Das veränderte Klima | ANDERSWOLF

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Das veränderte Klima

Von der Front
Juni 20, 2023

Mit R. gesprochen, dem künftigen Nachbarn. Wie die Bauarbeiten voranschritten (und nicht: wann sie endlich vorbei seien), ob wir uns auf den Umzug freuten (und nicht: wann die praktischen Parkplätze in der Einfahrt belegt seien), und ob wir uns schon auf das veränderte Klima eingestellt hätten. Und meint damit nicht das Wetter.

Die Menschen hier, sagt er und meint damit die Gesellschaft, seien zunehmend kalt, abweisend, oberflächlich geworden. Sie hätten so hohe Mauern um sich gezogen, um sich unangreifbar zu machen, und gleichzeitig besäßen sie so wenig Resilienz, dass sie beim geringsten Gegenwind gleich auf Angriff schalteten. 

Ich befürchte, dass wir an verschiedene Menschen denken. Er meint vor allem die Jungen und Jüngeren, die er in seiner pädagogischen Arbeit tagtäglich vor sich sitzen hat. Die sich entweder von TikTok fesseln lassen oder sich auf die Straßen kleben oder ganz einfach überfordert sind mit den Komplexitäten einer sich zu rasch wandelnden Welt, die ihnen aber auch niemand endgültig erklärt oder erklären kann. Weder-noch übrigens: weder die Komplexitäten noch die Welt.

Ich meine eher, als ich an ihm vorbeirede, genau die andere Seite der Konfrontationslinie: jene Menschen, die an Mobtagen durch die Innenstadt ziehen und die Rückgabe einer ihnen nicht entzogenen Freiheit fordern, oder solche, die auf politischen Podien stehen und vor dem Gendersternchen warnen oder Klimaschutz-Aktivisten zu Terroristen hochstilisieren, weil auch sie keine Antworten mehr haben auf die Fragen, die wir uns alle eigentlich stellen (sollten). Wie nämlich wir das alles aushalten sollen: Long-Covid, Krieg und Klima. Krise, Krise, Krise.

Da sitzen wir doch schließlich alle im gleichen Boot, wir haben nur unterschiedliche Coping-Mechanismen. Während die Jugend, die es ohnehin gewohnt ist, nicht nach ihrer Meinung oder gar Ideen zur Gestaltung der Zukunft befragt zu werden, sich einfach nur ins Digitale zurückzieht, wo klar ist, dass sie von den Boomern nicht behelligt wird, weil die Alten das Internet aufgrund ihrer latenten Techniküberforderung eh nicht verstehen, zieht es die besorgten Alten auf die Straßen, Podien oder in den Untergrund der Verschwurbelung, wo es einfache Fragen auf unterkomplexe Fragen gibt. 

Und dann machen sie sich lustig, die Alten oder zumindest Bockigen, über die Jüngeren, die sich mit SUVs zu Freitagsdemos kutschieren ließen, alle halbe Jahre ein neues Handy bräuchten, überhaupt keine Werte hätten, null Bock auf Arbeit hätten, andauernd alle aggressiv angenderten, aber sich ansonsten kein bisschen ordentlich ausdrücken könnten. 

Und vergessen darüber, dass keine Generation aus sich selbst entsteht oder unabhängig von anderen existiert. Diejenigen, die jetzt selbstgerecht über die Menschen urteilen, die sie letztlich über eine Zwischengeneration selbst in die Welt gesetzt haben (und die dafür nicht etwa dankbar sind, sondern sich eher fragen, warum diese Welt nicht in einem besseren Zustand übergeben wurde), vergessen, dass es an ihnen gewesen wäre, Wohlstand und Werte und Weisheit weiterzugeben. 

Die Jungen wollen nicht arbeiten? Wer hat denn eine Arbeitskultur etabliert mit minimaler Bezahlung bei maximaler Selbstausbeutung? Können sich nicht ausdrücken? Wer hätte es ihnen denn vielleicht beibringen können? Lassen sich mit SUVs zur Schule bringen? Wer hat denn die SUVs gebaut und gekauft? Protestieren für härteren Klimaschutz, weil die Alten ... Ach, uralter Hut: Seit 1856 hätten wir gewarnt sein können, als Eunice Newton Foote als erste den wärmenden Einfluss von Kohlendioxid auf die Erdatmosphäre beschrieb. Man könnte vermuten, dass ihre Erkenntnisse unberücksichtigt geblieben sind, weil sie eine Frau war. Das hat sicher nicht geholfen, aber als John Tyndall drei Jahre später die gleichen Beobachtungen beschrieb, wollte auch niemand die richtigen Schlüsse ziehen. 

Ist ja aber auch nachvollziehbar. Wir alle wollen mehr Wohlstand, mehr Luxus, mehr Bequemlichkeit und weniger Schweiß, Blut und Tränen. Diejenigen Alten, die sich jetzt über den Arbeitsverweigerungsgestus der Jüngeren aufregen, haben doch auch ihr ganzes Leben lang vor allem deswegen gearbeitet, weil sie es dann in der Rente einmal besser haben wollten. Und angeblich, um den Jüngeren ein besseres Leben zu ermöglichen; was nicht nur misslungen ist, sondern auch leicht egoman; ist doch der Glaube zu wissen, was für andere das Beste wäre, subtil übergriffig. 

Tatsächlich scheint mir die Dünnhäutigkeit der Alten, seien es Aiwanger, Dobrindt, Gruber, Merz, Nuhr, Pechstein, Söder (oder auch Amthor, Kramp-Karrenbauer oder Spahn), statt einer tatsächlichen Besorgnis über das Wohlergehen der Jüngeren (was ja durchaus ein legitimer Grund wäre, sich zu den Auffälligkeiten der jüngeren Generationen zu äußern), eher ein Zorn über den Verlust an Einfluss über eine eigensinnige Generation, wie sie es vorher nicht kannten. 

Denn wir dazwischen, wir, die wir still und leise unsere eigenen Leben leben, aber eben nicht auf die Straße gehen, wir haben das Spiel der Alten noch mitgemacht, bis wir in einem Akt des quiet quittings uns einfach davon losgesagt haben, als wir feststellen mussten, dass das System keinen Sinn mehr ergibt. Wir sind zwar aufgewachsen in einer übervollen Welt und konnten alles haben, aber davon wenig brauchen, allem voran nicht den Kernwert, den uns die vorige Generation überlassen hat: Wachstum, Wachstum über alles. Wir haben uns daran ausgebrannt und wollen jetzt vor allem eines: nicht bis zu unserem Tod arbeiten zu müssen. Denn Rente gibt es ja ohnehin nicht mehr, weil die Alten, die noch was hätten tun können, das ganze System an die Wand gefahren haben und es jetzt nicht gewesen sein wollen. 

Wie diejenigen, die mit dem neuen SUV vom Parkplatz aus mit Schmackes in den Blumenladen krachen, weil sie Vor- und Rückwärtsgang verwechseln.

R. übrigens, der neue Nachbar, kann allen nichts abgewinnen, sagt er. Alle, die dauernd für oder gegen etwas die andere Seite anbrüllen, weil sie einfach nur der eigenen Überforderung durch aggressiven Aktionismus etwas entgegensetzen wollen, seien ihm lästig. Er schätze ja sehr, sagt er und blickt lose hoch zu den neuen Fenstern, die wir vor kurzem mit lautem Gehämmere und Geklopfe haben einbauen lassen, seine Ruhe. 

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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