Die Anknüpfung | ANDERSWOLF

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Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Die Anknüpfung

Usus operi
Juni 1, 2023

Da geht man einen halben Tag mal nicht nur ins Internet, sondern nur spazieren und in sich, und schon kommen die Gedanken wieder hoch, wie das alles doch funktionieren kann. Oder besser gesagt: was da nicht funktioniert und wieso. 

Klingt abstrakt, wird aber sofort plausibel: Ich versuche, eine Welt wiederzufinden, die mir verloren ist. Ich hoffe, mit dem Umzug ein Stück meiner Identität wiederzugewinnen, das mir zu fehlen scheint.

Immer noch nicht genug: ich ziehe in meine Geburtsstadt zurück und kämpfe seither mit der Zerrissenheit meiner Erinnerungen daran, wie es hier war, und den neuen Bildern, die nach und nach die alten überlagern. 

Das Ding ist: ich habe hier nie richtig gelebt. Ich habe Wochenenden und Ferienwochen bei meinen Großeltern hier verbracht, große Teile meiner Familie lebten hier und sind noch in der Umgebung, ich war ein Semester hier an der Uni eingeschrieben und habe vergeblich versucht zu verstehen, was Studenten so tun, wenn sie nicht im Internet surfen. 

Meine alten Erinnerungen sind also vor allem mit den Menschen verknüpft, die ich hier kannte, vor allem mit meinen Großeltern und eben jenem Haus, in das der Mann und ich einziehen werden. Und klar kenne ich das Haus und die Wohnung, den Dachboden und den Garten; ich habe auch während dieses einen Semesters hier gewohnt. Aber ich finde mich hier nicht wieder. Was auch immer ich erwartet habe, es ist nicht da. 

Das ist ja nun nicht ganz schlecht.

Es kann durchaus hilfreich sein, ganz neu anzufangen, wenn man glaubt, in einer Sackgasse zu stecken. Tatsächlich sehen der Mann und ich das beide so: dass wir nochmal ganz neu anfangen. Nicht, weil es uns in unserem alten Leben schlecht ging; aber sehr wohl, weil wir eben neu anfangen können. Weil wir wissen, dass wir es jetzt noch können, und weil wir befürchten, dass wir es irgendwann nicht mehr können könnten. 

Und wie oft bekommt man denn auch eine Chance, in einer Stadt, die man schon einigermaßen gut kennt, einen kompletten Neuanfang zu machen? Vor allem noch mit dem Privileg eines geerbten Hauses in einer guten Lage? Ich kann hier sein, wer ich will, weil mich hier kein Korsett aus bekannten Identitäten in meiner Entfaltung einschränkt. 

Das Problem ist: ich weiß nicht, wer ich sein will. 

Und das viel größere Problem ist: ich erkenne ein Muster.

Vor einigen Wochen, als ich hier auf dem Dachboden saß und versucht habe, meiner Zeit als "Bauleitung" etwas produktives abzugewinnen, habe ich angefangen, Inhalte meiner verschiedensten Weblogs hier einzupflegen. Mit dem Effekt, dass ich jetzt Beiträge von 2004 bis 2023 mit teilweise großen Lücken dazwischen habe, die nicht ganz so groß sein müssten, wenn ich mal den Import abgeschlossen und nicht wie so viele angefangene Projekt einfach verlassen hätte.

Die Motivation dafür ähnelte dem Impuls, der mich jetzt immer befällt, wenn ich mir Teile des Hauses ansehe oder in Fotoalben blättere: Ich versuche mich selbst  zu erkennen und mich mit einer Version von mir zu identifizieren, die es nicht mehr gibt. Einer Version vor allem, die noch nicht so viel bedauerte und darum - so nehme ich das an - glücklicher war. 

Natürlich war ich früher nicht unbedingt glücklicher - von der Unmöglichkeit einer objektiven Messung mal ganz abgesehen. Aber das Bedauern, das sich manchmal als veritable Reue darstellt, das hatte ich früher nicht. Aber da war ich eben auch jünger und hatte nicht so viele Jahre, auf die ich zurückblicken konnte. 

Mit dem ganz abscheulichen Gefühl, große Anteile meiner Zeit vergeudet zu haben. 

Und das nicht, weil ich ja auch einfach direkt in Bamberg hätte bleiben und mein erstes Studium irgendwie beenden können. Dann hätten wir vielleicht den Dachboden vor 25 Jahren schon ausgebaut und ich hätte hier gewohnt, ich hätte als Germanist ...

Keine Ahnung, ist recht irrelevant für die Reue, die ja deutlich greifbarer auf dem großen Leerraum aufbaut, der sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten aufgetan hat; all der Zeit, die ich sinnbefreit durchs Internet gegeistert bin, Youtube- und Porno-Videos geschaut, mit Fremden gechattet, Breath of the Wild gespielt und ganz allgemein rumgedödelt habe. 

Denn jetzt, wo ich verstanden habe, dass ich eigentlich für nichts richtig qualifiziert bin, denke ich: was hätte ich in den letzten Jahren nicht alles an Zusatzqualifikationen machen können. Die Yoga-Ausbildung natürlich, die Schriftsteller-Ausbildung, den Resilienz-Trainer. Oder das Theaterwissenschaftsstudium, das Praktikum in der Näherei der Oper, die Assistenz in der Dramaturgie (gut, da bin ich nicht genommen worden, aber eventuell ist auch meine Bewerbung nicht angekommen, unklar, es hat niemand geforscht). Aber auch Fortbildungen im Ernährungsbereich, einen Trainer-Schein (als ich noch im Fitnessstudio war), vielleicht einfach nur eine Therapie? 

In den Blog-Import-Beiträgen eine Selbstbeschreibung von 2010 gefunden und erschrocken darüber, wie wenig ich mich doch verändert habe. Und dann aber gleichzeitig auch wieder überrascht, wie wenig ich noch diesem Menschen gleiche. 

Ist also nicht so, dass sich nichts geändert hätte. Dass ich mich nicht geändert, weiterentwickelt, fortgebildet hätte von dem Menschen, der ich damals war. Immerhin liegen da ein Dutzend Theaterstücke und einiges an bezahlter und ehrenamtlicher Arbeit dazwischen, natürlich auch Autorentätigkeit, Autodidaktik und Selbstanalyse (mitunter sogar Selbsterkenntnis). 

Und klar, ich hätte natürlich auch mehr machen können, mehr rausholen können aus meiner (Frei-)Zeit, weniger prokrastinieren in der Hoffnung, dass doch endlich der Tag vorbeigehen möge; und mehr Arbeit, egal, wie unglücklich sie mich gemacht hätte, weil der Mensch doch eine Aufgabe braucht, um nicht dauernd nur ans Aufgeben denken zu müssen. 

Aber ich habe ja auch beim Prokrastinieren gelernt, es ist ja nicht alles spurlos vorbeigegangen. Klar, mein popkulturelles Wissen ist nicht halb so beeindruckend wie meine Kenntnis mesopotamischer Geschichte (obwohl das Menschen auf Partys überraschend oft anders sehen). Und auch klar: die Theorie zu kennen, wie man Dinge erledigt, bedeutet noch lange nicht, dass irgendwelche Dinge tatsächlich erledigt werden. 

Aber Fakt ist ja, dass alles, was uns geschieht oder wir mit uns geschehen lassen, Spuren auf und in uns hinterlässt, uns formt und verändert und wir also - egal was wir tun oder lassen - nicht mehr die selben Menschen sind. Und wenn ich schon nicht zweimal durch den selben Fluss gehen kann (oder Bach; ich glaube nicht, dass ich durch einen Fluss gehen könnte, ohne davongespült zu werden), dann kann ich mir ja auch Zeit lassen. 

Natürlich werde ich mir auf dem Sterbebett nicht wünschen, noch ein Youtube-Video über Permakultur gesehen zu haben. Aber ich werde mir auch ganz sicher nicht wünschen, länger Käse verkauft zu haben. 

Eingangs schrieb ich (sinngemäß), ich jagte einer Welt nach, die mir verloren ist. Tatsache ist: es gab diese Welt nie. Die Erinnerungen, die ich aus meiner Kindheit, Jugend und auch meiner jungen Erwachsenenzeit habe: sie geben nicht die Realität wieder. In den späteren Jahren vielleicht noch am ehesten; aber selbst wenn ich mir Fotos aus den frühen 1980ern anschaue, wo ich in lustigen Stramplern oder Latzhosen durch die Gegend wackle, ist da zwar eine vergangene Version von mir abgebildet, aber ich weiß doch dadurch noch lange nicht, was in dieser Zeit war. 

Ich hätte damals beim Beerdigungsgottesdienst meines Großvaters schon stutzen können, als der Pastor sagte, der Verstorbene sei ein gottesfürchtiger Mann gewesen. Mein Opa - gottesfürchtig? Nicht, dass ich schockiert gewesen wäre, mir war bloß bis zu diesem Moment der Gedanke nicht gekommen, jemand könne ihn anders sehen als ich ihn sah. 

Mittlerweile weiß ich natürlich, dass die Menschen von außen und von innen anders aussehen - im wörtlichen und vor allem übertragenen Sinn. Damals aber erschien mir das seltsam inkongruent, wie eine Lüge, nur dass mir nicht klar war, wer da wen angelogen hatte und ob es tatsächlich Geschädigte gab. 

Zumal es ja eben die Welt, wie wir sie uns vorstellen, gar nicht gibt. 

Woran also will ich anknüpfen, wenn ich hier in der neuen Stadt nach Vertrautem suche und Möglichkeiten, mich zu orientieren? Was glaube ich zu gewinnen, wenn ich meine alten Blogs in das (nicht mehr ganz) neue stopfe?
Will ich mich konsolidieren, identifizieren, definieren? Oder will ich ganz im Gegenteil all die Unterschiede erkennen und mich anhand der Differenzen selbst erkennen wie einen Schattenriss? 

Vielleicht hoffe ich, durch die Sichtbarmachung des Korsetts, das meine Identität hält, mir selbst eine Möglichkeit zu geben, eben dieses Korsett auch aufzubrechen, mich wirklich von den Stricken der Vergangenheit zu befreien und tatsächlich neu anfangen zu können. 

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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