Das Feuer. Fünftes Siremon-Fragment | ANDERSWOLF

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Das Feuer. Fünftes Siremon-Fragment

Siremon
November 11, 2011

Kirrens letzter Sommer in Tilan endete mit einem Feuer.

Kirrens letzter Sommer auf Tikaan endete mit dem Feuer.

Kirrens letzter Sommer auf Siremon begann mit einem Feuer.

Wie ich beginnen wollte: ich wusste es nicht. Ich sah Kirren im Halblicht der Kerze am Fenster stehen, hinabblicken auf die vorbeigehenden Menschen, die, in dunkle Mäntel gekleidet, zum Platz der Freiheit gingen. Sein eigener Mantel lag auf dem Bett, er hatte noch Zeit, auf ihn wartete nichts, niemand. Das Feuer würde auch ohne ihn entzündet werden, er wusste es noch nicht, doch er würde nie am Platz der Freiheit ankommen, er würde nicht sehen, wie Arket aus einer einzelnen Flamme einen himmelfüllenden Drachen aus reinem Feuer erschaffen würde.
Den Angriff der Schattenbinder allerdings, der alle Magie in Tilan für einen Moment verschwinden und den Flammendrachen über der Menge taumeln ließ, spürte Kirren am eigenen Leib, denn er brach einen Zauber, so kraftvoll aus Kirrens eigener Essenz gewoben, dass er erst durch seinen Tod gebannt werden sollte. Und tatsächlich starb ein Stück von Kirren bei diesem Angriff: die Kindheit in Ris, der Unfall des jüngsten Bruders im Moor, die ewigen Streitereien mit den Zwillingen, das lange, langsame Verblassen der Mutter; ausgelöscht wie Kerzenlicht durch das Bild eines Baumes, der vielfach gespalten im Stamm vor ihm aufragte, und ein Gesicht vor ihm, die Haare grau, die Augen brennend wie die Mittagssonne und Lippen, rissig wie geborstenes Holz, die unablässig flüsterten: „Komm, komm zurück. Komm.“

Kirren hatte diese Beschwörung mit Arket geübt, so oft geübt und doch wollte die Flamme nicht erscheinen. Er stand im Dunkel einer schmalen Gasse, in die er Sira gefolgt war und ihrer Beschützerin? Entführerin? Egal, was sie war, sie konnte auf jeden Fall besser sehen als Kirren, darum brauchte er das kleine Licht, das er mit Arkets Hilfe schon einmal beschworen hatte. Er stellte sich vor, wie eine kleine Flamme seiner ausgestreckten Handfläche entspränge, ohne die Haut zu verletzen. Stellte sich die sanfte Wärme vor, das lustige Flackern, das rotgoldene Leuchten, das die Gasse ausreichend erhellen würde, dass Kirren sich orientieren konnte. Dann ließ er seine Kraft fließen, so vorsichtig als heile er ein Blütenblatt. Tatsächlich begann sich die Luft über seiner Hand zu erwärmen, und als er ein wenig mehr Kraft fließen ließ, glaubte er sogar ein blasses Leuchten wahrzunehmen. Doch dann überrollte ihn eine Welle absoluter Schwärze, durch die er die Kontrolle über seine Magie verlor. Für einen Augenblick wurde die Gasse aus seinem Bewusstsein gelöscht.
Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem angenehm kühlen Pflaster der Gasse. An seinem Mantel leckten kleine Flammen, durch die Wände der Häuser fraßen sich Schlangen aus Feuer, das Brechen der Balken ging im Brüllen des Brandes unter.

Das dritte Feuer zerstörte die Akademie. Die Truppen des Ersten Mannes waren noch während der Zeremonie des Neuen Feuers ausgeschwärmt, um die Magier auszuräuchern. Erst später würde Kirren von Evin erfahren, dass die Stadtgarden Schattenbinder dazu benutzt hatten, die Schutzbanne der Akademie niederzuwerfen und jede magische Gegenwehr im Keim zu ersticken.
Als Kirren durch die vertrauten Gänge schlich und seine Mitschüler und Lehrer tot oder sterbend fand, konnte er nur um sie weinen, denn er konnte keine Kraft mehr in sich spüren, sie zu heilen. Immer wieder brandete die Erinnerung die Vision und diese Augen und diese Stimme und diese Worte gegen sein Bewusstsein und drohte ihn zu überwältigen. Und dann so plötzlich, dass er dachte, er müsse sich verlaufen haben, stand er vor Marathorns Gemächern. Die Tür hing schief in den Angeln, davor lag ein toter Soldat, dessen Gesicht nur mehr eine schwarz verlaufene Masse war. Seltsam betäubt nahm Kirren das war, als ginge es ihn nichts an, er ging nur an dem Leichnam vorbei und sah durch die Tür in den langen Gang zum Arbeitszimmer seines Mentors. Dort kämpften zwei Soldaten gegen züngelnde Flammen, die sich auf die Männer stürzten und sich wieder zurückzogen, um kurz die Form eines Menschen anzunehmen, bevor sie erneut zuschlugen. Noch hinter den Kämpfern versuchten zwei Soldaten die Tür zu Marathorns Arbeitszimmer aufzubrechen und daneben stand ein Kind, das Kirren ansah mit einem so leeren, fernen Blick, dass ihm klar wurde, dass der Tod Fremder nicht das Schlimmste war, das diese Augen je gesehen hatte.

Als sie in Evins Versteck angkommen waren, heilte Kirren die schlimmsten von Arkets Verbrennungen, die er sich beim Kampf gegen die Soldaten zugezogen hatte. Sein Freund hatte die Augen geschlossen und sagte auch nichts, so dass Kirren mit seinen Gedanken alleine war. So vieles war passiert: Sira, der tote Soldat, die brennende Gasse, die Vision des Baumes, das Blutbad in der Akademie, der Kampf, Marathorns Opfer, die Flucht, doch alles verwehte wie Rauch angesichts von Marathorns Worten, Marathorns Warnung angesichts Kirrens Vision: „Geh nicht dorthin, Junge, versteck Dich vor Yal. Vergiss, was Du gesehen hast, oder alles, was Deine Mutter für Dich geopfert hat, war umsonst.“

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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