27 | Zurück | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

27 | Zurück

Yelda
November 25, 2010

Die Soldaten waren wieder aufgestanden, derjenige, der mir mit seinem Knie die Hand gebrochen hatte, stand mit offener Hose vor mir. Ich blickte an mir herab, Blut lief an meinen Beinen herab, fast schmerzhaft rot vor dem Weiß meiner Haut. Die Kleider, die ich seit dem Dorf getragen hatte, waren schmutzig und zerrissen. Der Soldat, der mich vergewaltigt hatte, als ich zu mir kam, nickte seinen Begleitern zu: „Fesselt sie, ich bin noch nicht fertig.“
„Wagt es nicht, mich noch einmal anzufassen.“
Die Soldaten lachten. Ich hob meinen Arm, dessen Hand in ungesundem Winkel abstand, spürte den Schmerz, ging ihm nach und wollte, dass er vorbeiging, wollte, dass meine Hand wieder in Ordnung war. Mit einem Knirschen und Schaben, das erstaunlich laut war, glitten alle Splitter zueinander, gerissene Sehnen verbanden sich wieder, Knorpel heilten. Außer einem blauen Schatten auf meiner Haut war nichts mehr von meiner Verletzung zu sehen. Die Soldaten, die eben noch nach mir hatten greifen wollen, verharrten.
„Habt Ihr nicht gehört? Fesselt die Hure!“
Ich zog mir die Fetzen der Kleidung vom Körper und trat auf den Soldaten zu. „Was willst Du?“ fragte ich. „Willst Du leben?“
„Ich will ficken, Hure. Und wehe Du wehrst Dich. Die letzte musste ich auf eine Bank nageln, damit sie still hielt. Das hat ihr nicht gefallen.“ Er blickte an mir herab, musterte meinen nackten Körper und fügte hinzu: „Aber wenn Du mitmachst, werde ich Dir vielleicht  auch ein bisschen Spaß bereiten, bevor ich Dich an meine Männer weiterreiche.“
Er hob die Hand, um meine Brust zu berühren, doch er zögerte, als er meinen Blick bemerkte. „Ich warne Dich ein letztes Mal davor, mich anzufassen.“ Doch er zog nur seine Lippen auseinander und enthüllte ein zahnfleischiges Grinsen. Dann presste er seine Hand auf meine Brust. Als er sie berührte, erstarb sein Grinsen. Der Soldat runzelte die Stirn und versuchte seine Hand zurückzuziehen, doch ich griff nach seinem Arm und presste ihn fest gegen meinen Körper. Er konnte spüren, wie ich seinem Körper Kraft entzog, um mich weiter zu heilen, die Wunde zwischen meinen Beinen zu schließen, er spürte, wie er schwächer und ich stärker wurde.
„Du benutzt Deine Macht, um Dich über andere zu stellen und weißt nicht, wie die anderen, die schwächer sind als Du, durch Dich noch schwächer werden. Ich werde Dich schonen, wenn Du versprichst, Dich zu bessern.“
Da lachte er. „Du bist nicht nur eine Hure, sondern auch eine Heilige?“ Sein Lachen ging in ein Stöhnen über, als ich ihm noch mehr Kraft entzog. Er fiel auf die Knie, doch konnte er seine Hand nicht von mir lösen. Seine Soldaten wichen ein Stück zurück statt ihm zu helfen.
„Du sollst keine Macht mehr haben über andere Menschen, du bist schwach und wirst nie wieder stark sein.“ Als er das Bewusstsein zu verlieren drohte, ließ ich ihn los, und sein Körper sackte in sich zusammen und fiel auf den Boden. Die anderen Soldaten starrten mich an.
„Sobekan“, sagte ich. „Wo ist seine Zelle?“
„Wer?“ Der jüngste der Soldaten hatte als einziger noch Mut zu sprechen. „Ich kenne keinen Sobekan.“
„Er ist schon lange hier, Ihr kennt ihn nicht. Zeigt mir die Zelle, die nie neu belegt wird.“
Der junge Soldat war der einzige, der nicht davonlief, sondern mir tatsächlich die anderen Zellen zeigte. Ich rief immer wieder laut und in Gedanken nach Sobekan, doch er antwortete nicht auf meine Rufe.
„Sobekan, wo bist Du nur?“
In der dritten Zelle, die mir der Soldat öffnete, fanden wir einen jungen Mann, der bleich und zitternd auf dem Boden seiner Zelle lag. Als ich mich über ihn beugte, um ihm ins Gesicht zu sehen, sagte der junge Soldat: „Er hat gestern aufgehört zu schreien. Seit der letzten Unterredung ist er so.“
„Du meinst Folter. Ihr habt ihn an den Rand des Todes gebracht, und ich bin nicht sicher, ob es nicht besser für ihn wäre, weiterzugehen.“
„Die Befrager wollten nur, dass er seine Kraft beweist.“
„Womit hätte er das tun sollen?“ fuhr ich ihn an. „Hätte der Junge auch nur einen Funken Kraft gehabt, Ihr hättet ihn nie erwischt. Er ist ein zufälliges Opfer.“
„Ich wollte das nicht.“
„Du hast aber auch nichts dagegen getan. Du hättest ihn retten können.“
„Dann wäre ich an seiner Stelle.“
„Wäre das schlimm?“ fragte ich, doch wartete nicht auf seine Antwort. Ich legte meine Hand auf den Körper des Jungen, suchte nach dem Rest seines Selbst. Ich war erstaunt, als ich seinen Körper wie leer und unbewohnt fand, nur ein Rest seiner Angst war noch verblieben, der mir verriet, dass er zwar geflohen war, aber nicht verloren. „Wo bist Du?“ flüsterte ich in seinen leeren Körper hinein, doch erwartete keine Antwort. „Du kannst zurückkommen, ich werde Deinen Körper heilen. Du brauchst keine Angst mehr haben.“
Zu dem Soldaten sagte ich: „Wenn Du einen Teil Deiner Schuld abtragen willst, dann wache hier über ihn. Zieh Dich aus, dass er Dich nicht als Soldat erkennt. Tu ihm nichts, wenn er erwacht, sondern beruhige ihn. Ich bin gleich zurück.“
„Ich werde tun, was Du sagst.“
Ich verließ die Zelle des Jungen und sah in die anderen, die alle leer waren bis auf die letzten beiden. In der einen lagen verschmutztes Stroh und ein kaputter Eimer, in der anderen auf nassem Boden ein schmächtiger alter Mann. Er atmete kaum noch und seine Hände waren zu Fäusten geballt. Sein Körper war fast nackt, das Haar, das noch nicht ausgefallen war, war schütter und schmutzig grau.
„Sobekan“, sagte ich, doch der Mann reagierte nicht. Ich ging zu ihm hinein und berührte seinen Körper, der kalt war und restlos verlassen. „Sobekan“, sagte ich erneut, doch der Körper reagierte nicht. Am Rand meines Bewusstseins allerdings spürte ich etwas, ein Aufleuchten, ein heller Schatten. „Sobekan“, rief ich ihm zu, und dann spürte ich die Berührung seines Geistes wie die Flügel eines Schmetterlings. „Sobekan“, sagte ich ein drittes Mal und endlich bekam ich eine Antwort von ihm.
„Yelda, Du bist zurück. Ich glaubte Dich verloren, ich fürchtete, Du würdest das Schicksal teilen, das ich erlitten habe.“
„Sobekan, warum bist Du nicht in Deinem Körper?“
„Ich kann nicht mehr zurück. Ich habe es versucht, doch er will mich nicht mehr. Ich kann ihn nicht mehr betreten.“
„Ich kann Dir helfen.“
„Es ist nicht nötig, Yelda. Mich erwartet nichts mehr. Ich hielt mich nur noch an ihn gebunden, weil ich auf Dich wartete. Ich weiß, was kommen wird, und für mich ist in dieser Welt kein Platz mehr.“
„Ich kann Dir einen Platz bereiten. Dir habe ich zu verdanken, dass ich meine Kraft beherrschen kann. Ich werde Dir helfen, wie Du mir geholfen hast.“
„Nein, Yelda. Du kannst mir nicht helfen. Manchmal muss man das Ende eines Weges akzeptieren. Ich war schon alt, als ich gefangen wurde. Ich will nicht mehr in einem Körper sein, der nichts mehr bietet außer Schmerz. Ich habe nur noch Deinetwegen nicht aufgegeben. Ich will jetzt loslassen können.“
„Aber Sobekan …“
„Nur eine Bitte habe ich noch. Lass meinen Körper nicht hier. Nimm ihn mit Dir in die Freiheit und begrabe ihn an einem schönen Ort. Ich will nicht hier verfallen.“
„Ich verspreche es Dir, Sobekan.“
„Ich danke Dir. Du hast alles geändert. Ich sehe es an Dir. Du bist nicht länger unsichtbar, Du strahlst wie die Sonne. Das ist alles, was ich wollte.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, was ich hätte sagen können, um seine Entscheidung zu ändern. Ich wollte ihn nicht verlieren, und doch verstand ich ihn.
„Lebe wohl“, sagte Sobekan und verstummte. Nur Augenblicke später hörte der Körper auf zu atmen. Sobekan war tot.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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