Yelda | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Der Erste von fünf

Yelda
November 30, 2010

Tatsächlich hatte mein Plan darin bestanden, Remde als Boten zu benutzen. Ich war froh, dass er diese Rolle so bereitwillig annahm, ohne zu wissen, dass er am Ende auch von mir als Werkzeug benutzt wurde. Aber er hatte mir ja selbst geraten, ihm nicht zu trauen.
Zunächst hatte ich befürchtet, er könnte mich angreifen wollen, um mir meine Kraft zu rauben und dadurch von Saphir, Rubin und Korund unabhängig werden zu können. Ich war mir aber sicher, dass er mir nicht geglaubt hatte, dass ich mich selbst in der Lage sah, über die Drei zu triumphieren. Mir konnte das gleich sein, das Wichtigste war geschehen, denn entweder als meinen Verbündeten oder als meinen Gegner hatte ich Remde in die jenseitige Welt schicken wollen. Ich glaubte nicht, dass er bei einem Angriff der Drei auf mich teilnehmen würde, im Gegenteil würde er das gleiche tun wie Mandu und all seine Magie nutzen, um sich zu verstecken, denn das war Mandus Spezialität gewesen und ich bezweifelte, dass Remde dies nicht ausnützen würde, wenn es ihm genug Zeit schenkte, vielleicht die Kraft anderer Jenseitiger aufzunehmen.

Zunächst aber würde er die Drei von sich ablenken und auf mich hetzen. Ich war mir nicht sicher, wie viel Zeit ich haben würde, darum wob ich den ersten meiner letzten fünf Zauber. Ich konzentrierte mich auf die Ströme von Kraft und Leben, und dieses Mal war es das erste Mal, dass ich sie in ihrer vollen Stärke in und um Tharb sah. Vorher hatte meine unvollständige Verbindung mit der Quelle meine Wahrnehmung gestört, jetzt aber, da ich erkannte, wie tief meine eigene Kraft reichte, und wo sie an die Grenzen der Wirklichkeit und darüber hinaus reichte, erkannte ich, dass der Felsen unter der Stadt, unter der Erde und allem Boden so unglaublich tief reichte, dass ich sein Ende nicht erfassen konnte. Als ich den Wurzeln der Kraft nachfühlte, erkannte ich viele hundert Kraftfäden, die wie der Fels selbst aus dem Boden kamen und sich in einem weiten Kreis um den Inneren Kreis von Tharb verflochten, an der selben Stelle, an der der Mauerkranz die Stadtteile voneinander trennte. Und ich spürte, dass es dort sein musste, dass ich dort sein musste, wenn ich den Dreien begegnete. Gleichzeitig aber wusste ich, dass ich die Kraft nutzen könnte, dass ich sie auch nutzen musste, wenn ich Erfolg haben wollte.
Und ich nutzte sie für alle meine fünf Zauber. Ich verband mich mit den Fäden und spürte auch, wie sie auf mich reagierten. Wie Blumen und Blüten sich nach der Sonne ausrichten, die über ihnen ihre Bahn zieht, so streckten auch all jene, die mit den Fäden in Berührung standen, ihr Bewusstsein nach mir aus, und sie konnten hören, was ich ihnen auftrug: „Verlasst die Stadt, denn ein Unheil zieht auf, eine Schlacht zwischen Hell und Dunkel, und es wird kein Überleben geben in diesem Kampf für jene, die menschlich sind. Verlasst die Stadt und nehmt alle mit, die Ihr liebt und um deren Wohl Ihr Euch sorgt. Verlasst die Stadt und flieht am Fluss entlang zu seiner Mündung. Verlasst die Stadt, denn die Stadt geht unter.“ Mit an diese Botschaft knüpfte ich die überzeugende Erkenntnis, dass die Zeichen eindeutig waren, dass mein Erwachen im Todesturm ein Zeichen gewesen war und der Kampf gegen Remde ein weiteres.  Ich wusste nicht, ob tatsächlich alle dieser Botschaft folgen würden, doch ich wusste, dass genügend Menschen in der Nähe gewesen waren, als ich gegen Remde gekämpft hatte. Sie würden ebenfalls die Nachricht weitergeben, dass ein Kampf stattgefunden hatte. Ich wusste nicht, wie viel Zeit ich haben würde, ich wusste auch nicht, was ich tun konnte, um möglichst wenig Menschen zu verletzen, doch andererseits wusste ich auch, dass ich keine andere Wahl hatte. Ich musste die Drei und neben ihnen auch alle anderen Jenseitigen ihrer Stärke entheben, ich musste verhindern, dass sie, selbst wenn sie mich besiegten, die Herrschaft über die Menschen übernehmen würden. Ich wusste, sie würden es können, wenn sie erst einmal Remdes Vorschläge für mich erkennen würden.

Ich blickte mich um. Der Platz, an dem ich stand, war übersät von den Spuren des Kampfes zwischen mir uns Remde. Ich suchte nach einer Spur von Baneh, dessen Körper in Flammen und Rauch aufgegangen war, doch ich fand nichts. Für einen Moment überwältigt vor Trauer stand ich nur da und ließ die Tränen, die ich seit seinem Tod zurückgehalten hatte, endlich über mein Gesicht rollen. Ich erinnerte mich an Antejars Worte: dass im Krieg Menschen starben, die mit dem eigentlichen Kriegsgrund, mit den Zielen derjenigen, die den Kampf begonnen haben, eigentlich nichts zu tun haben, außer dass sie zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort waren. Baneh war eindeutig ein solches Opfer, denn er hatte mich nur verteidigen wollen in einer Situation, die mit ihm überhaupt nichts zu tun hatte.
Ich dachte an Bamar, der seinen Bruder, kaum dass er aus seiner Geistesstarre erwacht war, schon verloren hatte. Ich hoffte, dass er irgendwann die Kraft finden würde, mir und seinem Bruder dessen Tod zu vergeben. Bis dahin aber blieb mir nichts anderes als hoffen.
Und dann spürte ich eine Bewegung in den Kraftfäden des Felsens. Stimmen und Worte, Gedanken und Rufe nahm ich war, und als ich genauer hinhörte, ein vielstimmiges Gewirr, dessen Grundgedanke nur ein einziger war: Wir haben verstanden. Wir werden die Stadt verlassen.

Remdes Wandlung

Yelda
November 30, 2010

Undeutlich erinnere ich mich daran, wie Antejar Bamar fortbrachte. Der Junge weinte und schrie und schlug nach dem Schiffahrer, der ihn aber ohne Zögern mit sich hinwegnahm. Als ich Antejar lange Zeit danach wiedersah, berichtete er mir, wie schrecklich es für Bamar danach geworden war, wie unverständlich es für ihn war, dass sein Bruder sich eingemischt hatte, und dass sein Platz immer an Bamars Seite hätte sein müssen. Er, Antejar selbst, habe sich in den folgenden Jahren abwechselnd Vorwürfe gemacht und sich von ihnen freigesprochen. Nie habe er den Jungen festhalten können, er habe nicht mehr damit rechnen können, dass Baneh sich in unseren Kampf einmsichen würde.
Ich versuchte, ihn zu beruhigen, doch fielen mir nur wenige Worte ein, die ich ihm hatte sagen können. Es sei nicht seine Schuld, er könne sich die Verantwortung dafür nicht geben. Der einzige, der wirklich verantwortlich für Banehs Tod war, war Remde. Niemand, nicht einmal ich, die ich nur den Bruchteil eines Augenblicks vorher gespürt hatte, dass Remde Magie gegen den Jungen einsetzen würde, hatte noch etwas tun können.
Bamar sah ich nie wieder. Antejar berichtete mir, dass er zwar mit dem Schiffahrer noch viel herumgereist war, doch irgendwann habe ihn die Erinnerung an seinen Bruder, die er für immer mit Antejar verknüpfte, nicht mehr ertragen können, und sei weiter nach Norden gegangen. Später habe ihn noch einmal eine Nachricht von Bamar erreicht, in der er schrieb, es gehe ihm besser, er arbeite wie Antejar als Bootsführer für den Herrscher des Landes, in dem er lebe. Ich habe nie versucht ihn zu finden, denn ich ahnte, dass er nicht glücklich über meinen Besuch gewesen wäre.

Ich war wie betäubt. Remde hatte vor meinen Augen einen Menschen getötet. Und nicht nur irgendeinen Jungen, sondern Baneh, der mir vertraut hatte. Baneh, der langsame, aber herzensgute Junge, der sein ganzes Leben seinem Bruder gewidmet hatte, und der jetzt erst ansatzweise frei zu werden begann, hatte seine Treue und seine Freundschaft zu mir mit dem Leben bezahlt. Remde hatte ihn getötet, ein Mann, den ich meinen Freund genannt hatte, und der mich offen in Gegenwart des Jungen bedroht hatte. Und ich hatte nichts getan, um ihn zu retten. Alles was ich jetzt noch tun konnte, war ihn rächen.

Doch als ich Remde ansah, als ich seinen Blick sah, der so ungläubig, so entsetzt aussah, erinnerte ich mich an den Ekel, an den Selbsthass, den er verspürt hatte, als er Mandu vernichtet hatte.
„Ich wollte das nicht.“ Remdes Worte waren leise, kaum zu hören, doch die Stille, die uns umgab war so vollständig, dass ich ihn gut verstand. Und ich verstand auch, dass es wirklich nicht in Remdes Absicht gewesen war, Baneh zu verletzen. „Ich wollte das nicht.“
„Ich verstehe, dass Du es nicht wolltest.“
„Ich wollte doch nur, dass er aufhört. Ich habe die Kontrolle verloren.“
„Ach, Remde.“ Das war alles, was ich sagen konnte, denn eigentlich wollte ich ihn anschreien und meine Wut und meine Angst und meinen Schock und meinen Verlust einfach herausbrüllen, obwohl ich wusste, dass es nicht nur nichts mehr daran ändern würde, dass Baneh unwiederbringlich verloren war, sondern dass es vielleicht alles noch schlimmer gemacht hätte.
„Ach, Yelda. Es ist alles wahr. Sie haben mich benutzt! Sie haben mich zu ihrem Werkzeug gemacht, das nur eines kann: töten und vernichten. Ich bin das, was sie von Dir erwarteten: eine Waffe, die sie gegen ihre Feinde einsetzen könnten.“
Ich kniete mich neben ihn und wollte meine Hand auf seine legen, doch er wehrte mich ab.
„Du solltest mir nicht vertrauen. Ich würde es auch nicht tun. Ich habe nur begrenzt Kontrolle über meine Kraft. Sie haben mir nicht alles verraten, sie haben mir gesagt, ich müsste Deine Kraft an mich nehmen, um meine …“ Er machte eine Pause, in der er seine Hände auf sein Gesicht drückte.
Er hatte recht, das wusste ich, wenn er mich warnte, mich ihm zu nähern ohne vorsichtig zu sein. Also legte ich einen Schild um mich, der alles, was er gegen mich richten konnte, auf ihn zurück würfe.
„Ich müsste Deine Kraft an mich nehmen, um Mandus Kraft vollständig zu meistern. Ich habe ihre Kraft an mich genommen, aber ich habe auch ihre Erinnerungen. natürlich wusste ich, dass sie geflohen ist, ich wusste, dass sie eine Verfolgte war und ich verstand auch endlich ihre Motive, als sie Dich sterblich machen wollte.“
„Mandu hatte Angst.“
„Ja. Sie hatte Angst, und Du solltest sie auch haben. Die Drei sind entschlossen, Dich zu vernichten, sie werden nicht eher ruhen, bis sie ihr Ziel erreicht haben.“
„Wir können sie besiegen.“
„Nein. Keiner kann sie besiegen. Sie sind drei der mächtigsten Jenseitigen. Smaragd, den Du als Terno kennst, war mächtiger als sie es sind, und durch seinen Tod sind sie nur stärker geworden.“
„Sie haben ihn nicht besiegt, weil sie stärker gewesen wären als er. Terno hat sich geopfert, um mich zu retten.“
Remde blickte auf. Überraschung überzog sein Gesicht. „Hat er das wirklich?“
„Er hat mir einen Teil seiner Kraft gegeben, damit ich wieder in die wirkliche Welt zurückkehren kann.“
„Wenn das stimmt, dann könnte es sein, dass sie doch besiegbar sind.“
„Das sind sie. Warum sonst haben sie mich wohl nicht angegriffen, seit ich wieder in dieser Welt bin? Ich bin ein leichtes Ziel, so wie Du mich gefunden hast, könnten auch sie mich finden. Sie haben Angst vor mir. Sie wissen, dass ich sie in dieser Welt so sehr schwächen kann, dass sie nicht mehr in der jenseitigen Welt Stärke finden könnten.“
„Wie sicher bist Du Dir damit?“
„Sehr. Ich erkenne die beiden Welten besser, seit ich in beiden verankert bin. Ich habe durch den Kampf mit Rubin, Saphir und Korund meine Fähigkeiten besser verstanden und entwickelt. Sie können mir hier nicht mehr viel anhaben, denn da ich einen sterblichen Körper habe, bin ich hier stärker als sie, die einen Teil ihrer Kraft dafür aufwenden müssen, sich einen Körper zu erschaffen.“
„Aber wenn sie das wissen, wie willst Du sie dann besiegen? Sie würden sich nie wieder in Deine Reichweite begeben!“
Remde sah mich interessiert an, und ich musste zugeben: „Ich habe keine Ahnung, wie ich sie in diese Welt zwingen kann, und Du hast sicher recht, dass ich sie in ihrer Welt nicht besiegen kann.“
„Was also nun?“
„Ich habe einen Plan. Und dazu müssen sie nicht hier sein. Ich werde einfach die Spielregeln ändern. Ich weiß wie, ich weiß, was getan werden muss. Und ich muss nur noch wenig vorbereiten, damit ich meinen Plan umsetzen kann. In zwei Tagen bin ich bereit, die Existenz von Saphir, Rubin und Korund für immer zu beenden.“
„In zwei Tagen bereits?“ Remdes Augen verengten sich für einen Moment. „Was wirst Du tun?“
„Ich werde einen Zauber mit den anderen magisch begabten von Tharb wirken, der sie in diese Welt zwingt. Sie werden sich nicht wehren können.“
„Und dann willst Du sie besiegen?“
„Dann werde ich sie besiegen. Bist Du an meiner Seite?“ Ich hielt ihm meine Hand hin.
Doch er sagte: „Nein.“
Und er verschwand vor meinen Augen.

13 | Die Drei

Yelda
November 10, 2010

Unter mir lagen wieder der See und das Dorf. Aus großer Höhe sah ich darauf hinab. Das Wasser glitzerte im Sonnenlicht, und ich konnte kaum glauben, dass ich diesen friedlichen Ort mit den leicht erregbaren Menschen beinahe vernichtet hätte. Ich sank tiefer, immer näher an den Boden, wo ich bald erkannte, dass die Hütten, die dem See am nächsten standen, Schäden davongetragen hatten, als der Nachhall des flammenden Baumes über sie hinweggezogen war. Die Männer und Frauen des Dorfs halfen einander, die Dächer zu flicken.
Ich hielt Ausschau nach Remde, denn ich hoffte, ihn irgendwo unter den Menschen des Dorfs zu erkennen, doch suchte ich ihn vergebens. Für einen Moment dachte ich, vielleicht sei er doch gestorben, bis mir bewusst wurde, dass Terno mich nicht belogen hatte, als er sagte, dass Remde überleben würde.

Meine Aufmerksamkeit und die einiger Menschen wurde auf den Waldrand gezogen, denn dort waren zwei Frauen und ein Mann erschienen. Der Mann trug einen langen blauen Mantel, die eine der beiden Frauen eine gelbe Hose und ein kurz geschnittenes Hemd in derselben Farbe, die andere einen langen Rock aus fließendem roten Stoff und darüber einen ebenso roten kurzen Mantel. Sie gingen ohne Zögern auf das Dorf zu, wo sich schon einige Menschen versammelt hatten. Bukon konnte ich nicht darunter entdecken. Als die buntgekleideten Fremden auf Rufweite herangekommen waren, rief ein großer Mann, der kein Hemd trug, sondern nur einen schweren Hammer: "Verschwindet!"
Ich war verblüfft. Waren das die gleichen Menschen, die noch vor wenigen Tagen vor mir auf dem Boden gelegen hatten? Ganz eindeutig hatten sie den Respekt vor jenen, die Bukon als Hohe bezeichnet hatte, verloren.
"Wir wollen Euch hier nicht. Verschwindet!" rief der große Mann erneut.
Doch die drei Neuankömmlinge machten keine Anstalten zu gehen. Im Gegenteil näherten sie sich weiter dem Dorf. Der blaue Mann schlug seinen Mantel auf, seine Kleidung darunter war ebenfalls blau, doch so dunkel, dass sie fast schwarz aussah. Das Licht spiegelte sich in dem Material, als er näher kam.
"Wir sind gekommen, weil wir jemanden suchen", sagte er  leise, und doch war seine Stimme so deutlich zu hören, dass selbst jene, die am weitesten weg standen, es gehört zu haben schienen.
"Wir suchen", sagte die gelbe Frau, "eine junge Frau. Sie ist vor einigen Tagen in dieses Dorf gekommen. Sie hat gestern einen Menschen verletzt und eine der unseren beinahe vernichtet."
"Wo ist sie?" fragte die Frau in Rot.
"Sie ist fort. Und ihr solltet ebenfalls verschwinden, wenn ihr wisst, was gut für Euch ist." Der Mann mit dem Hammer trat ein Stück vor. "Dies ist unser Land, wir werden nicht mehr zulassen, dass Fremde alles zerstören."
Einzelne Männer und Frauen, die hinter ihm standen, nickten.
"Droht uns nicht, wir haben Euch nichts getan."
"So lange Ihr immer noch in Sichtweite seid, werde ich diesen Hammer nicht aus der Hand legen."
"Wir werden gehen, wenn Ihr unsere Fragen beantwortet: Wohin ist die Fremde gegangen?"
"War sie alleine?"
"Was ist geschehen?"
"Verschwindet! Wir werden keine Fragen beantworten!" Der Mann mit dem Hammer trat noch einen Schritt auf die drei zu. "Ich habe Euch oft genug gewarnt. Wir wollen keine Fremden hier und wiaaaah ..." Sein Satz endete in einem gutturalen Schrei, als er auf die Knie fiel und sich das Handgelenk hielt. Die gelbe Frau trat einen Schritt vor und sagte: "Niemand droht uns."
Und die Frau in Rot rief, um die Schreie des Mannes zu übertönen: "Wohin ist sie gegangen?"
Doch die Menschen des Dorfs schwiegen. Sie waren ein Stück zurückgewichen und starrten auf den sich krümmenden Mann, dessen rechte Hand nun nicht mehr den Hammer umklammerte, sondern dessen Arm direkt in den Griff des Werkzeugs verwachsen war. Immer noch schrie er und noch immer kamen die Drei näher.
"Niemand wird leiden, wenn Ihr uns Auskunft gebt, wie wir es wollen."
"Und wenn nicht?" fragte ein junges Mädchen, die Stimme vor Angst bebend.
"Dann werdet Ihr wünschen, Ihr hättet uns nicht abgewiesen." Der Blaue lächelte sie an, dann schnippte er mit den Fingern, und das Mädchen fiel zu Boden und rührte sich nicht mehr. "Wird uns jetzt jemand antworten?"
Doch sie warteten keine Antwort ab, sondern verloren ihre Form, umflossen wie farbiger Rauch die Menschen, hüllten sie ein und drängten ihnen in Mund und Nase, Augen und Ohren. Ich wusste, sie brauchten nicht die Worte der Menschen, um zu erfahren, was mit mir geschehen war, und wer mich begleitete. Sie würden alles erfahren, was sie wissen mussten.
Dienjenigen, die vom Nebel berührt worden waren, brachen leblos zusammen, einige bluteten aus Augen und Ohren. Es tat mir weh, mitansehen zu müssen, dass das Dorf, das ich verlassen hatte, um es vor dem Schatten zu retten, nun von diesen grausamen Wesen zerstört wurde.
Hätte ich in diesem Moment einen Körper gehabt, ich hätte Tränen um diese Menschen vergossen und Tränen auch um mich, die ich den Untergang über sie gebracht hatte.
Und dann hörten sie einfach auf. Die farbigen Rachfahnen verdichteten sich wieder und zu dritt standen sie vor dem größten Haus des Dorfs. Die Tür stand offen, so dass ich hineinsehen konnte. Remde lag dort auf einem Lager aus Tierfellen. Er hatte die Augen geöffnet und sah die drei Fremden an.
"Willkommen", sagte er mit rauher Stimme. Eine Brandwunde bedeckte die linke Seite seines Gesichts und sein linkes Auge war schwarz verbrannt. Und als er weitersprach, war seine Stimme wie Rauch und seine Worte wie Flammen, die sich in meine Wahrnehmung brannten: "Ich heiße Euch willkommen. Mandu sagte Euer Erscheinen voraus. Lasst mich Euch helfen."

Als ich meine Augen öffnete, stand Terno am Rande des Steins und blickte in die Ferne. Ich stand auf und versuchte zu erkennen, was er sah, doch außer Bäumen und Büschen konnte ich nichts erkennen.
"Hast du gut geschlafen?" Terno blickte immer noch ins Leere und sah mich nicht an.
"Ich hatte eine Vision", sagte ich. "Zumindest fühlte es sich an wie eine. Aber ich glaube, dass sie die Wahrheit war."
"Das, was die Menschen Visionen nennen, sind zumeist die Wahrheit, wenngleich nicht immer, wie sie sich den Menschen später präsentiert."
Er sah mich an, und der Blick seiner strahlend grünen Augen wärmte mich wie die erste Frühlingssonne die Erde nach dem langen Winter wärmt. "Du bist beunruhigt. Was hast du gesehen?"
"Drei Wesen von deiner Art. Sie haben das Dorf zerstört." Ich musste mich zwingen, weiterzusprechen. "Ich glaube, sie haben Remde getötet."
"Du bist sicher, dass es kein Traum war?"
"Warum sollte ich so etwas träumen?"
"Träume spiegeln oft die Ängste der Menschen wieder. Nicht alles, was die Menschen träumen, erfreut sie." Er zog die Augenbrauen hoch und legte den Kopf schief. "In der Tat glaube ich, dass die wenigsten Menschen angenehme Träume haben."
"Es war kein Traum, ich bin mir sicher."
"Dann glaube ich dir. Und wenn im Dorf geschehen ist, was ich glaube, dann sollten wir bald weiter."
"Du sagtest, dieser Ort sei sicher."
"Er ist es noch. Doch die drei sind Wesen meiner Art, sie wissen, wo wir uns voreinander verstecken können."
"Das ist etwas, was ich dich ohnehin fragen wollte. Warum verfolgen sie dich?"
"Ein alter Streit. Auch wenn wir von der gleichen Art sind, heißt das nicht, dass wir die gleichen Dinge wünschen. Oder dass wir einander schonen, wenn es um ... Dinge geht, die uns am Herzen liegen."
Die Art, wie Terno das gesagt hatte, fand ich merkwürdig, doch ich beschloss, nicht weiter darauf einzugehen. Wir hatten dringlichere Aufgaben.
"Können die Drei uns aufspüren, wenn wir nicht an sicheren Orten sind?"
"Sie können unseren Spuren folgen, wenn wir welche hinterlassen."
"Dann müssen wir mehr auf Laub und weniger im Matsch gehen", sagte ich, als ich mich daran erinnerte, wie tief die Spuren gewesen waren, die ich am frühen Morgen hinterlassen hatte.
Zum ersten Mal lachte Terno, ziemlich unpassend, wie ich fand, andererseits sprang sein Lachen auf mich über und ich lächelte ihn breit an.
"Ich meinte andere Spuren. Natürlich könnten die Drei auch deinen Fußstapfen folgen, doch sie würden sich nicht damit aufhalten, wenn sie gleichzeitig auch dem Signalfeuer unserer Kraft folgen können."
"Aber ich benutze meine Kraft nicht." Und nach dem, was mir Terno in der Nacht gesagt hatte, wollte ich es auch nie wieder.
"Das ist wahr, allerdings müssen wir auch sicherstellen, dass deine Kraft nicht dich benutzt. Deine Visionen beispielsweise ..."
"Ich habe sie doch nicht absichtlich!" unterbrach ich ihn, doch er lächelte nur und sagte: "Das glaube ich dir auch. Du kannst sie aber auch nicht kontrollieren. So lange wir an sicheren Orten sind, sind sie ungefährlich, doch nicht immer werden wir einen solchen Ort vorfinden können."
"Dann werde ich mich stärker konzentrieren."
"Vergiss nicht, du hast jetzt einen sterblichen, einen erschöpfbaren Körper. Er wird Schlaf brauchen und deine Konzentration unterbrechen."
"Dann musst du mich wachhalten."
"Dann werde ich dich wachhalten." Er machte eine Pause und sah mich an. "Und ich werde dich lehren, deine Kraft zu kontrollieren."
"Mandu hat mich gelehrt zu lauschen und zu sehen."
"Das ist gut."
"Also hat sie mir doch nicht schaden wollen?"
"Das sind zweierlei Dinge. Sie hat dich unterrichtet, um sich selbst zu schützen. Sie wollte nicht, dass du entdeckt wirst."
"Oder, dass ich meine Kraft einzusetzen lerne?"
"Dass du deine Kraft überhaupt einsetzt. Sie wusste wahrscheinlich seit eurer ersten Begegnung, dass sie dir unterliegen würde, käme es zu einem Kräftemessen. Das konnte sie nicht riskieren."
"Und doch hat sie es letztlich getan."
"Ich glaube, sie wollte, dass dich der Schatten am Ende doch verschlingt, wenn sie dich schon nicht besiegen konnte."
"Mit dir hatte sie nicht gerechnet."
"Nein. Ich hatte meine Kraft vor ihr verborgen."
"Kannst du mich das auch lehren?"
"Ich kann und ich werde. Und ich muss, wenn wir unerkannt reisen werden."
"Wann fangen wir an?"
"Jetzt."

12 | Terno

Yelda
November 9, 2010

Wir rannten, und während wir rannten, überschlugen sich die Gedanken in meinem Kopf. Ich hatte meine Kraft mit der Mandus gemessen – und gewonnen! Ich hatte Remdes Leben gefährdet – und ihn beinahe getötet. Der Fremde kannte meinen Namen – und schien nicht daran zu zweifeln, dass ich ihn kannte. Und wirklich kam er mir vage bekannt vor, wie jemand, den ich gekannt hatte, und der sich in der Zeit, die wir uns nicht gesehen hatten, sehr stark verändert hatte. Das wiederum erschien mir seltsam, denn die einzigen Menschen, die ich jemals kennengelernt hatte, lebten in diesem Dorf. Noch zumindest, denn wenn der Fremde recht hatte, dann würde bald ein Schatten über das Dorf hereinbrechen und alles vernichten. Ich spürte, dass er recht damit hatte, und so hatte ich nicht lange gezögert, mit dem Fremden zu fliehen. Remde würde überleben, das zählte jetzt, da er bei meiner Auseinandersetzung mit Mandu verletzt worden war. Natürlich wäre ich lieber geblieben oder hätte ihn mit mir genommen, doch ich spürte, dass das nicht möglich war. Nicht nur, weil wir mit dem verletzten Remde nicht schnell genug gewesen wären, sondern auch, weil Remde nicht zu mir gehörte. Und nicht zu dem Fremden, der mir vertraut schien wie ein Teil meiner Selbst.

Die Nacht näherte sich der Morgendämmerung, als wir anhielten. Schon vor einiger Zeit hatte ich die Orientierung verloren, wichtig war, dass wir das Dorf so weit wie möglich hinter uns ließen. Ich vertraute der Führung des Fremden so wie ich Remdes Führung vertraut hatte. Beim Gedanken an ihn ergriff mich für einen Moment Bedauern und Scham, dass ich ihn verletzt hatte, doch dann sagte ich mir, dass die Schuld bei Mandu lag, die mich hätte freigeben können, die sich und Remde hätte unversehrt lassen können.
Der Fremde hatte sich auf einen umgestürzten Baum gesetzt und beobachtete mich.
„Du kennst meinen Namen“, sagte ich. „Wer bist du?“
„Erkennst du mich nicht?“
„Nein. Aber ich glaube, ich sollte es. Ich weiß, dass ich dir näher war, als ich es Remde oder Mandu jemals hätte sein können.“
„Mandu war ein machtvolles Wesen.“
„Ist sie tot?“
„Besiegt, aber nicht tot. Du hast gezeigt, dass du stärker sein kannst als sie, doch die alte Mandu ist zäh.“
„Kanntest du sie?“
„Ja, vor langer Zeit sind wir uns schon einmal begegnet. Aber das ist eine Geschichte, die ein andermal erzählt werden soll. Jetzt müssen wir über dich sprechen.“
„Und über dich. Wie ist dein Name? Ich kann Dich nicht grüner Fremder nennen.“
„Warum nicht? Ich hatte schon absonderlichere Namen.“ Ich konnte sein Lächeln spüren. „Nenn mich Terno.“
„Ist dies dein wahrer Name?“
„So sehr wie der deine Yelda ist. Namen sind nur Laute, die nichts mit den Wesen zu tun haben, die sie tragen. Ein Name, eine Wolke, ein Sonnenstrahl. Das Sein ist mehr als ein Name.“
„Du bist kein Mensch.“
„So wie du kein Mensch bist.“
„Ich bin sterblich, weil Mandu mich essen und trinken ließ.“
„Dein Körper ist darum sterblich. Dein Wesen allerdings ist es nicht. Dein Wesen steht immer noch außerhalb der Regeln dieser Welt.“
„So wie deines?“
„Mein Körper ist nur eine Hülle, die ich wähle, wenn ich in dieser Welt erscheinen muss. Mein Wesen aber bleibt außerhalb und unterliegt nicht den Regeln der belebten Welt.“
„Bin ich wie du?“
„Nein.“ Etwas hinter mir schien seine Aufmerksamkeit erregt zu haben. Ich drehte mich um, doch sah ich nichts. Terno stand auf. „Lass uns weitergehen. Wir können auch unterwegs sprechen.“
„Was hast du gesehen?“ fragte ich, als ich ihm folgte.
„Ich habe etwas gespürt, das uns folgt.“
„Ist es der Schatten? Mandu sprach von ihm, ich wurde von ihm in einer Vision verschlungen.“ Als er nicht gleich antwortete, fügte ich hinzu: „Du hast ihn am See erwähnt.“
„Was uns folgt, ist nicht der Schatten. Du hast recht, ich habe ihn erwähnt, auch wenn ich ihn nicht fürchte. Doch die Leben dieser Menschen bedrohte er, und darum mussten wir fliehen.“
„Warum folgt er mir? Was habe ich ihm getan?“
„Nicht ihm hast du etwas getan. Es ist die Welt, die du verletzt, wenn du deine Kraft einsetzt.“
„Ich verletze die Welt?“
„Du brichst ihre Regeln, du veränderst die Wirklichkeit. Wenn du einen Stein in eine Pfütze wirfst, veränderst du die Pfütze, Wellen breiten sich auf, Schlamm wird aufgewühlt. Keine Handlung bleibt ohne Folgen.“
„Ich habe eine Hummel geheilt.“
„Ich habe es gespürt. Die Hummel ist nicht mehr. Und nichts mehr, was um sie war.“
„Der entlebte Ort?“
„Ein Teil der Welt, der unter den Schatten gefallen ist.“
„Meinetwegen. Weil ich meine Kraft eingesetzt habe?“
„Es ist etwas geschehen, das nicht hätte geschehen dürfen. Die Verbindung deines Wesens mit der Welt war nicht, wie sie hätte sein sollen.“
„Und darum verlebt alles, was ich mit meiner Kraft berühre?“
„Die Wirklichkeit sucht sich selbst zu heilen, wenn du sie verändert hast. Sie verliert dabei allerdings sich selbst.“
„Aber Mandu hat den Schatten ferngehalten, als ich das erste Mal meine Kraft eingesetzt habe. Und du sagtest, ich könne das Dorf retten, wenn ich es verließe. Hast du mich angelogen?“
„Du bist der Fokus, die Wirklichkeit braucht dich als Fixpunkt, doch wenn du dich außerhalb der Welt befindest, verliert die Wirklichkeit das Ziel.“
„Aber dies ist der gleiche Wald, durch den ich schon einmal ging. Er ist nicht außerhalb der Welt.“
„Der Wald ist Teil der Welt. So lange du aber bei mir bist, bist du nicht Teil der Welt. Unsere Körper sind es, doch unser Wesen befindet sich nicht in dieser Welt.“
„Und warum gehen wir dann noch weiter? Warum hätten wir dann nicht im Dorf bleiben können?“
„Weil der Schatten nicht das einzige ist, das uns folgt.“
„Uns?“
„Weitere Wesen, die sind wie ich, suchen auch nach dir. Es ist wichtiger als alles andere, dass sie dich nicht finden.“
„Warum?“
„Sie wollen deine Vernichtung.“
„Aber du hast gesagt, nur mein Körper sei sterblich. Warum sollte ich sie also fürchten?“
„Weil ihnen dein Tod nicht genug ist. Sie wollen deine gesamte Existenz, dein Wesen auslöschen.“
„Wieso? Wegen des Schattens?“
„Ich kann es nicht sagen. Besser ist es, ihnen gar nicht erst die Möglichkeit zu geben.“
„Müssen wir also immer weiter fliehen?“
„Wir haben bald einen Ort erreicht, an dem sie uns nicht finden können, dort können wir anhalten und unsere weiteren Schritte planen.“
„Das klingt gut. Ich glaube, mein Körper möchte schlafen.“
„Du hast recht. Ich habe vergessen, dass ein sterblicher Körper sich erschöpft. Es ist nicht mehr weit.“
„Gut. Lass uns trotzdem schneller gehen.“

Ternos Ort sah kaum anders aus als der restliche Wald, der durch die mittlerweile goldfarbene Dämmerung wie mit Honig überzogen wirkte. Knorrige Bäume, deren verdrehte Äste bis fast an den Boden heranreichten, hatten uns schon die letzte Zeit über begleitet, als wir über sattfeuchten, schweren Boden liefen. Schließlich wurde der Boden weicher, nasser und meine Füße sanken bei jedem Schritt ein wenig ein. Ternos Schritte dagegen hinterließen keine Spur, denn er ging über den Matsch ebenso wie vorher über die trockene Erde. Wir erreichten einen mannshoch aufregenden Felsen, der groß genug war, um zehn oder mehr Menschen darauf bequem liegen zu lassen. Ich wusste sofort, dass dies der Ort war, von dem Terno gesprochen hatte. Denn obwohl der Felsen aussah, als gehörte er zum Wald wie Boden und Bäume, umlief ihn alle Kraft, als sei er nicht in der wirklichen Welt vorhanden. Hätte ich ihn nicht direkt vor mir gesehen, hätte ich gedacht, dass er ähnlich Mandus Baum war, doch dieser war nicht sichtbar gewesen, solange man den schützenden Schleier nicht lüftete.

„Ich helfe dir hinauf“, sagte Terno, der schon ein Stück weit hinaufgeklettert war und mir seine Hand hinhielt. Ich ergriff sie, und er zog mich hoch. In dem Moment, als ich den Felsen berührte, durchzog ein nicht unangenehmes Prickeln meinen Körper, das mich für einen Moment an die Schmerzen denken ließ, die ich bei meinem ersten Erwachen auf Mandus Insel gespürt hatte, doch dann war es ebenso schnell und spurlos vorbeigegangen wie es gekommen war.
„Hier sind wir für einige Zeit sicher.“ Terno sah sich um. „Schlaf, wenn du möchtest.“
Ich wollte. Ich ließ mich in meine Erschöpfung fallen wie einen Stein ins Wasser.

11 | Der Fremde

Yelda
November 8, 2010

In den folgenden Tagen verblasste der Schmerz. Remde saß bei mir und beantwortete viele meiner Fragen, erklärte mir viel über das alltägliche Leben der Menschen, über sein Leben, über seine verlorene Schwester, deren Namen er mir gegeben hatte.
Ich genoss seine Gegenwart, wenngleich ich spürte, dass eine Distanz zwischen uns war, die nichts überbrücken würde. Besonders klar wurde mir das in den Momenten, da Mandu ihn fortschickte, um mich zu lehren. Remde war begierig zu erfahren, was ich lernen sollte, doch ich konnte es ihm nicht zufriedenstellend beschreiben.
Aber wie soll man beschreiben, was unbeschreibbar ist? Mandu lehrte mich vor allem, nichts zu tun, meinen Atem fließen zu lassen, die Welt wahrzunehmen, aber nicht versuchen, sie zu erreichen.
„Es würde dir ohnehin von hier aus nicht gelingen.“
„Warum ist deine Insel anders?“
„Die Insel ist ein Anker in der Welt, der sich selbst schützt. Hier fließen alle Kräfte anders, auch Raum und Zeit sind anders als außerhalb. Wenn hier Tage vergehen, dann vergehen an Land Wochen, manchmal nur Momente. Die Insel steht außerhalb der Regeln.“
„Wie ich?“
„Wie du.“
„Gilt dann auch für mich, dass ich von der Welt abgegrenzt bin?“
„Natürlich. Du kannst nicht erreichen, was nicht da ist.“
Und obwohl Mandu sicher geklungen hatte, musste ich es versuchen, griff mit meinen Gedanken nach allem, was da war. Und spürte doch nur mich.

Das beeindruckendste in diesen Tagen war sicherlich der Hunger. Bis ich begriffen hatte, dass dieses neue Gefühl, das unter dem Schmerz lag, keine emotionale Leere war, untersuchte ich das jeden Tag stärker werdende Bedürfnis. Überhaupt hatte ich nie Bedürfnisse gekannt, weder Kälte noch Wärme gespürt. Meine vorige Existenz erschien mir angesichts all ihrer Taubheit für mich selbst immer weniger wie ein Leben, das zu führen sich lohnte. Ich pries Mandu in Gedanken dafür, dass sie mir die Möglichkeit gegeben hatte, sterblich zu werden.
Ich entdeckte, dass Mandus Quellle nicht nur den Durst löschte, sondern auch den Hunger stillte. Ich entdeckte aber auch, dass die roten Früchte an den Bäumen essbar waren, und ich genoss es, die Kugeln aufzubrechen und in ihrem Inneren einen Schatz aus geronnenen roten Wassertropfen zu finden, die, nahm man sie in den Mund, sauer und gleichzeitig süß waren, und kaute man sie, unter den Zähnen aufplatzten und den Mund mit ihrem Saft füllten. Sie stillten den Hunger und den Durst, und weckten gleichzeitig Lust, mehr zu essen, noch mehr, bis meine Hände klebten und rötlich schimmerten.

„Was hast du heute gelernt?“, fragte Remde, als er mich am Abend besuchte. Er hatte es sich angewöhnt, auf der Insel zu schlafen und erst nach Sonnenaufgang aufs Festland zurückzukehren. Mandu schien nichts dagegen zu haben, ganz im Gegenteil hatte sie es sogar vorgeschlagen. Es würde mir gut tun, sagte sie, jemanden zu haben, der mir meine unzähligen Fragen beantworten würde.
„Ich habe gelernt, zu hören.“
„Konntest du denn nicht schon hören?“
„Ich habe Laute wahrgenommen, aber ich habe nicht gehört. Mandu hat es so erklärt, und ich weiß nicht, wie ich es besser sagen könnte.“
„Du hast nicht gelauscht?“
„Wenn das heißt, dass ich nicht versucht habe, zu verstehen, was ich höre, dann habe ich wohl zu lauschen gelernt heute.“
„Und was hast du erlauscht?“
„Ein wehendes Blatt und eine Welle, die sich über den See bewegt.“
Remde sah nicht aus, als sei er beeindruckt. Ich hatte das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. „Es war nicht leicht“, fügte ich hinzu.
„Gerade, wo Wellen auf dem See so selten sind.“
„Sind sie nicht.“ Ich war verwirrt. „Soll ich dir eine zeigen? Wir könnten ihr gemeinsam lauschen. Lauschen ist ein schönes Wort.“
„Nein, Yelda, ich habe nur einen Scherz gemacht. Und ja, es ist ein schönes Wort.“
Ich dachte, er wollte noch etwas hinzufügen, darum schwieg ich und sah ihn an. Sein Blick ging an mir vorbei zwischen en Bäumen hindurch. Er sah das Dorf vor sich, das wusste ich. Als er eine Weile lang gestarrt hatten, sagte ich: „Was ist geschehen?“
„Was sollte geschehen sein?“ Doch er sagte nicht, was er eigentlich sagen wollte.
„Remde, ich habe heute gelernt, zu lauschen, auf das zu hören, was ist und was nicht ist. Und selbst wenn Mandu meint, dass ich noch viel lernen müsste, so merke ich doch auch, wenn manches, das gesagt werden müsste, nicht gesagt wird. Ich spüre die Pausen, das Denken.“ Ich nahm seine Hand. „Du denkst so laut, dass ich es fast hören kann.“ Ich lächelte ihn an.
„Du hast ja recht. Ich muss mit Mandu sprechen.“
„Warum sprichst du nicht mit mir darüber.“
„Weil du nicht weißt, was zu tun ist.“
„Das kannst du gar nicht wissen.“ Und obwohl ich wusste, dass er recht hatte, hatte mich die Bestimmtheit, mit der er meine Unwissenheit ansprach, doch getroffen.
„Yelda, du weißt immer noch kaum etwas über dich oder die Welt, das ist kein Geheimnis. Mandu dagegen beobachtet diese Welt schon länger als ich überhaupt lebe. Sie hat mehr Antworten als du und ich zusammen.“
„Dann geh doch und frag sie.“
„Ich denke, du solltest mitkommen.“
„Obwohl ich nicht helfen kann?“
„Ach Yelda, ich wollte dich nicht verletzen. Vergib mir. Was ich mit Mandu zu besprechen habe, könnte dich betreffen, womöglich könnte es dich sogar gefährden. Darum solltest du dabei sein, wenn ich Mandu um Rat frage.“
Nicht vollständig überzeugt nickte ich. „Dann sollten wir sie wohl gemeinsam suchen. So groß ist die Insel nicht."

Wir fanden Mandu an ihrer Quelle.
„Ein Fremder war im Dorf.“
„Ein Fremder?“
„Ja. Bukon hat sich ihm gleich zu Füßen geworfen, weil dieser Fremde kunstvoll gefertigte Kleidung trug.“
„War es ein Hoher?“
„Erinnere dich, Yelda: die Götter und ihre Kinder kämen nie zu Bukon.“
„Was wollte er?“
„Er hat jemanden gesucht. Er hat gefragt, ob wir schon einmal Besuch hatten.“
„Aber natürlich hattet ihr. Ich bin zu Euch gekommen.“
„Was hat Bukon gesagt?“
„Nichts. Ich habe statt seiner gesprochen, da er immer noch auf dem Boden lag und vor Ehrfurcht nicht sprechen konnte. Ich habe ihm gesagt, dass niemand im Dorf sei, der nicht dorthin gehöre.“
„Warum hast du ihm nicht gesagt, dass ich hier bin?“
„Weil es ihn nichts angeht.“
„Aber er sucht nach mir!“
„Das können wir nicht wissen.“
„Außerdem bist du hier sicher.“
„Aber wenn er nun weggeht?“
„Was, wenn er es nicht tut?“
„Er ist nicht gegangen. Er hat darum gebeten, außerhalb des Dorfes zu übernachten, damit er morgen weitersuchen kann. Er rechnet damit, dass jemand in der Nacht zu ihm kommt und Yelda verrät.“
„Bukon hat ihn gewähren lassen?“
„Er hat ihn sogar eingeladen, in seiner Hütte zu übernachten. Natürlich wird er von Yelda erzählen.“
„Aber warum auch nicht? Warum soll der Fremde nicht von mir erfahren?“
„Ich denke, dass Remdes Skepsis nicht unangebracht ist.“
„Was soll schon passieren?“
„Er könnte dich mitnehmen.“
„Er könnte dich verletzen.“
„Er könnte die verletzen, die … dir nahestehen.“
„Erinnere dich an deine Vision, Yelda. An das Dunkel, das dir folgte. Wie sicher kannst du sein, dass nicht dieser Mann das Dunkel ist, das du fürchtest?“
„Wie kann ich denn sicher sein, was dieser Mann ist, wenn er nicht bleiben soll, und ich keine Möglichkeit habe, ihn zu befragen?“
„Vertrau mir.“
„Wie kann Vertrauen allein die Antworten ersetzen, die mir dieser Fremde vielleicht geben kann? Bukon mag nicht besonders geeignet dazu sein, Fremde und Götter zu unterscheiden, wenn er aber das Gefühl hat, dass der Fremde und ich irgendwie zusammen gehören, dann sollte ich …“
„Du gehörst nicht zu ihm!“ Remdes Stimme war überraschend laut. „Er gehört nicht hierher und du nicht zu ihm. Er muss verschwinden, er bringt Gefahr, verstehst du das nicht?“ Etwas ruhiger, aber noch mit bebender Stimme, fügte er hinzu: „Für das Dorf natürlich. Er birgt Gefahr für das Dorf.“
„Remde hat recht. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass dieser Mann gute Nachrichten mit sich führt. Die Überlieferungen und deine Vision kündigen ein Dunkel an.“
„Ich soll die einzige Möglichkeit verstreichen lassen, mehr über mich herauszufinden?“
„Er wird ohnehin von dir erfahren. Dann wird er zu uns kommen. Hier wird er keine Macht über dich haben.“
„Ich soll warten?“
„Wir werden gemeinsam warten.“
„Wir warten.“

Die Dämmerung war so rot wie die Früchte von Mandus Baum. Ich sah in den Himmel und gab vor, den fernen Vögeln zu lauschen, die an der untergehenden Sonne vorbeizogen. Während Mandu und Remde sich leise unterhielten, dachte ich nach. Ich wusste, dass der Fremde Antworten auf meine Fragen hatte, die weder Remde noch Mandu mir jemals würden geben können. Selbst wenn die beiden behaupteten, dieser Mann habe nichts mit mir zu tun, wusste ich, dass sie beide nicht daran glaubten. Allein schon der Gedanke, dass er eine Gefahr für mich darstellen könnte, verriet sie. Hätte er nichts mit mir zu tun, wie sollte er mir schaden?
Nein, sagte ich mir, sie wollten mich einfach nur von ihm fernhalten. Sie wollten verhindern, dass ich die Insel verließ. Wie eine Spinne Beute in ihrem Netz hält, sollte mich die Insel aus irgendeinem Grund an Mandu binden. Sie mochte meine Kraft fürchten und den Schatten, den ich angeblich warf, doch warum lehrte sie mich dann nicht, meine Kraft wirklich zu kontrollieren statt sie nur zu vergessen?
In diesem Moment, dachte ich, erzählt Bukon dem Fremden von mir, und wäre ich dort, ich könnte sofort erfahren, wer ich bin. Und zum ersten Mal kamen mir auch Zweifel an Mandus Wissen über mich. Vielleicht war ich nicht die, von der diese Überlieferungen sprachen. Ich hatte nur vergessen, wer ich war, Mandu hatte keinen Beweis für ihre These außer meiner, wie sie es nannte, Vision.
Konnte es nicht doch nur ein Traum gewesen sein? Auch Träume fühlten sich mitunter so wirklich an. Und doch konnte ich mich dahingehend nicht belügen: es war kein Traum gewesen. Das Dunkel war gekommen und hatte Remde verschlungen; und Mandu, die mich sterblich gemacht hatte und sich weigerte, mich zu lehren, hatte mir versichert, ich trage die Verantwortung für den Schatten.
Ich betrachtete sie in der zunehmenden Dämmerung. Bei unserer ersten Begegnung war sie zornig gewesen und auch später hatte immer wieder Zorn in ihren Zügen gestanden, Boshaftigkeit, als sie mich aufforderte, aus ihrer Quelle zu trinken, Bosheit, als sie Remde fortgeschickt hatte, Spott, als sie vorgab, ich müsse erst lernen, zuzuhören. Mandu hielt mich zurück, sie sperrte mich ein, Mandu war die Spinne und die Insel ihr Netz. Ich wusste, was ich zu tun hatte.

„Ich werde gehen“, sagte ich laut, und sofort brachen Remde und Mandu ihr Gespräch ab.
„Das darfst du nicht!“ Remde sah mich an, und plötzlich fíel mir wieder ein, dass uns die Sorge umeinander verbunden hatte in meiner Vision, und ich wusste, dass Remde diese Liebe wirklich spürte, doch auch, wenn ich fähig zur Liebe gewesen wäre, ich hätte nicht bleiben können. Nicht einmal ihm zuliebe.
„Remde, ich muss gehen. Diese Gelegenheit bietet sich mir nicht wieder.“
„Du hast Mandu gehört. Er wird zu uns kommen.“
„Sie wird ihn fernhalten. Ich werde die Antworten, die ich brauche, nicht bekommen, wenn es nach Mandu geht.“
„Yelda! Wie kannst du so von Mandu sprechen? Sie hat dir nichts getan!“
Mandu, die bislang geschwiegen hatte, sagte ruhig: „Du kannst nicht gehen.“
„Ich kann, und du weißt es.“
„Versuche es, doch die Insel wird dich nicht gegen meinen Willen gehen lassen.“
„Also gibst du zu, dass du mich hier gefangen hältst?“
„Ich gebe zu, dich zu deinem eigenen und zum Schutz der Welt daran zu hindern, die Insel zu verlassen.“
„Du wirst mich nicht aufhalten können.“ Bis zu diesem Augenblick war ich dessen nicht sicher gewesen, doch das kurze Aufflackern von Zorn oder Angst in Mandus Gesicht gab mir die Bestätigung, die ich brauchte. „Du kannst mich gehen lassen oder ich werde wirklich Gewalt benutzen.“
„Du weißt nicht, worum du bittest, Kind. Es wird nicht nur dein Untergang sein, wenn du deine Kraft gegen mich richtest.“
„Aber du bist dir doch selbst nicht sicher, ob alles, was du mir über mich erzählt hast, stimmt.“
„Die Überlieferungen …“
„Es gibt keine Überlieferungen, die von mir sprechen. Ich bin – dank dir – ein lebendes Wesen. Wovon auch immer deine Geschichten handeln, sie betreffen mich nicht.“
„Es sind keine Geschichten!“
„Und deine Vision? Du sagtest, das Dunkel würde mich vernichten!“
„Diese Vision ist eine Möglichkeit. Und sie spricht keine wahreren Worte als Mandu. Vielleicht steht das Dunkel für die Zukunft, in die wir nicht sehen können. Vielleicht ist es das, was die Vision mir zeigen sollte: dass ich die Insel verlassen muss, um in eine Zukunft zu gelangen.“
„Vielleicht aber vernichtest du mich. Ist Dir das egal?“
„Nein, das ist es nicht, Remde. Ich verdanke dir viel, doch vielleicht wäre es besser gewesen, du hättest mich im Wald zurückgelassen.“
Ohne Mandu oder Remde die Möglichkeit zur Erwiderung zu geben, fügte ich hinzu: „Ich werde gehen. Haltet mich nicht auf.“
Dann drehte ich mich um und ging.
„Yelda!“
„Lass sie. Sie wird nicht weit kommen.“
Ich hörte Remdes Schritte hinter mir, dann spürte ich seine Hand an meinem Arm. Ich blieb stehen und wandte mich ihm zu.
„Remde, lass mich gehen.“
„Ich kann nicht.“
„Du musst.“
„Ich kann dich nicht gehen lassen.“
„Du willst mich nicht gehen lassen. Du musst es aber tun. Du kannst mich begleiten, wenn du willst, ich werde es dir nicht verbieten.“
„Sie wird es nicht zulassen.“
„Dann musst du bleiben. Ich kann nur mich gegen ihren Willen befreien.“
„Du musst das nicht tun.“
„Lass mich gehen.“ Ich schloss die Augen. „Ich will dich nicht verletzen.“
Remde sah überrascht aus, ließ aber tatsächlich meinen Arm los. „Bleib hier.“ Tränen füllten seine Augen. „Bitte.“
„Leb wohl.“ Ich drehte mich um und ließ ihn hinter mir, als ich weiterging. Ich kam nur wenige Schritte weit, als sich die Luft zu verdichten schien, an mir klebte wie Schweiß in heißen Nächten.
„Mandu“, rief ich, „lass auch du mich gehen.“
„Niemals!“ Ihre Stimme kam nicht mehr von der Quelle, sondern schien aus dem Boden selbst zu stammen.
„Du kannst mich nicht aufhalten!“
„Wie sicher bist du dir?“
Doch statt zu antworten, schloss ich die Augen. Ich suchte nach dem Strom aller Kraft, und fand nur mich. Nun würde sich zeigen, ob meine Vermutung richtig war. Ich konzentrierte meinen Geist auf mich selbst, versuchte zu erkennen, wie die Kraft, die von mir ausging, floss. Ich folgte den schimmernden Linien der Kraft, die mich umgaben wie ein Kokon, mich einschlossen, mir eine Form gaben, die nicht meine war. Denn das wurde mir plötzlich klar: was ich bislang für meine eigene Kraft gehalten hatte, gehörte nicht zu mir. Wie Mandu mich gelehrt hatte zu hören, sah ich nun, dass meine Kraft nicht rötlich und träge an mir herab und in den Boden floss, sondern dass unter dieser Schicht ein helleres Feld lag, dessen Streben nicht der Erde, sondern dem Himmel galt und das von Mandus Kokon gefesselt wurde. Ich fühlte der Kraft nach, wanderte mit dem Strom nach unten, unter meinen Füßen hinweg in den Boden, im Boden, der nur aus Ästen bestand in Richtung von Mandus Quelle und von dort in den eigentlichen Stamm des übergroßen Baumes, der die Insel tatsächlich war.
Ich hörte Mandus Stimme, und ich spürte, wie sich der Strom im Baum sich gegen mich wehrte, doch Mandu hatte mich zu lange unterschätzt, sie würde mich jetzt nicht mehr aufhalten können. Ich erinnerte mich an die erste Begegnung mit Mandus Schleier auf dem See, und daran, wie sie den Nebel gelichtet hatte. Damals hatte es mich davon abgelenkt, tiefer zu gehen, doch diesmal wusste ich, dass ich Mandu besiegen musste, um von ihr fortzukommen. Selbst wenn sie mir jetzt gestatten würde, zu gehen, würde ich doch nie von ihr frei sein.
Ich glaube, sie wusste, dass ich sie nicht schonen würde, hätte sie aufgegeben. Darum wehrte sie sich bis zuletzt mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft. Doch ich ging weiter. Während ich in meinem Geist den Wurzeln des Baumes immer näher kam, löste sich die Klebrigkeit der Luft von mir, und ich konnte weitergehen. Ich musste nicht sehen, wohin ich ging, denn selbst mit geschlossenen Augen würde ich nun an mein Ziel kommen, wenn ich Mandu besiegte.
Und dann befand sich mein Geist an der rotglühenden Wurzel des Baumes und ich ließ meine Kraft fließen. Wie silberne Fäden umspannen sie das rote Wurzelwerk, das sich zunächst noch wehrte, doch je mehr Fäden ich auslegte, umso schwieriger wurde es für Mandu, sich gegen mich zu wehren. Und dann hatte meine Kraft sämtliches Rot überlagert. Wie in meiner Vision hatte sich ein silbernes Gleißen über die Wurzel gelegt und über den gesamten Stamm des Baumes bis hoch an die Krone. Und ich flüsterte: „Gib mich frei.“ Und ich war frei.

Ich stand am Ufer des Sees und sah auf die Hütten des Dorfs, die vom Mond beleuchtet waren. Dann drehte ich mich um und sah, dass es kein Mond war, sondern dass das Gleißen des Baums über den See strahlte, das Dorf, die Ebene und den Wald fahl leuchten ließ. Dann erlosch das Bild des Baumes, und nur einen Augenblick rollte ein Donnerschlag über das Wasser, dem ein machtvoller Windstoß folgte, der mich zwang, einen Schritt zurückzugehen.
Ich starrte noch auf den jetzt dunklen See, als sich Schritte und leise Stimmen näherten. Ich beachtete sie aber nicht, denn etwas auf dem See hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Es war ein Körper, den die Wellen des aufgewühlten Wassers rasch näher trugen, bis er schließlich fast am Ufer lag. Ich ging zu ihm hin und beachtete das Wasser nicht, das kalt an meinen Beinen zog, sondern griff nach Remdes Körper, und versuchte ihn aus dem Wasser zu ziehen. Er war ohne Bewusstsein, doch er atmete.
„Hilfe!“ rief ich. „Helft mir, ihn herauszuziehen!“ Und tatsächlich näherte sich jemand und griff mit starken Händen nach Remdes Körper. Gemeinsam zogen wir ihn ans Ufer, wo wir ihn auf den Rücken legten. Teile seines Gesichts waren verbrannt, seine Kleidung hing nur noch in nassen Fetzen an seinem Körper. Ich fiel auf die Knie. Ich wusste, ich konnte ihn heilen, ich hatte die Hummel geheilt, ich würde auch Remde wieder unversehrt sein lassen.
Eine Stimme sagte: „Dafür ist keine Zeit.“
„Ich werde ihm helfen.“
„Wir haben keine Zeit. Er wird leben, doch wir müssen fort.“
Zum ersten Mal sah ich den Mann an, der neben mir stand und Remdes Körper mit mir getragen hatte. Er trug aufwendig gearbeitete, frühlingsgrüne Kleidung, und seine Augen leuchteten im selben Grün. „Yelda“, sagte er, „wir müssen fort. Wenn du diese Menschen retten willst, dann müssen wir fliehen, bevor das Dunkel uns alle vernichtet.“

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
mit Erkenntnisgewinn.
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