Von der Front | ANDERSWOLF

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Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Atmen Sie - natürlich!

Von der Front
März 18, 2024

Übrigens lebe ich noch, bin nicht tot, war nur beschäftigt. 

Neuerdings mache ich, weil kaputter Rücken seit 2015, Kraftsport. Vor allem, wie die App sagt, für eine starke Mitte. Nie habe ich mich schwächer gefühlt als jetzt, da ich Übungen für eine starke Mitte mache. Alles schmerzt, alles zieht, alles irgendwie doof. Immerhin fühlt sich der Rücken manchmal besser. Manchmal nicht. Eigentlich also wie alles. 

Klar machen die Übungen einen Unterschied: sie zeigen mir auf eine ganz neue Weise, was alles ich noch nicht kann. Atmen zum Beispiel. Da mache ich seit fast sieben Jahren Yoga und die dazugehörigen Atemübungen, aber Luft bekomme ich trotzdem keine. Oder zumindest nicht richtig. Die App sagt einatmen - ausatmen: ein in die Entspannung, aus in die Anspannung. Ich komme da nicht mit. Entweder bin ich zu schnell oder zu langsam, mal gegenläufig, mal ersticke ich fast, während ich mich an die Anzahl der Wiederholungen zu erinnern versuche. Und dann sagt die App, als hätte sie meiner Krampfatmung gelauscht: Atmen sie natürlich. 

Sagt es allerdings nicht, wie normale Menschen es sagten, ist ja doch eine computergenerierte Stimme, die keine Ahnung hat, wie ordentliche Intonation zu klingen hat. Sagt also: "Diese Übung ist großartig für ihre Bauch. Und Rückenmuskeln." Oder: "30 Sekunden Kind-Erstellung." Oder: "24 Push-uuuups". Oder eben: "Atmen Sie - natürlich!" Wie als Antwort auf die Frage, was sinnvoller sei: atmen oder nicht atmen. Als wäre es komplett absurd, nicht zu atmen. Und stimmt ja auch irgendwie, Atmen ist ja ganz sinnvoll. Gleichzeitig fällt mir auf, wie wenig ich tatsächlich atmen kann, automatisch, instinktgetrieben. Natürlich. 

Andererseits auch nicht neu: ich traue mir und meinen Instinkten ja eh nicht, ich muss schon arg abgelenkt sein, dass ich tatsächlich mal impulsiv handele. Entschiede ich mich mal nicht erst nach einer einstündigen oder einwöchigen Reflexionszeit (je nach Schweregrad aller potentiellen Konsequenzen), sondern quasi reflexhaft, ich wüsste gar nicht mehr wohin mit meiner vielen neu gefundenen Freizeit. 

So verbringe ich viel prokrastinatorische Zeit damit abzuwägen, welchen Einfluss eine Entscheidung nicht nur auf mein Leben haben könnte, sondern auch auf das des Mannes, der Eltern, der Freunde, der Nachbarn. Vielleicht - je nach Entscheidung - auch auf das Leben aller Menschen. Klar: ethischer Konsum und ein Verzicht auf Produkte, die unter menschenunwürdigen oder umweltschädigen Umständen hergestellt worden sind, sind schon irgendwie geil, aber wenn ich drei Tage mit Abwägungen verbringe, ob es nicht vielleicht viel sinnvoller wäre, meine zerfetzten Leibchen ein weiteres Jahrzehnt zu tragen, als ein Grünknopf-Shirt im Internet zu bestellen, dann ist irgendwas nicht in Ordnung. Und zwar mit mir. 

Klar, auch mit einer Menschheit, die einfach hinnimmt, unter welchen Umständen Kleidung hergestellt wird (und wer noch nie davon gehört hat, wie schmutzig, umweltzerstörend und menschenverachtend das Modegeschäft ist, darf sich gerne bei mir melden). Und während meine individuellen Kaufentscheidungen jetzt auch nicht dazu führen werden, dass vermehrt nachhaltigere Fasern wie Hanf, Lein oder Ramie angebaut oder die gesundheitsschädlichen und ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft beendet werden, habe ich doch das Bedürfnis, keinen Mist zu kaufen, weil: irgendwie bin ich ja dann doch ein Ökofanatiker. 

Und ja: Wäre für uns alle besser, wenn unsere Entscheidungen altruistischer, empathiebasierter, nachhaltiger oder zumindest weniger selbstzerstörerischer wären, aber ganz ehrlich: darum geht's mir doch gerade gar nicht. 

Mir geht es darum, dass ich mich mit meiner Entscheidungsunfähigkeit, vielleicht auch Entscheidungsunwilligkeit manchmal so sehr blockiere, dass ich am Ende gar keine Entscheidung treffe; und das ist - Überraschung - nicht gut. Mir geht es darum, dass ich mich mit meinen Gedanken so sehr beschäftige, dass ich halb ersticke, obwohl ich mich doch einfach nur darauf konzentrieren sollte, bei den Spiderman-Push-Ups (oder wie die Stimme sagt: Spiedermann-Push-Uhps) den Körper in einer geraden Linie und das angewinkelte Bein parallel zum Boden zu halten. 

Aber immerhin mache ich den Kram, lausche der Stimme, wie sie komplett emotionsbefreit sagt, ich solle doch einfach noch mal 16 Diamant-Pushups machen, als läge ich nicht schon seit drei Übungen schmerzverkrampft auf dem Boden. Meine Protestrufe ignoriert sie, sie interessieren sie nicht, es ist ihr so sehr egal, man könnte glauben, sie wäre ein Roboter. Die haben's nämlich leicht zu sagen, man solle einfach nur natürlich atmen. 

Alles offen

Von der Front
Dezember 21, 2023

Seit heute Neubürger, diesmal ohne Willkommenspaket. In Bad Nauheim gab es noch eine Infobroschüre, ein paar Gutscheine für ermäßigten Eintritt und einen verbalen Händedruck vom Bürgermeister, den ich kurz danach mit meiner frisch zugezogenen Stimme abzuwählen geholfen habe.

Hier nichts davon. Aufkleber auf den Perso, fertig. Ist vielleicht auch einfach eine Frage der Zeitläufte. 2006 ist nicht 2023. Und erst recht nicht 2024, das mich ein bisschen einschüchtert, will nicht lügen. 2006 war alles dermaßen klar: noch kein Abschluss, noch keine Finanzkrise, noch keine Arbeitslosigkeit, noch keine Käsetheke, noch kein Theater, noch keine gefühlte Selbständigkeit. Erst recht noch keine Pandemie, kein mich tangierender Krieg, einfach nur postmoderne Überwindung der geschriebenen Geschichte. Abarbeiten dessen, was schon gegeben war. 

2024 nichts davon. Heute hoffentlich Ende der scheinbar endlosen Baustelle mit dem letzten zu installierenden Wasserhahn; nach nur einem knappen Jahr, das sich in meiner Aufteilung zwischen neuer und alter Stadt, Verabschieden und Ankommen, dem Reisen und Vergleichen, der Wehmut und der Vorfreude ziemlich fragmentiert anfühlt. Die Monate auf dem provisorisch eingerichteten Dachboden schnurzeln retrospektiv auf wenige Wochen zusammen. 2023 hat aufgehört, vergehende Zeit zu sein, es existieren nur die Schnappschüsse und Statusaufnahmen der sich ewig wandelnden Wohnung. 

Fehlen noch Weihnachten und Silvester. Angebliche Meilensteine nach einem Umzug. Oder eigentlich Rettungsanker für am Umzug Verzweifelnde: Immerhin können wir Weihnachten schon in der neuen Wohnung feiern. Sagt man so und hat keine Ahnung, was das eigentlich bedeutet. 

Wobei Bedeutung ja überbewertet wird: Dinge bekommen ihre Bedeutung durch unsere Beimessung. Was uns irrelevant erscheint, wem wir keine Aufmerksamkeit schenken, bedeutet uns nichts. Das bedeutet nicht, dass diese Dinge, diese Menschen nicht relevant sind. Aber wir nehmen sie nicht wahr. Manchmal ist das okay, manchmal kann das bedeuten, dass sich Entwicklungen außerhalb unserer Wahrnehmung anschleichen und wir sie erst wahrnehmen, wenn es vielleicht schon zu spät ist, sie noch zu gestalten. 

Der Klimawandel ist so eine Sache, die Fragmentierung der Gesellschaft eine andere. Der Siegeszug des Maskulinismus vielleicht eine dritte. Die drohende Offenheit von 2024 eine ganz eigene. 

Mir fehlt jede Perspektive auf das nächste Jahr. Ja, ich habe eineinhalb Urlaube geplant, ein hautärztliches Screening im Januar und eine Zahnreinigung im Juni. Außerdem noch ein Theaterstück Anfang Mai, dafür wird regelmäßig geprobt werden, aber sonst? 

Ich will und muss arbeiten. Das nach dieser langen Zeit ohne feste Arbeit anzugehen, ist verwirrend. Ein paar Bewerbungen habe ich ja erwähnt. Mittlerweile sind es immer noch kein Dutzend, und immer noch bin ich unschlüssig, was ich will. Die letzte Stelle, bei der ich vorstellig geworden bin, hätte wahrscheinlich den Eindruck von Arbeit wieder erweckt, den ich im Verein hatte. Gemeinsam mit Freunden an der Realisierung einzelner Projekte gewerkelt. Das wäre wahrscheinlich schön gewesen. Bis auf den Umstand, dass ich nur hätte zuschauen können, weil ich vor allem für Telefon und Ablage dagewesen wäre. Gibt schlimmeres, ist aber unterhalb meines Ehrgeizniveaus.

Ja: ich besitze dann doch Ehrgeiz. Ich will Dinge erreichen, bewegen, verändern. Ich will zeigen, dass ich etwas kann und was ich kann. Ich will Menschen berühren, zum Nachdenken bringen, sie vielleicht sogar unterhalten. Natürlich will ich auch gemocht werden, wer will das nicht. Aber nicht um jeden Preis, nicht von allen. Wer sich zu sehr bei allen beliebt machen will, wird beliebig. Unklar, unsicher, unschön anzuschauen. Ungern als Begleitung zu haben. 

Dann doch lieber eine Persönlichkeit wie 2023: indifferent, fragmentiert, nicht immer toll, aber immer aufregend. Die Sicherheit unzuverlässiger Bahnreisen und die Unberechenbarkeit bestellter Handwerker, gepaart mit der Aussicht auf ein Happy End, weil es anders ja eh nicht geht. Weil nichts anderes am Ende passieren kann. Außer vielleicht: neues Jahr, neues Ich - neue Stadt, neues Leben. 

Was werden wird? Keine Ahnung, wirklich: ich weiß es nicht, weil ich es nicht weiß. Die Zukunft ist ungeschrieben, es gibt nichts abzuarbeiten. Alles offen, alles gleichzeitig einschüchternd und euphorisierend. Ich bin gespannt. 

Edit: Und ja: ich habe das im Dezember geschrieben und dann erst im März veröffentlicht, weil mir einfach so viel Leben dazwischenkam. Kann passieren. Auch den besten, also auch mir. 

Einleben

Von der Front
November 20, 2023

Herbst schon wieder, und meine Gedanken wie vom Winde verweht: überall, nur nicht hier. Ich versuche noch, meine Gefühle für die alte Heimat festzuhalten; gleichzeitig frage ich mich, ohne eine Antwort in mir zu finden: wie werde ich mich fühlen, wenn ich hier angekommen sein werde?

Wobei: angekommen bin ich ja. Die Möbel stehen, die Schränke sind eingeräumt, die gröbste Unordnung ist beseitigt, nur wenige Dinge suchen noch ihren Platz. Und auch verabschiedet bin ich irgendwie: die alte Wohnung ist gewienert übergeben, nur in der Garage stehen noch ein paar Sachen für den Wertstoffhof; und die Menschen dort habe ich so oft zum letzten Mal umarmt, dass sie sich schon gewundert haben, ob das mit dem Umzug nur ein Hoax war. 

Warum also fühle ich mich hier noch nicht eingelebt? 

Das fragen die Leute nämlich dauernd jetzt: Habt Ihr Euch schon eingelebt? Auf Instagram, über WhatsApp, in Telefonaten, selbst bei Gesprächen mit den fast noch unbekannten Nachbarn, die aber den spektakulär rasanten Einzug bezeugen können: Seids scho eigleebd?

Was das wohl heiße, frage ich den Göttergatten, sich einleben. Wann ist man so eingelebt, dass man nicht mehr nur ankommt? Und ist das ein anderer Punkt bei ihm als bei mir, weil ich die Stadt, die Leute, die Geschäfte und irgendwie alles schon kenne? Gibt es ein Punktesystem, eine Skala von Da bis Hier, an die man das Herz anschließen kann, so dass objektiv gemessen werden kann, ab wann nostalgisches Vermissen nur noch Fernweh genannt werden wird?

Der Göttergatte zuckt nur mit den Schultern und sagt: "Vielleicht ist man eingelebt, wenn man sich nicht mehr verläuft in der Nachbarschaft." 
"Vielleicht", sage ich, "wenn man blind in die seit dem Umzug siebenmal umgeräumte Besteckschublade greift und sofort das richtige Kneipchen erwischt." 
"Kneipchen", sagt der Göttergatte.
"Kneipchen", sage ich und: "Oh je."

Vielleicht muss man sich die alte Heimat auch erst ordentlich ausleben, bevor man die neue Heimat drüberleben kann. Vielleicht muss man dem Gehirn Worte wie Kneipchen und Kolter auswaschen, bevor sich das hiesige Vokabular einnisten kann. Wie viel Schäuferla und Schdaddwoschd muss i neischbachdln, um Äppler und Ahle Worscht hinter mir zu lassen?

Ist ja auch keine Sehnsucht in mir nach der kleinen Stadt. Ich will nicht zurück in die alte Wohnung, die zwar hübsch, aber ohne uns zuletzt nicht nur leer, sondern ganz traurig aussah (und überraschend renovierungsbedürftig an manchen Stellen). Ich will vielleicht zurück zu den Menschen dort, aber nicht in die kleine Stadt, in deren Straßen und Gässchen ich mich so arg hineingelebt hatte, dass mir schon ganz phlegmatisch war. 

Nicht dass mir das Aufraffen hier leichter fiele, aber hier springt einen die Arbeit überall an. Der Dachboden, wo Übriges provisorisch verstaut wurde, wartet auf Ordnung, der Garten legt mir auch schon den rotgoldenen Laubteppich aus. Eine Arbeitsstelle will gefunden und Text für ein neues Theaterprojekt will gelernt werden. Ich will und muss noch einige Kontakte knüpfen, zwei Vereine will ich mir noch anschauen; und vom nahenden Weihnachten und Silvester will ich gar nicht anfangen. Wir wissen nicht mal, wo der überdimensionierte Ficus stehen soll, wohin mit einem Weihnachtsbaum?

Und trotzdem will ich lieber zurückblicken, will irgendwie den Jahren in der baldigen Fremde einen würdigen Abschluss geben, eine herzwärmende Geschichte erzählen, während gleichzeitig die Natur selbst mit Flugblättern um sich wirft, auf denen ein sehr deutliches Memento Mori zu lesen ist. Gedenke deiner Sterblichkeit und vergeude nicht deine Zeit damit, etwas festzuhalten, was dir ja doch durch die Finger rinnt. Asche zu Asche, Laub zu Laub. 

Überhaupt, welch Luxus, dass ich mich nicht nur bequem in einer frisch renovierten Wohnung einleben darf, sondern auch ganz gemütlich aus der alten Heimat ausleben konnte. Abschiede noch und nöcher, immer wieder versichernd: Wir sind noch da, wir sind noch nicht fort, wir bleiben noch ein Weilchen. Trauert nicht um unseren Fortgang, denn wir gehen ja noch nicht. 

Wie viele Menschen haben diesen Luxus nicht? Wie viele brechen nicht ein ganzes Jahr lang ihre Zelte ab, sondern haben nur Wochen, vielleicht nur Tage, gar Stunden, bevor ihr altes Leben implodiert und nichts davon mehr für sie erreichbar ist? Werden auch sie gefragt in einer Heimat, die sie sich nicht vor Jahren und Jahrzehnten schon ausgesucht haben, ob sie sich denn jetzt schon eingelebt hätten? Ob sie ihre alte Leben denn schon endlich losgelassen hätten und die Hoffnung, dass jemals wieder irgendwas so werden könne, wie es einmal war? Sie sind wie Laub von den Zweigen ihres Lebens gerissen worden und liegen nun willkürlich in die Welt geworfen, teils Spielball der Winde, teils der Gravitation, und haben keine Wahl, keinen Einfluss.

Vom neuen Balkon aus schaue ich in den Himmel und sehe den wild fortgepusteten Blättern nach. Manche zieht eine Böe bis weit über die benachbarten Dächer in die nächste Straße oder sogar noch eine Kreuzung weiter. Die Blätter sind hilflos, taumeln durch die Lüfte so arg, dass ich, so bewegt mich mein Abschied doch hat, froh bin, dass mir dieses Trudeln erspart geblieben ist. Dass ich mir den Ort, an dem ich fortan leben wolle, selbst habe aussuchen können. 

Ob wir uns nun also schon eingelebt hätten, fragt K per E-Mail. Sie habe über Umwege erfahren, dass ich zurück in die Heimat gezogen wäre und dass sie das ja schon immer gewusst habe. Seine Wurzeln vergesse man ja dann doch nicht. 

Ich gebe auf und schreibe zurück: Wir suchen noch ein bisschen nach unserem Platz, aber im Großen und Ganzen, ja doch, leben wir uns ein.

Komfortunkonform

Von der Front
Oktober 13, 2023

Mal was Neues ausprobiert: ein Casting für die Teilnahme an einer Inszenierung. Ungewohnt, wenn man üblicherweise bei Stückwerdung mitgedacht wird. Andererseits ist das ja auch ein erwünschter Nebeneffekt des Umzugs: das Verlassen der Komfortzone, das Dazulernen, das Wachstum. Ein neuer Mensch werden. Oder zumindest weniger bequem. 

Neulich habe ich einen Text mit dem Titel "Froschsuppe" angefangen, der einerseits beschreiben sollte, wie überraschend widerstandslos das Patriarchat im alten Damals hingenommen wurde, und andererseits, wie ich mich irgendwann im letzten Jahrzehnt aufgegeben habe; aber schon bei der grundsätzlichen Frage nach Froschsuppe hat es den Text zerlegt.

Stellt sich nämlich raus (ja, jemand - nicht ich - hat das in Versuchen nachgewiesen): Selbst Frösche sind nicht so bequem, einfach stillzuhalten, wenn man das Wasser zu sehr erhitzt. Nur wir Menschen lassen uns so sehr einlullen, dass wir aus einer für uns schädlichen Situation nicht rechtzeitig fliehen. Wir warten bis zur allerletzten Sekunde. Oder länger.

Vielleicht, weil wir uns anmaßen, intelligenter als Frösche zu sein und uns darum eine größere Problemlösekompetenz zusprechen. Vielleicht auch, weil wir uns für märtyrerhaft leidensfähiger als Frösche halten. Wir sind keine Weicheier und erst recht keine Warmduscher, wir bleiben auf unserem verlorenen Posten, bis die Polkappen schmelzen.

Ist ja bald soweit. 

Jedenfalls: Casting. Wie Vorstellungsgespräch, nur bewegter und mit Rumschreien. Auch ungewohnt; ist ja so gar nicht meins, das Rumschreien. Meine Rollen waren ja eher immer kontemplativ, vergeistigt, über den Dingen stehend, manchmal sogar schwebend. Und dabei hyperintellektuell vom Rand aus kommentierend. Quasi mich selbst spielend. 

Beim Casting stand ich da als unbeschriebenes Blatt. Die Menschen, die ich beeindrucken wollte, hatten mich noch nicht spielen sehen. Oder vielleicht doch, weil ich ja selten nicht spiele. Ich will ja, dass Menschen mich mögen, darum neige ich dazu, jemand zu sein, der ich nicht bin. Wie wird das wirken auf Menschen, die mich kennenlernen wollen?

Stellt sich raus, sie wollen mich vor allem fordern. Meine Szene, die ich erbost und unverkopft interpretiert habe (also sehr nicht-wie-ich), soll ich nochmal spielen und nochmal, introviertierter, extrovertierter. Ich ahne rückblickend, dass es darum ging, meine Reichweite auszuloten, und ich spüre währenddessen, wie unangenehm, ja unbequem mir das ist. 

Sie wollen mich in Rage sehen, als wäre ich tödlich beleidigt worden; statt aber auf mein lahmes Kindheitstrauma zurückzugreifen, gerate ich in die Panik des Schultheaters von vor über 25 Jahren, als ich vor lauter Kontrollaufgabe auf der Bühne beinahe jemanden körperlich verletzt hätte, wenn ich mich nicht in letzter Sekunde wieder gefangen hätte. 

"Du hältst dich zurück", bekomme ich als Feedback, obwohl ich mich so sehr provozieren und laut werden lassen habe, wie ich es aus meiner mühsam antrainierten Egalität gegenüber allem Echauffierenden heraus zulassen kann. "Du hältst dich zurück". Und ich antworte, wie es nun mal der Wahrheit entspricht: "Natürlich."

Klar halte ich mich zurück, denke ich spontan, irgendwer muss es ja tun.

Seltsamer Gedanke, denke ich später ausführlicher. Wieso muss gerade ich zurückgehalten werden? Die Welt ist voll mit Leuten, die sich nicht zurückhalten, die ihren Schmerz, ihren Hass, ihren Missmut, ihre Menschenfeindlichkeit, ihre generelle Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation in die Welt hinauskotzen.

Gerade eben wurde die AfD in zwei weiteren Bundesländern in den Status der größten Oppositionspartei gewählt. Eine Partei, die offen rechtsradikal ist, gegen Minderheiten aus dem gesamten verfügbaren Spektrum hetzt, die zu Gewalt gegenüber Menschen mit anderer Meinung aufruft; und ausgerechnet ich muss mich zurückhalten? 

Ebenso gerade eben hat die Hamas Israel überfallen; und bei aller möglichen Kritik an den Entwicklungen in der Palästina-Frage ist Terror die falscheste aller Antworten. Befeuert von religiösem Fanatismus und aus Angst vor Machtverlust nimmt die Hamas den Tod Tausender Menschen auf beiden Seiten in Kauf; und ausgerechnet ich muss mich zurückhalten?

Natürlich ist das sehr bauchnabelig im Vergleich zu dem Abgrund, auf den die Welt gerade sehenden Auges hinzu torkelt; aber mehr als mich selbst kann ich kaum beeinflussen - und selbst das ist schwierig. Vielleicht ist aber auch dieses Gefühl - dass ich selbst so unwichtig bin, dass es überflüssig ist, mich selbsttherapeutisch zu beschreiben - Ausdruck meiner Zurückhaltung. 

Offensichtlich jedenfalls hat eine kleine Bemerkung (fast wie nebenbei gesagt) in mir einen Nerv getroffen, der sich seither gar nicht mehr beruhigen will, weil es ja so scheußlich nah an der Wahrheit ist, dass man glauben könnte, die Person am anderen Ende der Botschaft kennte einen tatsächlich und sei nicht einfach nur eine erst eine Stunde alte Bekanntschaft. 

Andererseits interpretiere ich da vielleicht viel zu viel hinein, weil das Gehirn nun mal Muster im Chaos der Welt erkennen will, um alles zu sortieren und kategorisieren und damit irgendwie zu verarbeiten. Das Gehirn will auch nur seine Ruhe haben, wie ein ganz normaler Frosch. 

Andererseits andererseits halte ich mich ja tatsächlich zurück, nicht erst im Casting, nicht erst im letzten Jahr, nicht erst im letzten Jahrzehnt oder überhaupt in diesem Jahrtausend. Ich halte mich zurück, weil es mir (auf den ersten Blick) nicht geschadet hat. Und weil Zurückhaltung auch gesamtgesellschaftlich gewollt oder zumindest akzeptiert ist.  

Die letzten siebzehn, fast achtzehn Jahre beispielsweise habe ich in einer Kleinstadt gelebt, die ihre eigene Exzellenz predigt, in Progressivität allerdings eher unterperformt. Genau so lange hat die unionsgeführte Deutschlandverwaltung einen kaum abbaubaren Aufholbedarf geschaffen und uns gleichzeitig eingebläut, wie spitze alles ist. 

Mich beschleicht der Verdacht, dass nicht nur ich gelernt habe, Mittelmäßigkeit akzeptabel zu finden. Ist ja auch praktisch: wer sein Potential nicht ausschöpft, wer sich absichtlich kleiner macht, hat immer die perfekte Ausrede, wenn Dinge nicht funktionieren. Und wer aus Versehen zu ehrgeizig arbeitet, wird schon mal gebremst, damit die Kollegys nicht faul wirken.

Ich bin natürlich versucht, das Patriarchat als Schuldigen für diese Einstellung auszumachen, weil das Patriarchat (so wird es mir zumindest unterstellt) mein Lieblingsgegner in allen Fragen ist. Und es käme dem Patriarchat auch zupass, wenn alle ihre aktionistischen Regungen eher einhegen statt dauernd nach Revolution zu schreien. 

Stellt sich raus: das Patriarchat ist nicht an allem schuld; wenngleich es durchaus von der Bequemlichkeit der Eingelullten profitiert: Zuviel Enthusiasmus beim Hineinschleichen ins 21. Jahrhundert könnte zu unkontrollierbarem Pragmatismus führen, gar zu Improvisation oder Innovation. Und dann aus Versehen zu modernisierenden, machtkostenden Reformen. 

Wahrscheinlich sind wir auch ohne Patriarchat gerne bequem. Warum sich anstrengen, wenn das meiste auch so geht? Wozu über sich selbst hinauswachsen, wenn die Klamotten auch von allein zu eng werden? Warum nicht alles dem Zeitablauf überlassen? Manches hat sich in einem Monat oder drei Jahren oder nach der Sintflut eh von selbst erledigt.

Weil es natürlich um mehr geht. Darum, sich nicht aufzugeben.

Ich begnüge mich damit, einem Bild zu entsprechen, das ich mir als Kompromiss zwischen Authentizität und Anstoßlosigkeit etabliert habe. Ich finde die Realisierung meines Selbstbildes so mühsam, dass mich dabei ertappe, es lästig zu finden, für mich selbst zu kämpfen. Mühsam aber nicht nur wegen der potentiellen Meinung anderer, sondern meinetwegen.

Dass ich mich bei den Schriftstellern aussortiert habe, gehört da ebenso dazu wie der Nagellack, den ich für die Premiere des Antipatriarchatsstücks aufgetragen und direkt nach der Feier wieder entfernt habe. Dass ich lieber meine uralte Strickjacke zum xten Mal flicke, als mir endlich den flamboyanten Kram zu kaufen oder zu nähen, den ich eigentlich tragen will. 

Ich habe keine Lust auf eine mögliche Diskussion darüber, wer ich bin und wie ich mich ausdrücke, zumal ich die drohende Ablehnung mehr als zur Genüge kenne; diese Lustlosigkeit aber äußert sich nicht in einer Fuck-you-Haltung, sondern in einem andauernden Fuck-me. Statt den anderen mich selbst zuzumuten, halte ich mich einfach zurück.

Natürlich verrate ich damit mein Lebensziel, so echt, so authentisch und so unbequem wie möglich oder nötig zu sein. Aber es ging ja auch immer so; und ein bisschen war ich ja auch echt, authentisch und unbequem. Zumindest in der sozialen Blase, in der ich mich so sehr sicher gefühlt habe. Da habe ich nie daran gezweifelt, dass mir das reichen könnte. 

Nie wirklich gezweifelt. 

Natürlich war ich mir unterschwellig ständig dessen bewusst, dass ich unter meinen Möglichkeiten performe; nicht nur auf der Bühne, nicht nur in beruflichen Aspekten. Ausbildungen, die ich mir schlechtgemacht oder rational ausgeredet habe. Jobs, für die ich mich nicht tauglich genug fühlen wollte. Ich lag weichgekocht in lauwarmem Wasser.

Den Gedanken daran, dass ich zu mehr befähigt sein könnte, dass vielleicht sogar jemand an meinen Fähigkeiten interessiert sein könnte, habe ich ganz hervorragend wegprokrastiniert. Zur Not hilft da immer das Höllenloch Internet; gäbe es Wettbewerbe im Doomscrolling ... - nein, auch dafür hätte ich zu wenig Ehrgeiz für einen Spitzenplatz. 

Vor Jahren hatte ich eine Craniosakralmassage, und der Behandler meinte, er spüre eine große Spannung; ob es eine Blockade in meinem Leben gäbe. Natürlich hätte ich ihm damals sagen können, dass ich das selbst bin; bin aber vor lauter untätiger Liegerei einfach eingeschlafen. Beim Aufwachen war ich so verspannt wie lange nicht mehr davor oder danach. 

Die letzten Jahre hingegen habe ich mich zu sehr entspannt; das sehe ich nun aus der relativen Entfernung der halbneuen Heimat. Ich habe mich gehen lassen, habe mich aufgegeben, weil es mir um nichts mehr ging. Weil es mir schon lange nicht mehr um mich ging, sondern einfach nur darum, möglichst wenig Diskomfort zu verspüren.

Jetzt spüre ich nur noch meine Zurück/Fehlhaltung, aus der ich mich nicht rausprokrastinieren kann; auch, weil ich weiß, dass ich mich so sehr verloren habe, dass ich komplett gegen mein aktuelles Selbst gehen muss. Und da geht es natürlich um mehr als das Casting für eine Nebenrolle in einem mir unbekannten Stück eines Amateurtheaterensembles.

Da geht es um mein ganzes restliches Leben, das ich nicht einfach nur als Kaulquappe verbringen will, sondern vielleicht dann doch eher als überraschend selbsterhaltsorientierter Frosch. Vor allem, da ich mich ja hier in einem neuen Teich befinde, wo ich machen und tun und sein kann, was ich will und wie ich will.

Zumal ja auch ganz anders andererseits die Welt sich eh auf mehr Zumutung zubewegt. Hamas-Terror, Ukraine-Krieg, fragmentierte USA, ein fucking Viertel der Deutschen, das sich ganz empathiebefreit vorstellen kann, AfD zu wählen, weil es ihm offensichtlich scheißegal ist, welche realen Konsequenzen das für alle hat. Ach ja, und Klimawandel natürlich. 

Und ich halte mich selbst für die Zumutung, vor der alle anderen geschützt werden müssen.

Pfft. 

Science Fiction Triple Feature

Von der Front
September 26, 2023

Oppenheimer, der Langatmer über den gleichnamigen J. Robert, hat - anders als Barbie - ungefähr vier Frauen im Cast; ungefähr, weil zwei nur Deko sind, die dritte noch vor Mitte des Films gefridget wird und die vierte, immerhin Oppis Frau, nur als Resonanzfläche dient. Selbst patriarchatisierte Barbies verfügen über größeren Spielraum als Oppenheimer-Frauen.

Und während Barbie das Spannungsfeld "Feminismus vs. Patriarchat" aufmacht, muss Mister Man sich erst zwischen der (intellektuellen) Schlampe und der (hausfraulichen) Alkoholikerin entscheiden, bevor er die Atombombe erfinden, wegen seiner Freigeistigkeit von Big Atom ausgebootet, über Bande gerächt und ordensvoll rehabilitiert werden kann.

Öde Ode, gerettet nur durch die Koinzidenz mit Barbie, dem trojanischen Pferd des Sommers, das als Komödie angeritten kommt und existentielle Fragen über Gesellschaft, Gleichberechtigung und Gender stellt. Und rechte Schneeflocken derart anfasst, dass ein Megachurch-Führer mit einer an einen Baseballschläger geklebten Bibel ein Barbie-Haus verkloppt

Kannste dir nicht ausdenken, sowas.

Andererseits ist ja auch evangelikalen Christen Jesus zu woke

Dass Barbie übrigens ein Meisterstück in Queerness und Camp ist, zeigt James Somerton in seinem Video-Essay Deep Pink. Die Psychotherapeutin Georgia Dow wiederum untersucht in ihren Video-Essays zum Film die beschädigten Psychen von Barbie bzw. Ken und geht der Frage nach: Wie viel toxischer Feminismus trägt den Film?

Andererseits sollte man sich vielleicht weniger mit Barbie beschäftigen als viel mehr mit der Frage: Was will moderner Feminismus? Ist denn nicht schon alles gut? Frauen durften ja immerhin schon Kanzler werden. Spoiler: Es gibt noch Arbeit, bevor wir uns zurücklehnen dürfen. Aber das sehen natürlich nur die (Mikro- oder Makro-)Marginalisierten.

Der Dokumentarfilm Feminism WTF scheint grundlegende Antworten auf diese Frage zu finden und ist damit wahrscheinlich sehenswerter als Oppenheimer und Barbie zusammen. Zugegeben: ich habe den Film nicht gesehen, nur eine Kurzbesprechung, habe aber das Gefühl, dass er zumindest die Diskussion substantiell unterfüttern könnte. 

Denn das ist, bei allem Erfolg von Barbie die größte Schwäche: die berechtigten Anliegen des Feminismus geraten dank der notwendigen Camp-Verkleidung unter die Räder einer Markt- und Vermarktungsmaschine, so dass man den Film eben auch nur als langen Werbefilm sehen kann. Aber dann schon lieber Werbung für Puppen als für Atombomben. 

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
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