Von der Front | ANDERSWOLF

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Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Unpasslichkeiten

Von der Front
September 4, 2023

Klamotten aussortiert. Hatte ich seit Jahren vor, jetzt gibt der semi-akute Umzug die nötige Zusatzmotivation. Über ein Dutzend farbverirrte Strickjacken und Pullover, über ein Dutzend geschrumpfte Hosen und über ein Dutzend zermusterte Hemden: macht keine Freude, raus damit. Der Kleiderschrank sieht dennoch kaum leerer aus, erst jetzt fällt auf, wie arg die untragbare Mode in den Schrank gequetscht war. 

Nun bin ich ja kein Fast-Fashion-Typ, der sich dauernd neue Sachen kauft. Das Ausgemusterte lag seit Jahren, teils Jahrzehnten ungetragen im Schrank und wurde dabei weder weiter noch hipper. Die Klamotten und ich - wir haben uns mit der Zeit einfach so weit von einander entfernt, dass wir einander nicht mehr passten. Sich zu trennen, war also die einzig richtige Lösung. 

Manchmal weiß man sowas: dass eine Entscheidung getroffen werden muss, die vielleicht lästig ist, die vielleicht aufwendig ist, die vielleicht mit der Anerkennung einer schmerzhaften Wahrheit zu tun hat (und sei es nur, dass ich einfach keine beigefarbenen Rippenstrickjacken aus Polyacryl in Größe S mehr tragen kann/will/sollte); und man schiebt sie trotzdem vor sich her. Hilft alles nix: Macht es keine Freude mehr, muss man loslassen. 

Leider passiert das nicht nur bei Kleidung, manchmal trifft es die Essenz eines Lebens. Wie oft beispielsweise habe ich mir schon vorgenommen, das Geschreibsel sein zu lassen; diesen Traum von lukrativer Wortarbeit aufzugeben. Ist ja nicht so, als wäre ich täglich dabei oder hätte außerhalb meines Blogs oder von Wettbewerben großartig was veröffentlicht. 

Ich kann aber trotz aller Hiatus - irritierenderweise lautet der Plural von /hiˈaːtus/ wohl /hiˈaːtuːs/ - dann immer wieder doch das Bedürfnis zu schreiben, und sei es "nur" ein Blogeintrag. In einer der letzten Bewerbungen habe ich die für mich immer wieder neue Entdeckung ins Anschreiben eingepasst (wenngleich anders formuliert), dass mich Schreiben ordnet und erdet und mir eine Welt erklärt, die mir sonst unpassend scheint.

Tatsächlich ist die Erkenntnis weder neu noch allein meine, spätestens seit ich Julia Camerons Ansatz der Morgenseiten für mich entdeckt habe (und es mir damit deutlich besser ging als vorher oder nachher), weiß ich, dass ich nicht der Entdecker dieser These bin. Andererseits habe ich irgendwo einen Zettel, auf dem ich als 13jähriger schon festgehalten habe, dass ich mich schreibend besser (oder zumindest weniger verwirrend) ausdrücken kann als mündlich. 

Und dann wieder gibt es Momente, da versage ich sogar schriftlich. Bei den Schriftstellern beispielsweise verheddere ich mich statt in Textarbeit immer wieder in Diskussionen zu gesellschaftspolitischen Themen. Da versuche ich eine Lanze für progressive Empathie zu brechen, interpretiert wird es mir aber als überhöhter Schwachsinn. 

Wobei mir tatsächlich unklar ist, ob sich meine Argumentation so verheddert hat, dass ich meinen Punkt nicht verdeutlichen kann, oder ob sie schlicht falsch ist, zu radikal oder nicht informiert genug. Oder ob ich doch recht haben sollte, das Publikum aber mit meinen Worten nicht erreiche. Ich erlebe nur, dass meine Perspektive nicht zu der der anderen passt. 

Dabei wollte ich bei den Schriftstellern ja gar nicht über Weltanschauungen diskutieren, sondern über Texte. Irgendwie kann ich das aber nicht. Denn entweder will ich so gründlich sein, dass meine "Analyse" eines 250-Zeichen-Textes dreimal so lang ausfällt, oder aber ich habe zu einem Text nichts zu sagen außer "Gefällt (nicht)." Und das hilft ja nun auch niemandem weiter. 

Einzig bei Wettbewerben bin ich nie auf die Tastatur gefallen, da haue ich Kritik um Kritik raus ohne Rücksicht auf Verluste (und schäme mich hinterher für die Harschigkeit); vielleicht liegt es an der zeitlichen Enge, vielleicht an der relativen Vergleichbarkeit von Texten, die der selben Prämisse folgen (sollten). Vielleicht liegt es am überschaubaren Commitment. Da jedenfalls bin ich nicht schreibfaul, nicht übergründlich, ich sortiere impulsiv aus, was mir nicht passt.  

Jetzt - scheint es - habe ich mich selbst aussortiert. Bei einer Diskussion über den Barbie-Film, das Patriarchat und den Feminismus bin ich auf einer Inselmeinung gestrandet, zu der mir andere nicht folgen konnten. Oder - und das will ich niemandem unterstellen, nur um mich selbst nicht hinterfragen zu müssen - nicht folgen wollten. Denn ich weiß, dass ich falsch liegen kann; ich weiß nur nicht, ob das der Fall ist, wenn die Gegenseite einfach ausfällt. 

Andererseits: ich gehöre ja auch nicht zu den Schriftstellern, bin nicht einer von ihnen, bin nur Gast, der irgendwie immer in den Orkus von Diskussionen gerät, die mich in eine radikale Wokeness-Ecke spülen, in die ich mich selbst nicht einsortieren würde. Und wie bei den Wettbewerben, wo in der Regel meine Einschätzung zu Texten weit von der Rezipienz anderer abweicht, mache ich mich so aus Versehen und gegen meinen Willen zum Außenseiter. 

Wahrscheinlich klingt das nach Selbstmitleid oder Verbitterung. Klar, ich bin traurig, aber nicht enttäuscht. Irritiert vielleicht, wie bei den Hemden, die sich in der hintersten Ecke des Kleiderschranks versteckt hielten. Da fragt man sich auch, wieso man je gedacht hat, dass das hätte passen können. Hätte doch offensichtlich sein müssen, dass manche Farben und Muster nicht harmonieren; von falschen Größen mal ganz abgesehen. 

Da hilft dann nichts anderes als sich zu fragen: "Macht das noch Freude? Oder kann das weg?" Was ja nicht heißt, dass alles damit Zusammenhängende falsch gewesen wären - im Gegenteil: Wer oder was uns begleitet, entspricht Phasen unseres Lebens. Und irgendwann entwachsen wir diesen Phasen, diesen Kleidungsstücken, diesen Menschen. Und dann ist es wahrscheinlich besser, sich kurz und schmerzhaft zu trennen. Weil es eben nicht mehr passt. 

Die Kleiderkammer übrigens hat alles angenommen - leider ist aber auch da das Gespräch eskaliert (liegt also wohl doch an mir). Die Damen dort waren ungehalten über Tütenverbote, das Bürgergeld, den "Heizungshammer", kinderreiche Familien und die angeblichen 83 %, die sich von den restlichen 17 % durchfüttern ließen. Als sie dann noch sagten, dass man ja bald kaum mehr wisse, ob einem das eigene Land überhaupt noch gehöre, war ich schon out of Widerspruch.

Ich hatte nur meinen Kleiderschrank ausmisten, nicht reaktionäre Motten jagen wollen; noch dazu in einer Einrichtung, die gebrauchte Kleidung zu niedrigen Preisen an Menschen im Prekariat ausgibt. Ich hatte dort Menschen mit Gemeinschaftssinn erwartet, keine fremdenfeindliche Silberrückenbrigade. Andererseits bin ich ja gerne naiv. Nur weil jemand aussieht wie eine nette Omi, heißt das nicht, dass sie einem nicht den Rollator in die Hacke dengelt.

Die Klamotten habe ich trotzdem dagelassen. Ist ja nicht die Schuld der Bedürftigen, dass sie bedürftig sind - auch wenn sowohl die Silberrücken als auch die Schriftsteller da sicherlich anderer Meinung sind. Ich werde sie nicht überzeugen; Menschen - eine weitere Erkenntnis, die ich leider immer wieder vergesse - können sich nur selbst überzeugen. Gegen eingefahrene Meinungen kommt man von außen einfach nicht an. 

Und dann hilft einfach nur: loslassen. Sei es das Ego; sei es das einst heißgeliebte Hemd mit den Palmwedeln drauf, von dem man dachte, es lasse einen lässig erscheinen (außerdem war der Stoff sehr weich), dabei war es einfach nur grau; sei es eine verwirrende Institution, zu der man ohnehin nie einen richtigen Draht gefunden hatte. Was nicht passt, kann selten passend gemacht werden. Manchmal kann die Frage "Wird es jemals wieder Freude machen?" nur verneint werden.

Gleichzeitig kann man nie etwas wirklich wissen. Feststellungen sind Momentaufnahmen aktuellen Kenntnisstandes, selten Absoluta. Wir können ja in uns selbst schon nur begrenzt hineinsehen, wie sollen wir da Mitmenschen oder die Welt verstehen? Alle Zuschreibungen sind gefärbt von Meinungen, Erwartungen, Umständen. Wir treffen auf Basis der Vergangenheit Annahmen über die Gegenwart, ohne zu wissen, ob sie auch in Zukunft passen.

Manchmal liegen wir richtig damit, manchmal nicht. Aber jetzt sortiere ich erstmal aus.   

Zeitumkehr

Von der Front
Juli 20, 2023

Wie die Tage ineinanderfließen. Eben war noch letzte Woche, gleich ist August. Demnächst vielleicht Umzug, seit einem halben Jahr demnächst vielleicht Umzug; und trotzdem ist die Zukunft nicht greifbar, die eigentlich schon Gegenwart sein sollte. Die alte Heimat ist fast nur noch Traum, Erinnerung, ein Es-War-Einmal. Gleichzeitig ist die neue Heimat ein Noch-Nicht, eine Vorstellung, eine Hoffnung. Noch ist es nicht soweit. Noch ist nichts so weit. 

Noch. Nichts schlimmer als Hoffnung, als Warten, ungewiss sein. Nichts schlimmer als wieder und wieder die Deadline gerissen zu sehen. Wann darf ich endlich loslassen, wann darf ich endlich fallen? Wann bin ich frei genug, ein neues Leben anfangen zu dürfen? Oder hat das neue Leben vielleicht schon begonnen, und ich sehe es nur noch nicht?

Derweil fließt alles ineinander und doch an mir vorbei: bin ich nicht auf der Baustelle, bin ich in Hyrule: Tears of the Kingdom, das jüngste "Legend of Zelda"-Spiel, lässt mich nicht los. Noch eine Herausforderung in meinem Leben. Genau was ich brauchte. Als überforderten mich nicht schon genügend unfertige Projekte. Vielleicht brauche ich es aber wirklich: weil es etwas ist, was ich beherrschen kann und auch beherrsche. 

Eine Spielmechanik von Tears of the Kingdom (zungenfreundlich abgekürzt TOTK) ist die Zeitumkehr. Dingliche Bewegung kann rückgängig gemacht und so für das eigene Fortkommen genutzt werden. Felsen, die aus einem bislang noch unklaren Grund aus den Wolken gefallen sind, dienen so dem Aufstieg in den Himmel: einfach Zeitumkehr hinzufügen, voilà, Sie baden gerade Ihre Hände darin.

Natürlich ist das ohnehin ein Grundmotiv des Spiels: der Wunsch nach Rückkehr in die Vergangenheit, in ein Goldenes Zeitalter, das irgendwie verschütt gegangen ist. Kennt man, den Wunsch, ist ja mehr oder weniger spezifisch den meisten von uns inert. Zumindest all jenen, die irgendwie das Gefühl haben, dass früher mal alles besser war. Oder zumindest besser gewesen sein musste, denn so schlimm wie heute war es noch nie. 

Wahrscheinlich alles eine Frage der Erwartungshaltung. Wenn ich meine Situation gerade suboptimal finde, hoffe ich natürlich auf Besserung; wenn die aber nicht eintritt, sondern - wie üblich - der Status Quo nur eine Verlagerung der Baustellen erlebt, dann ist zwar nichts besser oder schlechter, meine zu optimistische Erwartung wurde trotzdem unterlaufen. Anders reicht einfach nicht als Veränderung, es soll schon auch gut sein. 

Rückblickend könnten wir den Fehler daran erkennen. Da könnten wir die Erwartungshaltung anpassen, da könnten wir analysieren, dass nicht die Ergebnisse ernüchternd, sondern die Hoffnung im Vorfeld zu groß, zu naiv war. Da könnten wir uns sagen: Wir haben uns beim Buffet möglicher Enttäuschungen zu großzügig bedient und einiges nicht abräumen können (wie bei jedem All you can eat put on your plate).

Natürlich sagen wir das nicht, erkennen wir das nicht, akzeptieren wir das nicht. Wir sehen nur die gerissenen Deadlines, die enttäuschten Gesichter, den Frust, die schlechte Laune. Vielleicht auch darum TOTK. Da gibt es keine Enttäuschung, das Unglück ist passiert, die Apokalypse liegt hinter uns, was soll man machen. Muss ja irgendwie weitergehen, man richtet sich ein am Abgrund, der sich plötzlich im eigenen Leben aufgetan hat. Und lebt damit.

Denn alles rückgängig machen, den bösen Geist wieder in die Flasche, das dunkelrote Geschmier, das sich über die WElt gelegt hat, wieder zurück in die Zahnpastatube stopfen, das geht nicht. Die Zeitumkehr erschöpft sich auf der Kurzstrecke, den letzten 30 Sekunden. Noch dazu ist sie nicht auf Komplexität ausgelegt, nutzt die historisch-kinetische Energie nur eines einzelnen Dings, seine (wie es spielintern heißt) Kurzzeiterinnerung an einen subtil früheren Zustand, der Rest des Systems folgt weiter seinem Lauf (so physikalisch/logisch falsch das auch sein mag).

Trotzdem verspüre ich im Spiel ein Gefühl von Selbstwirksamkeit, über das ich in der Realität nicht verfüge. Ich bringe Dinge in Bewegung, ich bringe NPCs in ihren eigenen Geschichten und Handlungspunkten voran, und wenn ich mal nicht weiter weiß, schaue ich in meinem Logbuch mit Quests und Aufgaben nach. Alles im Spiel ist vorprogrammiert, ich bin die einzige Variable und selbst als solche noch Teil des Musters. Die Frage ist nicht, ob ich auftauche, sondern nur: wann.

Im Spiel geht alles seinen Gang, und wenn es den nicht geht, dann kann ich einen früheren Spielstand laden und es einfach erneut probieren. In der Realität funktioniert das natürlich nicht. Überhaupt ist die Realität dreisterweise ganz anders. Nicht nur hadern die NPCs dauernd mit allem (auch noch mit der jüngst überwundenen Apokalypse), sie handeln auch oft eigenständig und unvorhersehbar, folgen keinen vorhersehbaren Mustern. Lästig.

Könnte ich einen früheren Stand der Renovierungen laden, ich würde einiges anders machen. Anders planen, anders kommunizieren, anders koordinieren. Auch grundsätzlich andere Entscheidungen treffen, manche Dinge streichen. Ich würde auch rund um die Baustelle einiges verändern. Hätte ich gewusst, wie lange ich auf dem Dachboden leben würde, ich hätte mich anders in diesem Leben eingerichtet. 

Hätte, hätte, Fahrradkette. Wir können das Geschehene nicht rückgängig machen, heißt es, wir können nur daraus lernen. Ich habe es versucht, daraus zu lernen, und doch habe ich das Gefühl, nicht weiter zu sein als zu Beginn. Doch: etwas in mir ist anders, ich bin einsamer, mürber, zwischen Es-war-einmal und Noch-nicht zerrissen, zeitlich und räumlich. Meine Haut ist dünn geworden in diesen Monaten und ich wünschte, ich würde mir nicht wünschen, es wäre anders.  

So aber bleibt alles, wie es ist. Die Tage fließen ineinander, die Nächte blinzeln sich weg; eben war noch letzte Woche, demnächst ist schon August. Und der Umzug. Der ist nah oder fern, irgendwann auf jeden Fall. Außer, es kehrt mir doch noch jemand die Zeit zurück. 

Das veränderte Klima

Von der Front
Juni 20, 2023

Mit R. gesprochen, dem künftigen Nachbarn. Wie die Bauarbeiten voranschritten (und nicht: wann sie endlich vorbei seien), ob wir uns auf den Umzug freuten (und nicht: wann die praktischen Parkplätze in der Einfahrt belegt seien), und ob wir uns schon auf das veränderte Klima eingestellt hätten. Und meint damit nicht das Wetter.

Die Menschen hier, sagt er und meint damit die Gesellschaft, seien zunehmend kalt, abweisend, oberflächlich geworden. Sie hätten so hohe Mauern um sich gezogen, um sich unangreifbar zu machen, und gleichzeitig besäßen sie so wenig Resilienz, dass sie beim geringsten Gegenwind gleich auf Angriff schalteten. 

Ich befürchte, dass wir an verschiedene Menschen denken. Er meint vor allem die Jungen und Jüngeren, die er in seiner pädagogischen Arbeit tagtäglich vor sich sitzen hat. Die sich entweder von TikTok fesseln lassen oder sich auf die Straßen kleben oder ganz einfach überfordert sind mit den Komplexitäten einer sich zu rasch wandelnden Welt, die ihnen aber auch niemand endgültig erklärt oder erklären kann. Weder-noch übrigens: weder die Komplexitäten noch die Welt.

Ich meine eher, als ich an ihm vorbeirede, genau die andere Seite der Konfrontationslinie: jene Menschen, die an Mobtagen durch die Innenstadt ziehen und die Rückgabe einer ihnen nicht entzogenen Freiheit fordern, oder solche, die auf politischen Podien stehen und vor dem Gendersternchen warnen oder Klimaschutz-Aktivisten zu Terroristen hochstilisieren, weil auch sie keine Antworten mehr haben auf die Fragen, die wir uns alle eigentlich stellen (sollten). Wie nämlich wir das alles aushalten sollen: Long-Covid, Krieg und Klima. Krise, Krise, Krise.

Da sitzen wir doch schließlich alle im gleichen Boot, wir haben nur unterschiedliche Coping-Mechanismen. Während die Jugend, die es ohnehin gewohnt ist, nicht nach ihrer Meinung oder gar Ideen zur Gestaltung der Zukunft befragt zu werden, sich einfach nur ins Digitale zurückzieht, wo klar ist, dass sie von den Boomern nicht behelligt wird, weil die Alten das Internet aufgrund ihrer latenten Techniküberforderung eh nicht verstehen, zieht es die besorgten Alten auf die Straßen, Podien oder in den Untergrund der Verschwurbelung, wo es einfache Fragen auf unterkomplexe Fragen gibt. 

Und dann machen sie sich lustig, die Alten oder zumindest Bockigen, über die Jüngeren, die sich mit SUVs zu Freitagsdemos kutschieren ließen, alle halbe Jahre ein neues Handy bräuchten, überhaupt keine Werte hätten, null Bock auf Arbeit hätten, andauernd alle aggressiv angenderten, aber sich ansonsten kein bisschen ordentlich ausdrücken könnten. 

Und vergessen darüber, dass keine Generation aus sich selbst entsteht oder unabhängig von anderen existiert. Diejenigen, die jetzt selbstgerecht über die Menschen urteilen, die sie letztlich über eine Zwischengeneration selbst in die Welt gesetzt haben (und die dafür nicht etwa dankbar sind, sondern sich eher fragen, warum diese Welt nicht in einem besseren Zustand übergeben wurde), vergessen, dass es an ihnen gewesen wäre, Wohlstand und Werte und Weisheit weiterzugeben. 

Die Jungen wollen nicht arbeiten? Wer hat denn eine Arbeitskultur etabliert mit minimaler Bezahlung bei maximaler Selbstausbeutung? Können sich nicht ausdrücken? Wer hätte es ihnen denn vielleicht beibringen können? Lassen sich mit SUVs zur Schule bringen? Wer hat denn die SUVs gebaut und gekauft? Protestieren für härteren Klimaschutz, weil die Alten ... Ach, uralter Hut: Seit 1856 hätten wir gewarnt sein können, als Eunice Newton Foote als erste den wärmenden Einfluss von Kohlendioxid auf die Erdatmosphäre beschrieb. Man könnte vermuten, dass ihre Erkenntnisse unberücksichtigt geblieben sind, weil sie eine Frau war. Das hat sicher nicht geholfen, aber als John Tyndall drei Jahre später die gleichen Beobachtungen beschrieb, wollte auch niemand die richtigen Schlüsse ziehen. 

Ist ja aber auch nachvollziehbar. Wir alle wollen mehr Wohlstand, mehr Luxus, mehr Bequemlichkeit und weniger Schweiß, Blut und Tränen. Diejenigen Alten, die sich jetzt über den Arbeitsverweigerungsgestus der Jüngeren aufregen, haben doch auch ihr ganzes Leben lang vor allem deswegen gearbeitet, weil sie es dann in der Rente einmal besser haben wollten. Und angeblich, um den Jüngeren ein besseres Leben zu ermöglichen; was nicht nur misslungen ist, sondern auch leicht egoman; ist doch der Glaube zu wissen, was für andere das Beste wäre, subtil übergriffig. 

Tatsächlich scheint mir die Dünnhäutigkeit der Alten, seien es Aiwanger, Dobrindt, Gruber, Merz, Nuhr, Pechstein, Söder (oder auch Amthor, Kramp-Karrenbauer oder Spahn), statt einer tatsächlichen Besorgnis über das Wohlergehen der Jüngeren (was ja durchaus ein legitimer Grund wäre, sich zu den Auffälligkeiten der jüngeren Generationen zu äußern), eher ein Zorn über den Verlust an Einfluss über eine eigensinnige Generation, wie sie es vorher nicht kannten. 

Denn wir dazwischen, wir, die wir still und leise unsere eigenen Leben leben, aber eben nicht auf die Straße gehen, wir haben das Spiel der Alten noch mitgemacht, bis wir in einem Akt des quiet quittings uns einfach davon losgesagt haben, als wir feststellen mussten, dass das System keinen Sinn mehr ergibt. Wir sind zwar aufgewachsen in einer übervollen Welt und konnten alles haben, aber davon wenig brauchen, allem voran nicht den Kernwert, den uns die vorige Generation überlassen hat: Wachstum, Wachstum über alles. Wir haben uns daran ausgebrannt und wollen jetzt vor allem eines: nicht bis zu unserem Tod arbeiten zu müssen. Denn Rente gibt es ja ohnehin nicht mehr, weil die Alten, die noch was hätten tun können, das ganze System an die Wand gefahren haben und es jetzt nicht gewesen sein wollen. 

Wie diejenigen, die mit dem neuen SUV vom Parkplatz aus mit Schmackes in den Blumenladen krachen, weil sie Vor- und Rückwärtsgang verwechseln.

R. übrigens, der neue Nachbar, kann allen nichts abgewinnen, sagt er. Alle, die dauernd für oder gegen etwas die andere Seite anbrüllen, weil sie einfach nur der eigenen Überforderung durch aggressiven Aktionismus etwas entgegensetzen wollen, seien ihm lästig. Er schätze ja sehr, sagt er und blickt lose hoch zu den neuen Fenstern, die wir vor kurzem mit lautem Gehämmere und Geklopfe haben einbauen lassen, seine Ruhe. 

Die Narrative

Von der Front
April 6, 2023

Mit dem deutlich jüngeren Handwerker über die vermeintlich fehlende Frustrationstoleranz nochmal jüngerer Menschen gesprochen. Wir sind als Nichtangehörige dieser Generation beide hochgradig qualifiziert, dieses Thema zu diskutieren, also kommen wir auch schnell wieder vom Thema ab. Er sagt, er sei als Kind dauernd draußen gewesen, habe Baumhäuser gebaut und sei dauernd mit aufgeschürften Knien nach Hause gekommen. Ich kenne das ja bestimmt auch, fügt er hinzu. 

Ich sage: "Jein." Tatsächlich weiß ich, was er meint, gleichzeitig habe ich in meinem Leben nicht ein einziges Baumhaus gebaut, und wenn ich mal blutig nach Hause gekommen bin, dann wegen Fahrradunfällen (ja, mehrere) oder, weil ich mich mit anderen Kindern, die mich mobben wollten, geprügelt habe, weil mir die Lust, den Spott anderer über mich ergehen zu lassen, irgendwann abhanden gekommen war. 

Was ich tatsächlich sage nach meinem Jein ist ein seltsamer Rückfall auf meine Identitätserzählung: ich hätte als Kind zugezogener Eltern wenig Freunde gehabt und also deutlich andere Erfahrungen als er gemacht. Das ist der Beginn meines Standard-Narrativs: ich armes Opfer. Dabei ist das hinsichtlich der Frage, ob oder ob nicht ich mit dem Internet oder sozialen Medien aufgewachsen bin, komplett egal. Und natürlich bin ich nicht mit dem Internet aufgewachsen, das gab es damals ja (fast) noch gar nicht, sondern mit Videospielen und Büchern, die gab es auch damals schon zuhauf.

Was mich irritiert, ist diese Bereitschaft, einem relativen Fremden mein wie auch immer einzustufendes Trauma hinzuwerfen, als hätte es eine definierende Macht über mein damaliges oder heutiges Leben. Als könne ich baumhausbauende Jugendliche nicht nachvollziehen, nur weil ich eher über sie gelesen habe als selbst ein Baumhaus zu bauen.  

Natürlich bricht sich da was ganz anderes Bahn: die latente Neigung zum verfälschten Selbstframing. Einem Narrativ, das mich als irgendwas darstellt, das ich nicht bin; ich weiß nicht mal als was. Während der Bauarbeiten stehe ich immer wieder vor der Frage, was ich den Fremden, die in meiner Wohnung ein- und ausgehen, von mir erzählen will. Bis heute kam das Gespräch nie auf meine Homosexualität. Klar, bei den Vorgesprächen mit den leitenden Handwerkern war mein Mann anwesend; aber die ausführenden Handwerker haben ihn nicht gesehen und selbst mich nur, wenn ich durch die Wohnung geistere auf der Suche nach Fortschritten.

Heute aber hat der Handwerker nicht nur seine Freundin erwähnt und erzählt, dass er sich ein Auto gekauft habe, ich habe im Gegenzug auf seine Frage, ob ich mir freigenommen hätte für die Bauarbeiten, erzählt, dass ich derzeit gar nicht arbeite, sondern nur mein Mann. Sogleich habe ich mich gefragt, ob das wohl ein Fehler war. Was denkt er jetzt von mir, ist ein immer wieder aufpoppender Gedanke. Ohnehin frage ich mich dauernd, ob offensichtlich gleichgeschlechtliche Paare von Handwerkern, die ja in einem eher "traditionellen" Gefüge arbeiten, anders behandelt werden als heterosexuelle Menschen. Dürften sie natürlich nicht, aber wer weiß es schon im Einzelfall?

Ich frage mich: welchem Narrativ hänge ich da nach? Wieso empfinde ich meine Homosexualität immer noch als etwas, das manchmal verschwiegen gehört? Klar: heteronormative Sozialisation. Aber mal ehrlich: wieso hat die immer noch Macht über mich? Warum erkenne ich in der Art, wie ich lebe, einen potentiellen Aufhänger für einen Makel? Wie tief geht die Indoktrination, dass manches ungesagt bleiben sollte? 

Da hilft natürlich nicht, wenn wie derzeit sexuelle und geschlechtliche Identität heiß umkämpft ist. Das Selbstbestimmungsgesetz soll trans-Menschen ein Stück ihrer Würde zurückgeben, die Abendlanduntergangshysteriker hingegen sorgen sich ums vermeintlich gefährdete Kindeswohl und unbeschwerte Sauna-Gänge, als ob demnächst Purge-artige Szenen in Wellnesshotels zu erwarten seien. Auch da drücken sich die alten hässlichen Narrative durch, die alles, was nicht heterosexuell ist, mit Pädokriminalität und Exhibitionismus in einen Topf werfen, weil die "normale" heteronormative Gesellschaft sowas niemals machen würde. Als ob nicht die eigentliche Gefahr für das Kindeswohl von der dezidiert unqueeren Mehrheitsgesellschaft bzw. sich daraus rekrutierenden Einzelvertretern ausginge. 

Die allgemeine Debatte um Gender und Gendern ist auch nur wenig erfreulich. Die in den letzten Tagen kurioseste Meldung: Die Tagesschau beugt sich dem mit dem rechten Kampfbegriff der "Zwangsgebühren" hantierenden bayrischen Ministerpräsidenten, der die geschlechtsneutrale Wortwahl "gebärende Person" als Woke-Wahn bezeichnet. Gleichzeitig keimen mit Just-Gay-Gruppen bigotte LGB-Ableger, die die Rechte homosexueller Männer schützen wollen, indem sie sich nach dem Floriansprinzip vom Kampf anderer queerer Gruppen um Gleichbehandlung distanzieren. Sie fürchten, dass die trans-Bewegung all das riskiert, was die Schwulen sich erkämpft haben (als ob die das alleine erreicht hätten und als ob Hyperkonservative einen Unterschied zwischen schwul, queer oder trans machten, wenn sie sich entscheiden müssten, wessen Rechte sie zuerst abschaffen würden). 

Und natürlich beschränkt sich die Hysterie nicht auf Identitätsfragen. Es ist ja grundsätzlich die Angst des Patriarchats um sich selbst, die jeden Diskurs bis zur Kenntlichkeit aufbläht, um nur kurz danach in einem Shitstorm zu implodieren. Jedes ideologische Schlachtfeld ist ja derzeit durch überdeutliche Demarkationslinien getrennt. Hier die Getreuen, dort der Feind. Grautöne scheint es nicht mehr zu geben, ein Dialog unmöglich. Alle Seiten canceln sich gegenseitig, in all dem Geschrei ist es oft nicht mehr auszumachen, wer eigentlich recht hat (soweit das überhaupt geht), in der Regel gibt es zwar wissenschaftlich argumentierende Expertys, aber die will ja nun gar niemand zu Rate ziehen, sie könnten der allgemeinen Kakophonie ja etwas fundiertes entgegensetzen und damit Weltbilder zum Einstürzen bringen. 

Der Wandel hat aber ohnehin schon begonnen, hat immer schon begonnen, war niemals nicht da, auch wenn sich die Bewahrer des Stillstands noch so sehr an eine verblassende Realität klammern. Die Welt, die es früher gab, gibt es nicht mehr, jetzt ist später, ein anderes Jetzt; und mit den Narrativen des Gestern kommen wir da nicht weiter. Egal wie sehr wir es uns vielleicht wünschen. Und entweder erkennen wir das an und lösen uns von den überlebten Gewissheiten, die wir uns über uns selbst und über die Welt erzählen; oder wir fallen aus der Gegenwart in eine Zeit, die die heutige Jugend nicht mehr versteht und wahrscheinlich auch gar nicht verstehen will, denn die undankbare, gedankenlose Jugend verschwendet ja auch keinen Gedanken daran, wie es den Alten geht. Die interessieren sich nur für den dummen Planeten oder TikTok. Nichts dazwischen. Keine Grautöne, keine Nuancen. Nix als Narrative. 

Ein Baumhaus werde ich auch auf absehbare Zeit nicht bauen. Aber dafür kann ich jetzt Gas- und Heizungsrohre verlegen. 

Die Performanz perfektionierter Produktivität

Von der Front
März 31, 2023

Weil ich scheinbar nichts anderes zu tun habe, als darauf zu warten, dass Dinge in mein Leben treten (auch bekannt als "Prokrastinieren"), habe ich einige Zeit damit verbracht, Videos zur optimalen Produktivitätssteigerung anzuschauen. Davon gibt es viele, es gibt bei Youtube einen Haufen Menschen, die sich mit der Thematik auseinandersetzen. Derzeit scheint Notion der heiße Scheiß zu sein, danach kommen wohl Obsidian und OneNote, demnächst wird wahrscheinlich Loop nicht nur als Teamworking-Tool die Runde machen, sondern aufgrund seiner maximalen Synchronisierungsfähigkeit in der Microsoft-Umgebung auch als Selbstorganisations- und Produktivitätswerkzeug entdeckt werden. Manche mögen es auch weniger digital, da sind es dann ToDo-Listen, oft in Kombination mit Pomodoros oder Atomic Habits oder die SuperBuch-Methode oder gleich ein Bullet Journal (mein Langzeitfavorit; vielleicht zeige ich das mal). Das ist natürlich nur eine Auswahl. Es gibt Dutzende weitere Systeme, das sind nur die, die mir ohne weitere Recherche eingefallen sind. Immerhin geht es hier nicht um das optimale System zur Selbstoptimierung, sondern darum, wie falsch das alles ist.

Es geht nämlich nicht um Selbstoptimierung, sondern darum, einen Sinn im Leben zu finden.

Und ja, das kann man auch kleiner aufhängen: es geht darum, dass wir das, was wir tun, nicht nur tun, damit wir etwas tun. Sondern dass es aus einem ganz bestimmten Grund getan wird: dass wir zufrieden sind. 
Gelernt haben wir das nicht, im Gegenteil. Selbst das spielerische Lernen im Kindergarten und der Grundschule, später das Leistungsnoten-Prinzip auf weiterführenden Schulen, Zeugnisse im Beruf - es führt dazu, dass der Sinn der Arbeit nicht gesucht wird, sondern nur das Erledigen der Arbeit. Gerade in nicht systemrelevanten Berufen geht es mehr um das Füllen und Arbarbeiten einer To-Do-Liste als darum, Wert zu schaffen, das Leben zu verbessern, die Gesellschaft zu einen. Das Ziel ist das Schaffen eines abstrakten Wertes: Erledigung. 

Nun ist das relativ albern und wenig erfüllend und darum sucht man sich einen anderen Zweck: die maximale Produktivität bzw. die Erreichung derselben durch ein möglichst optimiertes Produktivitätserreichungssystem. Beispiel: Bullet Journal. 
Ein sehr gutes System, um einen Kalender mit einer To-Do-Liste und einem Ort für kurze Reflexion zu schaffen. Analog, weil das beim Denken hilft, und ohne vorgegebenes Raster, weil das die Kreativität und auch die Freude fördert (und damit dem Ziel der Sinnfindung zumindest ein bisschen näher kommt).
Weil aber viele Menschen weniger Aufgaben als Zeit haben, wird das Bullet Journal selbst zur Aufgabe, es wird verschönert, gemalt, Sticker werden eingeklebt, inspirierende Zitate werden ausgesucht und liebevoll eingerahmt, es hat sich ein Markt für BuJo-Sticker, Monatstemplates und Washi-Tape-Dispenser gebildet. Es gibt Menschen, deren ganze Produktivität in die Ausgestaltung eines Werkzeugs zur Steigerung ihrer Produktivität fließt.  

Grundsätzlich ist das nicht unbedingt als schlecht zu bewerten, es ist schön für diese Menschen, dass sie diese Arbeit für sich als sinnvoll empfinden. Doch in Relation zum Großen Ganzen, also Klimawandel, Krieg, Pandemie etc. ist es doch relativ sinnentleert, das perfekte Coverbild für den nächsten Monat auszusuchen. 
Natürlich: Whatever gets you through the day. Auch das hat die Pandemie ja gezeigt: wir alle sind ja nicht nur mit den besten Coping-Mechanismen ausgestattet; und ein kurzer Besuch bei twitter zeigt, wie kurz die Zündschnur bei manchen Menschen ist: sie kontern selbst leichte Nachfragen gleich mit unterirdischen Beleidigungen. Sie wollen verstören, verletzen, vernichten; alles nur, um davon abzulenken, wie leer sie sind. 

Nicht, dass ein BuJo sie retten würde, aber vielleicht wäre das der geeignete Weg, sonst sinnlos in Hass kanalisierte Energie wenigstens schadlos umzuwidmen. Lieber einen weiteren Monatsspread in der Welt als transphobe Mord-Drohungen in einem vermeintlich sozialen Netzwerk. 
Natürlich ist meine Vermutung, dass der Hass genauso wie der Drang zum Perfektionismus auf das selbe Ungleichgewicht in der Welt zurückzuführen sind, wagemutig, um nicht zu sagen: aus der Luft gegriffen. Andererseits: was wir beobachten können ist eine zunehmende Sinnentleerung der Dinge, während gleichzeitig rudimentäre Bedürfnisse unerfüllt bleiben. Wir suchen nach der besten Morgenroutine (inklusive Meditation und Kaffeeritual), weil wir vor allem die Zeit haben für ein Morgenritual. Wir sammeln Statussymbole: Autos, Uhren, Schuhe, Markenklamotten, Smartphones, Snapchatfilter, drei Urlaube im Jahr, Füllhalter mit extra feiner Goldfeder und ein dotted-Notizbuch mit extra faserarmem Non-Bleed-Papier für das allerbeste Schreiberlebnis, Regenduschen, eine Kaffeestation in einem Ausziehregal in einem Wohnzimmerschrank mit Anti-Fingerprint-Mattlack, die PlayStation 5. Doch: wofür?

Es gibt Familien, auch in Deutschland, da teilen sich fünf Menschen 50 m². Es gibt in diesem angeblich so technikaffinen Land Familien ohne Computer, Internetanschluss, Handy. Was ja beim flächendeckend gedachten Heim-Unterricht während der Pandemie die bildungssoziale Schere noch ein wenig weiter geöffnet hat. Es gibt Kinder, die sich kein Mittagessen leisten können. Es gibt Menschen, die können nur davon träumen, jemals etwas zu besitzen, was als Statussymbol durchgehen könnte. Wobei auch sie sich vielleicht fragen: wofür?

Um die Leere zu füllen, die innere Verwahrlosung, das Verlorensein in der Welt. Um dazuzugehören zum Club derjenigen, die sich Dinge leisten, und seien diese Dinge noch so sinnbefreit. Um zu zeigen: ich habe etwas geleistet, habe etwas erreicht, habe es mir verdient. 
Sind diese Menschen geliebter? Sind sie glücklicher? Sind sie bessere Menschen? Leben sie bessere Leben? Retten sie die Welt? Sind ihre Bedürfnisse durch Symbole gedeckt? 
Natürlich nicht. Sie haben nur etwas gefunden, um die Leere zu überdecken, zu verstecken, zu vergessen. Die Leere aber bleibt: ein starrender Abgrund der Seele, ein Loch in der Welt. 

Vielleicht, wenn meine nächsten Weeklies besonders schön ausfallen, wenn ich lerne, Linien auch ohne Lineal gerade zu ziehen, wenn ich es schaffe, sowohl meinen Habittracker als auch meine Moodblume jeden Tag auszumalen, wenn ich beim Hinkalligrafieren der Wochentage nicht kleckse, vielleicht hat dann das Leben einen Sinn. Vielleicht ist es dann all den Ärger wert, den ich mir selbst mache, wenn ich meinem Perfektionismus nicht genüge. Wenn ich nur einmal einen einzigen Monat lang alles gut gemacht und endlich etwas vorzeigbares geschaffen habe, dann ist vielleicht das Leben nicht sinnlos gewesen. Wenn ich nur in meiner egozentrischen BuJo-Malerei ein Mal nicht versagt habe, dann habe ich vielleicht als Mensch nicht versagt. 

Falsch.

Es geht doch beim Menschsein nicht um Perfektion, nicht um Performanz, nicht um Produktivität. Es geht einzig und allein um Purpose, um Zweck, um Sinn. Es geht darum, sich mit anderen Menschen zu verbinden und etwas größeres zu schaffen als das, was wir alleine ohnehin nicht erreichen können. Es geht darum, nicht alleine zu sein mit unseren Ängsten, Sorgen, Nöten, Hoffnungen, Wünschen und Träumen. Es geht darum, dass wir nur dann Menschen sein können, wenn wir Mitmenschen haben.

Da nützt auch alle perfektionierte Produktivitätsperformanz nicht; im Gegenteil: die ganzen BuJo-Showoffs, die Desktop-Setup-Gurus, die Morgenroutine-Influencys: sie grenzen sich ab, wollen zwar vielleicht Teil einer Community sein, aber möglichst ihrer eigenen, wollen keine Peers, sondern Followys. Das Zeigen ihrer Produktivität ist weniger Passion als Posen. Schaut her, eifert mir nach, lebt nach meinem leuchtenden Vorbild. 

Was also tun? Wahrscheinlich das Übliche: Besinnung, Reflexion, Zurückhaltung und die ewig harte Übung, andere Menschen nicht nur als Arschlöcher, sondern als fehlbare Wesen zu sehen. Sie als potentielle Bereicherung zu begreifen, als Teile unseres Lebens. Denn ist es nun mal, ob wir es wollen oder nicht: wir stehen alle miteinander in Verbindung, teilen die gleiche DNA, das gleiche Biotop. Wir leben auf einem endlichen Planeten und können uns nicht entkommen. Da hilft es also nur, Kontakt zueinander zu finden und anzuerkennen, dass wir alle dieses Loch in uns fühlen, das uns nach einem Sinn im Leben suchen lässt. Wir teilen einen gemeinsamen Schmerz; und nur gemeinsam können wir ihn, wenn schon nicht überwinden, dann doch erträglicher machen. 

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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