wie ich die Geschichte nach 30 Tagen beendet haben soll.
    Ich weiß, dass meine Geschichte so nicht bleiben kann. Sie zieht mich aber so sehr mit, dass ich mir nur kurz notiere, was ich später ändern will. Dass ich der Geschichte aber ein eigenes „später“ zugestehe, macht es mir einfacher, wirklich weiterzuschreiben.
    Mein einziger Frust: nur 500 Worte pro Stunde.
  4. Welche Tipps hast du für andere Teilnehmer?
    An möglichst vielen Stellen den Fortschritt notieren und auch die Zeit, die investiert wurde, um diesen Fortschritt zu erreichen. Schwarz auf Weiß zu sehen, was Du geschafft hast, motiviert ungemein.
  5. Was wirst du nächstes Jahr besser machen?
    Ich werde nicht erst am 1. November abends vom NaNoWriMo überraschen lassen.

6 | Mandu

Yelda
November 4, 2010

„Habe ich etwas falsch gemacht?“ sagte ich leise zu Remde.
„Ich glaube nicht“, erwiderte er ebenso leise.
„Warum liegen alle auf dem Boden? Sind sie verletzt?“
„Es ist ein Zeichen von Verehrung.“
„Wen verehren sie?“
„Dich.“
„Warum?“
„Ich habe keine Ahnung.“
„Und warum hat er mich so genannt?“
„Hohe?“
„Ja. Natürlich bin ich größer als er, mich aber nur deswegen Hohe zu nennen, halte ich nicht für richtig.“
„Hätte er Dich Zweibein nennen sollen?“
„Natürlich nicht. Er wusste doch schon, bevor er mich gesehen hatte, dass es andere Zweibeine gibt. Da wäre ja Zweibein kein guter Name für mich. Woher hätte ich wissen sollen, dass er mich meint?“
„Woher weißt Du denn, dass er Dich dann mit Hohe meint?“
„Dich kann er ja wohl nicht meinen, Du bist deutlich kleiner als ich. Außerdem hast Du ja einen eigenen Namen.“
„Gut, dass Du Dich daran erinnerst. Warum hast Du Dich dann eben nicht daran erinnert, dass Du niemanden Zweibein nennen solltest?“
„Ich habe doch zu niemandem …“ begann ich und brach ab, als ich bemerkte, dass Bukon und die Dorfbewohner hinter ihm Remde und mich mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht beobachteten. „Was haben sie? Sind sie jetzt verletzt?“
„Ich weiß es nicht.“
„Warum fragst Du dann nicht?“
Remde seufzte.
„Ich nenne auch niemanden mehr Zweibein.“
„Ist ja gut.“ Remde seufzte erneut und wandte sich dann an Bukon. „Was ist los?“
„Weißt Du es wirklich nicht?“
„Was soll ich wissen?“
„Dass sie eine Hohe ist, Du Dummkopf.“
„Ist sie das?“
„Bin ich das?“ mischte ich mich ein.
„Aber natürlich!“ Bukon schien überrascht.
„Natürlich? Sie weiß es doch selbst nicht einmal!“
„Kann sie denn nur etwas sein, von dem sie weiß, dass sie es ist?“
Remde verdrehte nur die Augen, darum fühlte ich, dass ich etwas zu der Diskussion beitragen sollte: „Ich kann sehr wohl etwas sein, von dem ich nicht weiß, dass ich es bin. Außerdem bin ich ja auch hoch.“ Dann fiel mir etwas ein. „Groß würde aber besser passen, weißt Du?“
„Bukon, was ist eine Hohe?“
„Wie kann es sein, dass Du Deinen eigenen Speer wirfst und Deine eigene Hütte bewohnst und Dein eigenes Feld bestellst, aber nicht weißt, dass die Hohen die Kinder der Götter sind?“
„Sie? Eine Tochter der Götter?“
„Sei nicht respektlos!“
„Respektlos? Ich habe sie nackt im Wald gefunden und ihr mein Hemd gegeben. Ist das nicht etwa respektvoller, als sie für etwas zu halten, das sie bestimmt nicht ist?“
„Remde! Wie kannst Du es wagen, die Hohe zu beleidigen?“
„Ich habe sie nicht beleidigt!“
„Natürlich hast Du!“
„Frag sie doch selbst. Ich glaube nicht, dass sie begreift, was Du meinst!“
„Wie kannst Du es wagen … ?“
„Ich weiß nicht, weshalb ihr so laut sprechen müsst. Können die Zweibeine nicht aufstehen?“
„Nenn sie nicht Zweibeine!“ sagte Remde noch lauter als alles vorherige, bevor er sich an Bukon wandte: „Und ich habe die letzten drei Stunden mit ihr verbracht. Ich weiß, was ich sage, wenn ich sage, dass sie es nicht versteht.“
„Remde, ich erkenne Dich nicht wieder. Ich hätte nicht gedacht, dass Du die Götter so missachtest!“
Remde nahm wieder meine Hand. „Das ist doch sinnlos. Wenn Du Deine Knie von Deinem Verstand genommen hast, dann findest Du uns bei Mandu.“ Damit stapfte er an Bukon, der Remde großäugig anstarrte, vorbei und nahm mich mit sich.
„Das war seltsam“, sagte ich.
„Ja. Ich glaube, Du bist nicht die einzige, die den Verstand verloren hat.“
„Ich habe den Verstand verloren?“
„Das ist eines der wenigen Dinge, deren ich mir gerade ziemlich sicher bin.“

Remde zog mich zwischen den Höhlen hindurch in Richtung des Wasserspiegels. Die Erde auf dem Weg dorthin war unruhig aufgewühlt, satubig und gerissen. Keine Pflanze wuchs hier, von den Baumstämmen abgesehen, die aber auch völlig ohne Leben waren. Wir hielten direkt am Rand des Wassers, als Remde mich fragte: „Kannst Du schwimmen?“
„Schwimmen?“
„Hatte ich auch nicht erwartet. Du musst Dich gut festhalten.“
„Wo?“ wollte ich fragen, als mir Remde bedeutete, mich auf aneinander befestigte Baumstämme zu setzen, die auf dem Wasser schaukelte.
„Eigentlich müssten wir zu ihr schwimmen, doch da Du nicht schwimmen kannst, müssen wir eine Ausnahme machen. Ich werde schwimmen und das Floß hinter mir herziehen. Am besten bewegst Du Dich so wenig wie möglich.“
Er zog die Stämme hinter sich her, als er immer tiefer in das Wasser watete, bis es ihm bis zur Brust stand. Dann streckte er sich mit der einen Hand nach vorne, legte seinen ganzen Körper ins Wasser und machte froschartige Bewegungen. Tatsächlich bewegten wir uns vom Ufer fort. Ich fragte mich, wohin wir wohl unterwegs waren. Weil ich vor uns nichts anderes als Wasser sah, blickte ich zurück, wo jetzt Bukon und einige andere Zweibeine des Dorfs zwischen den Höhlen erschienen. Sie waren uns in nicht allzu großer Geschwindigkeit gefolgt, als ob sie nicht sicher gewesen wären, ob sie uns wirklich hätten einholen wollen.
Ich sah wieder nach vorne. Zuerst dachte ich, ich hätte etwas gesehen, doch als ich direkt geradeaus sah, war da nichts als die endlose Wasserfläche, die sanft wogte. Als ich meinen Blick zur Seite wandte, sah ich doch etwas aus meinem Augenwinkel. Irgendetwas musste vor uns sein, doch ich konnte es nicht sehen, so lange ich es direkt erblicken wollte.
Ich schloss meine Augen und spürte den ruckartigen Bewegungen des Floßes nach, erkannte darin Remdes Bewegungen und darunter das Wogen des Wassers und darunter einen Strom von Wasser, der sich hin und zurück bewegte mit der Geduld, die der Mond beim Überqueren des Himmels hat. Und noch darunter fand ich eine Kraft, die ich kennen musste, aber nicht kannte, wie eine Erinnerung an etwas, das ich vergessen hatte. Mit geschlossenen Augen konnte ich den Strom dieser Kraft verfolgen, wie er vom Grund des Wassers bis auf dessen Spiegel emporreichte und etwas verbarg. Ich spürte, dass dies der Sinn der Kraft war: Verbergen. Und kaum dass ich das gedacht hatte, zerfiel die Kraft wie Nebel im Sonnenschein und gab vor uns Land frei, das bisher verhüllt gewesen war.
Ich öffnete die Augen und sah Bäume, die auf dem Wasser zu wurzeln schienen und auf einem von ihnen, ein altes, weißhaariges Zweibein. Das musste Mandu sein.

5 | Remdes Dorf

Yelda
November 3, 2010

Ich zögerte, als ich das erste Mal freiwillig den Wald verlassen sollte. Bisher hatte ich nur auf dem entlebten Boden keine Bäume um mich gehabt, und das Gefühl der Verlorenheit inmitten einer unbegrenzten Weite erfasste mich nun erneut, da ich im Begriff war, wieder unter freien Himmel zu treten. Und doch hatte ich keine Wahl, wollte ich diese Mandu nach meiner Familie fragen. Das Zweibein, das mich bislang geführt hatte, war ebenfalls stehengeblieben und sah mich an.
„Was ist?“
„Ich habe Angst.“
„Wovor?“
„Davor, dass mit dem freien Himmel auch diese schreckliche Leere darunter zurückkehren.“
So wie das Zweibein mich ansah, verstand es nicht, trotzdem sagte es: „Du musst keine Angst haben. Hier wird Dir nichts geschehen.“
„Kann ich nicht hier warten?“
„Nein. Mandu kommt zu niemandem, sie erlaubt es, besucht zu werden.“ Das Zweibein kehrte zu mir zurück und nahm meine Hand. „Obwohl es sein könnte, dass sie für Dich sogar eine Ausnahme gemacht hätte. Komm jetzt.“ Dann ging er wieder voran und meine Zweifel blieben zurück, als ich den Zug seiner Hand in meiner spürte und mich einfach mitnehmen ließ. Meine Füße traten in seine Spuren, und obwohl mich der Himmel doch sehr beunruhigte, wollte ich nun nicht mehr ohne das Zweibein in dem mir fremden Wald bleiben.

Hinter uns erstreckte sich der Wald wie eine hohe Wand zu beiden Seiten und von Mal zu Mal, das ich zurückblickte, konnte ich weniger erkennen, wo wir zwischen den Bäumen hervorgetreten waren. Mein Plan, beim ersten Anzeichen der Leere wieder umzukehren, zerfiel allerdings, als ich erkannte, wohin das Zweibein mich bringen wollte. Vor uns erstreckte sich eine leicht abschüssige Ebene, die in eine den Himmel spiegelnde Fläche mündete. Ich ahnte, dass es sich dabei um Wasser handeln musste, denn ich hatte schon gesehen, wie sich Wolken in Pfützen spiegeln, doch eine so große Pfütze konnte es nicht geben, sie war so groß, dass es bestimmt ein eigenes Wort dafür gab.
Am Rand des Wassers befanden sich Dinge wie große Felsbrocken, zwischen denen weitere Zweibeine umherliefen.
„Bleib stehen“, sagte ich zu meinem Zweibein.
„Warum?“ Natürlich gingen wir noch, doch als ich stehenblieb, musste das Zweibein das auch tun.
„Da vorne sind noch mehr Zweibeine.“
„Das ist mein Dorf und meine Familie. Sie werden Dir nichts tun.“
„Aber es sind noch mehr Zweibeine.“
„Ja, ich sagte doch…“
„Aber wenn da mehr Zweibeine sind, dann kann ich Dich nicht mehr Zweibein nennen. Woher wüsstest Du, dass ich Dich meine?“
„Du nennst mich Zweibein?“
„Ja. Ich gebe allen Dingen Namen, um sie voneinander zu unterscheiden.“
„Zunächst bin ich kein Ding, habe aber einen Namen.“
„Zweibein?“
„Nein. Mein Name ist Remde.“
„Aber ich habe Dich Zweibein genannt.“
„Meine Familie nennt mich Remde. Das ist mein Name.“
„Haben alle Dinge mehrere Namen?“
„Nein. Und Zweibein ist kein Name. Komm jetzt weiter.“ Remde drehte sich um und zog mich wieder hinter sich her. Nach einer Weile blieb das Zweibein noch einmal stehen und sagte: „Bitte sprich niemanden in meinem Dorf mit Zweibein an. Frag mich nach ihren Namen und ich werde sie Dir nennen.“ Dann atmete er tief durch und fügte hinzu: „Und ich habe das Gefühl, als wolltest Du mich gleich fragen, warum ich das sage. Darum bitte ich Dich auch darum, mich das nicht zu fragen. Ich beantworte Dir gerne alle Fragen, sobald Mandu Dich empfangen hat.“
Ich war überrascht, dass er wusste, was ich fragen wollte, dachte mir aber auch, dass er dann wohl ebenso wusste, dass ich überrascht war, was mich noch mehr überraschte. Statt also meine Frage zu stellen, sagte ich nur: „Gut. Dann ist es umso wichtiger, dass wir Mandu bald treffen.“
„Das ist es. Komm nun.“

Je näher wir Remdes Dorf kamen, desto mehr Einzelheiten konnte ich erkennen. Was ich von weitem für Felsen gehalten hatte, waren in Wahrheit Höhlen, deren Wände aus Holz bestanden. Ein schrecklicher Sturm musste vor Zeiten hier gewütet haben. Hüterin hatte von Stürmen erzählt, die Bäume aus der Erde rissen und zu Boden warfen. Sie hatte schon einige dieser Stürme am eigenen Stamm gespürt und sprach daher mit großer Ehrfurcht von ihnen. Ich hätte mir trotzdem nie vorstellen können, dass ein einzelner Sturm dazu in der Lage war, so viele Bäume umzuwerfen, dass man daraus Höhlen errichten konnte. Ich begriff nun, wie berechtigt Hüterins Ehrfurcht gewesen war, und beschloss gleichzeitig, Remde zu fragen, ob er jenen Sturm erlebt hatte. Doch das würde warten müssen. Bei der Erinnerung an Hüterin war mir wieder klar geworden, wie sehr ich sie vermisste. Ich ging schneller, so dass ich bald mit Remde auf gleicher Höhe ging und aufpassen musste, das nicht ich ihn zog, als ich ein Zweibein auf uns zukommen sah. Es sah älter aus als Remde und hatte ähnliche Kleidung. Es drehte den Kopf, als wollte es hinter sich sehen, und rief etwas, dann kam es näher.
Wir waren nur noch zehn Schritte von ihm entfernt, als es stehenblieb. Hinter ihm konnte ich das Dorf sehen und noch mehr Zweibeine, die sich näherten. Sie alle hatten ähnliche Kleidung, wenngleich bei einigen die Hosen zusammengewachsen aussahen. Bei einigen der Zweibeine lagen die Kopfhaare glatt und kurz am Kopf an, bei einigen waren sie länger gewachsen und fielen lang bis auf den Rücken. Ich hatte vorher nicht darüber nachgedacht, wie andere Zweibeine aussehen würden, doch dies erschien mir in sich stimmig. Sie konnten natürlich nicht alle gleich aussehen, und natürlich konnte man sie deswegen nicht alle Zweibein nennen. Die Vorstellung aber, dass sie alle Namen tragen sollten, die nicht ich ihnen gegeben hatte, erschien mir seltsam.
Zwei Schritte vor dem Zweibein blieben wir stehen. Remde knickte seinen Körper in der Mitte ein, dass Brust und Kopf zu Boden zeigten und richtete sich dann wieder auf.
„Remde“, sagte ich, „hat das alte Zweibein einen eigenen Namen?“
Remde sah mich mit großen Augen an, dann blickte er zum dem alten Zweibein, dann wieder zu mir.
„Worum hatte ich Dich gebeten?“
„Ich soll niemanden mit Zweibein ansprechen, darum frage ich ja, wie das Zweibein heißt.“
„Bukon, das Zweibein heißt Bukon.“ Ich hätte nicht gedacht, dass seine Augen noch größer hätten werden können.
„Alles in Ordnung?“, fragte ich darum, doch Remde hatte mich offensichtlich nicht gehört, sondern starrte Bukon an.
Als ich Remdes Blick folgte, sah ich, dass Bukon mich anstarrte.
„Remde hat mich im Wald gefunden und will mich zu Mandu bringen. Er sagt, sie kennt Regentrinker. Außerdem hat er mir sein Hemd gegeben.“
Ich war ziemlich überrascht, als Bukon auf seine Knie sank und sagte: „Seid willkommen in unserem Dorf, Hohe.“
Und noch überraschter war ich, als auch alle Zweibeine hinter Bukon sich hinknieten und das Gesicht auf den Boden legten.
Als ich Remde ansah, war klar, dass er damit auch nicht gerechnet hatte.

4 | Wer bist du?

Yelda
November 3, 2010

Irgendwann konnte ich nicht weiter weinen. Die Verzweiflung, die so übergroß gewesen war, hatten meine Tränen aus mir herausgespült, und in mir zwar die Einsamkeit gelassen, aber unter aller Hoffnungslosigkeit doch das Bewusstsein, dass ich nicht alleine war, sondern immer noch den Strom des Lebens hatte, der mich hierher geleitet hatte, der mich auch weiter führen konnte, und der mir vor allem vor Augen führte, dass ich zugehörig war, ein Teil von etwas größerem war. Und ich erinnerte mich wieder an die Hummel, die ich verletzt und geheilt hatte, und wie sehr ich damals die Kraft des Lebens auch in mir gespürt hatte, und dass ich nicht so abgeschnitten von allem war, dass ich verzweifeln musste.
Ich würde meine Bäume wiederfinden, das wusste ich nun, auch wenn es Zeit brauchen würde.

Das Rascheln von Farn, das Flüstern von Blättern, das Brechen von Zweigen riss mich aus meinen Gedanken. Etwas kam auf mich zu. Nichts kleines, mindestens ein Pferd oder Hirsch, den Geräuschen nach zu urteilen. Kein kleineres Tier hätte sich so laut zwischen den Bäumen bewegt, viel zu leicht hätte es Aufmerksamkeit erregt. Es musste ein Tier sein, das keine Angst hatte, das keine Angst haben musste. Es musste riesig sein.
Umso überraschter war ich, als ich erkannte, dass das Wesen, das sich mir näherte, nicht nur nicht größer war als ich, sondern sogar etwas kleiner. Noch dazu erinnerte es mich an kein Tier, das ich bisher gesehen hatte, die alle auf vier Beinen gelaufen waren und nicht nur auf zweien. So also, ging mir plötzlich auf, sehe also ich aus, denn nicht anders konnte dieses Wesen sein als mir ähnlich: auf zwei Beinen gehend, aufgerichtet und freie Arme habend, den Kopf erhoben. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, wie ich aussah, wie anders ich im Unterschied zu allen anderen Tieren war, und wunderte mich nun, dass ich diesen Gedanken noch nicht gehabt hatte, aber auch darüber, dass alle anderen Tiere diesen Unterschied nicht gespürt hatten oder ob sie nur so freundlich gewesen waren, ihn zu ignorieren.

Das Wesen war stehengeblieben, als es mich gesehen hatte und betrachtete mich ebenso genau wie ich es. Es hatte seinen Körper teilweise verhüllt, was mich nicht verwunderte. So ungeschickt sich dieses Tier durch den Wald bewegte, diente die Verhüllung wahrscheinlich als Schutz vor Verletzungen durch abgebrochene Zweige, schlagende Äste oder Prellungen. Ich überlegte, ob die Hülle auch dazu führte, dass man sich vom Lebensstrom so sehr abschnitt, dass einem die Verletzungen der Pflanzen egal waren, als das Tier sprach.

„Wer bist Du?“
Ich war so sehr überrascht, dass das Wesen Worte benutzte wie ich, dass ich nicht antwortete.
„Verstehst Du mich?“
„Ja. Bist Du einer der vier?“
„Vier? Ich verstehe nicht. Wer bist Du?“
„Hast Du mich gesucht?“
„Ich habe Dich gefunden, nicht gesucht. Bist Du allein?“
„Ich bin nicht, wo ich sein sollte. Ich suche meine Familie?“
„Du hast Dich also verirrt? Wo lebst Du?“
„Hier.“
„Hier?“
„Auch Du, die Bäume, der Farn, alles, was wir sehen, lebt hier.“
„Nein, ich lebe im Dorf auf der Lichtung am See.“
„Aber ich fühle Dich leben, ich sehe dich leben. Du lebst hier, nicht anderswo.“
Das Wesen antwortete nicht, sondern sah mich nur an. Vielleicht hatte es mich nicht verstanden.
„Kennst Du Hüterin und Regentrinker, Sämling und Späher?“
„Nein. Diese Namen kenne ich nicht.“ Die Erleichterung darüber, dass wir über etwas sprachen, das es verstand, war dem Wesen direkt anzusehen.
„Sie sind meine Familie. Ich suche sie.“
„Wieso bist Du nackt?“
„Nackt?“
„Warum trägst Du keine Kleidung?“
Ich sah auf meine Hände, dann auf seine, die wie meine leer waren. „Ich trage nichts. Du aber auch nicht.“
Er zeigte auf die Verhüllung. „Kleidung. Das ist eine Hose.“ Er zeigte auf seine Beine, dann auf seinen Oberkörper. „Das ist ein Hemd.“
„Aber ich brauche das nicht, ich bin nicht so ungeschickt.“
„Wieso ungeschickt?“
„Du bewegst Dich durch den Wald wie ein Tier, das zweimal Deine Größe hat. Du hast diese Kleidung, damit Du Dich nicht dabei verletzt.“
„Genug jetzt.“ Er legte seine Hände an seinem Hals auf seine Hemd und zog es dann über seinen Kopf. Seine Haut war da, wo sie bedeckt gewesen war, heller als an seinen Armen und in seinem Gesicht. „Komm her“, sagte er, das Hemd in der Hand.
Ich ging die vier Schritte zu ihm, während er mich betrachtete. Ich konnte den Ausdruck in seinem Gesicht nicht deuten, darum betrachtete ich weiter seinen Oberkörper. Offensichtlich war sein Körper nicht immer bedeckt gewesen, denn eine Narbe in der Mitte seiner Brust zeugte von einer alten Verletzung. Je näher ich ihm kam, desto deutlicher wurde mir klar, dass er sich unwohl fühlen musste, seine Finger fassten das Hemd fester und sein ganzer Körper spannte sich an. Als ich vor ihm stand, sah ich, dass ich einen ganzen Kopf größer war als er. Und dann war mir die Ursache seiner Anspannung klar und sagte: „Du musst keine Angst haben. Ich werde Dich nicht verletzen.“ Doch dann erinnerte ich mich wieder an die Hummel, und dass ich sie auch nicht hatte verletzen wollen, es aber dann doch getan hatte.
„Ich habe keine Angst“, sagte er, doch sein Atem verriet seine Anspannung.  „Knie dich hin.“
Als ich kniete, streifte er mir das Hemd über den Kopf. „Du musst die Arme hier hindurch stecken.“ Als ich das getan hatte, zog er die Verhüllung nach unten, so dass sie mir gerade bis an die Beine reichte. „Steh auf. Folge mir.“
Er drehte sich um und ging zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Ich folgte ihm, unter diesen fremden Bäumen hielt mich nichts.
„Wohin gehen wir?“ fragte ich nach einer Weile, die wir ohne Worte durch den Wald gegangen waren.
„In mein Dorf. Zu Mandu. Vielleicht kann sie Dir helfen.“
„Wer ist Mandu? Kennt sie Regentrinker?“
„Ich weiß es nicht. Aber wenn jemand in meinem Dorf jemals von Deinem Regentrinker gehört hat, dann Mandu.“
„Ist sie ein Baum?“ fragte ich, doch er antwortete nicht mehr, bis wir sein Dorf erreicht hatten.

NaNoWieWas?

Yelda
November 2, 2010

„Writing a novel, as it turns out, is like writing a novel.“
Chuck Wendig

Chuck Wendig von terribleminds.com muss es wissen. Laut Eigenaussage hat er schon so viel geschrieben, man sollte ihn endlich dafür bezahlen, dass er aufhört. Weil das aber nicht jeder kann, ist für einige der NaNoWriMo so wichtig, und das weiß Chuck Wendig auch. Darum hat er hier ein paar Tips für diejenigen parat, die nicht Chuck Wendig sind.

Unter anderem verrät er, was der NaNoWriMo neben lauter unterirdischen Rohentwürfen, die noch nicht mal Rohfassungen sind, tatsächlich ist: eine gute Übung in Schreibdisziplin. Das ist nicht neu, aber es ist hilfreich für diejenigen, die gerade erst entdecken, dass sie schreiben müssen, dass nur Quantität irgendwann auch Qualität bringt.

It can’t get done unless it gets done.

Chuck Wendig weiß aber auch (und verrät es), dass das Schielen auf die magischen 1666 Worte pro Tag alleine nicht ausreicht, um eine Novel zu schreiben. Er betont, dass man auch am Hintergrund arbeiten muss, dass Planen fast noch wichtiger ist als Zählen. Was aber noch wichtiger ist:

Take pride. Eat candy.

Wer seinen Word Count also für den Tag erreicht hat oder – viel wichtiger – noch einen Ansporn hat, um das Pensum zu erfüllen: NaNoWhoNow? NaNoWriMo Dos and Don’ts.

3 | Regen und Wald

Yelda
November 2, 2010

Mit der Nacht als meiner einzigen Begleitung ging ich weiter. Ich zählte meine Schritte nicht, achtete nicht auf das Vergehen der Momente. Ich ging einfach immer geradeaus, das Dunkel der verbrannten Erde hinter mir lassend. Ich fühlte mich dem Strang an Leben entlang, der sich beinahe sichtbar vor mir erstreckte, der mir den Weg wies, den ich zu gehen hatte. Ich wusste nicht, wohin er mich führen würde, doch das war mir egal. Nirgendwo konnte ich mich so alleine, so von allem Leben abgeschnitten fühlen wie auf der entlebten schwarzen Erde, auf der ich erwacht war.

Ich bemerkte das Fehlen der Sterne erst, als es vorbei war. Knapp über dem Horizont vor mir, wo ein schmaler Streifen dunkles Blau sich vom reinen Schwarz der Nacht abhob, funkelten vereinzelte Sterne in die Dämmerung, als wollten sie mir zeigen, ich sei auf dem richtigen Weg. Folgte ich ihnen, so dachte ich, würden sie mich in Sicherheit geleiten. Und so ging ich weiter, immer einen Fuß vor den anderen setzend, einen Schritt nach dem anderen, bis ich nicht mehr wusste, wie lange ich schon gegangen war, bis ich nicht mehr gehen konnte und mich auf den Boden fallen ließ, meinen Körper auf die Erde legte und dem langsamen Fließen des Lebens in der Erde lauschte, bis ich einschlief.

Diesmal träumte ich nicht. Die Leere, die sich über mir erstreckt hatte, erfüllte in diesem Schlaf auch meinen Geist.
Als ich erwachte, war das Dunkel der Nacht einem trüben Grau gewichen. Fett und schwer stapelten sich Wolken den Himmel empor, und noch als ich mich versuchte zu erinnern, ob ich jemals einen Schauer außerhalb der schützenden Arme des Regentrinkers erlebt hatte, riss eine der Wolken auf. Eine vielköpfige Schlange aus Licht zuckte hervor und einen Lidschlag später überrollte ein Donnerschlag die Ebene, so machtvoll, dass Staub aufwirbelte und meine Augen tränten. Dann kam der Regen, üppige Kugeln aus Wasser, die im Aufprall auf den Boden noch mehr Staub aufwirbelten und doch sofort wieder banden.
Ich hatte mich aufgesetzt und sah diese Wand aus Wasser und Blitzen auf mich zurollen. Ich hatte nichts, das mich schützen würde, und doch hatte ich auch keine Angst, denn ich verspürte die Freude des Lebens. Das schwache Band, das unter der Erde mein Wegweiser gewesen war, wurde stärker, als dränge es aus der Tiefe nach oben, wie die Regenwürmer erst ans Licht kommen, wenn der Regen kommt. Ich spürte, dieser Regen brachte nicht Tod, sondern Leben, brachte Zukunft, würde die Herrschaft des Nichts hinter mir beenden, würde die Verzweiflung von mir waschen und dem Land die Hoffnung wiedergeben, die es seit seiner Entlebung nicht mehr hatte. Ich stand auf, hob die Hände in den Himmel und lachte, als mich das Gewitter überzog wie eine Haut.

Als das Lied des Regens verklang, hörte auch ich auch zu singen. Regentrinker hatte immer gesungen, wenn Schauer über den Wald gezogen war, langsame, tiefe Töne, die in so vollkommenem Kontrast zu den rasch fallenden Tropfen standen, dass ein Muster vollkommener Schönheit entstand, an das ich mich im Gewitter erinnert hatte. Meine Stimme kam kaum gegen den Donner an, doch ich sang in Erinnerung an den Regentrinker, so gut ich konnte, sein Lied.
Ich sehnte mich danach, es mit ihm zu singen oder ihm wenigstens zu erzählen, dass ich es nicht vergessen hatte, also ging ich weiter in die Richtung, aus der das Gewitter gekommen war. Der Boden war rutschig jetzt, Staub und Wasser hatten sich zu Schlamm vermischt, der jeden Schritt zu einer eigenen Aufgabe machte, doch mit der Zeit wurde ich immer geschickter.
Erst kurz vor ihrem Untergang hatte die Sonne die letzten Regenschleier abgeworfen und überzog mich und die Ebene mit einem dunklen Rot. Je weiter die Sonne sich senkte, umso mehr Sterne erklommen den dunkelnden Himmel und bald – ebenso rot wie meine eigene Haut – auch ein Mond so groß, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte.

Unter dem Licht des Mondes, der seine Farbe verlor, je weiter er aufstieg, setzte ich in dieser Nacht wieder einen Fuß vor den anderen, vorsichtiger als in der Nacht zuvor, um nicht auszugleiten, doch stetig in die gleiche Richtung. Auch wenn das Lebensband, das ich gespürt hatte, nun zu einem machtvollen, freudvollen Strom angeschwollen war, konnte ich fühlen, woher es kam, und ich wusste, dass das der Ort war, an den ich wollte.
Erst gegen Morgen, als der Mond knapp über dem Horizont wieder anschwoll und strahlend weiß ins Grau der Dämmerung eintauchen wollte, blieb ich stehen. Der Boden unter meinen Füßen war wieder fest geworden, doch wo vorher nur Krume und Stein gewesen war, streckten winzige Halme von Gras und Blättchen von Pflanzen nun in die Höhe. In der Stille meiner Regungslosigkeit konnte ich ihr leises Lied hören, das zwar einfach war, aber doch voller Freude vom Wachsen und Leben erzählte. Ich legte mich auf den Boden und lauschte dem Singen, bis ich einschlief.

„Ist das ihr Werk?“
„Es liegt in ihrer Macht.“
„Aber sie hat zerstört, was sie bewahren sollte.“
„Sie kann nicht mehr unterscheiden. Sie hat sich verloren.“
„Wir müssen sie finden.“
„Sie kann nicht gefunden werden.“
„Wir müssen auf sie warten.“
„Wir können nicht warten.“
„Wir können und werden warten. Sie wird kommen, wenn der Schatten am dunkelsten ist.“
„Sie hat sich verirrt, wir müssen ihr helfen.“
„Es liegt nicht in unserer Macht.“
„Wir können ihr nicht helfen.“
„Wir, die wir sie geschaffen haben, wir, die ihr ihre Macht gegeben haben, können ihr nicht helfen?“
„Wir haben sie so geschaffen, dass sie unserer Hilfe nicht bedarf.“
„Wir sind nicht mehr die Quelle ihrer Macht.“
„Sie ist verloren ohne uns. Sie kennt sich nicht und nicht ihre Macht.“
„Sie wird sich erkennen.“
„Sie wird den Schatten erkennen.“
„Sie wird ihre Aufgabe und ihre Macht erkennen.“
„Wir müssen sie suchen.“
„Wir müssen auf sie warten.“
„Wir müssen warten.“
„Wir warten.“
„Dann wartet.“

Ich erwachte unter Bäumen. Es waren nicht meine Bäume, doch auch sie sangen Lieder, erzählten sich Geschichten und tanzten mit dem Wind. Ich fragte sie nach Hüter und Regentrinker, erzählte von Sämling und Späher, doch diese fremden Bäume beachteten mich nicht, sie nahmen keine Notiz von meinen Worten. Wären nicht der Boden unter meinen Füßen und der Wind in meinem Haar gewesen, ich hätte gezweifelt, ob ich noch Teil dieser Welt war. Ich spürte die Beinchen eines Käfers, der meinen Fuß erkletterte, und beugte mich hinab, um ihn anzusehen.
Einen Käfer wie diesen hatte ich noch nicht gesehen, seinem schillernden grünen Kopf entsprossen lange Fühler von einem etwas dunkleren Grün, sein Körper indes hatte die Farbe von vor Nässe glänzendem Schlamm. Vorsichtig nahm ich ihn auf meine Hand, und aufgeregt flatterten seine Fühler mir entgegen.
„Grünschillernder, kennst Du Regentrinker?“ fragte ich ihn, doch antwortete er nicht, sondern wanderte nur vom einen Ende meiner Hand ans andere und dann über den Rand auf meinen Handrücken. Dort verharrte er, die Fühler nach allen Seiten streckend. „Grünschillernder, wo bin ich? Wo ist meine Familie?“
Eine Weile noch saß der Käfer nur still auf der Unterseite meiner Hand, dann flog er davon und verlor sich rasch zwischen den Bäumen. Ich begriff, dass auch er mich nicht verstanden hatte, dass mir, wo auch immer ich hier war, niemand helfen konnte. Ich musste einen Weg zurück finden, einen Weg, der mich im schlimmsten Fall wieder durch das schreckliche Nichts führen würde, das ich doch hinter mir gelassen zu haben glaubte. Doch da ich nicht wusste, wie ich hierher zu den fremden Bäumen gelangt war, würde ich wohl kaum je wieder dorthin finden.
So sehr mich die pulsierende Kraft des Lebens im Gewitter auf der leeren Ebene mit Freude erfüllt hatte, so sehr bedrückte mich jetzt die Erkenntnis, dass ich zwar umgeben war vom Lebendigen und doch nichts und niemanden hatte, mit dem ich diese Freude würde teilen können, und je mehr ich an die Hoffnung dachte, die mich erfüllt hatte, umso hilfloser und hoffnungsentleert fühlte ich mich. Und das erste Mal, seit ich in dieser Welt war, weinte ich.

2 | Schlaf und Traum

Yelda
November 2, 2010

Bis ich wusste, was Zeit, was Raum, was ich und was nicht ich war, vergingen Tage und Wochen. Mit der Helligkeit kam Wärme und mit der Dunkelheit Kälte und funkelnde Augen in der Ferne. Der Regen kam und ging, Bienen, Hummeln, Käfer, Spechte, Amseln und Raben, Füchse, Wölfe und Luchse, Rehe, Hirsche und Pferde besuchten mich, als hätten sie von mir gewusst, noch bevor ich meiner selbst bekannt war.

Ich hörte ihre Stimmen und ich verstand. Sie begrüßten mich und empfanden mich als harmlos. Sie hatten keine Angst, doch auch kein weiteres Interesse an mir. Einige Tiere wie die Pferde und die Luchse, kamen nur einmal, die Hummeln dagegen umflogen mich häufig, als hätten sie vergessen, dass ich nichts war, das ihnen Nahrung schenken konnte. Eine bestimmte Hummel lernte ich wiederzuerkennen, sie war etwas kleiner als die anderen und trug kleine Kreise im Muster ihrer Flügel, setzte sich gerne auf meine in der Sonne liegende Hand und putzte sich. Das Gefühl, das sie mir damit verursachte, ein feines Kribbeln, machte mich froh und ich lachte. Ich wollte den Gefallen erwidern und legte einen Finger auf den kleinen samtigen Körper, der kaum breiter war als die Fingerspitze. Ich brach ihr den Flügel, ich spürte ihren Schmerz, bevor ich begriff, was geschehen war und was es für sie bedeutete. Ich wusste, ich hatte ihr Leid zugefügt, doch lag keine Absicht darin, und als ich sie aufgeregt und voller Schmerz auf meiner Hand stolpern sah, wünschte ich mir nichts so sehr, wie ungeschehen zu machen, was ich getan hatte.
Woher ich wusste, dass ich das auch konnte, dass es sogar ein leichtes sein würde, fragte ich mich nicht. Ich barg die Hummel in beiden Händen und erinnerte mich daran, wie sich die Hummel angefühlt hatte, als sie heil und ganz gewesen war, an ihre Freude, an ihren pelzigen Leib. Ich spürte eine Bewegung in mir und eine Bewegung in meiner Hand, die nicht stofflich und fest war wie alles um mich herum, und als ich meine Hände wieder öffnete, putzte sich die kleine Hummel wie gewohnt, sie war ruhig und zufrieden.
Erst als sie davongeflogen war, fand ich auf meiner Hand einen einzelnen Hummelflügel, und ich erkannte, dass ich das Leid, das ich verursacht hatte, nicht rückgängig gemacht hatte. Ich hatte es zwar wieder gutgemacht und die Hummel geheilt, doch hatte ich ihr einen neuen Flügel gegeben.

Diese erste Lektion darin, dass man nicht ungeschehen machen kann, was geschehen ist, dass man die Zeit nicht umkehren und ihren Fluss nicht steuern kann, war nicht genug, und später musste ich unter weit größeren Schmerzen erkennen, dass manches Leid geschehen muss.

Ich erkannte den Schlaf daran, dass ich aus ihm erwachte. Noch vor einem Moment hatte ich in der Sonne gesessen, um mich hatten Wesen gestanden. Sie hatten gesprochen, anders als die Tiere, deren Sprachen einfach sind. Wie ich hatten sie Worte benutzt, um die Welt zu beschreiben, um zu unterscheiden zwischen dem was war und dem was nicht war. Tiere können das nicht, denn alles, was sie beschreiben, sehen und fühlen sie. Tiere wissen nicht von den Dingen, die nicht sind. Diese Wesen wussten das.

„Sie ist nicht hier.“
„Aber sie war es. Hier haben wir ihre Kraft gespürt.“
„War es wirklich sie? War es ihre Kraft?“
„Könnten wir uns etwa geirrt haben?“
„Nein, was ihre Kraft, was ihr Wesen angeht, können wir uns nicht irren.“
„Sie war hier, und sie wird es wieder sein. Wir werden warten.“
„Wir können nicht warten. Schon jetzt haben wir viel Zeit verloren. Zu viel Zeit.“
„Wir können warten.“
„Wir müssen warten.“
„Wir werden warten.“
„Wie können wir warten? Der Schatten …“
„Der Schatten wird kommen und uns auslöschen, wie es bestimmt ist. Wir können nicht aufhalten, was bestimmt ist.“
„Sie kann den Schatten doch aufhalten, er wird sie doch rufen?“
„Das wird er.“
„Doch sie wird ihn nicht aufhalten.“
„Aber ist es nicht ihre Bestimmung?“
„Sie ist nicht dazu bestimmt, aufzuhalten, was Teil ihres Wesens ist. Sie kann nicht ihren eigenen Schatten vernichten, sie kann sich nicht selbst vernichten.“
„Hat sie es nicht schon einmal versucht?“
„Ja, sie hat es versucht, und ist daran gescheitert. Sie ging verloren und wird wieder gefunden werden. Wir werden warten.“
„Wir werden sie nicht finden. Sie wird uns finden. Darauf müssen wir warten.“
„Auf sie und den Schatten?“
„Erst kommt der Schatten. Dann kommt sie.“
„Sie wird kommen und wir werden sie erwarten.“

Als ich die Augen öffnete, spannte sich die ferne Kälte über mir. Ich saß nicht mehr unter den Bäumen, sondern in weitem Feld auf hartem Grund. Der Boden um mich war hart und schwarz, als hätte die Sonne ihn in zahllosen Tagen verbrannt. Als ich meine Hand auf die Erde legte, konnte ich noch die Hitze des Feuers spüren, das auf ihr gewütet hatte.
Ich konnte, als ich mich umsah, die vier Wesen, die gesprochen hatten, und deren Worte mich so sehr daran erinnerten, wie ich meine Gedanken formte, nicht mehr entdecken. Ich war mir nicht sicher, ob es mich freute oder nicht. Sie hatten nicht unfreundlich geklungen. Sie hatten jemanden verloren, der sich selbst verloren hatte. Wie konnte das sein? Wie konnte sich etwas selbst verlieren? Wie konnte etwas von sich selbst verschwinden?
Ich überlegte, ob ich etwas gefunden hatte, das verloren gegangen war. Hätte ich etwas gefunden, ich könnte es den Wesen geben. Doch alle Dinge waren von selbst zu mir gekommen, die Tiere, die Pflanzen, die Sterne, der Mond und die Sonne, die Nacht und der Tag. Nichts davon schien verloren zu sein, nichts schien nicht an seinem angestammten Platz zu sein. Nur ich nicht. Ich war fern meiner Bäume, fern von Hüterin und Regentrinker, Sämling und Späher. Ich stand auf und ging ein paar Schritte in eine Richtung. Der Boden unter meinen Füßen wurde kälter, je weiter ich kam, doch auch immer weniger hart. Ich beugte mich nach unten, um die Erde mit meinen Fingern zu berühren und fühlte Leben darin, das ich vorher in der schwarzen Erde nicht gespürt hatte. Es war zwar nur schwach, aber es war da, ein schmales Rinnsal von Kraft, das sich unter meinen Fingern wand wie ein Wurm, der sich durch die Dunkelheit bohrt. Ich wusste, was die Erde verbrannt hatte, hatte auch die Lebenskraft des Bodens genommen, irgendwo hinter mir musste ein zerstörerisches Feuer gewütet haben, das nicht nur die Materie der Pflanzen und Tiere genommen hatte, sondern alle Kraft, alles Leben, all ihr sein in sich aufgenommen haben. Vielleicht, dachte ich, war es das, was verschwunden war. Vielleicht war es das, was die vier Stimmen suchten. Oder aber, es war das, was sie fürchteten, der Schatten, der sie verschlingen würde. Doch irgendetwas war mit dem Schatten und dem Verlorenen gewesen, ein Zusammenhang, den ich nicht verstand. Das eine gehörte zum Anderen, war aber nicht das Selbe. Wie zwei Seiten eines Blattes.
Ich ging weiter in die Richtung, die ich eingeschlagen hatte. Wenn das alles vernichtende Feuer, der Schatten hinter mir lagen, dann wollte ich nicht wieder dorthin zurück. Ich sehnte mich nach meinen Bäumen, nach den anderen Pflanzen und nach den Tieren. Ich sehnte mich danach, geborgen und sicher zu sein und spürte da zum ersten Mal, seit ich mich selbst wahrgenommen hatte, etwas anderes als die tiefe Zufriedenheit darüber, in der Welt zu sein. Zum ersten Mal in meinem Dasein war ich beunruhigt und ängstlich. Und fern meiner Bäume war ich nun das erste Mal nicht mehr geborgen, sondern allein.

1 | Hüterin, Regentrinker, Sämling und Späher

Yelda
November 1, 2010

Ich weiß nicht, woher ich komme. Die Zeit hat mich irgendwann geweckt, das Rauschen der Blätter im Wind, die Nasen der Tiere, die an mir schnupperten. Wie ein vom Wasser ausgewaschenes Schneckenhaus lag ich zu Füßen der Bäume und rührte mich nicht, denn ich war leer, eine ungefüllte Hülle, ein verlorener Gedanke.
Meine erste Zeit war verwirrend, denn gleichzeitig musste ich mir selbst und der Welt um mich herum Namen geben. Heute, da so viel Zeit seit jenen Tagen vergangen ist, erinnere ich mich nicht daran, Angst gehabt oder mich allein gefühlt zu haben, ich spürte keine Verwirrung, denn all dies, was ich heute spüre, kannte ich damals noch nicht. Selbst die Bedeutung des Wortes allein kannte ich nicht, war ich doch eben erst erwacht und teilte nicht die Welt ein in Dinge, die mir zugehörig waren und die außerhalb meines Körpers und Geistes.

Der Weite über mir gab ich einen Namen und dem Boden unter meinem Körper, dem Wind, der über meinen Körper strich. Ich benannte meinen Körper, als ich erkannt hatte, dass ich nicht der Grund war, auf dem ich lag und nicht die Luft und der Himmel, die mich bedeckten. Ich spürte die Bewegungen allen Lebens um mich herum und konnte nicht glauben, dass all dies ein Teil meines Selbst sein sollte, also gab ich den Bäumen Namen und den Tieren und auch dem Laub und den Blumen. Erst später begriff ich, dass den Blumen die Namen egal waren, dass das Laub kein mitteilendes Leben mehr in sich trug, doch die Bäume, deren wahre Namen ich später kennenlernen sollte, schätzten meine Bemühungen sehr und nährten mich im Gegenzug. Sie gaben mir, auch wenn ich nicht wusste, dass es ein Gegenteil davon geben konnte, Geborgenheit und Sicherheit. Ihre fernen Arme streckten sie über mich, wenn der Regen die Welt um mich ertränkte, und wenn die Sonne die Erde verbrannte, spendeten sie mir Schatten. Die Bäume waren das, was ich heute als erste Familie bezeichnen würde, gäbe es für ein Wesen wie mich so etwas wie eine Familie. Heute noch spüre ich ihre Gedanken, das mütterliche Summen der frühlingsgrünen Hüterin, das feierliche Brummen des erdbraunen Regentrinkers, das quirlige Gelächter des mondbleichen Sämlings, der wehmütige Gesang des himmelhohen Spähers. Noch lange, bevor ich Lebewesen kennenlernen sollte, die mir ähnlicher waren als meine erste Familie, waren sie alle Gesellschaft, die ich brauchte.

NaNoWriMo

Yelda
November 1, 2010

Zufall oder nicht (ich tendiere dazu, nicht an Zufälle zu glauben, also ist es wohl keiner) bei Schriftsteller Werden habe ich eben gelesen, dass der NaNoWriMo heute wieder beginnt. Und weil ich mich ja ohnehin ein wenig unter Druck setzen wollte mit dem Schreiben, mache ich da jetzt eben einfach mit und schreibe einen wöchentlichen Bericht für die Blogparade.

Ich bin jetzt doch etwas hibbelig.

Gut.

Das HI-Virus und ich. Ein Abschied.

Von der Front
Oktober 31, 2010

Als ich meiner Mutter meine Homosexualität gestand, war ihre größte Angst, dass ich an AIDS erkranken würde. Obwohl sie, wie ich später durch Zufall erfuhr, eigentlich fühlte, ihr Sohn sei bereits bei jener Offenbarung gestorben, konnte sie doch noch das HI-Virus fürchten, das mich früher oder später infizieren würde.
Infiziert hat mich vor allem ihre Angst.

In den zehn Jahren seit meinem Coming Out hatte ich Sex mit 5 Männern, mit Nummer fünf bin ich seit achteinhalb Jahren zusammen. Angst, positiv zu sein, hatte ich trotzdem immer, so große Angst, dass ich mich mit Vermutungen beschwichtigte, emotionale Rechnungen um meine Gesundheit aufmachte, mir immer wieder sagte, ich sei nicht positiv, könne es ja nicht sein bei meiner geringen Anzahl an Sexualpartnern, obwohl ich genau wusste, dass ein einziges ungeschütztes Mal schon mehr als genug sein könnte.

Kurz vor meinem Coming Out, ich hatte eben mit dem Zivildienst begonnen und absolvierte einen Grundlagenkurs zur Assistenz im Pflegedienst, schrieb ich einen diagnostischen Text über einen an AIDS erkrankten jungen Mann, der in den letzten Tagen vor seinem Tod seine Geschichte erzählt. Ein einziger Ausrutscher im Suff auf einer Party besiegelte sein Schicksal. Ich ließ ihn sterben und fügte dies später meiner Liste an Erklärungen hinzu, warum ich nicht positiv sein könnte, hatte ich mir doch das drohende Los vom Leib geschrieben. Dumm genug für eine Infektion wäre ich natürlich trotzdem gewesen.

In den letzten acht Jahren, die ich mit dem Freund zusammen bin, lag ich oft nachts wach und ging die Rechnung um mein Leben durch. Und so gering die Wahrscheinlichkeit für eine Infektion auch war, immer wieder brachte mich meine Angst an jene Punkte zurück, da ich zu dumm gewesen war, zu geil, um zu denken. Und so gewann meine Angst vor der Erkrankung eine größere Macht über mich als die Erkrankung es jemals hätte können. Meine Angst war so groß, dass ich sogar den eigentlichen Test scheute. Ich könnte ja tatsächlich positiv sein.
Manchmal in diesen Nächten habe ich mir die Infektion sogar herbeigesehnt. Ich würde dann nur noch machen, was ich wollte, würde die Bücher schreiben, die ich wollte, das Leben führen, das ich wollte, würde nicht mehr von meiner Angst und der Angst meiner Mutter daran gehindert werden zu leben.
Das wollte ich: Im Angesicht des Todes endlich leben.
Bis ich erkannte, dass ich kein Todesurteil im Nacken als Erlaubnis zum Leben brauchte, verstrich wertvolle Zeit.

Zehn Jahre seit meinem ersten und letzten Test auf HIV lebte ich mit der Angst vor dem Virus, der mich gleichzeitig töten und befreien würde. Ich musste erst von meiner Mutter enttäuscht werden, um zu erkennen, dass ich mich nicht mit ihrer Angst für meine Homosexualität bestrafen musste.
Und ich brauchte einen chronischen bronchialen Infekt, um endlich zu einem Arzt zu gehen. Um endlich einmal über mein Leben zu sprechen. Um endlich den Test zu machen.

Heute habe ich das Ergebnis bekommen. Ich bin nicht infiziert. Ich bin, bis auf den bronchialen Infekt, gesund. Statt dessen habe ich erkannt, dass ich mich nicht von einer obskuren Angst, die nicht einmal meine eigene ist, daran hindern lassen darf, zu leben. Geholfen hat mir dabei auch mein Arzt, dem ich mein Vertrauen schenken und meine Angst eingestehen konnte. Der mir bewusst gemacht hat, dass die Angst vor einer Krankheit manchmal die schlimmere Erkrankung ist und in Wahrheit Angst vor dem Leben ist. Meine Angst, infiziert zu sein, habe ich losgelassen und ich denke, auch die Angst vor dem Leben bekomme ich dadurch in den Griff. Es wird weh tun, und ich werde am Ende sterben.
Doch wem geht das anders?

Im Dunkelsten. Im Schatten der Arbeitslosigkeit.

Von der Front
Oktober 28, 2010

Nachts war es am schlimmsten. Zu wissen, dass der nächste Tag immer näher rücken und doch nicht anders würde als der eben vergehende. Dass alles einfach verging und dass auch ich ein Teil dieses Vergehens war, und ich nicht dagegen ankämpfen konnte. Zu wissen, dass das Leben der anderen ein Zentrum hatte, das nicht alles Licht in sich aufnahm, und dass ich neidisch auf diese anderen und ihre Leben war und dass auch dieser Neid mich fraß wie die Nächte, in denen ich nicht schlafen konnte und nicht schlafen wollte.

Meine erste Arbeitslosigkeit dauerte ein Jahr. Zwölf Monate Winter, Dunkelheit. Zwölf Monate Pläne, Vorwürfe, Angst, Hoffnungen, Enttäuschungen. Zwölf Monate Odyssee, in denen ich wie Homers Held mit den Monstern der unbekannten Meere der Seele kämpfte, zwar Siege errang, mich aber nie als Sieger fühlte, denn immer verlor ich einen Teil von mir. Einen Funken Hoffnung, einen Traum, den Glauben an eine hellere Zukunft.
Die staatlichen Institutionen waren überfordert. Mein Abschluss war nicht bekannt, die Standardantwort lautete, man könne mir nicht helfen. Und tatsächlich scheint eine ARGE nur für Abschlusslose und Unqualifizierte Maßnahmen und Möglichkeiten bereitzuhalten. Umschulen wollte man mich mit meinem universitären Abschluss nicht, Arbeitsstellen konnten bundesweit keine gefunden werden.
Am Anfang war mir das noch ganz recht so, schützte es mich doch vor der Gängelei durch das Amt. Je mehr sich Tage zu Wochen und Wochen zu Monaten auswuchsen, umso mehr ertrank ich allerdings in Panik. Rettungslos trieb ich durch die Tage und später dann Nächte, die mir in ihrer Hoffnungslosigkeit vertrauter schienen als die trüben Tage mit ihrer Vortäuschung von Helligkeit.

Letztlich rettete mich der Zufall. Ob ich noch Interesse an einer Stelle hätte, für die ich mich beworben hatte, die kompliziert ausgewählte Kandidatin hatte sich als Missgriff herausgestellt. Natürlich nahm ich an, dass der Vertrag auf ein Jahr befristet war und die Bezahlung zusätzlich niedrig, Überstunden weder gezählt noch ausgeglichen wurden, war egal. Auch wenn das hieß, ich würde statt der vertraglich fixierten 40 Stunden 50 arbeiten. Ich nahm an, weil ich annehmen musste.
Ein Jahr später wurde mein Vertrag nicht verlängert, weil ich mich weigerte, weiterhin für 1500 € brutto 60 Stunden Nettoarbeitszeit pro Woche abzuleisten. Im Gegenzug dafür, dass ich mein Privatleben auf meine zusehends angespannte Beziehung beschränkt hatte, wollte ich mehr Bezahlung. Mein Chef sah keinen Spielraum, sondern trug mir auf, für meine Nachfolge zu sorgen.

Meine zweite Arbeitslosigkeit dauerte sechs Monate. In der ARGE wurde ich von einem Betreuer zum nächsten weitergereicht, immer noch konnte man mir nicht helfen.
Es war nicht nötig. Ich glaubte nicht mehr an das Fördern und Fordern der ARGE, die sich selbst mehr im Weg stand als hinter mir. Nach zwei Wochen hatte mich die Dunkelheit wieder. Die Mauern, die ich als Schutzwälle vor der Depression gebaut zu haben glaubte, begruben mich unter sich.
Eines Nachts fand ich mich frierend im Wald wieder. Nach einem heftigen Streit mit dem Freund war ich einfach davongelaufen, noch tiefer in die Dunkelheit, fort von dem einzigen Menschen, der noch an meiner Seite geblieben war. In der Dunkelheit schließlich habe ich mein Selbstmitleid verloren. Ich habe erkannt, dass ich selbst es war, der mich gefangen hielt. Natürlich würde ich nicht das Stellenangebot finden, das mich haargenau beschriebe. Obwohl ich das wusste, suchte ich doch stets nur danach vor lauter Angst, ich würde aus Angst vor dem Abgrund meine Seele verkaufen.

Dass ich schon längst abgestürzt war, erkannte ich erst am tiefsten Dunkel, in dem der Morgen am nächsten ist. Ich fand die Kraft wieder, Pläne zu schmieden, wieder an mir selbst, wieder an meinen Träumen zu arbeiten. Den Mut, mich mir selbst in fünf Jahren, in zehn Jahren zu zeigen, wenn ich den Weg gegangen wäre, den ich ungeachtet aller gesellschaftlichen Konventionen mir selbst ausgesucht haben würde.
Ich sah wieder ein Ziel und - endlich - eine für mich gemachte Herausforderung. Ich erkannte, dass das Richtige, das ich immer tun wollte, darin lag, mich selbst zu retten. Wenn ich dafür eine Zeitlang in einem Supermarkt oder als Fensterputzer arbeiten würde, dann wäre das nicht schlimm, denn ich arbeitete nicht für den Supermarktbesitzer oder den Oberfensterputzer, sondern für mich, für meine Zukunft. Ich arbeitete, weil ich mich selbst dadurch retten könnte.

Mittlerweile arbeite ich immer noch halbtags im Supermarkt. Was ich als Notlösung gedacht hatte, eröffnete mir ein völlig anderes Themenspektrum, das mich jeden Tag mit in ihrer Abstrusität faszinierenden Menschen zusammenbringt. Das Verkaufen und das Beraten macht mir Spaß. Weil ich nicht immer dort arbeiten werde, baue ich nebenbei an einer Zukunft, die mich auch nach dem Supermarkt erfüllt.
Ich habe immer noch Angst vor der Arbeitslosigkeit. Ich spüre den Schatten immer noch in mir, doch da ich ihn kenne und auch seinen Ursprung, nämlich meine Angst davor, die falschen Entscheidungen zu treffen, die falschen Schritte zu tun, mich an die falschen Menschen auszuliefern, habe ich Macht über ihn.
Ich weiß, dass es keine falschen Entscheidungen gibt, denn aus jedem gemachten Fehler kann man mehr lernen als aus jeder nicht getroffenen Wahl. Ich weiß, dass jeder Schritt der richtige ist, denn es ist nicht Stehenbleiben und verharren. Und ich weiß, dass es keine falschen Menschen gibt, so lange ich mir selbst gegenüber loyal und treu bin.
Ich weiß, dass ich es schaffen werde, meinen Weg zu gehen, weil ich es in fünf und in zehn Jahren geschafft haben werde. Dass ein großer Teil meiner Kraft bis dahin dafür verwendet worden ist, mich selbst zu retten, lässt mich heute gut schlafen.

Die Entgleitung. Noch eine Bestandsaufnahme.

Usus operi
Oktober 6, 2010

Wie mir alles entgleitet. Die Sprache, die Worte, die Taten. Der Wille, das eigene Leben zu steuern, muss irgendwann einfach entschlüpft sein, die Wege sind seither noch unübersichtlicher und freudloser denn je.
Ich sehne mich zurück in jene einfacheren Tage, in denen ich nichts anderes tat als schreiben und ich weiß, dass ich das wieder tun muss, dass schreiben und nur schreiben mich wieder glücklich machen kann. Andererseits aber habe ich keine Muse (von der Muße abgesehen). Der tägliche Ärger der ungeliebten Arbeit, die trotz scheinbarer Aufstiegschancen ungeliebt bleibt und bleiben wird, da der Aufstieg von mir nicht gewollt war, überdeckt alles andere. Die Inspiration ist fort, ich reibe mich an den alten Worten, nekrophiliere meine alten Texte, immer auf der Suche nach einem letzten Fragment, in dem ich mich noch einmal voller Pathos und Selbstverliebtheit suhlen könnte.

Nicht aber weiß ich, wohin mit mir.

Ich sitze vor dem Bildschirm und starre zwischen die Pixel, die keinen Sinn ergeben, die nur immer wieder zeigen, dass Geschichten über Vampire unabhängig von der Qualität immer ziehen, quasi das moderne Pferdebuch sind. Weder Pferde- noch Vampirgeschichten kann ich, zu komplex, zu verkopft will ich schreiben, zu umständlich, als dass selbst ich es noch lesen wollte. Politisch wollte ich einmal sein, gesellschaftskritisch, selbstkritisch, beziehungskritisch.
Und doch bin ich nur egozentrisch. Die Textanalyse der F.A.Z. legt mich zwischen Peter Handke und Sigmund Freud ab. Neolog analytisch und unglücklich selbstverliebt beschreibe ich Lebensdramen und komme doch nicht über meinen inneren Balkan hinweg. Wen kann das aufmuntern? Der eine umstritten, der andere tot.
Mir hilft das nichts.

Und dann die Tage erst.
Mittwoch ist schon wieder und ich dachte, ich könnte so vieles erledigen. Ist das das Leben über 30, das einen nicht zur Ruhe kommen lässt, oder ist es einfach die Verachtung für das eigene Selbst, das nichts auf die Reihe kriegt und am liebsten flüchtet. Flüchtet in Serien, in Musik, in Hörbücher, in die Bibliothek, in den Park, in die Schatten zwischen den Häusern, in den Wald und in die Sonne. Flüchtet vor der Krise in der Beziehung, im Beruf, im Schreiben, im Denken. Lernen muss ich, denke ich, und schalte den Computer an, um mich zu betäuben. Schreiben muss ich und schalte den Fernseher an. Lesen muss ich und starre mit tränenwunden Augen an die Decke, während der Staub langsam aus dem hohen Flor des Teppichs schwebt.
Ich lebe nicht mehr, ich krieche nur noch von einer Ecke in die andere und verweigere mich aller Verantwortung, verneine jegliche Antwort auf Fragen und lasse das Telefon klingeln, wenn es das denn überhaupt einmal tut.

Ich will nicht sein, sagt alles an mir und wahrscheinlich ist das der Grund dafür, warum ich mich selbst und meine Träume nicht ernst genug nehme, konstruktiv darüber zu schreiben. Ich kaufe mir Bücher, wie man die eigene Stimme, das eigene Leben, die Freude am Sein wiederfindet und doch denke ich, dass es egal ist, da ich seit Jahren das falsche Leben lebe, dass ich seit Jahren Konflikt und Kompromiss verwechsle, dass ich Ehrgeiz und Erfolg meiner Scheu zuliebe gegen vermeintliche Bedürfnislosigkeit eingetauscht habe.

Ich habe gelernt in den vergangenen Monaten, dass ich an mir arbeiten muss, denn so wie ich bin, so wie ich unglücklich und so unglücklich wie ich bin, kann ich nicht weiterleben. Als Reinkarnat habe ich mich bezeichnet und bin doch weniger, bin immer noch nur ein Neolog, der das alte Selbst nicht noch einmal abstreifen kann. Doch ich weiß, dass ich es, will ich überleben, über mich, hinter mich bringen muss, eine weitere, die schmerzhafteste Wandlung, die die keine Lügen und Ausflüchte, die kein Pathos mehr, sondern nur noch durch Schmerz destillierte Wahrheit und Beobachtung kennt.
Und wie gerne wäre ich durch diesen Winter schon gegangen, wie gerne sähe ich schon den Frühling danach, doch alles zerrt an mir, alles betoniert mich noch ein, hält mich fest, während mir bewusst wird, dass ich eben das ersehne, was ich just ablehnte: das rasche, das unaufhörliche, das uns alle dem Sterben nähertragende Verrinnen der Zeit.

Die Beziehungslüge. Ahnung einer Angst.

Von der Front
September 22, 2010

Wie lange kannst Du in Deiner Beziehung leben, bevor Du merkst, dass nur die Rituale Euch zusammenhalten? Dass die Gemeinsamkeiten sich auf die gleichzeitige Benutzung der Räume beschränken? Wie lange kannst Du versuchen, ehrlich zu Dir selbst zu sein, bevor Du merkst, dass es die größte Deiner Lügen ist, vor der Du die Augen schließt?

Ich sehe das Ende nicht und weiß doch, dass es da ist. In jedem unterdrückten Konflikt, in jedem stummen Vorwurf, in dem Blick, der Enttäuschung sagt, auch wenn die Lippen sagen: Es ist nichts. In jeder Berührung, die sich fremd anfühlt. Lieben sei loslassen, sagt man, loslassen können. Die Brüche sehen und zugeben, dass etwas nicht zu reparieren ist.

Mir fällt der Tag wieder ein, an dem ich den Anruf von S. annahm, obwohl wir an einer Imbissbude aßen. Weil ich antwortete, weil ich sprach, weil ich, während der Freund weiteraß, mich nur auf S. konzentrierte und ihr geistloses Geplauder, gab es den ersten Riss, der niemals gekittet wurde. Eiskalt war er an jenem Tag, die Verachtung in seinem Blick, die vielleicht auch Enttäuschung war, traf mich so tief, verletzte mich so sehr, umso mehr noch, da ich nicht verstanden hatte, was geschehen war.
Und vielleicht habe ich es auch heute noch nicht verstanden. Vielleicht gab und gibt es nichts zu verstehen. Aber ich erkenne jetzt, da ich mich an diesen Tag erinnere, auch diesen Blick wieder, den ich oft mit seiner Enttäuschung und beginnenden Verbitterung assoziiere. Den Blick, der sagt: wie kann man so sein wie Du?

Ich zweifle oft und ich zweifle seit langem - seit jenem Tag insgeheim und seit einigen Wochen nach diesem Tag immer wieder - an unserer Beziehung. Einige, nicht alle meiner Zweifel spreche ich aus, denn sie haben mit meiner Unsicherheit ihm gegenüber zu tun. Wieder andere behalte ich für mich, dann sie sind meiner Egozentrik geschuldet und meiner Unsicherheit allem gegenüber und meinem latenten Selbsthass, der vielleicht auch mit ihm zu tun hat. Da ich aber alles, was mit ihm assoziiert ist, unter dem Deckmantel der liebevollen Beziehung verberge, bin ich auf diesem Auge blind.
Ich bin kein objektiver Beobachter mehr, aber an meinen weniger subjektiven Tagen spüre ich, dass ich mehr von mir aufgegeben habe, als ich gewann, seit ich Teil dieser Beziehung bin.

Wohl weiß ich, dass eine Beziehung keine gewinnorientierte Veranstaltung ist, doch gleichzeitig glaube ich zu wissen, dass eine Beziehung mehr bereichern als kosten sollte. Mich allerdings hat diese Beziehung das Bewusstsein für mein Selbst gekostet. Wenn ich mich in meinem Leben umsehe, dann frage ich mich, wie viel davon ich mir zu verdanken habe und weiß nur, dass allein meine Texte mir entspringen, auch wenn ich mich oft, zu oft zensiere und manches nicht schreibe aus Angst, es könnte gelesen werden von Menschen, die mich kennen und die den Freund kennen und die dann (wie ich) nicht mehr daran glauben könnten, dass dies die perfekte Beziehung ist, die sie immer haben wollten und die jetzt meine ist.

Ich bin nicht der Mensch, der ich wäre, hätte ich den Freund nie getroffen oder hätten wir uns getrennt an jenem Tag, der alles veränderte, der in mir eine Verletzlichkeit fand, die immer noch nicht überwunden ist, die immer noch in meiner Seele klafft und die ein stummer Vorwurf wieder bluten lässt. Dass ich aber nicht der Mensch bin, der ich ohne den Freund geworden wäre, heißt nicht, dass dieses andere Ich besser wäre, lebensfähiger, widerstandsfähiger, authentischer.

Allein aber das Wissen um den Gedanken, dass die Zweifel in und an meinem Leben so groß geworden sind, beunruhigt mich. Und doch kann ich nicht den Mund aufmachen und den Freund fragen, was er als den Urgrund unserer Beziehung sieht, ob auch er die vielen Rituale sieht und nicht mehr den gemeinsamen Wunsch danach. Ob auch er glaube, unsere besten Tage seien vorbei.
Dazu ist die Angst, das Phantom einer Liebe zu leben, nicht groß genug.

Noch nicht.

Ohne Lüge leben. Ein Selbstversuch.

Von der Front
September 19, 2010

Das Buch wurde als lebensverändernd beschrieben.
Weiß man noch nicht, ob das wirklich so wirkt. Ehrlich zu sein, das ist auf Dauer schwer, wenn man den größten Teil seines Lebens lügend verbracht hat.

Wenn man dann aber doch mal versucht, nicht mehr zu lügen, nicht einmal mehr eine Schutzbehauptung aufzustellen, dann fällt einem nicht nur auf, wie unehrlich man nicht nur zu sich selbst ist, sondern auch wie vielen Menschen man aus wie vielen verschiedenen Gründen die vielleicht unbequeme, vielleicht kränkende, vielleicht verletzende, vielleicht aber auch erlösende Wahrheit vorenthält.

Die Wahrheit über meine Wahrheitsliebe scheint zu sein, dass wir kein gutes Verhältnis haben.
Die meisten meiner Lügen, die ich an andere richte, dienen der Konfliktvermeidung. Nahm ich an. Dem ist aber gar nicht so. Sie dienen nur der Konfliktverschiebung auf einen späteren Zeitpunkt, außerdem der Konfliktverstärkung, da sich der Ärger darüber, dass man nicht gleich die Wahrheit gesagt hat, sondern den ersten Konflikt dann auch noch in den nächsten Konflikt (der thematisch überhaupt nichts mit dem ersten zu tun hat) mit hinein zieht. Unter dem Einfluss von Lügen weiß der Freund nicht, was ihn alles trifft, wenn ich ihn im Park anschreie: dass es mir vollkommen egal sei, ob wir jetzt nach rechts oder links gingen, dass es mir auch vorhin schon egal gewesen sei, dass ich eigentlich sowieso bei dem Wetter nicht raus wollte, dass ich nur mitgekommen sei des schlechten Gewissens darüber, dass ich ihm seine Lieblingsmarmelade weggegessen hatte als Strafe dafür, dass er beim Frühstück vor lauter Zeitungslesen nichts mehr mitbekommt.
Weil zur Wahrheit auch die Ehrlichkeit sich selbst gegenüber gehört, ist aber alles anders, denn ich interpretiere meinen Unmut über die Sonntagszeitung als Herausforderung, den Freund mit amüsanten Geschichten zu unterhalten, damit ihm die Zeitung nicht fehlt. Den Marmeladenrest teilen wir uns wie auch das Croissant, und während wir dann verdauend auf dem Sofa liegen, planen wir im Sonntag einen Spaziergang ein, wenn die Wolken doch noch aufreißen. Später reißen die Wolken auf und wir stromern Hand in Hand durch den Park, ich lasse mich von ihm führen, seine Richtungsanfragen beantworte ich mit Gebrummel und Genuschel und dann fällt mir ein, was ich ihm noch sagen muss: ich hätte keine Wegpräferenz, da ich nirgendwo hinmuss, solange ich bei ihm bin.

Und auch wenn das nach unreflektierter Kleinmädchenromantik klingt, fühle ich in diesem Moment genau das, was ich seit langer Zeit nicht mehr so deutlich gefühlt habe: dass ich es ehrlich meine, dass ich wirklich glücklicher mit dem Freund bin als ohne und dass ich ihn, obwohl ich so lange so oft daran gezweifelt habe, wirklich liebe. Und dass mein übliches ironisches Augenrollen über diese Worte nur eine Angstreaktion ist, die mich davor schützen soll, mich einem anderen Menschen anzuvertrauen.

Die Wahrheit, merke ich, ist Arbeit. Aber auch Arbeit, die sich lohnt, denn sie führt dazu, dass sich Menschen näher kommen, wohingegen die Lügen, die großen und die kleinen Lügen, uns voneinander entfernen. Während uns die Wahrheit, auch wenn sie uns zunächst Angst macht, einander öffnet und Wege ebnet, wo vorher vielleicht keine zu sein schienen, baut jede Lüge ein bisschen an der Mauer, die uns von anderen trennt, denn dazu dienen Lügen: uns voreinander zu schützen und abzugrenzen von den Menschen um uns herum.

Von meinem Ziel, ein authentisches Leben zu führen, bin ich noch weit entfernt, wenn auch Andere mir vor Jahren in einem Karriereworkshop schon bewundernswerte Authentizität bescheinigten. Andererseits sind schon die ersten Erfolge sichtbar und sie machen Lust auf mehr.
Vielleicht werde ich das dann doch irgendwann mal sagen: dieses Buch hat mein Leben verändert.

Egal. Eigentlich.

Morpheon
September 2, 2010

Die Wände sind wieder bleich, ungeschminkt, freigerückt von allen Möbeln. Wie Schatten von Scherenschnitten liegen ihre Umrisse noch auf der Farbe, kaum zu erkennen und doch nicht zu übersehen. Das Haus ist leer und doch erinnert es sich an das Leben, das es barg. Die letzten Schritte sind schon lange auf dem Boden verhallt, die letzten Türen wurden schon lange geschlossen, das letzte Lachen, das letzte Weinen sind schon seit Jahren verstummt.

Und doch erinnerte alles in diesem Haus an die Großeltern, die hier gelebt, geliebt, geboren hatten und zuletzt gestorben waren. Ihr Sohn, der Vater, hatte das Haus behalten, aber nicht beziehen wollen. Die Erinnerung an das Leben, das er hier begonnen und immer gehasst hatte, war noch immer, Jahrzehnte später, ein größerer Schatten als es die Liebe seiner Eltern, die sie ohne Zweifel für ihn verspürt hatten, jemals hatte sein können.
Der Sohn entschied sich, das Haus zu behalten, doch kehrte er nicht wieder zurück, bevor auch er, Jahre vor seinem Tod verstummt und eingeschlossen in sich, starb.
Der Enkel öffnete die Tür, setzte Spuren in den Staub und barg alte Vogelnester von Schränken, öffnete von Erinnerungen berstende Alben, spürte das Seidenpapier unter seiner Berührung zerstauben, atmete den Geruch nicht des Todes, sondern des Vergessen-Seins ein, bis er gegen Tränen ankämpfend wieder durch die Tür ins Freie stolperte, nach Atem ringend, nach Erinnerung an die fremden Menschen suchend. Nie hatte er hier gelebt, nie hatte er hier Stimmen gehört außer seiner eigenen und der des Nachbarn, mit dem er kurz vor Betreten des Hauses noch gesprochen hatte. Wie schade es sei, dass Jahre über nichts mit dem Haus geschehen sei, wie schade und fast schändlich, dass in der direkten Nachbarschaft der Garten verwilderte, das Haus sich im Schatten der immer höher strebenden Bäume verlor, wie traurig es sei, dass die Familie heute nichts mehr zähle und dass der Sohn, dessen Pflicht es gewesen sei, zurückzukehren und sich zu kümmern, es nie für nötig befunden hätte, wenigstens die Hecke zu schneiden.
Der Enkel hatte ihn vor dem Gartentor stehengelassen, das sich vor Rost knirschend nur schwer öffnen ließ, ging über den unter Gräsern liegenden Kiesweg zur Tür und öffnete sie mit dem Schlüssel des Vaters. D. stand auf dem Anhänger, nur der Name des Ortes, nicht ein Zeichen dafür, dass hier geliebte, verwandte Menschen gelebt hatten.
Die Schatten brachte der Enkel wie die staubigen Bücher aus dem Haus, legte sie auf die Steine der Terrasse, wo die Sonne die Vergangenheit ausbleichen sollte, legte sie neben die aufgerollten Teppiche, die dunklen Ölgemälde und das Teeservice mit den tanzenden Vögeln, das er als einziges wiedererkannte als Teil der Erbschaft seines Vaters.
Er öffnete keines mehr der Bücher und auch keine Alben und sah keine Fremden mehr, die sein Blut in sich trugen. Er leerte das Haus und entfernte die Spinnweben wie die Staubmäuse, kehrte die Wände ab, wusch die Fenster und wischte die Böden.

Bleich sind sie nun, die Wände, weiß und frei von aller Vergangenheit. Das Haus wartet auf seine Zukunft, eine neue Familie packt in der Fremde ihre Habseligkeiten, um dorthin zu ziehen, wo noch vor Wochen eine ganze Welt von Erinnerungen darauf gewartet hatte, entdeckt und entfernt zu werden.
Bleich sind die Wände und nichts erinnert mehr an anderes als daran, dass ein Haus unter hohen Bäumen in einem verwunschenen Garten steht und auf neue Seelen wartet.

Nacht. Gedanken.

Usus operi
September 1, 2010

Die Zeit rast. Wie oft schon habe ich diesen Satz geschrieben und wie viel öfter bedauernd als platitüdierend habe ich ihn gemeint.
Die Zeit rast, und ich habe die Kontrolle über mein Leben, mein Wollen, mein Träumen, mein Schreiben verloren. Ich bin nicht mehr ich selbst, sage ich mir, und doch weiß ich, dass das nicht stimmt, denn mein Leben bestimme ich mehr denn je selbst, mehr denn je bestimme ich den Kurs, weniger denn je kann ich die Verantwortung für die missratenen Dinge in meinem Leben Anderen anlasten.

Es ist Zeit, die Verantwortung zu übernehmen, die ich anderen schon lange abfordere. Politikern, Geschäftsführern, Eltern, Liebenden, sie alle sind verantwortungslos vor jenen gewesen, für die sie Verantwortung tragen. Sie alle haben vergessen oder verdrängt, dass ihre Entscheidungen, ihre Taten und Unterlassungen Konsequenzen nach sich ziehen, die teils schlimmer sind als das, was eine unbequeme Entscheidung verursacht hätte.

Mit zehn Kilometern pro Stunde laufe ich auf dem Band. Vor wenigen Wochen hätte ich das nicht erwartet, bei dieser Geschwindigkeit länger als zehn Sekunden durchzuhalten, und jetzt sind mehr als zehn Minuten bei dieser Geschwindigkeit vergangen. Ich bin kein Läufer, entgegen meiner astrologischen Zuordnung bin ich sehr irden, unbeholfen, schwerfällig. Ich habe nicht gelernt zu fliegen, auch wenn ich in all den Jahren seit meiner verschwundenen Kindheit davon geträumt habe, zu schweben, über den Dingen zu gleiten, all das, was mich beschwert, unter mir zu lassen, einfach alles loszulassen, einfach ein für alle mal alles unter mir zurückzulassen, was mich beschwert, beschäftigt, an dieser Welt hält.
Und heute verstehe ich schon wieder nicht, was mich hält, was mich davon abhält, meinen Gedanken den Raum zu geben, den sie brauchen, nicht meinen Gedanken überhaupt Raum zu geben.

Wer mich früher gelesen hat (auch wenn das nicht viele waren) und wer mich heute liest (was also niemand ist, denn auf meinen eigenen Wunsch hin kennt mich niemand mehr), wird wissen, wie sehr ich mich zurückhalte, über mich selbst zu erzählen. Finn, der mich immer nur gelesen hat wie ein Buch und mich nur in der Seele berührte, nie meinen Körper, obwohl wir uns so nah waren, dass er mich hätte küssen können, wusste, man würde mich nie wirklich kennen und niemals würde man den Menschen hinter der Fassade sehen, egal wie sehr ich versuchen würde mich zu öffnen.
Selbst mein Geständnis, ich spiegelte meine Umgebung in allen Eigenheiten, trug nicht dazu bei, mich verständlich zu machen. Verständlich, denn ich habe Angst davor, mich selbst zu enthüllen, selbst dann, wenn ich nichts zu verlieren habe.
Ich bin nie ich selbst und deswegen gestehe ich mir auch nicht zu, meine Geschichten zu erzählen, deswegen traue ich mir nichts zu, vor allem nicht, jemanden zu beeindrucken, vor allem nicht, wenn es jemand ist, der mich zu kennen glaubt. Es ist schwerer für mich, die Menschen, die ich liebe, davon zu informieren, dass ich einen Schatz an Ideen hüte, dass ich Ideen hüte, die vielleicht nicht nur ideellen Reichtum bergen. Ich vertraue gerade denjenigen, denen ich besonders mein Vertrauen schenken könnte, am wenigsten.

Wenn ich mich nachts ausziehe und Fremden meinen Körper zeige, dann kenne ich keine Scham, denn wer meinen Körper sieht, kennt mich nicht, kennt nicht meine Gedanken, nicht meine Seele, nicht meine Worte, nicht meine Träume, nicht meine Hoffnungen, Wünsche, Sehnsüchte. Wenn ich die Augen schließe, dann sehe ich nicht meinen Freund, nicht meine Familie, nicht meine Freunde, nicht meine Kollegen vor mir. Wenn ich meine Augen schließe, dann sehe ich nur mich und mich, der sein Selbst beobachtet.
Ich empfinde es fast schon als skandalös, mich selbst betrachten zu wollen. Ich empfinde das Dunkel, das mich jetzt umfängt, als Sicherheit, als Schutz, als Panzer, der mich nicht nur vor anderen, sondern vor allem vor mir selbst schützt.

Wer bin ich, frage ich mich manchmal, und wohin will ich mich treiben lassen. Will ich immer weiter auf dem Laufband laufen, mich über jeden weiteren Kilometer freuen, den ich meinem irdenen Leib abmühe, will ich immer weiter meinen Körper und Geist der Nacht öffnen, die nicht urteilt, will ich immer weiter darauf verzichten, meine Gabe auszuschöpfen, bis der Brunnen der Worte, den ich besitze, von selbst austrocknet und mich in den verzweifelten, wortfremden Greis verwandelt, den ich jetzt schon manchmal in meinen Alpwachträumen vor mir sehe?

S. erzählte mir einst von ihrem Großvater, der über Jahre an Manuskripten gearbeitet, aber nie eines vervollständigt hätte, immer aber auf den großen Erfolg wartete. Der Großvater, der durch einen absurden Zufall für die sexuelle Introversion meiner Familie verantwortlich war, sei ein armer Tropf gewesen, und es sei gut, dass ich diese Illusion verloren hätte, allein mit Worten sei mehr als ein Blumentopf zu gewinnen.
Und dann denke ich immer noch an Miss Rowling, die einen Erfolg hatte, der seinesgleichen nicht kannte. Ich will mich nicht mit ihr vergleichen, und doch hat jeder altersunabhängig junger Autor ihre Lebensgeschichte vor Augen, wenn er schreibt und auf eine Veröffentlichung hofft. Miss Rowling kann nicht nur davon leben zu schreiben, sie kann sogar davon leben, nicht zu schreiben, das heißt, sie hat endlich die Freiheit, nicht schreiben zu müssen, sondern zu dürfen, sie hat endlich den Zustand der eigenverantwortlichen Kreativität erreicht, den eigentlich jeder Mensch anzustreben bestimmt ist, denn nur über Selbstverwirklichung können wir auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen überleben.

Wir haben zu lange fern von uns gelebt und die Zeit rast immer weiter. Sie wartet nicht. Wir müssen, ich muss endlich die eigene Bestimmung finden, denn das Leben, das wir führen, entfernt uns von unserer Freiheit, und so ungeordnet, wie dieser Text ist, wird unser Leben immer und immer wieder sein, denn die Nacht steht über uns und nimmt uns Stück für Stück unsere Freiheit, unser Leben und unsere Freude an beidem.

Die Zeit rast und zurück bleibt nur die Angst, zurückzubleiben, wenn all jene, die mithalten konnten, mit der rasenden Zeit, auf die Zukunft hinrasen und darüber hinaus und feststellen, dass die Zukunft, auf die wir schon immer zusteuerten, wundervoll sei, aber nur für die zu erreichen, die sich nicht abhängen ließen und sich mitnehmen ließen. Die Zeit raset, rennet, flüchtet, sie fliegt vor uns davon und uns fehlt bald der Atem, um mit- und hinterherzukommen. Wir haben Angst, zurückzubleiben, wir haben Angst, zu viel Zeit zu verlieren, und das zurecht, denn die Zeit rast. 

Die Nichtbeachtung der Anderen

Von der Front
August 10, 2010

Ein grauenvolles, aber wirksames Werkzeug zur Zerstörung des Selbstwertgefühls sind zufallsgesteuerte One-on-One-Chats. Sie veranschaulichen die Oberflächlichkeit und Willkürlichkeit des Menschen, wenn er die halbfreie Wahl des Gesprächspartners hat. Einer von mehreren Tausend Menschen weltweit wird per Zufall zugeschaltet, wer will, mit Bild und Ton. Es steht dem Nutzer frei, ein Gespräch zu führen oder, mit einem Knopfdruck, das Gespräch enden zu lassen, wenn es oder der Gespächspartner ihm nicht behagen. Meist ist es eher letzteres, denn das Gespräch an sich beginnt nicht recht, bevor man nicht weiß, welchen Geschlechts, Alters und Aussehens der Andere ist. In der Regel sind das erste und letzte Kriterium ausschlaggebend: hübsche (und zeigewillige) Frauen um 20 Jahre werden gesucht.

Da die Hauptzahl der Nutzer männlich ist, ist klar, wie selten das gewünschte Gespräch tatsächlich zustande kommt. Der Hauptteil der Zeit, die man bei 1O1-Chats verbringt, wird vom Weiterschalten beansprucht, wobei man von schmerbäuchigen masturbierenden Mittfünfzigern bis hin zu offensichtlich achtjährigen Mädchen alles auf den Schirm bekommt, was zu viel Freizeit und zu wenig Erfahrung, damit umzugehen, hat.

1O1-Chats gleichen dem Glücksspiel, und wie jenes verdirbt es die Moral des Menschen, macht abhängig nach dem kurzen Erfolg, der sich immer dann kurz einzustellen pflegt, wenn man gerade innerlich den Absprung gefunden zu haben glaubte, und dann doch nicht so war wie erhofft. Vor allem aber macht es den Menschen zur Ware, legt ihn in die Auslage einer schonungslosen Kamera: nichts ist so erniedrigend wie ein entsetzter Gesichtsausdruck, eine unflätige Geste, ein harsches Wort, wenn man die Zufallsbegegnung beginnt. Nichts ist mehr demoralisierend als ein Verbindungsende, bevor man überhaupt die Gelegenheit hatte, eine gemeinsame Verbindung zu finden. 1O1-Chats sind pure Oberflächlichkeit, und doch kann man gleichzeitig auch weit hinter die Oberflächen sehen. Ein einzelnes nettes Wort lässt einen Menschen, der schon 30 Ablehnungen hinter sich hat, fast buchstäblich leuchten. 30 Ablehnungen hat man leicht nach 5 Minuten erreicht.

1O1-Chats sind in dieser Ausprägung symptomatisch für eine Zeit, die nicht mehr darauf angewiesen scheint, aufeinander zu achten und füreinander da zu sein. Sie sind symptomatisch für die Egomanie des Web 2.0, das nicht etwa wie vielfach propagiert ein Internet der Vernetzung und der Netzwerke ist, sondern immer noch eines der Selbstdarstellung und Selbsüberzeichnung. Sie sind aber auch symptomatisch für eine Gesellschaft, die sich selbst vergisst, die nicht mehr eine starke Gemeinschaft ist, die von der Zahl ihrer Mitglieder profitiert, sondern nur noch eine Vielzahl von starken Egoisten ist, deren Masse sich gegenseitig bis hin zur Nutzlosigkeit neutralisiert.

Andererseits, und das ist der Lichtblick daran, sind 1O1-Chats nicht die Regel im Internet und im alltäglichen Miteinander, sondern eine Randerscheinung, die nichtsdestoweniger der genauen Betrachtung und vielleicht auch Überwachung bedarf. Letzteres betrifft die weite Spanne der Chat-Nutzer. Drastischer als in klassischen Chaträumen ist die Gefahr des Kindesmissbrauchs, der emotionalen und körperlichen Ausnutzung von Kindern durch Erwachsene. Für Kinder, die durchaus auch zu den Nutzern von 1O1-Chats gehören, mögen Bilder von Masturbation im besten Fall “nur” unverständlich, vielleicht aber auch verstörend sein, Kinder jedoch, die kein Verständnis für den Wert oder die Existenz von Privat- und Intimsphäre besitzen, sind gerade in der folgenlosen Anonymität von 1O1-Chats im schlimmsten Fall schutzlos der Gier von körperlichen und seelischen Vergewaltigern ausgeliefert.

Auch dies ist natürlich ein Versagen der Gesellschaft auf der Ebene der elterlichen Aufsichtspflicht, ein Teil der Verantwortung für den Schutz der Nutzer liegt aber sicherlich auch bei den Anbietern von 1O1-Chats.

Der Spaß ist vorbei

Von der Front
Juli 25, 2010

War ich je so jung? So alkoholisiert? So beides?

Sie trägt eine Schärpe, auf der Williges Luder steht, die Buchstaben blinken. Sie hat einen summenden Vibrator im Mund und versucht, ihr Lachen zu unterdrücken, damit sie endlich das Kondom ganz mit den Lippen abrollen kann. Weil sie sich nicht gleichzeitig auch noch auf ihr Gleichgewicht konzentrieren kann, hält ein junger Mann sie fest, schaut aber nicht sie an, sondern aus dem Fenster des Zuges auf die vom Vollmond übergossene Wetterau.
Der Zug fährt über eine Weiche, der Waggon bebt, die junge Frau stößt sich den Vibrator gegen den Gaumen, Tränen treten in ihre Augen. Ihr Begleiter sieht weiter aus dem Fenster. Ein anderes Schärpenluder sagt ihrem Handy, dass der Zug bis nach Fronhausen durchfährt, dort nehme sie ein Taxi. “Steffi”, sagt sie mit einem Blick auf den Vibrator, “ist schweinevoll. Die kotzt noch.”

Es ist der letzte Zug, der diese Nacht Frankfurt Richtung Marburg verlässt. Wer jetzt nicht fährt, muss warten bis um fünf. Zwei der sechs Frauen mit den Schärpen sehen so aus, als hätten sie lieber bis zum Morgen gewartet.

“Hast Du’s gesehen?” Sie lässt den Vibrator im Triumph über ihrem Kopf kreisen. “Das Gummi ist ganz!” Ihr Begleiter sieht sie an, murmelt etwas und nimmt seine Hand von ihrem Körper. Sie taumelt kurz, lehnt sich an eine Trennwand und rutscht daran herunter. Ihr Minirock sieht aus wie aus gelbem Plastik, durch die veränderte Lage schneidet er ins Fleisch ihrer Oberschenkel. Mit der freien Hand zupft sie ergebnislos am Saum herum, dann steckt sie sich den Vibrator wieder in den Mund und zieht mit beiden Händen, bis das Material aufgibt und aufreißt. Der Vibrator fällt aus ihrem Mund auf den Boden, als sie anfängt zu lachen.

Der nächste Halt wird angekündigt. Der junge Mann beugt sich zu der jungen Frau hinunter und sagt, sie solle aufstehen. Als sie nicht reagiert, wiederholt er sich. “Lass mich in Ruhe”, gibt sie zurück, so laut, dass auch Fahrgäste, die bislang vorgegeben haben, die Gruppe zu ignorieren, die Köpfe wenden und hinsehen. “Ich mach, was ich will.” Dann langt sie nach dem Vibrator, der, immer noch summend, auf dem Boden neben ihr liegt. Sie zupft am Kondom. Ihr Begleiter sieht aus dem Fenster. Der Zug kommt zum Stehen.
Als sich die Türen öffnen, geht der junge Mann zum Ausgang und, ohne noch einmal zurückzusehen, hinaus. Als sich die Türen schließen, der Zug sich wieder in Bewegung setzt, sehe ich den jungen Mann auf dem Bahnsteig zu den Treppen gehen.

Die junge Frau starrt auf den Vibrator, der immer noch summt. Sie lacht nicht mehr, ihr Gesicht ist starr, der Lippenstift ist verschmiert, der Minirock im Schritt aufgerissen, die Schärpe blinkt nicht mehr. Ihr Körper gehört der jungen Frau nicht mehr. Der Spaß ist vorbei.

Beim nächsten Halt steige ich aus.

De Novo

Aus dem Maschinenraum
Juli 22, 2010

Die Zeit vergeht und nichts ändert sich. Ein Satz wie in Stein gemeißelt und eine Erkenntnis, deren Neuigkeitsgrad knapp unter dem Hinweis rangiert, dass eine Schwalbe noch keinen Sommer macht. Heuer, und damit eigentlich auch nichts neues, sind die Schwalben ziemlich zahlreich, wenn sie einander durch die Enge der Fußgängerzone jagen.

Im Zuge der Aktualisierung auf WP3 sind alle Interimsbeiträge verloren gegangen, nicht schade drum, denn sie alle sind nichts anderes als dieser Beitrag: ein Versuch der Richtungsfindung. Mein altes Weblog, das ich in konsequenter Selbstüberschätzung vor sieben Jahren neolog genannt habe, habe ich der Richtungslosigkeit wegen im Dezember 2009 verlassen. Seither habe ich nach Möglichkeiten gesucht, mich wieder, aber auch in anderer Form schreibend zu betätigen.

Im Gegensatz zu den Betreibern vieler Cat-Content-Blogs allerdings, und das ist das Grundproblem auch schon 2002 gewesen, reflektiere ich den Mangel an Informationsgehalt, den mein Weblog bot. Wie die CCBs mangelte und mangelt es mir an Botschaft, Auftrag, Bewusstsein, eine Lücke zu schließen. Es ergibt sich nichts aus meiner Lebensgeschichte, aus meinen Erfahrungen, aus meiner Vergangenheit. Die Erkenntnis allein, zu allem etwas Konstruktives und/oder Kritisches zu sagen zu haben, reicht nicht, um ein erfolgreiches Weblog zu führen.

Andererseits berichtete mir eine Freundin und literarische Kollegin von ihrem überraschend erfolgreichen neuen Projekt, einer Reflektion ihrer sexuell-erotischen Erfahrungen, das innerhalb von drei Monaten mehr Aufmerksamkeit erlangt hat als ihr rein literarisches Weblog in drei Jahren. Erklärung dafür ist natürlich der allgegenwärtige und allen eigene Voyeurismus, der sich für Sex mehr interessiert als für Poetik.
Verständlich eigentlich.

Bleiben also zwei Fragen: die nach dem Grund und die nach dem Zweck des Erfolgs. Offensichtlich ist es nicht ausreichend, über das zu schreiben, was den Autor bewegt, das hat auch Sol Stein schon oft genug in seinen Büchern über das Schreiben betont. Im Gegenteil muss der Autor immer die Leser ansprechen und deren Interessen bedienen, will er erfolgreich sein. Andererseits ist es auch eine Definitionsfrage, ob man Erfolg von Leserzahlen, Kommentaren oder Spam abhängig macht oder von der Erkenntnis, dass man dem, was man nach außen tragen wollte, die richtige Hülle aus Worten verleihen konnte. Es ist die gleiche Frage, die sich in allen Bereichen des Lebens stellt: Definiere ich Erfolg darüber, dass andere mir zu meinen Entscheidungen gratulieren, oder darüber, dass ich mich mit meinen Entscheidungen wohl fühle.

Es ist dies eine gesellschaftliche Frage, denn genauso, wie wir uns in anderen Bereichen auf alle komplexen Fragen einfache Antworten wünschen, wollen wir (vielleicht nicht bewusst) in allem eher die exrinsische Erfolgsbestätigung als die mit neutraler Selbsteinsicht und damit mit Aufwand verbundene Erkenntnis, dass Erfolg nicht eine gesellschaftsdefinierte Größe ist, sondern wie Geschmack, Leidenschaften und Glücksverständnis einen subjektiv zu bestimmenden Parameter darstellt.

Die alles (und nicht nur die diese letzte Mutation des neolog betreffende) entscheidende Frage ist also: was wollen wir wirklich und welche Werte sind uns wichtig, was ist relevant und was evident unnötig, um Glück im Leben zu erreichen? Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist das die Frage, auf die wir immer wieder in den folgenden Monaten zurückkommen werden, denn sie ist es, die die Menschen allgemein und mich im Besonderen umtreiben: die nach dem Sinn und der Richtigkeit des Handelns der Menschen und der Zukunft der Gesellschaft.

Betrachten wir dies als die erste Schwalbe, die den Beginn des Sommers markiert. Folgen Sie mir, dann werden wir einen üppigen Sommer haben.

Sweetest Way

Morpheon
November 15, 2004

Ich bin das nicht und kann das nicht sein. Nicht meine Gedanken, nicht meine Worte, nicht meine Zunge, nicht meine Lippen, nicht meine Sprache können das sein. Ich bin fern und bin nicht hier. Ich bin niemals wirklich da.

Seltsam so zu leben, als sei ein Schatten das wahre Ich. Ein Geist, der denkt und fühlt und deine Worte kennt, dein Lachen und deine Träume. Der dich beobachtet, wenn du schläfst, wenn du kurz vor dem Einschlafen noch etwas murmelst, was du nicht verstehst, aber auch nicht verstehen wolltest.

Ich lausche auf deinen Atem und deine letzten Worte vor der Nacht, gebe vor, auch zu schlafen und kann doch nur so tun als ob. Deine Augen lassen mich nicht los, als ich hoffnungslos zu dir ging, treulos fast.

Ich sei dein Traum, dein Ein und Alles und nichts könne ändern, was nicht war. Als könne nichts deine Gefühle ersetzen. Als könne nichts mein Leben füllen. Es war etwas und ich weiß es besser als du, dass das Leben nicht nichts ist und ein Traum, den du träumst, mehr ist als wir zu sagen wagen.

Mit den Lippen eines Anderen auf den meinen bin ich aus meinem Traum aufgeschreckt und sah deine Augen, deinen Mund, dein Gesicht. Dein Atem war es, der mich aufwachen ließ, deine Blicke, deine Worte. Unruhig sei mein Schlaf gewesen, um mich habe ich getreten, sagst du. Den Namen des Anderen sagst du mir nicht, sagst du mir nie, auch nicht, wenn ich ihn schreie im Schlaf, weil ich Angst habe. Angst davor, dich zu verlieren, dich zu verletzen, Angst davor, er könnte es tun. Er, dessen Name nie der gleiche ist. Er, dessen Gesicht nie das gleiche ist. Er, den es nicht gibt.

In meinem Traum waren deine Lippen fremd und deine Berührungen kalt und heiß wie gefrorenes Feuer. Deine Augen waren kalt wie Eis und blau wie der kaltklare Morgen vor den Scheiben des beschlagenen Fensters. Ich höre deine Stimme und fühle mich beben im Schlaf. Dein Atem brennt auf meinem Körper, ich zerbreche in Schatten aus zerspringendem Stein. Der Schrei, der mich weckt, ist dein.

Xanadu

Von der Front
November 14, 2004

Es ist verwirrend und beunruhigend, wie still die Stadt heute ist. Fast, als seien die Straßen ausgetauscht, die Menschen umgesiedelt, die Tiere in Scharen über die letzten zwei Tage hinweg verschwunden. Ich erkenne nichts wieder, so anders ist es. Und doch sind es die vertrauten Straßenzüge: Bahnhofstraße, Alice-, Bleich-und Löberstraße, die schönen alten und die neuen hässlichen Häuser, mit den vertrauten Fenstern und wohl auch den vertrauten Geschichten dahinter. Die Welt aber ist stumm heute, nichts regt sich.

Ich überlege, ob ich bummeln sollte, pflichtvergessend einfach diese neue, doch schöne Stadt erkunden sollte, Wege zu gehen, die ich zu kennen glaubte, aber nun doch nicht wieder erkenne.
Und dann wieder entscheide ich mich dagegen, aus Angst, dann, wenn der Zauber wieder verflogen und der Lärm und der Staub wieder zurück in den Straßen sind, diese neue andere vor Stille und goldenem Sonnenschein schöne Stadt wieder vermissen zu müssen.

Später ist die Stadt ganz fort, verschluckt von dichten Nebelschwaden, die direkt vor den Fenstern beginnen und kaum einen Meter weit ahnen lassen, dass das außerhalb der eigenen Reichweite mehr sein könnte als feuchtgraue Watte. Doch still ist sie noch immer, mehr noch als zuvor, selbst am Bach, der sich zwischen den Straßen hindurchwindet, hört man nicht mehr die plätschernden wellen, wo das Wasser über ein paar im Bett liegende steine springt. Die Wege sind kaum mehr sichtbar, ich bin weit fort von allem, was ist.

Noctambul

Usus operi
November 11, 2004

Man stirbt. Jeden Tag und jede Sekunde und alle paar Stunden ein bisschen mehr. Was gestern noch am Leben war, ist morgen fort und vergessen, wie die Großmutter, die mit jedem Tag zwar nicht stirbt, aber vergisst. So entfernt sie sich selbst jeden Tag, jede Sekunde und alle paar Stunden ein bisschen weiter von der Welt, die sie nicht loslassen, nicht gehen lassen mag.

Man kann sie noch erkennen, die einst geliebte und gekannte Frau, die wohl zu ihrer Zeit eine der schöneren jungen Frauen gewesen sein muss, man kann den Großvater, der schon vor so langer Zeit so unwürdig sterben musste, verstehen, warum er sich in sie verliebt haben mag. Warum er ihretwegen nicht die Stadt, nicht den Beruf, nicht sein Leben wechselte. Warum er sich für sie entschlossen haben mag statt für andere.

Man sieht es nicht mehr gut, man muss die Frau kennen, die hinter diesen offen schlafenden Augen vielleicht noch vorhanden ist. Dann kann man vielleicht einiges mehr sehen als die flinken, aber verwirrten Augen, mehr grau als einst blau, die sich wild in alle Richtungen streckenden Haare, unzähmbar und weiß. Vielleicht sieht man dann mehr als die alten Hände mit den Adern, die sich dick wie Taue unter der überraschend weichen Haut bewegen, während sie abwesend mit einer Serviette, einem Knopf, einem Stift, einem anderen Finger spielt. Vielleicht sieht man die Liebe, die sie einst empfunden haben mag.

Und fragt sich: Liebt sie noch?

Und fragt sich nicht: Lebt sie noch?

Und man selbst ist so weit fort von dieser Frau, die vor wenigen Wochen an Krebs erkrankte. In ihrem Alter wollten Ärzte ihr noch eine Therapie verpassen, eine Therapie, die sie schneller getötet hätte als die Krankheit, die an ihr nur langsam nagt. Eine Therapie, die auch den Vater ihres Sohnes getötet hat, der sich dagegen gewehrt hat zu sterben bis zum letzten Augenblick.

Die Nacht bricht herein über die Welt, die Sterne schimmern hinab auf die Schlafenden. Sie alle haben vergessen, wer sie sind, sie alle träumen davon, wer sie sein könnten. Die Nacht gibt ihnen die Freiheit dazu. Einzig die alte Frau, die nicht mehr schlafen kann seit nun fünf Jahren, seit ihr Mann und ihr Leben starb, liegt alleine wachend in ihrem Bett, verwirrt nach den fünf Jahren Trauer, kann kaum mehr sprechen und blinzelt den Sternen entgegen, die so fern sind, so fern.

Traumfern

Von der Front
November 10, 2004

Nach dem Schnee und vor den neuen winterlichen Ejakulationen wandert man anderntags durch die Welt, Spuren des abendlichen Untergangs suchend. Nichts findend, denn die Welt schweigt darüber, was nicht hätte sein dürfen, nicht wirklich hätte geschehen dürfen, als sei es ein Traum gewesen.

Aber man ist vorsichtiger heute, die Menschen sind stummer geworden, jetzt schon, die Mienen der Menschen sind jetzt schon winterlich leer, die ersten Depressionen schleichen durch die Straßen, auf der Suche nach der nächsten, doch nicht vorhandenen Klippe, von der man sich stürzen könne. Doch fündig wird man nicht, solange der Schnee nicht wieder liegt.

Und dann ist da doch noch die fröhliche junge Frau aus dem Computerladen, die immer mit sich selbst spricht, weil zwischen dem einen und dem anderen Kunden immer Tage vergehen, sie selbst sitzt immer hinter ihrem Schreibtisch und schaut auf den Bildschirm, dessen Bilder ihr nichts bedeuten, sie selbst träumt von anderen Orten, von anderen Dingen, von anderen Menschen. Die junge Frau bietet mir einen Katalog an, nicht zum Kaufen, nur zum Träumen. Bedürfnisweckung nenne sich so was, sage ich, ihr Nicken bemerkend. Träumen dürfe man ja, sagt sie, keine Träume zu haben, sei ja auch nicht schön. Ich stimme ihr zu und gehe wieder, den Katalog unter dem Arm.

Daheim denke ich an den anderen Träumer, der in Paris im Koma liegt, der auch einen Traum hatte und der diesem Traum sein Leben untergeordnet hat. Jetzt wird um das Erbe dieses Mannes gerungen, jeder möchte noch schnell seine Schäfchen ins Trockene bringen, bevor man den armen Mann sterben lässt. Sein Leib wird begraben werden am Ort seines jahrelangen Hausarrestes, seine in diesen letzten Jahren gehegte Hoffnung, man könne sich noch friedlich einigen mit dem jahrtausendealten Feind, wird neben ihm in die Erde gescharrt, die mühsam niedergehaltene Glut wird aufflammen und erneut wird brennen, was schon längst verbrannt und Asche sein sollte.

Nichts wärmt mir heute mehr das Herz, während ich weiter am Fenster sitze, den blick über die Stadt streifen lasse und mir Gedanken über den nächsten Tag und den Tag danach und dann alle danach mache.

Winterlied

Von der Front
November 9, 2004

Noch nicht mal über Nacht, sondern mitten in die Dämmerung herein bricht das weiß in die Welt, und statt Farben füllen Kälte und Nässe und Atemnebel die Straßen zwischen den ausblutenden Häusern der Stadt. Es will wieder wintern in den Wäldern, das Leben in den Feldern verstummt, einzig in den Leben der Menschen will keine Ruhe einkehren. Im Gegenteil wird man jetzt noch eiliger, noch eifriger, noch ungehemmter im Verlieren seiner Zeit, bis in ein paar Wochen Erschöpfung statt Stille die Freude der Menschen erstickt.

Daheim verlieren sich die Eltern in über sie hereinbrechenden Schneemassen, plötzlich ohne Licht und Strom, nur der Kachelofen spendet Wärme und Geborgenheit, die Eltern selbst sind verstört, der Fernseher ist nicht da, ist fortgegangen wie die Kinder, fort wie die Nachbarn, fort in die Dunkelheit, die alles nun umarmt.

Der Schnee fällt weiter, die Nacht schreitet voran, allein hinter den Fenstern des Hauses sitzen zwei Menschen, nicht wissend, was miteinander anzufangen. Im Schein von Kerzen isst man zu Abend, leise schweigend sitzt man Seite an Seite am warmen Ofen, der Atem des Anderen das einzige Geräusch im schummrigen Raum. Vielleicht sagt man ein paar Worte, doch sie können nicht ersetzen, was fehlt, sind nicht verbindend in der Einsamkeit, verzweisamen nicht, sondern machen nur betroffen. Im flackernden Licht der Kerze sieht man sich nach Jahren des gemeinsamen Lebens wieder und erschrocken hofft man auf die Rückkehr der Welt.

Später, der Strom und das Licht, die Heizung und der Fernseher sind zurück, wird die Mutter nur sagen, es sei seltsam gewesen, alles sei so still gewesen. Nur eine Kerze und das Radio, gottseidank hatte man Batterien. man habe sich hingelegt, früher als sonst, was habe man auch sonst tun sollen. Der Vater? Nein, der sei nicht hier, der besuche eine Fortbildung, ob ich das nicht gewusst habe.

Noch später in der Nacht, vor dem Fenster fällt weiter das Weiß in dicken, nassen flocken vom Himmel, sitze ich auf Geräusche lauernd, sie zu sammeln, damit ich schätze habe, die ich herausholen und an denen ich lauschen kann, wenn mich das Dunkel verschlingt.

Relux

Aus dem Maschinenraum
November 7, 2004

Was ist das Leben so öd gewesen ohne mich. So leer in den Worten und so farblos am Tag. Von den Nächten mal ganz zu schweigen. Und dann passiert sowas, dass sich einer einfach nicht mehr zurückhalten möchte, aber eigentlich auch doch nichts schreiben kann oder mag und dann schiebt er es auf seine eigene stolzgeschwellte Stille, dass die vereinfachten Staaten Sicherheitswähler sind. Und dann kann niemand dagegen reden, weil letztlich alles das Gleiche und die Unsicherheit ein Kind keiner Revolution ist.

Klick-an Klick-aus

Aus dem Maschinenraum
März 24, 2002

Immer um diese Zeit fällt in der Wohnsiedlung gegenüber der Strom aus und alles versinkt in gnadenvoller Nacht. Ich schweige mit und freue mich über die Dunkelheit, die es in der Stadt sonst nie gibt. Bis dann die penetrante Nachtnotbeleuchtung wieder angeht. Als ob die Nacht nicht wüsste, wohin sie soll.

Hallo

Von der Front
März 24, 2002

„Darf ich mich vorstellen? Ich bin musca domestica, ihre höchst gewöhnliche, aber ganz persönliche Stubenfliege. Ich bin sehr gerne zu Ihren Diensten, würde mich aber jetzt sehr über ein bißchen Zucker…“ Patsch. Das war mir jetzt doch zu persönlich.

Eigentlich

Von der Front
März 23, 2002

Eigentlich geht es mir gut, kann ich nicht klagen, ist das Wetter nicht allzu schlimm, habe ich alles, was ich brauche, geht es so Vielen so viel schlechter als mir … eigentlich fühle ich mich heute mehr uneigentlich.

Implosion

Usus operi
März 22, 2002
Um sich schlagen möchte man, mit Waffen, die man weder besitzt noch kennt, auf Arten und Weisen Menschen verletzen, die einem nichts schulden und nichts zuleide getan haben. Man möchte nur noch rennen und rennen und rennen, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen oder überhaupt einen Gedanken, der nicht heißt: Flucht.
Man möchte … oder möchte nur ich?

Kaum da

Usus operi
März 21, 2002

Kaum ist man da, ist man weg. Zwischen und in mir sind nur noch Worte voll Schmerz, und ich weiß nicht, woher sie kommen. Durch meinen Kopf pulsiert sich ein Tumor gleich welchen Ursprungs: entspringt er der Depression oder entspringt sie ihm.

Unfähig mich mitzuteilen verdamme ich meine Sprache, zieht sie mich doch nur weiter hinein statt weiter hinaus. Bis ich selbst hinausziehe, gedopt mit Schleimlöser, Kopfschmerzmittel und allgemeinen Schmerzmitteln wage ich mich hinaus in die Welt zwischen den Regenschauern. Hole mir meinen Freikaffee bei meiner Lieblingsfiliale von Coffee Bay, begegne auf dem Hinweg ganz zufällig dem viel zu gut gebauten und gut aussehenden Bar-Menschen, der mich dann auch noch fröhlich und gut gelaunt begrüßt, als hätte es tatsächlich was genützt, letzte Woche aufdringlich gewesen zu sein.
Und wieder auf dem Heimweg kann ich den Regen riechen und höre die Vögel singen und einen Streifen blauen Himmel und Sonnenschein in nicht allzu weiter Entfernung sehen. Und an der Ampel über die Frankfurter Straße erwischt es mich wieder: der Schmerz, die Angst, die Sinnlosigkeit. Was ist passiert, daß ich nicht mehr sprechen kann, wenn ich es will? Was ist passiert, daß ich so unzufrieden bin? Was ist denn überhaupt passiert?
Und dann frage ich mich: passiert denn überhaupt irgendwann jemals was? Und dann: ist es vielleicht das?

Heldin

Von der Front
März 19, 2002

Aus Ms.: Endlich mal eine Stimme, die vielleicht lauter sprechen sollte in den Vereinigten Staaten: Barbara Lee, die als einzige US-Abgeordnete gegen den Afghanistan-Krieg gestimmt hat, nachdem sie noch wenige Wochen vor dem Anschlag mit folgenden Worten für die Einrichtung eines Friedensministeriums geworben hatte: „Frieden ist nicht die Abwesenheit von Krieg, sondern die Schaffung von Gerechtigkeit.“

Ich würde mich freuen, sie als erste schwarze US-Präsidentin zu sehen. Aber dazu ist sie den wirklich machthabenden wahrscheinlich nicht beeinflussbar genug.

Junk

Morpheon
März 18, 2002

Als Composant des Ensembles einer schlechten Mystery-Serie in einem Buchladen Dämonen und wildgewordene Staubsauger gejagt. Werde mich selbst auf Fernseh-Entzug setzen.

Und dann wache ich auf: ich habe noch nicht mal einen Fernseher, dem ich mich entziehen könnte.

Eins

Aus dem Maschinenraum
März 17, 2002

In neuen Worten kleide ich mich und in neuem Gewand meine Worte, zu sprechen: ein Neubeginn, eine neue Geschichte, eine neue Hoffnung.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
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