Der Spaß ist vorbei | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Der Spaß ist vorbei

Von der Front
Juli 25, 2010

War ich je so jung? So alkoholisiert? So beides?

Sie trägt eine Schärpe, auf der Williges Luder steht, die Buchstaben blinken. Sie hat einen summenden Vibrator im Mund und versucht, ihr Lachen zu unterdrücken, damit sie endlich das Kondom ganz mit den Lippen abrollen kann. Weil sie sich nicht gleichzeitig auch noch auf ihr Gleichgewicht konzentrieren kann, hält ein junger Mann sie fest, schaut aber nicht sie an, sondern aus dem Fenster des Zuges auf die vom Vollmond übergossene Wetterau.
Der Zug fährt über eine Weiche, der Waggon bebt, die junge Frau stößt sich den Vibrator gegen den Gaumen, Tränen treten in ihre Augen. Ihr Begleiter sieht weiter aus dem Fenster. Ein anderes Schärpenluder sagt ihrem Handy, dass der Zug bis nach Fronhausen durchfährt, dort nehme sie ein Taxi. “Steffi”, sagt sie mit einem Blick auf den Vibrator, “ist schweinevoll. Die kotzt noch.”

Es ist der letzte Zug, der diese Nacht Frankfurt Richtung Marburg verlässt. Wer jetzt nicht fährt, muss warten bis um fünf. Zwei der sechs Frauen mit den Schärpen sehen so aus, als hätten sie lieber bis zum Morgen gewartet.

“Hast Du’s gesehen?” Sie lässt den Vibrator im Triumph über ihrem Kopf kreisen. “Das Gummi ist ganz!” Ihr Begleiter sieht sie an, murmelt etwas und nimmt seine Hand von ihrem Körper. Sie taumelt kurz, lehnt sich an eine Trennwand und rutscht daran herunter. Ihr Minirock sieht aus wie aus gelbem Plastik, durch die veränderte Lage schneidet er ins Fleisch ihrer Oberschenkel. Mit der freien Hand zupft sie ergebnislos am Saum herum, dann steckt sie sich den Vibrator wieder in den Mund und zieht mit beiden Händen, bis das Material aufgibt und aufreißt. Der Vibrator fällt aus ihrem Mund auf den Boden, als sie anfängt zu lachen.

Der nächste Halt wird angekündigt. Der junge Mann beugt sich zu der jungen Frau hinunter und sagt, sie solle aufstehen. Als sie nicht reagiert, wiederholt er sich. “Lass mich in Ruhe”, gibt sie zurück, so laut, dass auch Fahrgäste, die bislang vorgegeben haben, die Gruppe zu ignorieren, die Köpfe wenden und hinsehen. “Ich mach, was ich will.” Dann langt sie nach dem Vibrator, der, immer noch summend, auf dem Boden neben ihr liegt. Sie zupft am Kondom. Ihr Begleiter sieht aus dem Fenster. Der Zug kommt zum Stehen.
Als sich die Türen öffnen, geht der junge Mann zum Ausgang und, ohne noch einmal zurückzusehen, hinaus. Als sich die Türen schließen, der Zug sich wieder in Bewegung setzt, sehe ich den jungen Mann auf dem Bahnsteig zu den Treppen gehen.

Die junge Frau starrt auf den Vibrator, der immer noch summt. Sie lacht nicht mehr, ihr Gesicht ist starr, der Lippenstift ist verschmiert, der Minirock im Schritt aufgerissen, die Schärpe blinkt nicht mehr. Ihr Körper gehört der jungen Frau nicht mehr. Der Spaß ist vorbei.

Beim nächsten Halt steige ich aus.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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