Alles außer Ahnung | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Einleben

Von der Front
November 20, 2023

Herbst schon wieder, und meine Gedanken wie vom Winde verweht: überall, nur nicht hier. Ich versuche noch, meine Gefühle für die alte Heimat festzuhalten; gleichzeitig frage ich mich, ohne eine Antwort in mir zu finden: wie werde ich mich fühlen, wenn ich hier angekommen sein werde?

Wobei: angekommen bin ich ja. Die Möbel stehen, die Schränke sind eingeräumt, die gröbste Unordnung ist beseitigt, nur wenige Dinge suchen noch ihren Platz. Und auch verabschiedet bin ich irgendwie: die alte Wohnung ist gewienert übergeben, nur in der Garage stehen noch ein paar Sachen für den Wertstoffhof; und die Menschen dort habe ich so oft zum letzten Mal umarmt, dass sie sich schon gewundert haben, ob das mit dem Umzug nur ein Hoax war. 

Warum also fühle ich mich hier noch nicht eingelebt? 

Das fragen die Leute nämlich dauernd jetzt: Habt Ihr Euch schon eingelebt? Auf Instagram, über WhatsApp, in Telefonaten, selbst bei Gesprächen mit den fast noch unbekannten Nachbarn, die aber den spektakulär rasanten Einzug bezeugen können: Seids scho eigleebd?

Was das wohl heiße, frage ich den Göttergatten, sich einleben. Wann ist man so eingelebt, dass man nicht mehr nur ankommt? Und ist das ein anderer Punkt bei ihm als bei mir, weil ich die Stadt, die Leute, die Geschäfte und irgendwie alles schon kenne? Gibt es ein Punktesystem, eine Skala von Da bis Hier, an die man das Herz anschließen kann, so dass objektiv gemessen werden kann, ab wann nostalgisches Vermissen nur noch Fernweh genannt werden wird?

Der Göttergatte zuckt nur mit den Schultern und sagt: "Vielleicht ist man eingelebt, wenn man sich nicht mehr verläuft in der Nachbarschaft." 
"Vielleicht", sage ich, "wenn man blind in die seit dem Umzug siebenmal umgeräumte Besteckschublade greift und sofort das richtige Kneipchen erwischt." 
"Kneipchen", sagt der Göttergatte.
"Kneipchen", sage ich und: "Oh je."

Vielleicht muss man sich die alte Heimat auch erst ordentlich ausleben, bevor man die neue Heimat drüberleben kann. Vielleicht muss man dem Gehirn Worte wie Kneipchen und Kolter auswaschen, bevor sich das hiesige Vokabular einnisten kann. Wie viel Schäuferla und Schdaddwoschd muss i neischbachdln, um Äppler und Ahle Worscht hinter mir zu lassen?

Ist ja auch keine Sehnsucht in mir nach der kleinen Stadt. Ich will nicht zurück in die alte Wohnung, die zwar hübsch, aber ohne uns zuletzt nicht nur leer, sondern ganz traurig aussah (und überraschend renovierungsbedürftig an manchen Stellen). Ich will vielleicht zurück zu den Menschen dort, aber nicht in die kleine Stadt, in deren Straßen und Gässchen ich mich so arg hineingelebt hatte, dass mir schon ganz phlegmatisch war. 

Nicht dass mir das Aufraffen hier leichter fiele, aber hier springt einen die Arbeit überall an. Der Dachboden, wo Übriges provisorisch verstaut wurde, wartet auf Ordnung, der Garten legt mir auch schon den rotgoldenen Laubteppich aus. Eine Arbeitsstelle will gefunden und Text für ein neues Theaterprojekt will gelernt werden. Ich will und muss noch einige Kontakte knüpfen, zwei Vereine will ich mir noch anschauen; und vom nahenden Weihnachten und Silvester will ich gar nicht anfangen. Wir wissen nicht mal, wo der überdimensionierte Ficus stehen soll, wohin mit einem Weihnachtsbaum?

Und trotzdem will ich lieber zurückblicken, will irgendwie den Jahren in der baldigen Fremde einen würdigen Abschluss geben, eine herzwärmende Geschichte erzählen, während gleichzeitig die Natur selbst mit Flugblättern um sich wirft, auf denen ein sehr deutliches Memento Mori zu lesen ist. Gedenke deiner Sterblichkeit und vergeude nicht deine Zeit damit, etwas festzuhalten, was dir ja doch durch die Finger rinnt. Asche zu Asche, Laub zu Laub. 

Überhaupt, welch Luxus, dass ich mich nicht nur bequem in einer frisch renovierten Wohnung einleben darf, sondern auch ganz gemütlich aus der alten Heimat ausleben konnte. Abschiede noch und nöcher, immer wieder versichernd: Wir sind noch da, wir sind noch nicht fort, wir bleiben noch ein Weilchen. Trauert nicht um unseren Fortgang, denn wir gehen ja noch nicht. 

Wie viele Menschen haben diesen Luxus nicht? Wie viele brechen nicht ein ganzes Jahr lang ihre Zelte ab, sondern haben nur Wochen, vielleicht nur Tage, gar Stunden, bevor ihr altes Leben implodiert und nichts davon mehr für sie erreichbar ist? Werden auch sie gefragt in einer Heimat, die sie sich nicht vor Jahren und Jahrzehnten schon ausgesucht haben, ob sie sich denn jetzt schon eingelebt hätten? Ob sie ihre alte Leben denn schon endlich losgelassen hätten und die Hoffnung, dass jemals wieder irgendwas so werden könne, wie es einmal war? Sie sind wie Laub von den Zweigen ihres Lebens gerissen worden und liegen nun willkürlich in die Welt geworfen, teils Spielball der Winde, teils der Gravitation, und haben keine Wahl, keinen Einfluss.

Vom neuen Balkon aus schaue ich in den Himmel und sehe den wild fortgepusteten Blättern nach. Manche zieht eine Böe bis weit über die benachbarten Dächer in die nächste Straße oder sogar noch eine Kreuzung weiter. Die Blätter sind hilflos, taumeln durch die Lüfte so arg, dass ich, so bewegt mich mein Abschied doch hat, froh bin, dass mir dieses Trudeln erspart geblieben ist. Dass ich mir den Ort, an dem ich fortan leben wolle, selbst habe aussuchen können. 

Ob wir uns nun also schon eingelebt hätten, fragt K per E-Mail. Sie habe über Umwege erfahren, dass ich zurück in die Heimat gezogen wäre und dass sie das ja schon immer gewusst habe. Seine Wurzeln vergesse man ja dann doch nicht. 

Ich gebe auf und schreibe zurück: Wir suchen noch ein bisschen nach unserem Platz, aber im Großen und Ganzen, ja doch, leben wir uns ein.

Letzte Runde

Pöm
Oktober 31, 2023

bedeute mir 
nicht mehr die Welt
reiß aus mir 
das verwurzelte Herz

die Straßen leeren sich
und die Bäume schweigen
die Sonne fällt und
die Sterne haben frei

wir teilen uns
keinen Himmel mehr
wir blicken auf einander
fremde Wolken

ich vergesse
uns
wenn ich gehe
nicht ganz



17, fast 18 Jahre Heimat lassen sich nicht einfach ablaufen, sie sind eingraviert in die Synapsen, bleiben Phantomfühlungen der Papillarleisten und hallen nach in der Attosekunde zwischen Sys- und Diastole. Ich gehe weiter und mein Herz bleibt stehen, ich gehe weiter und will doch bleiben. Ein Blick zurück ist nie genug. Darum vielleicht blicke ich so wenig wie möglich zurück.

Ein Fehler, sagtest du vor Langem, sei dieser Umzug, und doch freutest du dich für mich. Ich freue und bereue, ich fürchte mich und weine um die Heimat, die letzten 17, fast 18 Jahre, die Menschen, das Lachen, das Miteinander, die viele Vergangenheit, die nie wieder Gegenwart sein wird. Ich hoffe viel in diesen Tagen, schmiede Pläne und schüre meine Erwartungen und will gleichzeitig nicht loslassen, will nichts loslassen, doch die Entscheidung hat sich schon gefällt, da wusste ich noch nicht von 17, 18 Jahren Heimat in der Fremde.

Noch bin ich nicht fort, sage ich, noch bin ich da, lüge ich, und doch wissen wir: wir teilen uns keine Zukunft.

Danke für alles ♥️

Komfortunkonform

Von der Front
Oktober 13, 2023

Mal was Neues ausprobiert: ein Casting für die Teilnahme an einer Inszenierung. Ungewohnt, wenn man üblicherweise bei Stückwerdung mitgedacht wird. Andererseits ist das ja auch ein erwünschter Nebeneffekt des Umzugs: das Verlassen der Komfortzone, das Dazulernen, das Wachstum. Ein neuer Mensch werden. Oder zumindest weniger bequem. 

Neulich habe ich einen Text mit dem Titel "Froschsuppe" angefangen, der einerseits beschreiben sollte, wie überraschend widerstandslos das Patriarchat im alten Damals hingenommen wurde, und andererseits, wie ich mich irgendwann im letzten Jahrzehnt aufgegeben habe; aber schon bei der grundsätzlichen Frage nach Froschsuppe hat es den Text zerlegt.

Stellt sich nämlich raus (ja, jemand - nicht ich - hat das in Versuchen nachgewiesen): Selbst Frösche sind nicht so bequem, einfach stillzuhalten, wenn man das Wasser zu sehr erhitzt. Nur wir Menschen lassen uns so sehr einlullen, dass wir aus einer für uns schädlichen Situation nicht rechtzeitig fliehen. Wir warten bis zur allerletzten Sekunde. Oder länger.

Vielleicht, weil wir uns anmaßen, intelligenter als Frösche zu sein und uns darum eine größere Problemlösekompetenz zusprechen. Vielleicht auch, weil wir uns für märtyrerhaft leidensfähiger als Frösche halten. Wir sind keine Weicheier und erst recht keine Warmduscher, wir bleiben auf unserem verlorenen Posten, bis die Polkappen schmelzen.

Ist ja bald soweit. 

Jedenfalls: Casting. Wie Vorstellungsgespräch, nur bewegter und mit Rumschreien. Auch ungewohnt; ist ja so gar nicht meins, das Rumschreien. Meine Rollen waren ja eher immer kontemplativ, vergeistigt, über den Dingen stehend, manchmal sogar schwebend. Und dabei hyperintellektuell vom Rand aus kommentierend. Quasi mich selbst spielend. 

Beim Casting stand ich da als unbeschriebenes Blatt. Die Menschen, die ich beeindrucken wollte, hatten mich noch nicht spielen sehen. Oder vielleicht doch, weil ich ja selten nicht spiele. Ich will ja, dass Menschen mich mögen, darum neige ich dazu, jemand zu sein, der ich nicht bin. Wie wird das wirken auf Menschen, die mich kennenlernen wollen?

Stellt sich raus, sie wollen mich vor allem fordern. Meine Szene, die ich erbost und unverkopft interpretiert habe (also sehr nicht-wie-ich), soll ich nochmal spielen und nochmal, introviertierter, extrovertierter. Ich ahne rückblickend, dass es darum ging, meine Reichweite auszuloten, und ich spüre währenddessen, wie unangenehm, ja unbequem mir das ist. 

Sie wollen mich in Rage sehen, als wäre ich tödlich beleidigt worden; statt aber auf mein lahmes Kindheitstrauma zurückzugreifen, gerate ich in die Panik des Schultheaters von vor über 25 Jahren, als ich vor lauter Kontrollaufgabe auf der Bühne beinahe jemanden körperlich verletzt hätte, wenn ich mich nicht in letzter Sekunde wieder gefangen hätte. 

"Du hältst dich zurück", bekomme ich als Feedback, obwohl ich mich so sehr provozieren und laut werden lassen habe, wie ich es aus meiner mühsam antrainierten Egalität gegenüber allem Echauffierenden heraus zulassen kann. "Du hältst dich zurück". Und ich antworte, wie es nun mal der Wahrheit entspricht: "Natürlich."

Klar halte ich mich zurück, denke ich spontan, irgendwer muss es ja tun.

Seltsamer Gedanke, denke ich später ausführlicher. Wieso muss gerade ich zurückgehalten werden? Die Welt ist voll mit Leuten, die sich nicht zurückhalten, die ihren Schmerz, ihren Hass, ihren Missmut, ihre Menschenfeindlichkeit, ihre generelle Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation in die Welt hinauskotzen.

Gerade eben wurde die AfD in zwei weiteren Bundesländern in den Status der größten Oppositionspartei gewählt. Eine Partei, die offen rechtsradikal ist, gegen Minderheiten aus dem gesamten verfügbaren Spektrum hetzt, die zu Gewalt gegenüber Menschen mit anderer Meinung aufruft; und ausgerechnet ich muss mich zurückhalten? 

Ebenso gerade eben hat die Hamas Israel überfallen; und bei aller möglichen Kritik an den Entwicklungen in der Palästina-Frage ist Terror die falscheste aller Antworten. Befeuert von religiösem Fanatismus und aus Angst vor Machtverlust nimmt die Hamas den Tod Tausender Menschen auf beiden Seiten in Kauf; und ausgerechnet ich muss mich zurückhalten?

Natürlich ist das sehr bauchnabelig im Vergleich zu dem Abgrund, auf den die Welt gerade sehenden Auges hinzu torkelt; aber mehr als mich selbst kann ich kaum beeinflussen - und selbst das ist schwierig. Vielleicht ist aber auch dieses Gefühl - dass ich selbst so unwichtig bin, dass es überflüssig ist, mich selbsttherapeutisch zu beschreiben - Ausdruck meiner Zurückhaltung. 

Offensichtlich jedenfalls hat eine kleine Bemerkung (fast wie nebenbei gesagt) in mir einen Nerv getroffen, der sich seither gar nicht mehr beruhigen will, weil es ja so scheußlich nah an der Wahrheit ist, dass man glauben könnte, die Person am anderen Ende der Botschaft kennte einen tatsächlich und sei nicht einfach nur eine erst eine Stunde alte Bekanntschaft. 

Andererseits interpretiere ich da vielleicht viel zu viel hinein, weil das Gehirn nun mal Muster im Chaos der Welt erkennen will, um alles zu sortieren und kategorisieren und damit irgendwie zu verarbeiten. Das Gehirn will auch nur seine Ruhe haben, wie ein ganz normaler Frosch. 

Andererseits andererseits halte ich mich ja tatsächlich zurück, nicht erst im Casting, nicht erst im letzten Jahr, nicht erst im letzten Jahrzehnt oder überhaupt in diesem Jahrtausend. Ich halte mich zurück, weil es mir (auf den ersten Blick) nicht geschadet hat. Und weil Zurückhaltung auch gesamtgesellschaftlich gewollt oder zumindest akzeptiert ist.  

Die letzten siebzehn, fast achtzehn Jahre beispielsweise habe ich in einer Kleinstadt gelebt, die ihre eigene Exzellenz predigt, in Progressivität allerdings eher unterperformt. Genau so lange hat die unionsgeführte Deutschlandverwaltung einen kaum abbaubaren Aufholbedarf geschaffen und uns gleichzeitig eingebläut, wie spitze alles ist. 

Mich beschleicht der Verdacht, dass nicht nur ich gelernt habe, Mittelmäßigkeit akzeptabel zu finden. Ist ja auch praktisch: wer sein Potential nicht ausschöpft, wer sich absichtlich kleiner macht, hat immer die perfekte Ausrede, wenn Dinge nicht funktionieren. Und wer aus Versehen zu ehrgeizig arbeitet, wird schon mal gebremst, damit die Kollegys nicht faul wirken.

Ich bin natürlich versucht, das Patriarchat als Schuldigen für diese Einstellung auszumachen, weil das Patriarchat (so wird es mir zumindest unterstellt) mein Lieblingsgegner in allen Fragen ist. Und es käme dem Patriarchat auch zupass, wenn alle ihre aktionistischen Regungen eher einhegen statt dauernd nach Revolution zu schreien. 

Stellt sich raus: das Patriarchat ist nicht an allem schuld; wenngleich es durchaus von der Bequemlichkeit der Eingelullten profitiert: Zuviel Enthusiasmus beim Hineinschleichen ins 21. Jahrhundert könnte zu unkontrollierbarem Pragmatismus führen, gar zu Improvisation oder Innovation. Und dann aus Versehen zu modernisierenden, machtkostenden Reformen. 

Wahrscheinlich sind wir auch ohne Patriarchat gerne bequem. Warum sich anstrengen, wenn das meiste auch so geht? Wozu über sich selbst hinauswachsen, wenn die Klamotten auch von allein zu eng werden? Warum nicht alles dem Zeitablauf überlassen? Manches hat sich in einem Monat oder drei Jahren oder nach der Sintflut eh von selbst erledigt.

Weil es natürlich um mehr geht. Darum, sich nicht aufzugeben.

Ich begnüge mich damit, einem Bild zu entsprechen, das ich mir als Kompromiss zwischen Authentizität und Anstoßlosigkeit etabliert habe. Ich finde die Realisierung meines Selbstbildes so mühsam, dass mich dabei ertappe, es lästig zu finden, für mich selbst zu kämpfen. Mühsam aber nicht nur wegen der potentiellen Meinung anderer, sondern meinetwegen.

Dass ich mich bei den Schriftstellern aussortiert habe, gehört da ebenso dazu wie der Nagellack, den ich für die Premiere des Antipatriarchatsstücks aufgetragen und direkt nach der Feier wieder entfernt habe. Dass ich lieber meine uralte Strickjacke zum xten Mal flicke, als mir endlich den flamboyanten Kram zu kaufen oder zu nähen, den ich eigentlich tragen will. 

Ich habe keine Lust auf eine mögliche Diskussion darüber, wer ich bin und wie ich mich ausdrücke, zumal ich die drohende Ablehnung mehr als zur Genüge kenne; diese Lustlosigkeit aber äußert sich nicht in einer Fuck-you-Haltung, sondern in einem andauernden Fuck-me. Statt den anderen mich selbst zuzumuten, halte ich mich einfach zurück.

Natürlich verrate ich damit mein Lebensziel, so echt, so authentisch und so unbequem wie möglich oder nötig zu sein. Aber es ging ja auch immer so; und ein bisschen war ich ja auch echt, authentisch und unbequem. Zumindest in der sozialen Blase, in der ich mich so sehr sicher gefühlt habe. Da habe ich nie daran gezweifelt, dass mir das reichen könnte. 

Nie wirklich gezweifelt. 

Natürlich war ich mir unterschwellig ständig dessen bewusst, dass ich unter meinen Möglichkeiten performe; nicht nur auf der Bühne, nicht nur in beruflichen Aspekten. Ausbildungen, die ich mir schlechtgemacht oder rational ausgeredet habe. Jobs, für die ich mich nicht tauglich genug fühlen wollte. Ich lag weichgekocht in lauwarmem Wasser.

Den Gedanken daran, dass ich zu mehr befähigt sein könnte, dass vielleicht sogar jemand an meinen Fähigkeiten interessiert sein könnte, habe ich ganz hervorragend wegprokrastiniert. Zur Not hilft da immer das Höllenloch Internet; gäbe es Wettbewerbe im Doomscrolling ... - nein, auch dafür hätte ich zu wenig Ehrgeiz für einen Spitzenplatz. 

Vor Jahren hatte ich eine Craniosakralmassage, und der Behandler meinte, er spüre eine große Spannung; ob es eine Blockade in meinem Leben gäbe. Natürlich hätte ich ihm damals sagen können, dass ich das selbst bin; bin aber vor lauter untätiger Liegerei einfach eingeschlafen. Beim Aufwachen war ich so verspannt wie lange nicht mehr davor oder danach. 

Die letzten Jahre hingegen habe ich mich zu sehr entspannt; das sehe ich nun aus der relativen Entfernung der halbneuen Heimat. Ich habe mich gehen lassen, habe mich aufgegeben, weil es mir um nichts mehr ging. Weil es mir schon lange nicht mehr um mich ging, sondern einfach nur darum, möglichst wenig Diskomfort zu verspüren.

Jetzt spüre ich nur noch meine Zurück/Fehlhaltung, aus der ich mich nicht rausprokrastinieren kann; auch, weil ich weiß, dass ich mich so sehr verloren habe, dass ich komplett gegen mein aktuelles Selbst gehen muss. Und da geht es natürlich um mehr als das Casting für eine Nebenrolle in einem mir unbekannten Stück eines Amateurtheaterensembles.

Da geht es um mein ganzes restliches Leben, das ich nicht einfach nur als Kaulquappe verbringen will, sondern vielleicht dann doch eher als überraschend selbsterhaltsorientierter Frosch. Vor allem, da ich mich ja hier in einem neuen Teich befinde, wo ich machen und tun und sein kann, was ich will und wie ich will.

Zumal ja auch ganz anders andererseits die Welt sich eh auf mehr Zumutung zubewegt. Hamas-Terror, Ukraine-Krieg, fragmentierte USA, ein fucking Viertel der Deutschen, das sich ganz empathiebefreit vorstellen kann, AfD zu wählen, weil es ihm offensichtlich scheißegal ist, welche realen Konsequenzen das für alle hat. Ach ja, und Klimawandel natürlich. 

Und ich halte mich selbst für die Zumutung, vor der alle anderen geschützt werden müssen.

Pfft. 

Cumulonimbus

Pöm
Oktober 9, 2023

gibt keine Ruhe mehr unter
der zu Stahlwolken geballten
Angst

sie verstellen sich
den eigenen Himmel mit
Sturm



Man will die Augen verschließen davor, dass ein Fünftel der Deutschen sich von gesellschaftszersetzenden Parolen nicht abschrecken lässt, sondern Hass, Lügen und Gewalt zumindest in Kauf nimmt, so lange man "denen da oben" eins auswischen kann. Wie beleidigte Teenager, die ihren Computer zerstören, weil die Eltern das WLAN abgeschaltet haben.

Man will naiv sein und hoffen, dass diejenigen, die rechts wählen, nicht rechts denken; aber die Alternative ist, dass sie, wenn sie schon nicht rechts denken, offensichtlich gar nicht denken, und das will man erst recht nicht hoffen. So naiv kann ich nicht sein, um mir nicht vorstellen zu können, wohin geistloses Taumeln führt.

Die Zeit für Naivität ist vorbei. Die Zeit für Passivität ist vorbei. Es muss allen klar werden, dass rechtes Wählen in einem Abgrund mündet: langsam mit der Union, abrupt mit der AfD, erratisch mit der FDP.

Die Zeit für geschlossene Augen ist vorbei. Ist lange vorbei. Jetzt zu handeln, heißt vielleicht zu spät handeln, heißt: jetzt unbedingt handeln. Wird sich jetzt nichts ändern, werden wir lange nicht beruhigt die Augen schließen können.

Und nein, keine Ahnung, wie der Bann gebrochen werden kann, der Rechtsextreme als Staatsträger tarnt. Keine Ahnung, wieso Menschen sich in der Hoffnung auf Trost Hasspredigern anschließen. Ich verstehe nicht, wie Menschen vor solch grauenhaften Offensichtlichkeiten die Augen verschließen können.

So naiv kann ich nicht sein zu hoffen, dass sie sich verwählt haben. Und so muss ich fürchten, dass all jene, die vorgeben, nur besorgt oder verängstigt zu sein, in Wahrheit blind dafür sind, dass ihre Schläge gegen die Welt letztlich sie selbst treffen.

All jenen, die die Wahl gestern (und die Wahlen zuvor) (erneut) erschüttert haben sollte, bleibt nur ein Trost: es gibt noch das Entsetzen, noch ist es unfassbar. Noch sind wir, die an Mitmenschlichkeit glauben, mehr. Wir sind mehr.

Wunderland

Pöm
Oktober 7, 2023

die Sehnsucht dir
vom Kopf auf
die Bretter
die die Welt

der Vorhang
dir auf den Fuß
des Berges
deiner Träume

schrick nicht vor
dem Unsichtbaren
das das Sichtbare
in sich

mit lachendem und
weinendem
dir eine Heimat

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
mit Erkenntnisgewinn.
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