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Die Performanz perfektionierter Produktivität

Von der Front
März 31, 2023

Weil ich scheinbar nichts anderes zu tun habe, als darauf zu warten, dass Dinge in mein Leben treten (auch bekannt als "Prokrastinieren"), habe ich einige Zeit damit verbracht, Videos zur optimalen Produktivitätssteigerung anzuschauen. Davon gibt es viele, es gibt bei Youtube einen Haufen Menschen, die sich mit der Thematik auseinandersetzen. Derzeit scheint Notion der heiße Scheiß zu sein, danach kommen wohl Obsidian und OneNote, demnächst wird wahrscheinlich Loop nicht nur als Teamworking-Tool die Runde machen, sondern aufgrund seiner maximalen Synchronisierungsfähigkeit in der Microsoft-Umgebung auch als Selbstorganisations- und Produktivitätswerkzeug entdeckt werden. Manche mögen es auch weniger digital, da sind es dann ToDo-Listen, oft in Kombination mit Pomodoros oder Atomic Habits oder die SuperBuch-Methode oder gleich ein Bullet Journal (mein Langzeitfavorit; vielleicht zeige ich das mal). Das ist natürlich nur eine Auswahl. Es gibt Dutzende weitere Systeme, das sind nur die, die mir ohne weitere Recherche eingefallen sind. Immerhin geht es hier nicht um das optimale System zur Selbstoptimierung, sondern darum, wie falsch das alles ist.

Es geht nämlich nicht um Selbstoptimierung, sondern darum, einen Sinn im Leben zu finden.

Und ja, das kann man auch kleiner aufhängen: es geht darum, dass wir das, was wir tun, nicht nur tun, damit wir etwas tun. Sondern dass es aus einem ganz bestimmten Grund getan wird: dass wir zufrieden sind. 
Gelernt haben wir das nicht, im Gegenteil. Selbst das spielerische Lernen im Kindergarten und der Grundschule, später das Leistungsnoten-Prinzip auf weiterführenden Schulen, Zeugnisse im Beruf - es führt dazu, dass der Sinn der Arbeit nicht gesucht wird, sondern nur das Erledigen der Arbeit. Gerade in nicht systemrelevanten Berufen geht es mehr um das Füllen und Arbarbeiten einer To-Do-Liste als darum, Wert zu schaffen, das Leben zu verbessern, die Gesellschaft zu einen. Das Ziel ist das Schaffen eines abstrakten Wertes: Erledigung. 

Nun ist das relativ albern und wenig erfüllend und darum sucht man sich einen anderen Zweck: die maximale Produktivität bzw. die Erreichung derselben durch ein möglichst optimiertes Produktivitätserreichungssystem. Beispiel: Bullet Journal. 
Ein sehr gutes System, um einen Kalender mit einer To-Do-Liste und einem Ort für kurze Reflexion zu schaffen. Analog, weil das beim Denken hilft, und ohne vorgegebenes Raster, weil das die Kreativität und auch die Freude fördert (und damit dem Ziel der Sinnfindung zumindest ein bisschen näher kommt).
Weil aber viele Menschen weniger Aufgaben als Zeit haben, wird das Bullet Journal selbst zur Aufgabe, es wird verschönert, gemalt, Sticker werden eingeklebt, inspirierende Zitate werden ausgesucht und liebevoll eingerahmt, es hat sich ein Markt für BuJo-Sticker, Monatstemplates und Washi-Tape-Dispenser gebildet. Es gibt Menschen, deren ganze Produktivität in die Ausgestaltung eines Werkzeugs zur Steigerung ihrer Produktivität fließt.  

Grundsätzlich ist das nicht unbedingt als schlecht zu bewerten, es ist schön für diese Menschen, dass sie diese Arbeit für sich als sinnvoll empfinden. Doch in Relation zum Großen Ganzen, also Klimawandel, Krieg, Pandemie etc. ist es doch relativ sinnentleert, das perfekte Coverbild für den nächsten Monat auszusuchen. 
Natürlich: Whatever gets you through the day. Auch das hat die Pandemie ja gezeigt: wir alle sind ja nicht nur mit den besten Coping-Mechanismen ausgestattet; und ein kurzer Besuch bei twitter zeigt, wie kurz die Zündschnur bei manchen Menschen ist: sie kontern selbst leichte Nachfragen gleich mit unterirdischen Beleidigungen. Sie wollen verstören, verletzen, vernichten; alles nur, um davon abzulenken, wie leer sie sind. 

Nicht, dass ein BuJo sie retten würde, aber vielleicht wäre das der geeignete Weg, sonst sinnlos in Hass kanalisierte Energie wenigstens schadlos umzuwidmen. Lieber einen weiteren Monatsspread in der Welt als transphobe Mord-Drohungen in einem vermeintlich sozialen Netzwerk. 
Natürlich ist meine Vermutung, dass der Hass genauso wie der Drang zum Perfektionismus auf das selbe Ungleichgewicht in der Welt zurückzuführen sind, wagemutig, um nicht zu sagen: aus der Luft gegriffen. Andererseits: was wir beobachten können ist eine zunehmende Sinnentleerung der Dinge, während gleichzeitig rudimentäre Bedürfnisse unerfüllt bleiben. Wir suchen nach der besten Morgenroutine (inklusive Meditation und Kaffeeritual), weil wir vor allem die Zeit haben für ein Morgenritual. Wir sammeln Statussymbole: Autos, Uhren, Schuhe, Markenklamotten, Smartphones, Snapchatfilter, drei Urlaube im Jahr, Füllhalter mit extra feiner Goldfeder und ein dotted-Notizbuch mit extra faserarmem Non-Bleed-Papier für das allerbeste Schreiberlebnis, Regenduschen, eine Kaffeestation in einem Ausziehregal in einem Wohnzimmerschrank mit Anti-Fingerprint-Mattlack, die PlayStation 5. Doch: wofür?

Es gibt Familien, auch in Deutschland, da teilen sich fünf Menschen 50 m². Es gibt in diesem angeblich so technikaffinen Land Familien ohne Computer, Internetanschluss, Handy. Was ja beim flächendeckend gedachten Heim-Unterricht während der Pandemie die bildungssoziale Schere noch ein wenig weiter geöffnet hat. Es gibt Kinder, die sich kein Mittagessen leisten können. Es gibt Menschen, die können nur davon träumen, jemals etwas zu besitzen, was als Statussymbol durchgehen könnte. Wobei auch sie sich vielleicht fragen: wofür?

Um die Leere zu füllen, die innere Verwahrlosung, das Verlorensein in der Welt. Um dazuzugehören zum Club derjenigen, die sich Dinge leisten, und seien diese Dinge noch so sinnbefreit. Um zu zeigen: ich habe etwas geleistet, habe etwas erreicht, habe es mir verdient. 
Sind diese Menschen geliebter? Sind sie glücklicher? Sind sie bessere Menschen? Leben sie bessere Leben? Retten sie die Welt? Sind ihre Bedürfnisse durch Symbole gedeckt? 
Natürlich nicht. Sie haben nur etwas gefunden, um die Leere zu überdecken, zu verstecken, zu vergessen. Die Leere aber bleibt: ein starrender Abgrund der Seele, ein Loch in der Welt. 

Vielleicht, wenn meine nächsten Weeklies besonders schön ausfallen, wenn ich lerne, Linien auch ohne Lineal gerade zu ziehen, wenn ich es schaffe, sowohl meinen Habittracker als auch meine Moodblume jeden Tag auszumalen, wenn ich beim Hinkalligrafieren der Wochentage nicht kleckse, vielleicht hat dann das Leben einen Sinn. Vielleicht ist es dann all den Ärger wert, den ich mir selbst mache, wenn ich meinem Perfektionismus nicht genüge. Wenn ich nur einmal einen einzigen Monat lang alles gut gemacht und endlich etwas vorzeigbares geschaffen habe, dann ist vielleicht das Leben nicht sinnlos gewesen. Wenn ich nur in meiner egozentrischen BuJo-Malerei ein Mal nicht versagt habe, dann habe ich vielleicht als Mensch nicht versagt. 

Falsch.

Es geht doch beim Menschsein nicht um Perfektion, nicht um Performanz, nicht um Produktivität. Es geht einzig und allein um Purpose, um Zweck, um Sinn. Es geht darum, sich mit anderen Menschen zu verbinden und etwas größeres zu schaffen als das, was wir alleine ohnehin nicht erreichen können. Es geht darum, nicht alleine zu sein mit unseren Ängsten, Sorgen, Nöten, Hoffnungen, Wünschen und Träumen. Es geht darum, dass wir nur dann Menschen sein können, wenn wir Mitmenschen haben.

Da nützt auch alle perfektionierte Produktivitätsperformanz nicht; im Gegenteil: die ganzen BuJo-Showoffs, die Desktop-Setup-Gurus, die Morgenroutine-Influencys: sie grenzen sich ab, wollen zwar vielleicht Teil einer Community sein, aber möglichst ihrer eigenen, wollen keine Peers, sondern Followys. Das Zeigen ihrer Produktivität ist weniger Passion als Posen. Schaut her, eifert mir nach, lebt nach meinem leuchtenden Vorbild. 

Was also tun? Wahrscheinlich das Übliche: Besinnung, Reflexion, Zurückhaltung und die ewig harte Übung, andere Menschen nicht nur als Arschlöcher, sondern als fehlbare Wesen zu sehen. Sie als potentielle Bereicherung zu begreifen, als Teile unseres Lebens. Denn ist es nun mal, ob wir es wollen oder nicht: wir stehen alle miteinander in Verbindung, teilen die gleiche DNA, das gleiche Biotop. Wir leben auf einem endlichen Planeten und können uns nicht entkommen. Da hilft es also nur, Kontakt zueinander zu finden und anzuerkennen, dass wir alle dieses Loch in uns fühlen, das uns nach einem Sinn im Leben suchen lässt. Wir teilen einen gemeinsamen Schmerz; und nur gemeinsam können wir ihn, wenn schon nicht überwinden, dann doch erträglicher machen. 

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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