Von der Front | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Die Performanz perfektionierter Produktivität

März 31, 2023

Weil ich scheinbar nichts anderes zu tun habe, als darauf zu warten, dass Dinge in mein Leben treten (auch bekannt als "Prokrastinieren"), habe ich einige Zeit damit verbracht, Videos zur optimalen Produktivitätssteigerung anzuschauen. Davon gibt es viele, es gibt bei Youtube einen Haufen Menschen, die sich mit der Thematik auseinandersetzen. Derzeit scheint Notion der heiße Scheiß zu sein, danach kommen wohl Obsidian und OneNote, demnächst wird wahrscheinlich Loop nicht nur als Teamworking-Tool die Runde machen, sondern aufgrund seiner maximalen Synchronisierungsfähigkeit in der Microsoft-Umgebung auch als Selbstorganisations- und Produktivitätswerkzeug entdeckt werden. Manche mögen es auch weniger digital, da sind es dann ToDo-Listen, oft in Kombination mit Pomodoros oder Atomic Habits oder die SuperBuch-Methode oder gleich ein Bullet Journal (mein Langzeitfavorit; vielleicht zeige ich das mal). Das ist natürlich nur eine Auswahl. Es gibt Dutzende weitere Systeme, das sind nur die, die mir ohne weitere Recherche eingefallen sind. Immerhin geht es hier nicht um das optimale System zur Selbstoptimierung, sondern darum, wie falsch das alles ist.

Es geht nämlich nicht um Selbstoptimierung, sondern darum, einen Sinn im Leben zu finden.

Und ja, das kann man auch kleiner aufhängen: es geht darum, dass wir das, was wir tun, nicht nur tun, damit wir etwas tun. Sondern dass es aus einem ganz bestimmten Grund getan wird: dass wir zufrieden sind. 
Gelernt haben wir das nicht, im Gegenteil. Selbst das spielerische Lernen im Kindergarten und der Grundschule, später das Leistungsnoten-Prinzip auf weiterführenden Schulen, Zeugnisse im Beruf - es führt dazu, dass der Sinn der Arbeit nicht gesucht wird, sondern nur das Erledigen der Arbeit. Gerade in nicht systemrelevanten Berufen geht es mehr um das Füllen und Arbarbeiten einer To-Do-Liste als darum, Wert zu schaffen, das Leben zu verbessern, die Gesellschaft zu einen. Das Ziel ist das Schaffen eines abstrakten Wertes: Erledigung. 

Nun ist das relativ albern und wenig erfüllend und darum sucht man sich einen anderen Zweck: die maximale Produktivität bzw. die Erreichung derselben durch ein möglichst optimiertes Produktivitätserreichungssystem. Beispiel: Bullet Journal. 
Ein sehr gutes System, um einen Kalender mit einer To-Do-Liste und einem Ort für kurze Reflexion zu schaffen. Analog, weil das beim Denken hilft, und ohne vorgegebenes Raster, weil das die Kreativität und auch die Freude fördert (und damit dem Ziel der Sinnfindung zumindest ein bisschen näher kommt).
Weil aber viele Menschen weniger Aufgaben als Zeit haben, wird das Bullet Journal selbst zur Aufgabe, es wird verschönert, gemalt, Sticker werden eingeklebt, inspirierende Zitate werden ausgesucht und liebevoll eingerahmt, es hat sich ein Markt für BuJo-Sticker, Monatstemplates und Washi-Tape-Dispenser gebildet. Es gibt Menschen, deren ganze Produktivität in die Ausgestaltung eines Werkzeugs zur Steigerung ihrer Produktivität fließt.  

Grundsätzlich ist das nicht unbedingt als schlecht zu bewerten, es ist schön für diese Menschen, dass sie diese Arbeit für sich als sinnvoll empfinden. Doch in Relation zum Großen Ganzen, also Klimawandel, Krieg, Pandemie etc. ist es doch relativ sinnentleert, das perfekte Coverbild für den nächsten Monat auszusuchen. 
Natürlich: Whatever gets you through the day. Auch das hat die Pandemie ja gezeigt: wir alle sind ja nicht nur mit den besten Coping-Mechanismen ausgestattet; und ein kurzer Besuch bei twitter zeigt, wie kurz die Zündschnur bei manchen Menschen ist: sie kontern selbst leichte Nachfragen gleich mit unterirdischen Beleidigungen. Sie wollen verstören, verletzen, vernichten; alles nur, um davon abzulenken, wie leer sie sind. 

Nicht, dass ein BuJo sie retten würde, aber vielleicht wäre das der geeignete Weg, sonst sinnlos in Hass kanalisierte Energie wenigstens schadlos umzuwidmen. Lieber einen weiteren Monatsspread in der Welt als transphobe Mord-Drohungen in einem vermeintlich sozialen Netzwerk. 
Natürlich ist meine Vermutung, dass der Hass genauso wie der Drang zum Perfektionismus auf das selbe Ungleichgewicht in der Welt zurückzuführen sind, wagemutig, um nicht zu sagen: aus der Luft gegriffen. Andererseits: was wir beobachten können ist eine zunehmende Sinnentleerung der Dinge, während gleichzeitig rudimentäre Bedürfnisse unerfüllt bleiben. Wir suchen nach der besten Morgenroutine (inklusive Meditation und Kaffeeritual), weil wir vor allem die Zeit haben für ein Morgenritual. Wir sammeln Statussymbole: Autos, Uhren, Schuhe, Markenklamotten, Smartphones, Snapchatfilter, drei Urlaube im Jahr, Füllhalter mit extra feiner Goldfeder und ein dotted-Notizbuch mit extra faserarmem Non-Bleed-Papier für das allerbeste Schreiberlebnis, Regenduschen, eine Kaffeestation in einem Ausziehregal in einem Wohnzimmerschrank mit Anti-Fingerprint-Mattlack, die PlayStation 5. Doch: wofür?

Es gibt Familien, auch in Deutschland, da teilen sich fünf Menschen 50 m². Es gibt in diesem angeblich so technikaffinen Land Familien ohne Computer, Internetanschluss, Handy. Was ja beim flächendeckend gedachten Heim-Unterricht während der Pandemie die bildungssoziale Schere noch ein wenig weiter geöffnet hat. Es gibt Kinder, die sich kein Mittagessen leisten können. Es gibt Menschen, die können nur davon träumen, jemals etwas zu besitzen, was als Statussymbol durchgehen könnte. Wobei auch sie sich vielleicht fragen: wofür?

Um die Leere zu füllen, die innere Verwahrlosung, das Verlorensein in der Welt. Um dazuzugehören zum Club derjenigen, die sich Dinge leisten, und seien diese Dinge noch so sinnbefreit. Um zu zeigen: ich habe etwas geleistet, habe etwas erreicht, habe es mir verdient. 
Sind diese Menschen geliebter? Sind sie glücklicher? Sind sie bessere Menschen? Leben sie bessere Leben? Retten sie die Welt? Sind ihre Bedürfnisse durch Symbole gedeckt? 
Natürlich nicht. Sie haben nur etwas gefunden, um die Leere zu überdecken, zu verstecken, zu vergessen. Die Leere aber bleibt: ein starrender Abgrund der Seele, ein Loch in der Welt. 

Vielleicht, wenn meine nächsten Weeklies besonders schön ausfallen, wenn ich lerne, Linien auch ohne Lineal gerade zu ziehen, wenn ich es schaffe, sowohl meinen Habittracker als auch meine Moodblume jeden Tag auszumalen, wenn ich beim Hinkalligrafieren der Wochentage nicht kleckse, vielleicht hat dann das Leben einen Sinn. Vielleicht ist es dann all den Ärger wert, den ich mir selbst mache, wenn ich meinem Perfektionismus nicht genüge. Wenn ich nur einmal einen einzigen Monat lang alles gut gemacht und endlich etwas vorzeigbares geschaffen habe, dann ist vielleicht das Leben nicht sinnlos gewesen. Wenn ich nur in meiner egozentrischen BuJo-Malerei ein Mal nicht versagt habe, dann habe ich vielleicht als Mensch nicht versagt. 

Falsch.

Es geht doch beim Menschsein nicht um Perfektion, nicht um Performanz, nicht um Produktivität. Es geht einzig und allein um Purpose, um Zweck, um Sinn. Es geht darum, sich mit anderen Menschen zu verbinden und etwas größeres zu schaffen als das, was wir alleine ohnehin nicht erreichen können. Es geht darum, nicht alleine zu sein mit unseren Ängsten, Sorgen, Nöten, Hoffnungen, Wünschen und Träumen. Es geht darum, dass wir nur dann Menschen sein können, wenn wir Mitmenschen haben.

Da nützt auch alle perfektionierte Produktivitätsperformanz nicht; im Gegenteil: die ganzen BuJo-Showoffs, die Desktop-Setup-Gurus, die Morgenroutine-Influencys: sie grenzen sich ab, wollen zwar vielleicht Teil einer Community sein, aber möglichst ihrer eigenen, wollen keine Peers, sondern Followys. Das Zeigen ihrer Produktivität ist weniger Passion als Posen. Schaut her, eifert mir nach, lebt nach meinem leuchtenden Vorbild. 

Was also tun? Wahrscheinlich das Übliche: Besinnung, Reflexion, Zurückhaltung und die ewig harte Übung, andere Menschen nicht nur als Arschlöcher, sondern als fehlbare Wesen zu sehen. Sie als potentielle Bereicherung zu begreifen, als Teile unseres Lebens. Denn ist es nun mal, ob wir es wollen oder nicht: wir stehen alle miteinander in Verbindung, teilen die gleiche DNA, das gleiche Biotop. Wir leben auf einem endlichen Planeten und können uns nicht entkommen. Da hilft es also nur, Kontakt zueinander zu finden und anzuerkennen, dass wir alle dieses Loch in uns fühlen, das uns nach einem Sinn im Leben suchen lässt. Wir teilen einen gemeinsamen Schmerz; und nur gemeinsam können wir ihn, wenn schon nicht überwinden, dann doch erträglicher machen. 

Das wilde Herz

März 27, 2023

Eigentlich will ich nur den ganzen Tag in der frisch aufgeräumten Dachbodenkammer zu Wild Heart von CATT tanzen. Vor allem, wenn die Synthie-Trompeten einsetzen gegen Ende, da läuft mir die Musik gänsehautig über den ganzen Körper; mit geschlossenen Augen und rhythmisch sich hebenden Armen will ich mich in der freigelegten Raummitte drehen, in jeder Runde mal einen Blick aus dem Fenster auf das aprilige Spätmärzwetter werfend, das mal Schnee, mal Regen, mal Sonnenschein, mal alles gleichzeitig bietet und manchmal einfach nur das Dunkel eines mitten in der Stadt unerwartet unbeleuchteten Hinterhofes. 

Eigentlich.

Uneigentlich gibt es Dinge zu tun. Nicht nachts um halb elf oder gegen Mitternacht, aber tagsüber. Morgens wollen die Handwerker ins Haus gelassen und begrüßt werden; obwohl sie wahrscheinlich wissen, was sie zu tun haben, habe ich doch das Gefühl, dass ich ihnen hilfreich zur Seite stehen muss, sollte es doch mal bauherrliche Entscheidungen zu fällen geben. Weitere Räume im Dachboden wollen auf- und vor allem ausgeräumt werden; klar, ich kann nur umschichten, die Handwerker sind im Haus, ich kann nicht wirklich weg, Sperrmüll entsorgen oder die abgezogenen Tapeten aus acht Räumen (inklusive Küche, Bad, Toilette, Flur) zur Müllverbrennung fahren. Und irgendwann sind auch hier oben alle Böden gewischt.

Also doch Computerarbeit: die Cloud ausmisten, doppelte und dreifache Daten aus unprofessionell durchgeführten Datensicherungen zusammenführen, Redundanzen ausmisten. Alte, ältere und uralte Blogbeiträge ins aktuelle Blog importieren (und sich nebenbei über das Geschriebene und schon wieder Vergessene wundern, manchmal auch darüber lachen). Vor allem Merkwürdigkeiten löschen: PDFs, die vielleicht mal hätten wichtig sein können, unbeabsichtigte Screenshots, auf Verdacht installierte, aber komplett ungenutzte Software (offensichtlich wollte ich auch mal Musik komponieren). Zwischendurch eine Bewerbung für eine komplett unerwartete Stellenausschreibung verfassen, weil das gesuchte Profil zu sehr meinem Lebenslauf ähnelt, als dass ich an meinem Vorsatz hätte festhalten können, mich erst um eine Arbeitsstelle zu bemühen, wenn ich tatsächlich hier wohne.

Natürlich auch viele Videos gucken, nicht unbedingt Musik (aber auch), sondern eher zu Gartengestaltung, Home-Office-Einrichtung, sogar Videos zu Waschtischarmaturen gibt es. Natürlich auch Booktube, Zelda-Hype, ASOIAF-Theorien und andere Popkultur. Ich habe so viele Interessen, zu viel, das mein Kurzschlussgehirn befeuern kann, meine Konzentration flackert schneller als ein Stroboskop. Ich lenke mich schon wieder ab, lenke mich dauernd ab, auch wenn das mitunter nur mit einem Buffy-Podcast ist, was das Aufräumen des Dachbodens sehr erleichtert, weil ich nicht dauernd alles hinterfrage, was ich in die Hand nehme, aber so richtig voran komme ich damit auch nicht. Sowohl die Podcasts als auch der aufgeräumte Dachboden sind nur temporary fixes, weder fange ich was mit dem Gehörten an, noch will ich hier oben wohnen; ansonsten könnten wir uns die Handwerkerorgie im zweiten Stock schenken. 

Andererseits.

Die Ablenkung scheint mir wichtig. Hätte ich sie nicht, ich müsste nachdenken. Ausnahmsweise nicht über mich selbst, die Selbstreflexion erschöpft sich momentan arg. Ich bin zu sehr zerstreut zwischen Orten und Zeiten, als dass ich mich um meine Befindlichkeiten kümmern könnte oder wollte. Später, wenn die Offensichtlichkeiten abgearbeitet sind: das Vorstellungsgespräch, das Bad, die Küche, die Fenster, der Garten. Die Farbe und Einrichtung des Arbeitszimmers. Der Abschied von der alten Wohnung, der alten Stadt und - viel dramatischer - von den alten Freunden. Die Wochen hier haben mir gezeigt, dass es mir im Zweifelsfall leicht fällt, Brücken abzubrechen. Oder, zutreffender, sie dem Verfall preiszugeben. Jedes Gespräch mit den Menschen in Bad Nauheim fühlt sich jetzt schon nach Abschied an, jedes "Bis zum nächsten Mal" kann sich auf April, Mai, Weihnachten oder 2024 beziehen. 

Viel schlimmer als das Mikrodrama des Abschieds von eigenen Gewissheiten ist aber das Wegbrechen der restlichen Normalität. Und ja, ich muss den eigentlich unweigerlichen Zusatz dazuschreiben: Was auch immer das sein soll. Normalität ist ein soziales Konstrukt, Kontrolle ist Illusion, die Wirklichkeit ein höchst subjektiver Zustand. Ich habe einen Blogbeitrag vor Jahren zur Wahrnehmung geschrieben, falls ich ihn beim weiteren Importieren wiederfinde, verlinke ich ihn hier. Über vermeintliche Kontrolle habe ich vielleicht im Rahmen der nur oberflächlich behandelten Pandemie geschrieben, ich erinnere mich schon nicht mal mehr, ob ich wirklich etwas über Corona geschrieben habe oder nicht. Vielleicht hatte ich da von Anfang an die gleiche Fatigue, die auch die Pandemie-Überlebenden von 1918 erfüllte, weswegen wir kaum Quellen von damals haben. Und Normalität ... Pft. 

Tatsächlich gibt es zu viel, worüber ich schreiben wollte, wenn ich mich nicht nur mit mir beschäftigen wollte. Der Krieg gegen die Ukraine, die Menschenrechtsverbrechen im Iran, das Abdriften Israels in den Faschismus, den irrlichternden Lobby-Konservatismus in den Vereinigten Staaten, der Drag und Abtreibungen verbietet, Waffengesetze und menschenfeindliche Strukturen aber unangetastet lässt. Und über allem der Klimawandel, der sich nicht übersehen, nicht wegdeuten, nicht mehr aufhalten lässt, auch wenn manche Menschen das nicht wahrhaben und wieder andere entweder gar keine oder nur die offensichtlich falschen Antworten darauf haben. Ach so, außerdem war heute Großstreik, weil die Inflation schneller die Gehälter von Durchschnittsverdienern auffrisst als sie erhöht wurden, während Gutverdienende immer häufiger zu Noch-besser-Verdienenden wurden. Von Menschen, die schon vor den aktuell über ein Dutzend Krisen kurz vor oder schon in Armut lebten, mal ganz zu schweigen. Erwähnte ich schon strukturellen Rassismus?  

Immerhin muss ich mich nicht auch noch um Fußball kümmern. 

2023 fühlt sich derweil an wie eine einzige Baustelle; und das mag durchaus an meiner sehr offensichtlichen Baustelle im zweiten Obergeschoss liegen. Tatsächlich aber fühlt sich die Welt im Allgemeinen so an, als sei zu viel auf einmal ins Rutschen gekommen, einiges durch Zufall, anderes durch Agitation, manches hat sich angekündigt, vieles scheint aus heiterem Himmel über uns hereingebrochen.

Und vielleicht ist das mit der Baustelle ja auch gar keine falsche Wahrnehmung: wir erleben einen Moment in der Erinnerung der Menschheit, der wie keiner vorher so vielen Menschen so präsent war. Wir sind in der Wahrnehmung der Welt bis ins Walz- und Walzenwerk der Geschichte vorgedrungen: vor unseren Augen legen sich die Ereignisse wie Lettern auf die Buchseiten der Ewigkeit, angetrieben vom unaufhörlichen Vergehen der Zeit presst sich die Zukunft auf dem Tiegel der Gegenwart in Vergangenheitssubstrat. Wir sehen direkt zu, wir sind so nah dran wie nie zuvor. Die Geschichte wird nicht mehr von den Nachkommenden, nicht von Historikern geschrieben: wir alle machen sie, und wie bei der Herstellung von Wurst sind wir nicht nur begeistert über die Art und Weise, wie das passiert. 

Dass das überfordernd ist, verwundert nicht. Dass sich Menschen in Ablenkungen flüchten, in die scheinbare Sicherheit sozialer Blasen zurückziehen, in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit schnell konfrontativ, mitunter sogar beleidigend werden, vielleicht in ihrer Hilflosigkeit und Panik rasch an die Grenze zur Gewalt (oder darüber hinaus) geraten; das ist nicht abwegig. Und doch nicht akzeptabel. Weder aus dem sehr offensichtlichen Grund, dass die eigene Überforderung mit der Gegenwart nicht zur Gefahr für die Zukunft anderer werden darf; noch aus dem viel dringlicheren Grund, dass wir alle miteinander am selben Strang ziehen sollten. Die Probleme, deren Eskalation wir gerade mit offenen Augen und Mündern beiwohnen, sprachlos, tatenlos, ahnungslos; wir können sie nicht alleine lösen, ja selbst als Gemeinschaften, als Städte, als Bundesländer, als Einzelstaaten sind wir nicht in der Lage, die eruptiv ausfransende Zukunft wieder zu zähmen. Es braucht uns alle. 

Ich habe übrigens keine Antwort auf das Dilemma. Ich will ja auch nur am liebsten den ganzen Tag Musik hören, die Augen geschlossen, die Arme gehoben, will tanzen und nicht auf das Chaos da draußen achten müssen, doch mein Herz, mein wildes, mein wütendes, mein weinendes, mein fürchterlich hoffnungsvolles Herz will glauben, dass wir das Ruder doch noch mal herumreißen können, nur dieses eine Mal, ein vielleicht letztes Mal noch, danach kommt hoffentlich und endlich die Zeit, in der alle Probleme gelöst sind und vielleicht doch noch Weltfrieden kommt. 

Dass das gleichermaßen naiv wie rahmschnitzelig klingt, ist mir bewusst. An das Gute im Menschen zu glauben angesichts der täglich empfangbaren schlechten Nachrichten von den Dingen, die sich die eben doch nicht so guten Menschen gegenseitig antun, ist eine ganz eigene Herkulesaufgabe. Aber es ist das Mindeste, was ich tun kann; denn das empathische Mitfühlen mit den anderen, das Erkennen, dass andere Menschen eigene Sorgen und Nöte und Hoffnungen haben und mitunter sogar eine eigene, vielleicht nicht immer hochkompatible Persönlichkeit besitzen; das Akzeptieren also, dass andere Menschen eben auch nur Menschen sind und dass in allen von uns ein wildes Herz schlägt, ist doch der erste, unabdingbare Schritt auf dem Weg in eine bessere gemeinsame Zukunft. 

How to drown

Januar 4, 2023

"So tun als ob", schrieb ich im Juli 2021, sei ja wohl nicht nur das einfachste, sondern vor allem das einzig richtige in einer Situation, in der das Sich-Zurecht-Finden mal echt nicht mehr funktioniert, weil der Kompass - und sei es aus Versehen - entnordet ist. Alles sei einfach, schrieb ich, wenn ich nur wirklich wollte.

Pfft.

"Fake it 'til you make it" ist ja wohl die bescheuertste Selbstlüge, die ich mir in den letzten Jahren erzählt habe. Ich springe ja auch nicht ins Meer, wenn ich zwar nicht schwimmen kann, aber plane, so zu tun, als wüsste ich es. Sich bewusst selbst zu überschätzen, ist eine der einfachsten Möglichkeiten, sich ins Unglück zu stürzen. 

Ich habe 2022 ein mir fremdes Leben simuliert, in Mustern gelebt, die mir nicht unbekannt, aber auch nicht eigen waren. Zwar hatte ich mit Urlauben, Theaterprojekten und Schreibwettbewerbe ein paar Bojen, die mich durch das Jahr gelotst haben, dazwischen lagen aber weite Meilen voller Nichts.

Diese seelische Leere hatte ich für 2020 erwartet, doch im ersten Corona-Jahr konnte ich noch von vorigen Reserven zehren. Die Daueranwesenheit meines Mannes gab meinem Tag Struktur, über die Vereine hatte ich Aufgaben, Digitalyoga hielt mich flexibel, und irgendwie war die Pandemie trotz allen Horrors ja auch aufregend. 

Im zweiten Corona-Jahr pendelten die Welt und ich uns ein in der allgemeinen Überforderung. Ich verließ ich meine Vereinsvorstände, mein Mann kehrte zurück ins Büro, und statt Yoga zu machen starrte ich jetzt immer häufiger vom Fenster aus auf Menschen, die komplett rationalitätsentkoppelt durch die Straßen marschierten. 

Mit leichter Restüberforderung bin ich dann ins dritte Jahr der Pandemie gestolpert. Aus Gesprächen mit anderen weiß ich (mittlerweile), dass es nicht nur für mich ein fragmentiertes Jahr war. Noch dazu war ich so viel weg wie seit Jahren nicht, und wenn ich mal daheim war, war ich doch nicht mehr daheim

Nach außen habe ich so getan, als sei alles in Ordnung, während in mir alles verfiel. Ich war desorientiert in meinem eigenen Leben und unfähig, die offensichtlichen Baustellen wirklich anzugehen. Stattdessen habe ich mir Youtube-Videos reingezogen, Netflix-Serien, Pornographie oder Soziale-Medien-Müll. 

Ich habe - offensichtlich - versucht, mich in einem Meer aus Nichtigkeiten zu ersäufen. Ich wollte - so meine Vermutung - einfach etwas fühlen, irgendwas. Oder - so meine Befürchtung - ich wollte nur nicht mich fühlen. Dann doch lieber einen sechsstündigen Verriss von Dr. Strange in the Multiverse of Madness gucken.

Hauptsache nicht denken. 

Denkvermeidung funktioniert leider nur an der Oberfläche. Das Gehirn arbeitet ja auch unbemerkt, es vermisst dauernd die Welt und rekalibriert unsere Erwartungen mit unserer Wahrnehmung. Und wenn der Tauchgang erst begonnen hat, geht es so lange abwärts, bis man ganz unten ankommt.

Gesunkene Erwartungen schwächen nämlich auch die Notwendigkeit ab, den kümmerlichen Status Quo zu ändern. Wer nichts erwartet, ist zwar schätzungsweise auch mit nichts zufrieden, wird aber auch nichts investieren, denn es gibt ja auch nichts zu gewinnen. Und irgendwann ist dann auch das Selbstwertgefühl ersoffen. 

Wenn man überhaupt noch fühlt. 

2022 sind einige Menschen in meinem Verwandten- und Bekanntenkreis gestorben, nicht an Covid, sondern an üblichen, nicht weniger einschneidenden Todesursachen. Aber entweder hat die Pandemie meine grundsätzliche Reaktionsfähigkeit auf das Sterben anderer Menschen eingeschränkt oder ich bin einfach kaputt gegangen. 

Mir ist das erst retrospektiv aufgefallen, als ich anlässlich des Jahreswechsels meine Tagebucheinträge des letzten Jahres durchgegangen bin. Wie häufig ich da aufgeschrieben habe, den ganzen Tag mit nichts als Videos zugebracht zu haben. Und wie beiläufig ich anlässlich eines Todesfall geschrieben habe: "Fühle nichts dazu."

Ich weiß nicht, wie das von außen ausgesehen hat. Eine Freundin hat vor ein paar Tagen zu mir gesagt, wenngleich im Kontext des angekündigten Umzugs, sie habe durchaus gemerkt, wie ich mich im letzten Jahr entfernt hätte, nicht nur von ihr, sondern auch von gemeinsamen Freunden und Bekannten. 

Wenn ich die Wahl hatte, habe ich lieber Unpässlichkeit vorgeschützt als mich in eine soziale Interaktion zu begeben. Mir waren selbst mir liebe Menschen lästig geworden. Als der Mann mal für eine Woche weg war, ist mir erst nach einigen Tagen aufgefallen, dass ich seit seiner Abreise mit niemandem mehr gesprochen hatte. 

So kann es nicht weitergehen, denke ich mir und frage mich gleichzeitig: was also tun? Partiell hat sich die Frage schon unbeabsichtigt beantwortet, weil der Mann und ich ja in eine andere Stadt ziehen. Meine Muster aus dem letzten Jahr werde ich dort so nicht aufrechterhalten können.

Gleichzeitig droht mir eine noch stärkere Verwahrlosung, weil ich da noch weniger mit Menschen zu tun haben muss als hier. Um mich irgendwie einzugewöhnen, Kontakte zu knüpfen, ein neues soziales Netz zu weben, werde ich wohl wieder arbeiten gehen, in Vereine eintreten, das Naheliegende eben. 

Ich muss aber meine Tage grundsätzlich neu strukturieren und ausrichten: Ich brauche eigene Projekte, Dinge, an denen mein Herz hängt, und die mich auch dann an die Oberfläche ziehen, wenn mir die Kraft zum Gerade-so-über-Wasser-Halten auszugehen droht. Eine Rettungsweste gegen den Ruf der Tiefe. 

"So tun als ob" ist nämlich nicht die Lösung auf die Frage, wie man mit selbsterschütternden Krisen umgeht. Es kann nicht darum gehen, sich und anderen etwas vorzumachen in der Hoffnung, niemand und vor allem man selbst würde nicht erkennen, wie ernst die Lage ist. "So tun als ob" ist nicht die Lösung, sondern: Tun.

Mut zur Lücke

Dezember 12, 2022

Neulich habe ich mich mit meinem Zahnarzt über Linkshändigkeit unterhalten. Oder anders: während ich dem Krampf im schmerzhaft weit geöffneten Kiefer mit Entspannungsatmung entgegenmeditiert habe, sprach er davon, wie er einerseits davon profitiere, als umgelernter Linkshänder beidhändig behandeln zu können, dass er aber andererseits glaube, seine Eltern und Lehrer hätten ihm damals das Gehirn zerschossen, als sie ihn zum Rechtshänder erzogen haben. Er führte nämlich seine Leseschwäche darauf zurück, dass er nicht nur gleichzeitig habe Lesen und Schreiben, sondern eben auch eine veränderte Handdominanz erlernen müssen.

Ich fand das plausibel, konnte aber nur sagen: "Ghingt ghgigl."

Der Leseschwäche verdanke er einerseits sein fast fotografisches Gedächtnis, andererseits aber auch, weil er nicht schnell lesen könne, eine sehr gründliche Ausbildung. Er habe nicht einfach Dinge überfliegen können, sondern immer alles komplett durchdringen und vor allem verstehen müssen. Andere könnten vielleicht grob lesen und dabei entscheiden, was erstmal wichtig und was unwichtig sei, er habe immer alles gleich gründlich lesen müssen, denn den Luxus mal eben etwas nochmal lesen zu können, hatte er nicht. Diesen Mut zur Lücke, den andere besäßen, hätte er sich nicht leisten können.

Hätte ich nicht eben den Mund voller Instrumente gehabt, ich hätte gesagt: "Als Zahnarzt Mut zur Lücke zu haben, ist ja auch nicht geschäftstüchtig." So habe ich halt irgendwas gegurgelt und versucht, dabei keinen Speichel in die Lunge zu bekommen.

Ich jedenfalls kenne diese Problem nicht. Ja, ich kann auch viel auswendig lernen (sonst liefe das mit dem Theater deutlich schlechter), aber gleichzeitig habe ich die Geduld nicht, langsam zu lesen. Ich kann (und will) eine Seite pro Minute lesen, manchmal bin ich auch schneller, wenn das Buch seichter oder die Buchstaben größer sind. Dadurch lese ich aber auch nicht gründlich, ich übersehe ab und an ein Detail, das vielleicht fürs Verständnis relevant gewesen wäre; manchmal musste ich mir darum auch Zusammenhänge zusammenreimen oder selbst erklären. Hat gut funktioniert, aber diesen Mut zur Lücke habe ich oft mit einer gewissen Unsicherheit im Gelernten bezahlt. Andererseits ist es bei meinem Gehirn, das ohnehin die Tendenz hat, sich lieber mit neuem Input zu beschäftigen, als lästige (wenngleich manchmal nützliche) Details zu behalten, unabdingbar, dass ich einen gewissen Mut zur Lücke entwickelt habe. Oder anders: ich vergesse halt auch viel.

Vielleicht erklärt das mein aktuelles Hadern: Meine Tendenz, mich nicht mit Details aufzuhalten, führt oft dazu, dass ich Entscheidungen auf Basis unvollständiger Informationen fälle. Sprich: ich zweifle an, ob Dinge, die in meinem Leben passieren, so passieren müssen, wie sie passieren. Oder ob die Entscheidung, die ich gerade treffe, wirklich die richtige ist.

Was mich umso mehr verwundert, weil es eigentlich ein alter Traum von mir ist, in das Haus zu ziehen, in dem meine Großeltern den größten Teil ihres Lebens gelebt haben. Nach deren Tod haben meine Eltern das Haus nicht verkauft, sondern vermietet. Und jetzt, da die letzten Mieter ausgezogen sind, wollen der Mann und ich einziehen. Also der Mann will; ich bin mir da manchmal nicht sicher. Ich fremdele plötzlich mit der Idee, in eine andere Stadt zu ziehen. Eine Stadt, die ich zwar kenne, aber nicht gewohnt bin. Eine Stadt, die deutlich größer, im Bevölkerungsdurchschnitt deutlich jünger und dadurch deutlich lebendiger ist als Bad Nauheim. Die eine reichere Kulturszene hat, eine Universität und vor allem ein Haus mit Garten, das meiner Familie gehört. Und doch: ich habe dort nichts außer Ziegelsteine und Mörtel. Mein soziales Netz ist hier; ich habe 16 Jahre daran geknüpft. Als jemand, der lange Zeit sehr zurückhaltend dabei war, sich anderen Menschen anzuvertrauen, befürchte ich, dass es mir nicht leicht fallen wird, das, was ich hinter mir lassen werde, wenn wir umziehen, zu ersetzen. Ich bin Teil eines großartigen Theaterensembles, ich habe dadurch viele Freundschaften geschlossen, ich habe durch meine sonstigen beruflichen und ehrenamtlichen Tätigkeiten viele Bekanntschaften. In Bad Nauheim, das trifft es vielleicht auch ein bisschen, bin ich wer. Ich habe eine Identität, ich dachte, ich wäre angekommen.

In der neuen Stadt werde ich das nicht haben. Ich bin ein Fremder dort, fremd in einer Stadt, die ich eigentlich kennen müsste. Die aber mich nicht kennt.

Manchmal springt der Funke über. Dann erkenne ich, dass diese Unkenntnis auch von Vorteil sein kann. Ich bin dermaßen angekommen in Bad Nauheim, dass ich in einer Rolle festzuhängen scheine. Nicht theatertechnisch, da bin ich (angeblich) immer wieder anders. Aber außerhalb des Theaters bin ich lethargisch geworden, unwillig, mich aufzuraffen, unfähig, Veränderungen mitzugestalten, zu moderieren. Oder überhaupt zu goutieren. Ich bin verfestigt in Bad Nauheim, unflexibel.

In der neuen Stadt schlage ich ein sehr neues Kapitel auf. Eines, in dem ich mich auch selbst neu kennenlernen kann. Neu kennenlernen werde, weil ich die neue Stadt kennenlernen muss. Neu kennenlernen, denn obwohl ich ja auch schon mal vor über zwei Jahrzehnten ein paar Monate dort gelebt habe, kenne ich doch nichts wirklich. Ich kenne Porto besser als die neue Stadt.
Und ich kann mich damit selbst herausfordern. Kann mich selbst neu erfinden. Und kann zumindest auch endlich diese Sehnsucht begraben, die mich seit langem an diese Stadt bindet. Denn eigentlich wollte ich dort immer leben. Ich will nur nicht alles aufgeben, was ich in der Zwischenzeit hier erlebt und geschaffen habe.
So ist es aber manchmal mit dem Leben, schätzungsweise. Wir verändern uns, wir verändern unseren Wohnsitz, wir ziehen manchmal nur eine Straße weiter, manchmal in einen anderen Stadtteil, manchmal in ein anderes Land. Und dann passen wir uns an.

Ich fürchte mich vor dem Neuanfang, weil ich befürchte, nicht neu anfangen zu können. Weil ich vielleicht nicht weiß, wie das geht. Weil ich vielleicht zu sozialinkompatibel geworden bin.

Ich weiß, dass diese Ängste unbegründet sind. Ich bin 42, ich bin ein offener Mensch, ich bin in der Lage neue Menschen kennenzulernen. Und ich ziehe ja nicht allein in die neue Stadt. Der Mann kommt ja mit, und das ist eh das wichtigste.

 Ich habe vielleicht auch Angst, dass ich all die Menschen, die ich in Bad Nauheim kennen- und lieben gelernt habe, vergessen könnte, dass vielleicht auch sie mich vergessen könnten, weil das Leben einfach andere Prioritäten bereithält. Im Theater werde ich ersetzt werden, im Freundeskreis wird sich die Lücke, die ich hinterlassen werde, nach und nach schließen. Das Leben geht für uns alle weiter; etwas anderes von jemandem zu verlangen, wäre nicht nur selbstsüchtig, sondern auch relativ unmöglich.

Ich werde die Menschen vermissen, die ich hinter mir lassen werde. Aber ich weiß auch, wir werden uns wiedersehen. Bis dahin sammele ich all meinen Mut, diese Lücke, die in meinem Leben entstehen wird, zuzulassen. Und dann eben aktiv daran zu arbeiten, sie zu kompensieren.

Gut, dass das beim Zahnarzt nicht so läuft. Da habe ich meine letzte (und gesprungene) Amalgamfüllung gegen neue Keramik ausgetauscht. Manchmal ist es besser, das Alte loszulassen und einfach die notwendige Veränderung zuzulassen. Wer den Wandel nicht gestaltet, heißt es ja, wird von ihm überrollt.

Die Verschiebung

November 7, 2022

Abgemahnt worden, Angst bekommen, davonlaufen wollen. Grüß Gott, das ist mein neues Muster: Eine wilde Konfrontation poppt auf, ich renne weg. Das meinte ich nicht, als ich von Fortschreitungen schrieb. 

In den letzten Wochen häuft sich das: Situationen des Diskomforts, nicht einfach nur des sich nicht Wohlfühlens, sondern der imminenten Panik, einhergehend mit kompletter Paralyse. Beim geringsten Anzeichen von Feindseligkeit, an- oder wahrgenommen, schaltet mein Körper in einen Fluchtmodus, den ich nur damit begrenzen kann, dass ich mich immer tiefer in mich zurückziehe. Ich weiß einfach nicht, was sonst zu tun. 

Mir ist nun, da diese Abmahnung mich in Versuchung geführt hat, das gesamte Internet zu löschen (siehste selbst: ist nicht passiert), das Musterhafte daran aufgefallen, das Automatische, das komplett und eben doch nicht uncharakteristische für mich. Für jetzt. Für diesen Moment, in dem ich mich befinde. 

Die Abmahnung an sich lehrt mich übrigens zweierlei: Erstens lassen sich Googlefonts auch lokal einbinden, da muss keine Verbindung zu Google aufgebaut werden, durch die sich dann jemand in Persönlichkeitsschutzrechten verletzt fühlen kann. Inwieweit sich daraus (also aus diesem Gefühl) legal Schadensersatzansprüche ableiten lassen (vor allem in der Masse an Abmahnungen, die selbst auf Laien rechtsmissbräuchlich wirken), kann bei cr online nachgelesen werden. 
Die wichtigere Erkenntnis, zweitens also, ist eine weitere Enttäuschung meines Menschenbilds. Ich bin nicht nur konfliktscheu, ich bin auch zu naiv offensichtlich. Obwohl mir jeden Tag erschütternde Nachrichten aus dem Fernseher ins Wohnzimmer fallen (zuletzt besonders horrend: amerikanische Wahlwerbespots, in denen Menschen ihre politische Kompetenz mit dem Tragen und Benutzen von Waffen zu unterstreichen versuchen), bin ich doch jedes Mal wieder aufs Neue enttäuscht oder entsetzt oder einfach nur baff, wie wenig mitmenschlich manche Menschen agieren. 

Und da rede ich noch nicht mal über das richtige Elend in der Welt (da komme ich gleich noch drauf), sondern über die ganz einfache Frage, was denn das Richtige, das Menschliche wäre. Was sollte ich ganz konkret tun, wenn ich feststelle, dass jemand Googlefonts auf einer Webseite einbindet, obwohl es doch viel besser (und vielleicht persönlichkeitsrechtschutzwahrend) wäre, das lokal zu tun? Sollte ich da eine strafbewehrte Abmahnung schicken oder einfach nur eine E-Mail mit einem Hinweis, dass das zu einer Strafe führen könnte, sollte sich eine Verletzung von Persönlichkeitsschutzrechten nachweisen lassen?

Natürlich würde ich eine Mail schreiben. Natürlich würde ich warnen, aber ich hebe ja auch Jacken vom Boden auf, die anderen Leuten vom Stuhl gerutscht sind, und hänge sie wieder über die Rückenlehne. Neulich habe ich trotz eingeklemmtem Rückennerv und der Angst, meinen Anschlusszug zu verpassen, einer Frau mit Kinderwagen beim Ausstieg geholfen. Zuletzt habe ich im Wartezimmer mit weniger Sitzplätzen als Wartenden zweimal meinen Stuhl weitergegeben und mich hingestellt, obwohl ich wegen einer Fußverletzung beim Arzt war; aber die jeweils andere Person schien einfach eines Sitzplatzes bedürftiger. 
Ich verstehe es einfach nicht, wie man anderen Menschen gegenüber missgünstig sein kann, wie man auf Kosten anderer Profit will, wie man die Ängste anderer Menschen schüren kann, um sie zu kontrollieren. Ich verstehe nicht, wie manche Menschen ihre Menschlichkeit aufgeben, um sich über andere Menschen zu erheben. 

Und mit "Ich verstehe es nicht" meine ich tatsächlich: ich verstehe es nicht. Mir fehlt das Verständnis dafür, wie skrupellos, wie misanthrop, wie sozial verwahrlost jemand sein muss, um anderen den eigenen Willen aufzuzwingen. Ich verstehe die Menschenverachtung Trumps nicht, die Machtbesoffenheit Xi Jinpings nicht, den Hass der Ajatollahs nicht und die ganz allgemeine Irrationalität Putins nicht. Ich habe Vermutungen, wieso diese Menschen so agieren, wie sie agieren, und weshalb sie keine Hemmungen haben, das Unglück Hunderter, Tausender, Hunderttausender nutzen, um sich persönlich zu bereichern, sei es nun mit Macht oder Geld. Und zwar nicht einfach in Kauf nehmen, wie Menschen, die sich jedes Jahr ein neues Handy besorgen, das Leid von Minenarbeitern oder Wanderarbeitern stillschweigend übergehen; sondern mit dem Blut ihrer Opfer ihre eigenen Lobeshymnen schreiben. 
Aber diese Vermutungen laufen meist auf einen recht einfachen und naiven Gedanken heraus: Sie wurden nicht geliebt und können nicht lieben. 

Was aber tun mit dieser vermutlich nicht besonders hilfreichen Erkenntnis? Was tun mit der Angst vor der nächsten Abmahnung? Oder wie überhaupt mit Konfrontationen umgehen? Das Blog dichtmachen? Das Muster befolgen? So tun, als wäre ich ein Opfer, als hätte ich nicht eben erst darüber geschrieben, dass ich kein Opfer mehr sein wollte? Erst recht nicht ein Opfer meiner selbst?

Ich könnte aufhören, weggehen statt einfach nur fortschreiten. Passend: meine Domain verlängert sich automatisch diesen Monat, um ein Jahr, wenn ich nicht kündige. Als wäre dies ein Zeichen. Als müsste ich mich nicht einmal selbst für oder gegen etwas entscheiden, die Umstände haben schon meinen Weg vorgezeichnet. 
Aber mein einer Tag auf twitter nach der Musk-Übernahme hat mir gezeigt: Wer den Diskurs verlässt, darf sich nicht darüber aufregen, wie er sich entwickelt. Wer die eigene Stimme nicht erhebt, darf sich nicht darüber wundern, nicht gehört zu werden. Und auch wenn mich kaum jemand liest (erst recht nicht die Menschen, die mich abgemahnt haben), so ist es doch wichtig, dass ich wenigstens um meiner selbst willen nicht aufhöre, meine Stimme zu erheben. 

Auf ein Neues also. 

Anders

Midlifebekrister Syndromimposter; underperformend, hyperwoke.

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